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Zuerst erschienen in »Das Wunderbare«, Albert Langen Verlag, München, 1897
Textquelle: Aufbau-Verlag, Berlin, 1953. Heinrich Mann, Novellen, I. Band
Im vorigen Spätsommer berührte ich auf einer Reise die kleine Stadt N. Es war meine erste Rückkehr dorthin, seit ich das Gymnasium der Stadt verlassen hatte, und ich war dort fremd geworden. Von meinen ehemaligen Schulfreunden lebte niemand mehr in N. als Siegmund Rohde, der, soviel ich wußte, Rechtsanwalt und Stadtrat war. Ich hatte ihn gut gekannt. Wir waren durch all das Gemeinsame verbunden gewesen, das gewöhnlich die Schulfreundschaften knüpft. Wir zeichneten uns, als gefällige Rivalen, in den gleichen Fächern aus, besaßen dieselben literarischen Neigungen, spürten bei unsern Lehrern dieselben Lächerlichkeiten auf. Vor allem liebten wir die Kunst mit gleicher Leidenschaft und Ausschließlichkeit. Wenn wir von ihr sprachen, so fühlte jeder sein bestes Feuer aus dem Geiste des anderen noch glänzender und wärmer zurückstrahlen. Wir ermutigten und bewunderten uns gegenseitig. Niemals ließen wir den Gedanken zu, daß einer von uns sich je einer anderen Tätigkeit widmen könne als der Kunst. Siegmund sah den lebenslänglichen »Dienst des Ideals« als etwas Selbstverständliches an, das durch keine fremden Einflüsse beeinträchtigt werden könne. Was mich selbst betrifft, so scheint es mir, daß ich zuweilen ein wenig skeptischer war.
Als ich sodann das Gymnasium mit der Akademie vertauschte, bezog er die Universität, um die Rechte zu studieren; »vorläufig«, wie er sagte, da er seinen Vater doch ganz sicher noch für seine eigentlichen Pläne zu gewinnen hoffte. Wir hatten sodann in vielen Jahren nur das Allgemeinste voneinander gehört, und nun sollte ich ihn in dem alten Kreise wiedersehen, wo er am Ende doch seine dauernden Lebensaufgaben gefunden hatte, und wo er wahrscheinlich sein Leben beschließen würde. Ich gestehe, daß ich nicht ohne Voreingenommenheit war. Denn wenn ich an den sinnenden Knaben von damals, mit den halblangen Haaren, den weichen, etwas mädchenhaften Bewegungen dachte, fragte ich mich, wie sehr er sich von innen und außen verändert haben müsse, um den Platz im Leben auszufüllen, den er innehatte als kleinstädtischer Rechtsanwalt und Stadtverordneter. Natürlich würde er breit und stark von Körper, und von Geist verhältnismäßig magerer geworden sein. Zum Überfluß hatte ich vernommen, daß er verheiratet sei, und sofort hatte ich mir seine Frau als eine der alltäglichen Provinzdamen vorgestellt, die selbst den geistig ehrgeizigen Mann allmählich und sicher in ihre eigene Sphäre herabziehen. Die unablässigen kleinen Sorgen für die Familie, für die Wesen, die er um sich her geschaffen und die einen Teil seines Lebens ausmachten, hatten ihn wohl seit langem verhindert, das innere Ich zu beschäftigen und zu bilden, von dessen Pflege ich meinerseits niemals eine ernstliche Abhaltung erfahren hatte. Wie sehr er mir also entfremdet sein mußte, hieß mich doch eine gewisse schmerzliche und sicher auch eitle Neugier, die Gelegenheit nicht vorübergehen zu lassen, um auch in diesem Falle die Veränderungen mit Augen zu sehen, die das Leben uns bei jeder Rückkehr vorbehält.
Als ich dann im Grunde eines parkähnlichen Gartens vor dem Tore der Stadt das freundliche weiße Haus betrat, das er bewohnte, fand ich mich angenehm enttäuscht. Die ursprüngliche Einrichtung des geräumigen Salons, in den man mich führte, war offenbar von dem Möbelmagazin der kleinen Stadt geliefert, aber hier und da zeigte sich, von einem feineren Geschmack hinzugefügt, ein Schmuckgegenstand, ein Kunstwerk, Einzelheiten, die wiederholte Reisen und einen oft unterbrochenen, nie ganz aufgegebenen Zusammenhang mit den Strömungen einer höheren Kultur bezeugten.
Die Gattin meines Freundes trat ein und ich bemerkte gleich, das Zimmer paßte auf sie. Ihr Anzug entbehrte nicht eines gewissen persönlichen Geschmacks. Die sympathisch ruhigen Züge ihres Gesichtes wurden von einer anmutigen Frisur zur Geltung gebracht. Die graziöse Gelassenheit ihrer Bewegungen vermochte die Gewohnheit des raschen Umherwirtschaftens nicht ganz zu verbergen. Ihre Unterhaltung war von angenehmer Zwanglosigkeit, ohne besonders fesselnd zu sein. Sie rief ihre beiden Knaben herein, hübsche, frische Jungen, von denen der jüngere lebhaft an meinen Jugendfreund erinnerte. Ich war inzwischen wirklich begierig geworden, Rohde selbst wiederzusehen. Er wurde erst in einer halben Stunde aus dem Büro zurückerwartet.
Es dunkelte schon, als man von weitem die Gartenpforte knarren hörte. Ich sah einen hochgewachsenen breiten Mann, dessen stark verwischte Taillenlinie den Körper dennoch nicht formlos erscheinen ließ, durch die Kieswege herbeikommen. Er ging elastischen, selbstbewußten Schrittes. Hier und da blieb er stehen und neigte sich prüfend über einen Rosenstrauch.
Wir begrüßten uns sehr herzlich, ohne daß er überrascht gewesen wäre, mich so plötzlich ankommen zu sehen. Er war, wie er sagte, selbst an häufige und unerwartete Ortsveränderungen gewöhnt. Auch fragte er nicht viel. Er schien das unruhige Leben, aus dem ich kam, zu kennen, den Dingen, die mich beschäftigten, keineswegs fremd geworden zu sein. Er sprach, während wir mit der Familie zu Tische saßen, über die Entwicklung der Kunst, über die neue Richtung der Geister. Seine Beobachtungen waren scharf und klug, ohne das Unbestimmte, Nebelhafte, das denen des Jünglings angehaftet hatte, doch auch ohne Begeisterung. Er drückte mit Wärme seine Liebhabereien auf dem Gebiete der Ideen und Formen aus, allein das nahm sich in seinem Munde wie die Gegenstände einer allenfalls entbehrlichen Muße aus. Die Hauptsache mochte dagegen der Bau des kleinen Kanals sein, den die Stadt beabsichtigte, und die anderen kommunalen und öffentlichen Angelegenheiten, denen er sich zuwandte.
Seine Gattin mischte sich diskret ins Gespräch. Sie wußte ihm den Übergang zu einem Lieblingsthema zu vermitteln, und ihm, wenn er sprach, Aufmerksamkeit zu erweisen. Sie schien ergeben und voll Bewunderung für den Mann.
Die Knaben wurden entlassen, nachdem wir uns erhoben hatten. Als sie ihren Gatten nach einer Weile unsere gemeinsamen Erinnerungen berühren hörte, zog auch die Frau sich bald zurück.
Wir saßen in einer offenen Veranda. Die weiche Luft der Sommernacht zog herein, durchsättigt von dem starken, aus vielen Düften zusammengeflossenen Atem des Gartens. Das Mondlicht, dem ein ganz leichter Nebel seine Kälte nahm, umspielte die Wipfel der alten Bäume, ließ eine Seite der Allee zauberhaft erglänzen, um die andere in desto tieferes Dunkel zu stürzen. Die harten Unterschiede von Licht und Schatten gaben dem Garten eine ungeahnte Ausdehnung. Er senkte sich langsam, bis weithin, in der Tiefe, ein weißes Stückchen Mauer inmitten des dunklen Laubwerks aufleuchtete.
Wir lehnten uns in den Schatten hoher, kühl hauchender Blattpflanzen. Keine Blume war hier zu sehen, außer einer bescheidenen mattgefärbten Winde, die sich durch einen der offenen Bogen schlang. Und diese duftlose Blüte schien alle die unendlichen schweren Düfte von draußen mitzubringen.
Die Art, wie ich die Lebensverhältnisse meines Freundes bei meiner Ankunft ins Auge gefaßt, hatte sich im Laufe des Abends beträchtlich geändert. Mir schien es, daß wir andern, mitten in den Bewegungen der Zeit Stehenden, kaum etwas vor ihm voraus hatten, der das Beste, was es dort draußen gab, aufmerksamen Geistes sammelte, um es hier in seinem Winkel fortzupflanzen. Es drängte mich, etwas Ähnliches auszusprechen.
»Ich beglückwünsche dich zu deinem Familienleben. Du mußt glücklich sein?«
»Ich habe es nicht schlecht getroffen.«
»Dein Jüngster ist ganz dein Bild, wie ich es kannte.«
»Er erinnert mich oft an unsere Jugend.«
»Du selbst erinnerst mich daran. Denn in deiner vorteilhaften bürgerlichen Stellung bist du doch ein wenig der Künstler von damals geblieben – nur daß du nicht mehr, wie wir damals taten, die Ideale im Munde führst.«
Er lächelte zurückhaltend.
»Man muß das Wunderbare nicht zum Alltäglichen machen.«
»Das Wunderbare?«
»So nenne ich es für mich. Ich meine das, was man nicht kennt und woran man nicht glaubt in der bürgerlichen Gewöhnlichkeit, in der man alles genau kennt und weiß. Ich meine das Ferne, Sinnlose, ganz Unmögliche, bloß Geträumte, dessen man sich, auch wenn man es erlebt hat, nur wie an einen Traum erinnert.«
Ich schwieg erstaunt über die verdeckte Erregung in seinen Worten und erwartungsvoll. Er war aufgestanden und vor den Fensterbogen getreten, durch den der Windenzweig hereinhing. Er hob ihn auf und fuhr fort:
»Die Blüte, an die ich denke, ähnelt dieser, nur ist sie noch soviel heller und zarter. Man wagt sie nicht zu berühren. Sie erträgt nur den Kuß eines reineren Lichtes. Sie windet sich, zahllos zwischen stillem Grün, im weiten Bogen über den blauen See. Am Ufer schlingt sie sich fort, den Fels hinan inmitten roter Büsche und umstrickt mit ihren blassen Armen droben das weiße Haus. Die Marmorterrassen leuchten unter dem straff gespannten Blau des Himmels, wie roter Edelstein flimmern die Granatblüten, der See erglänzt diamantklar. Aber mild und mäßigend legt sich über all die Helligkeit der Schleier der Blüten, deren Weiß einen Hauch aller Farben in sich trägt.«
Er hatte sich umgewandt und meinen immer mehr erstaunten Blick gewahrend, lächelte er.
»Ich phantasiere nicht und es ist keine Ideallandschaft, die ich beschreibe. Es ist ein Erlebnis.«
Ich bat:
»Erzähle.«
Er erzählte:
»Die Erfüllung meines jugendlichen Herzenswunsches war mir, wie du weißt, versagt worden. Ich entschädigte mich für die erste große Enttäuschung meines Lebens auf den Universitäten durch ungeregelte und wilde Genüsse. Mit vierundzwanzig Jahren endlich, als nicht mehr junger Student, sah ich meiner Tollheit durch einen tüchtigen Blutsturz ein Ende gemacht. Leidlich ausgeheilt ward ich noch für ein Jahr zur Pflege meiner Gesundheit nach dem Süden geschickt.
Der schlimme Winter, den ich überstanden hatte, ging zu Ende, allein ich genoß das wundervolle Erblühen des italienischen Frühlings nicht wie jemand, der es zum ersten Male erlebt. Mein Empfinden war sehr stumpf, meine Gedanken niedergeschlagen. Ich kam mir blasiert vor. Die tiefe Ernüchterung war bei mir eingetreten, die die ersten, banalen aber heftigen Erlebnisse im Jüngling zurücklassen. Man glaubt der ganzen Flachheit und der Lüge des Lebens auf den Grund zu sehen und hofft nicht, irgendeinen verlorenen Glauben zurückzuerhalten. Dazu kam die körperliche Mattigkeit der Genesung, die sich in einem gleichgültigen Hindämmern gefällt.
So konnte mich das hastige Treiben der Städte nicht fesseln. Das Fremdartige der Umgebung bemerkte ich kaum. Eine Welt von Kunst zog undeutlich und eindruckslos an meiner Seele vorüber. Wer mir gesagt hätte, daß mein erstes Zusammentreffen mit den ersehnten Meisterwerken so vor sich gehen werde! Ich erinnere mich einmal, in einer Florentiner Kirche, lange Zeit vor einem Bilde des Fra Angelico gestanden zu haben. Von dem Haupte der Madonna, das ganz leidende Anmut war, floß ein weicher Glanz über die schüchternen Gestalten, die zu ihr emporblickten. Am Ende ging ich, ohne die Neugier, mehr zu sehen, hinaus. Ich taumelte ein wenig und glaube, daß mir die Tränen nahe waren.
Trotz meiner Trägheit hatte ich, da alles mich unbefriedigt ließ, unaufhörlich ein planloses Gefühl des Suchens. So reiste ich in kleinen Strecken, stets nur wenige Tage an einem Orte verweilend.
Zu Beginn des Sommers befand ich mich irgendwo im Gebirge und wußte kaum, wie ich dorthin gelangt war. Mein Quartier hatte ich auf einer abgelegenen Höhe, in einer einsamen Wirtschaft, mehr Bauernhof als Gasthaus. Doch blieb ich wenig daheim. Ich machte, langsam und ohne Absicht vor mich hin gehend durch Gegenden, die ich nicht sah, Besuche in Ortschaften, die ich nicht einmal den Namen nach kennenlernte. Fand ich mich dann gelegentlich wie durch Zufall wieder zum Hause zurück, so war es mir eher unerwünscht. Es war, als suchte ich etwas Fremdes, das ich ahnte und nicht fand.
Einmal hatte ich den gebahnten Weg verloren, im weiten Pinienwald, der sich langsam, endlos erhob. Meine Teilnahmslosigkeit ward durch das große Schweigen ringsumher besiegt, das mich aufhorchen machte. Ich folgte gespannt der seltsamen Anziehung, die die unbekannte Ferne auf uns ausübt – bis ich es lichter vor mir werden sah. Der Wald, der mich unablässig zur Höhe geführt hatte, lief am schroffen Felsrand aus. Drunten sah ich, von dichtem Grün vielfach verdeckt, das Blau eines Sees aufblinken. Viel weniger steil als die diesseitigen Felsen, setzten drüben die ganz bewachsenen Berge, langsam und zögernd, ihren Fuß ins Wasser. An einer Stelle, wo sie weiter zurücktraten, schien ihnen ein Garten vorgelagert zu sein. Auf halber Bergeshöhe darüber bemerkte ich ein weißes, anscheinend im älteren Villenstil erbautes Haus. Es mochte nicht groß sein, doch leuchtete es vor einer dunklen Wand von Zypressen.
Das einsame Haus über dem See, am Rande des engen, verborgenen Tales, machte mich unruhig. Kein Murmeln des Wassers war zu hören, und diese heimliche, versunkene Stille ließ es wie Sehnsucht in mir aufdämmern. Ich lugte, von dem vorspringenden Felsen geneigt, hinab und meinte über dem warmen Grün die Luft zittern zu sehen. Es mußte dort drunten mildwarm und lauschig sein. Das Leben mußte dort langsamer und sanfter fließen. In Ahnungen verloren, spähte ich in dem engen Kreise der Berge nach einer Gelegenheit zum Abstieg. Ich entdeckte wohl eine leidlich schräge Senkung, vermochte sie aber, wie ich in den Wald zurück darauf zulaufen wollte, lange Zeit nicht zu finden. Der Weg war wie verzaubert. Endlich kam ich dann, nach einiger Gefahr und langem Klettern, unten an. Wie aus Scheu vor dem Geheimnis dieser Sommerstille zögerte da mein Fuß, das kleine Tal zu betreten. Nur die Bienen summten in der warm duftenden Luft. Dicht über dem Wasser, das nun in der Nähe kristallhell glänzte, auf dem schmalen, ganz mit Schlingpflanzen überwachsenen Pfade, der sich nahe an den Fels schmiegte, schlich ich ein Stückchen fort. Hier und da mußte ich mich bücken, um unter einem überhängenden Block hindurchzuschlüpfen. Verworrenes Gestrüpp zog sich das Ufer hinab und tauchte ins Wasser. An vielen Stellen wuchs Schilf hinein, und große weiße Rosen lagen davor inmitten der durchsichtig grünen Reflexe.
Bald war das Gestade ein wenig breiter. Ich hatte den See so weit umschritten, um zu bemerken, daß er sich in seiner Mitte noch mehr verengte. Die Vorsprünge, die das Ufer auf beiden Seiten bildeten, waren durch die zusammengewachsenen Kronen von Ulmen und Ölbäumen miteinander verbunden. So war ein dichtes, regelmäßiges Laubgewölbe entstanden. Hier bemerkte ich zum erstenmal die blasse Winde. Ich sah nun wohl, daß sie sich überall am Ufer hinzog, hier aber rankte sie sich, auf dem matten graugrünen Grunde des Olivenlaubes, in anmutigem Bogen über den See.
Während ich mit ganz versunkenem Blick dem Spiele des Laubschattens auf dem Glitzern des Wassers folgte, überkam mich die Begier, unter diesem lebenden Blütenkranze auf einem Kahne so fortzugleiten, als müßte dies das Tor zu einem seltsamen Lande sein, wohin es mich zog und von dem ich nichts wußte.
Langsam, den Kopf gesenkt, hatte ich meinen Weg fortgesetzt. Als ich wieder aufblickte, waren die Berge weit vom Ufer zurückgetreten. Ich stand vor dem Garten, der sich hinanzog bis zu der Höhe, wo das weiße Haus aus grüner Hülle hervorschimmerte. Von der Villa abwärts traten leuchtende Terrassenstufen aus dem Laubwerk hervor, das sie immer dichter umwölkte und in der Tiefe ganz verschlang. Denn die Vegetation des Gartens, an der Sonnenseite des windstillen, rings eingeschlossenen Tales, hatte sich mit fesselloser Üppigkeit entwickelt. Die Taxushecken waren verwildert, herüber und hinüber verschlang sich das gelbliche Laub der Limonen, das silbergraue der Oliven mit dem dunkleren der Granaten, mit dem schwärzlichen der Orangen. An Stellen, wo sich von einer früher vertieften Nische noch unbestimmte Umrisse abzeichneten, lauschten verwitterte Marmorbilder aus der grünen Wildnis: eine Flora im weiten blumenumsäumten Gewand, ein faltig grinsender Faun, spähend vorgeneigt. Inmitten einer kleinen Lichtung, halb untergetaucht im hohen, hellen Gras, aus dem Narzissen blickten, sammelte ein vielfach zerbrochenes, kunstvoll gemeißeltes Becken den dünnen, grünschillernden Strahl der Fontäne. Kaum, daß man sein Plätschern vernahm. Ein steinerner Knabe fing mit süßtraurigem Lächeln das versiegende Wasser in seiner Hand auf.
Ragende, uralte Zypressen säumten die Lichtung. Den Berg hinan aber machte das wildwuchernde Gebüsch, daß das Auge den Weg verlor. Nur die weiße Winde war da, um den Blick zu leiten. Vom Ufer kam sie her, sie überstieg die Taxusmauern und schwankte von Zweig zu Zweig. Sie machte Umwege, um den Brunnen zu umkränzen, die grauen Steinbilder mit ihren lebenden Blüten zu verjüngen. Aber dann fand sie immer wieder den Weg zu den Terrassen – und droben mochte sie in das Haus eintreten, das vielleicht niemand gesehen hatte als sie. Der schwermütige Reiz des Verwunschenen lag über allem, was ich zwischen den barocken Arabesken des verrosteten hohen Gatters erblickte. Nie hätte ich dies Gatter in seinen Angeln zu drehen gewagt.
Mich beschlich, je länger ich stand, das Gefühl von etwas Unheimlichem, als sollte sich eine Hand von rückwärts auf meine Schultern legen. Leicht zusammenschauernd wandte ich mich, und entdeckte glücklicherweise sogleich ein Zeichen menschlicher Nähe. Ein kleines, hellfarbig angestrichenes Boot lag, an einem schmalen Landungssteg befestigt, auf dem stillen Wasser. Mein Auge verfolgte sogleich die glänzende Fläche, die es durchziehen würde, um drüben im grünen Schatten unterzutauchen. Kaum widerstand ich der Versuchung, den Strick zu lösen. Wer verbot es mir, wer konnte sich hierher zurückgezogen haben? Vielleicht ein Mensch, den die Welt durch schlimme Erfahrungen zum Einsiedler gemacht hatte, vielleicht ein Kranker – wie ich. Wer es auch sein mochte, ich fühlte Sympathie für ihn. Indes ich hierüber sann, hatte ich den See bis dorthin umschritten, wo der Weg endete und das Wasser den schroffen Fels bespülte. Ein Plätzchen zum Ruhen suchend, gewahrte ich im Schilf einen schwarzen Körper. Aus dem wirr darüberhängenden Gebüsch vermochte ich einen flachen, ziemlich schweren Kahn herbeizuziehen. Er erwies sich als morsch und schlecht instand gehalten, aber wenigstens würde niemand mir seine Benutzung verwehren. So entleerte ich ihn, wie es ging, vom Wasser und vertraute mich den wankenden Brettern an.
Das war freilich nicht das gemächliche Gleiten, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die unhandlichen kurzen Schaufeln verursachten klatschendes Geräusch, der Kahn bewegte sich wie widerwillig in kurzen Stößen vorwärts. Doch hatte ich es nicht weit. Bald war das Laubgewölbe erreicht, und ich fand das heimlichste Plätzchen in einer Bucht, die genau zur Aufnahme meines Bootes paßte. Da blieb ich sitzen, die Arme auf die Knie gestützt, vor mir das kleine grüne Reich, von dem ich Besitz genommen hatte, ganz verborgen in tief über das Wasser geneigten Akazienbäumen, von deren weit offenen Blüten rosige Blätter auf mich tropften. Mitten in dem seltsamen Lande befand ich mich jetzt, zu dem ich hinabgeträumt hatte. In der großen Stille verspürte ich das Weben der Sommerluft. Im Wasser die Blätterschatten waren hier und da von einem weißlichen Schein erhellt, den von der Oberfläche des Baumgewölbes die Winde herabsandte. Allmählich erwachten dann die kleinen Geräusche des Lebens über den Wassern, die meine Ankunft eingeschüchtert hatte. Hinter mir begannen leis die Grillen zu zirpen, rote Käfer krochen über die Blätter hin und plumpsten ins Boot. Leichtes Gesumme schwirrte an meinem Ohr vorüber, und aus dem Wasser kam dann und wann ein verstohlenes Glucksen. In dem goldenen Sonnenstreif, der die Grenze meines grünen Reiches bildete, blitzten die blauen Lichter der Libellen und Falter hin und her.
Wie lange war ich so geblieben. Da glitt ein schlanker Schatten über jenen Sonnenstreif, zu mir herein. Hinter ihm tauchte der schmale Bug eines hellgestrichenen Bootes auf, und dann langsam, langsam erschienen die im Sonnenduft verschwimmenden Konturen einer Frauengestalt. Sie setzte noch einmal die Ruder an, und die leichten Falten des weißen Gewandes verrieten die weichen Bewegungen schlanker Arme, die reizende Neigung des zarten Körpers. Die Ruder schleiften lautlos über die Wasserfläche zurück. Sie hatte mich erblickt. Von dem breiten Strohhut hingen durchsichtige Spitzen tief herab und beschatteten ihre blasse Stirn und ihre weitoffenen ernsten Augen. Ich hatte mich weiter vorgebeugt und hielt ihren Blick aus, fast ohne ihn zu fühlen, als sei sie nur ein Traum. Und ich war kaum überrascht. Hatte ich doch, ohne es recht zu wissen, meinen Blütentraum fortgesponnen und See und Garten und Haus belebt, mit allem, was ich wünschen mochte, mit allem, was wir ahnen von Huld und Glück. Mir war nun, als hätte ohne sie hier kein Leben erstehen können. Sie war die Seele der Landschaft selbst. Ich hatte sie erwartet.
Der Kahn schwamm sacht weiter. Sie wäre so, eine holde Täuschung des Lichtes, an mir vorübergezogen, und ich würde sie nicht aufgehalten haben. Aber sie machte, in der Mitte der grünen Wölbung angelangt, eine unschlüssige Bewegung mit dem Ruder, wie zum Einlenken. Da fiel mir ein, es müsse ihr gewohnter Platz sein, den ich in Besitz genommen hatte. Schnell entschlossen sagte ich:
›Ich sehe, daß ich mich entschuldigen muß.‹
Sie wehrte mit ruhigem Kopfschütteln ab.
›Bleiben Sie doch‹, sagte sie mit gleichmütiger, leicht verschleierter Stimme. ›Auch für zwei Boote ist Raum genug da.‹
Und mit kurzen Ruderschlägen legte sie ihr kleines Schiff neben das meine.
Sie zog die Ruder ein, ordnete die Falten ihres Kleides; dann stützte sie einen Arm aufs Knie und legte das Kinn in die Hand: alles mit nachlässigen, gleitenden Bewegungen, als fühlte sie sich unbeobachtet. So blickte sie, über ihr Boot hinweg, ins Wasser, mit Augen, noch durchsonnt, aber seltsam still und unbeschäftigt. Sie hatte den Hut abgenommen und ich sah, daß ihr Haar, dessen schwerer Knoten sich ein wenig gelöst hatte, von glanzlosem Blond war. Es mußte sehr fein sein, denn über der mattweißen Stirn, von der es schlicht zurückgestrichen war, nahm man trotz seiner Dichtheit den Ansatz kaum wahr. Die freie rechte Hand ließ sie sorglos über den Rand des Kahnes herabhängen, und auf ihrer schneeigen Blässe, wie sie die Hitze bewirkt, zeichnete sich ein Gewebe feiner blauer Adern ab. Sie hatte einen eigentümlich kraftlosen Ausdruck, diese Hand, denselben, den auch ihr Profil zeigte, mit der leicht gewölbten Stirn, der geraden schmalen Nase und den leis geöffneten, zu roten Lippen.
Ich hatte Zeit, diese Bemerkungen zu machen. Sie schien meine Nachbarschaft vergessen zu haben. Und es ging, je länger ich sie an meiner Seite fühlte, ein Strom träumerischer, einlullender Empfindung von ihr aus. Unerwartet hob sie den Kopf und heftete sogleich den Blick auf mich. Sie hatte ein Heft bemerkt, das auf meinen Knien lag, und sie fragte:
›Zeichnen Sie hier?‹
›Ich habe nicht einmal den Versuch gemacht.‹
›Nicht wahr?‹
Sie beschrieb eine undeutliche Bewegung mit der Hand, die sofort wieder zurücksank. Zögernd, als suchte sie nach den Ausdrücken, sagte sie dann:
›Auch wenn ich es vermöchte, würde ich dies hier nicht wiedergeben mögen. Es bleibt dann nicht mehr ganz. Ich will es unzerlegt hinnehmen.‹
Dies ›Es‹, das sie mit keinem Wort bestimmte, klang mir in ihrem Munde rätselhaft und doch vertraut. Ich schwieg und lauschte ihrer Stimme, die in meinem Ohr noch nicht verklungen war. Endlich, um eine Bemerkung zu machen, fragte ich:
›Der See muß sehr tief sein?‹
Sie antwortete schnell:
›Oh! So tief!‹
Sie schien sich zu besinnen, bevor sie weitersprach:
›Niemand weiß, wie tief. Wollte man es erfahren, das wäre Entweihung. Wie schön, zu denken, daß man immerfort darin hinabsteigen würde, ohne einen Boden zu finden – unendlich.‹
Wir schwiegen wieder. Waren ihre Worte ungewöhnlich? Mich wunderten sie nicht.
Dann klangen in die tiefe Stille aus der Richtung der Villa sieben Glockenschläge, hell, hoch, aber verschleiert und ohne Nachhall. Und ich wußte plötzlich, daß ihre Stimme der einer gesprungenen Glocke glich.
Sie hatte die Ruder ergriffen. Während sie das leichte Boot in Bewegung setzte, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu mir:
›Es ist schon wieder meine Zeit.‹
Ohne recht zu wissen warum, folgte ich ihr, wie sie sicher und lautlos dahinglitt. Mein plumper Kahn schwankte hin und her, die Schaufeln klatschten geräuschvoll und gaben mir eine Vorstellung ein, wie wenn der Körper einem Seelenfluge folgen wollte.
Bisher hatte ich nicht darauf geachtet, wie die Dämmerung begann. Nun sah ich, daß die Sonne, hinter dünnem graublauem Nebel, dicht über dem Bergrücken stand. Sie mußte dies enge Tal früh verlassen. Auch über dem See lag ein weißer Dunst, so leicht, daß das Licht hindurchschimmerte, und doch machte er es, trotz der Nähe der Ufer, schon ungewiß, an welcher Stelle der Fels die Oberfläche des Wassers berührte.
Meine Begleiterin hatte einen weichen gelben Schal faltig um Hals und Schultern gelegt, und ihr Kopf, den ich, darein geschmiegt, im halb verlorenen Profil erblickte, schien mir jetzt noch deutlicher den Ausdruck des Leidens zu tragen.
Da wir uns dem Platze, wo ich mein Boot gefunden hatte, ungefähr gegenüber befanden, dachte ich daran, mich zu verabschieden.
Sie hörte mich eine Wendung ausführen und wandte sich nach mir um.
›Wohin?‹ fragte sie. Da sie meine Absicht, zu landen, sah, sagte sie:
›An jener Seite werden Sie es bequemer haben.‹ Dann setzte sie die Fahrt fort, und ich folgte ihr.
Wir landeten am Stege unterhalb des Gartens. Beim Aussteigen bot ich ihr die Hand, und sie legte die ihre hinein, eine kühle Hand, deren Druck ich nicht fühlte. Dann standen wir am Ufer eine kurze Weile unschlüssig, jeder halb gegen den See gewandt, vielleicht in der Erwartung, daß der andere ein Wort sage. Endlich zog ich den Hut, und indes sie mir dankte, sah ich wieder, daß ihr Blick wie aus weiter Ferne zu mir kam und, wenn er auf mir ruhte, mich nicht zu sehen schien. Langsam wandte sie sich, und ich verfolgte mit seltsamer Spannung ihre Schritte. Sie hatte das Gatter zurückgeschoben, sie schritt über den dunkelnden Rasen dahin, ohne daß ich die Bewegung ihres Körpers wahrnahm. Sie entschwand weiter und weiter, sonst würde ich nicht daran gezweifelt haben, daß sie mit geschlossenen Füßen über einen Blumenteppich schwebe, auf dem ihr Schritt keine einzige Blüte geknickt zurücklasse.
Da blieb sie auf der Terrasse unvermutet stehen. Ich sah die Spitze des Marmorgeländers, an das sie sich lehnte, aus dem nebeligen Grün hervorschimmern und sah ihren Arm, der mir winkte. Und gleich darauf legte ich den Weg zurück, so wie ich sie hatte dahingehen sehen: halb im Traum.
Ein wenig unterhalb ihres Standpunktes blieb ich stehen, um zu vernehmen, was sie mir sagte. Ihre Stimme klang mühsam und wie erstickt von der Anstrengung des Steigens und von der schweren Abendluft.
›Sie kommen von drüben?‹ fragte sie mit einer Gebärde über den jenseitigen hohen Berg hinweg.
Ich bejahte.
›Und Sie wollen dorthin zurückkehren?‹
Ich antwortete nicht sogleich. Überrascht bemerkte ich zum erstenmal, daß ich mich bei hereinbrechender Nacht an einem fremden und einsamen Ort befand. Sie sprach, ohne meine Verlegenheit zu beachten, weiter.
›Sie würden sich nicht mehr zurückfinden. Es wird dunkel und der Weg ist beschwerlich. Kommen Sie doch.‹
Ohne meine Antwort abzuwarten, setzte sie ihren Weg fort, und als verstiege ich mich in endlose Höhen, ging ich der weißen Gestalt nach, die hier und da zwischen den Windungen des dunklen Grüns auftauchte. Ganz plötzlich trat an einer Biegung das Haus zwischen schwarzen Zypressen schimmernd hervor. An Statuen vorbei, die im unsichern Licht flimmerten, schritten wir durch ein einfaches Portal, eine breite, matt erhellte Treppe hinan. Droben ward ich, als sei meine Ankunft bekannt, von einem alten Diener empfangen, der mich in ein saalartiges Schlafzimmer führte.
Ich wagte an den schweigsamen Mann keine Frage zu richten. Als er sich geräuschlos zurückgezogen hatte, starrte ich eine Weile in die Flamme der Kerzen, die auf dem Kamin in alten silbernen Leuchtern brannten. Ich sah die rätselhaft anmutige Kopfneigung vor mir, mit der sie mich soeben verlassen hatte. Zögernd wandte ich mich ab, da trat nochmals der Diener ein, um sich in mühsamem Italienisch nach meinen Wünschen zum Abendessen zu erkundigen. Ich dankte ihm. Eine große weiche Müdigkeit hatte mich ergriffen, so daß ich in einem weiten Sessel zusammengesunken blieb, zu träge, irgendeine Bewegung zu tun.
Endlich erhob ich mich und begann mich zu entkleiden. Nachdem ich die Lichter gelöscht, lag ich unbestimmte Zeit wachend im Dunkel, das mich wohltuend umfing und mir vertraut wie eine Heimat schien. Ich faßte keinen bestimmten Gedanken. Ohne besonders darauf zu achten, hatte ich fortwährend die undeutliche Empfindung, etwas Weißes in der Ferne vor mir zu haben, wie einen unsichern Schein, dem ich nachfolgte, endlos und ohne das Gefühl, mich zu bewegen. Alles war anders, als es solange gewesen war. Ich war ein mir Fremder, dem das Unmögliche zustoßen konnte, ohne daß es mich in Verwunderung setzte.
In der Morgendämmerung erwachte ich aus tiefem Schlaf und ward sogleich von einer inneren Unruhe ganz ermuntert. Sehnsüchtig erwartete ich das Eindringen des Lichtes. Doch blieb lange Zeit alles im tiefen Schatten, bis auf die Decke. Allmählich und immer deutlicher unterschied ich die zahlreichen Rokoko-Amoren, von denen sie weithin belebt war. Die rosigen Körper tummelten sich einzeln oder in Gruppen, musizierten und lachten. Hier und da lauschte einer hinter einer großen Muschel hervor, ein anderer lehnte sich an eine schlanke Säule. Auch diese Ausstattungsstücke waren rosig wie die Körper, mit gelblichen Reflexen. Die Sonnenstrahlen aber, die darüber hinflossen, machten die Deckenmalerei zum wahren Kunstwerk, denn sie tauchten alles in ein spielendes, luftzitterndes Leben. Die Kinderengel schienen auf den Armen ihrer Mutter, der Sonne, hereingeflattert, und nur solange diese verweilte, durfte ihr ausgelassenes Treiben dauern.
Als ich endlich meinen Blick von dem Bilde, das ihn mit dem ganzen blühenden Reiz des Lebens gefangen hielt, loslöste, ward ich aufs neue von dem peinlichen Gefühl der Fremdheit ergriffen bei dem Anblick der dunkeln Holztäfelung, die den ganzen Raum einschloß. Vor dem weiten Kamin standen dunkelfarbige Polstersessel. Die alten silbernen Kandelaber spiegelten sich traurig in der schwarzen Marmorplatte. In einer Ecke des Saales blickte eine strenge Madonna auf den leeren Betschemel zu ihren Füßen. Ganz befangen in dem Schweigen, das von dieser Umgebung ausging, stand ich auf und zog mich an. Dann trat ich an eins der Fenster und sah hinaus. Die reinste Morgenluft, voll des Atems der jungen Pflanzen, schlug mir entgegen. Aus den Schleiern des Sonnenduftes, wie eine keusche Schönheit, mit verhaltenem Glanz blickte die Landschaft mich an, aber die eigentümliche Bezauberung des vorigen Tages fand ich nicht wieder.
Ich hatte mich weiter vorgebeugt, da erschrak ich. Dort stand sie bereits, unten auf der Terrasse, weiß an weißem Stein. Wie lange mochte sie unbeweglich geblieben sein. Ein Windenzweig, der die Säule umschlang, war, wie eine Liebkosung, über ihre Schulter geglitten. Unwillkürlich wandte ich mich nach der Amorette um, die droben ihre blühenden Glieder gegen die rosenfarbige Säule lehnte. Wie mutlos erschien mir die Haltung der Lebenden!
Aber wer war sie? Mir fiel ein, daß ich sie nicht einmal zu nennen wußte. Meine jugendliche Verlegenheit wuchs, wenn ich daran dachte, wie ich ihr gegenübertreten, in welcher Weise ich ihr danken oder mich entschuldigen sollte. Auch begann ich die Nachwirkung der gestrigen Anstrengung zu spüren, die meinen kaum genesenen Körper matt und meine Gedanken dumpf machte.
Aus Ratlosigkeit nahm ich Hut und Stock. Der Vorsaal, den ich betrat, war wie das mir angewiesene Gemach in dunkeln Farben einfach gehalten und bezeugte die elegante Bequemlichkeit einer dauernden, wohlgegründeten Einrichtung. Ein Gang, an dem die Wohnräume der Herrin liegen mochten, führte zu dem stattlichen hellen Treppenhaus, in das ich zwischen bronzenen Greifen hinabstieg. Da war ich auf der Terrasse und sah mich ihr gegenüber, ohne Überraschung, obwohl ich soeben kaum noch darauf vorbereitet war. Wie sie sich nun mir zuwandte und mich mit einem gelassenen Druck ihrer kühlen Hand begrüßte, meinte ich sie gar nicht verlassen zu haben, so vertraut war mir ihre Erscheinung, so selbstverständlich ihre Anrede. Wenn ich vorhin daran gedacht hatte, daß ich ihren Namen nicht wußte, war es mir jetzt unmöglich, mich einer Zeit zu entsinnen, da ich sie nicht gekannt hatte. Mir schien es so einfach und natürlich, mich ihr an diesem Platze gegenüber zu finden, daß es am Ende immer so bleiben mußte.
›Es ist der schönste Morgen, den wir haben können‹, sagte sie, und es klang, als sollte ich diesen Morgen mit vielen voraufgegangenen vergleichen, die ich in ihrer Gesellschaft verlebt hätte.
Ohne besonderen Ausdruck warf sie dann leicht hin:
›Aber Sie sind blaß. Sie haben nicht gut geruht?‹
Sie wiederholte noch: ›Ja, Sie sind blaß.‹
Und obwohl sie das ohne besondere Teilnahme sagte, begann ich bei ihren Worten zu fühlen, daß ich blaß und leidend sei.
Übrigens fand ich auch sie noch bleicher und müder als gestern, ihre Stimme noch leidender. Eben wollte ich bedauern, daß vielleicht meine Gegenwart sie zu lange in den Abendnebeln aufgehalten habe, doch unterbrach sie mich mit der Frage:
›Und Sie wollen zurückkehren – wohin doch?‹
Ich bezeichnete meinen Aufenthalt.
›Es muß weit dahin sein.‹
›Ein Tagesmarsch.‹
›Und was wollen Sie dort tun?‹
Ich hätte wohl über die Frage erstaunen müssen, doch zuckte ich nur die Achseln. Sie sprach selbst meine Antwort aus.
›Nichts. Ich wußte es. Und Sie scheuen sich auch, über die Berge zurückzugehen.‹
Wirklich fehlte mir in dem Augenblick jede Vorstellung, als könnte ich je das Tal verlassen.
Sie sagte, wie etwas, das der Erwähnung kaum wert wäre:
›Ich will Ihre Sachen herüberholen lassen.‹
Eine Weile blieben wir so stehen, Blicke und Gedanken in den weichen Sonnenduft eingehüllt, der Garten und See erfüllte. Dann zog sie mit der langsamen, wie willenlosen Gebärde mit der sie alles tat, ein Heft an sich, das sie bei meiner Ankunft auf das Geländer gelegt hatte. An der Wand des Hauses, von der ein buntgewirkter Teppich herabhing, stand ein zierlicher langgestreckter Rohrsessel, darin ließ sie sich nieder. Ihrem Winke folgend, setzte ich mich auf einen andern, ihr schräg gegenüber. Gegen das Geländer gestützt, blickte ich in das Meer von Grün hinab, das die Stufen zu meinen Füßen umfloß, und dann auf sie, die wieder, wie ich es gestern gesehen hatte, mit dieser rührend lässigen Bewegung die Falten ihres Kleides ordnete, bevor sie das Heft aufschlug. Sie hielt den Blick darauf gesenkt, Minuten vergingen, und sie schien meine Anwesenheit vergessen zu haben. Wenn mich ihr Gespräch vom ersten Worte an vertraut berührt hatte, so herrschte nun ein Schweigen, wie zwischen alten Bekannten.
Es waren Noten, deren Reihen ihr schlanker Finger leis gleitend verfolgte. Ihre halb geöffneten Lippen bewegten sich fast unmerklich, ohne einen Ton des Liedes vernehmen zu lassen, dessen eintönig süße Melodie mir dennoch im Ohr lag. Ihre stille hohe Stirn erschien mir durchsichtig geworden. Das Echo der inneren. Klänge zog darüber hin mit zarter Andacht und hoffnungsloser Klage, unschuldig stammelnd und betäubend schwül. Je länger ich sah und lauschte, fühlte ich meine Seele verstrickt in den Tonreihen einer rätselvollen, fatalistischen Musik. Einen Augenblick hatte ich eine bestimmte Vorstellung meines Zustandes. Meine erregte Hand hatte auf dem Geländer den Zweig der weißen Winde erfaßt, den ich früher über ihre Schultern herabhängen gesehen hatte. Da meinte ich plötzlich in den Notenlinien ein Gewirr schlanker Zweige zu erkennen, und ihre Finger, die darüber hinglitten, hefteten blasse Blüten daran. Die feinen Ranken des Schlinggewächses legten sich um mich her, um all mein Wesen, fester und fester, einschmeichelnd und erstickend. Und ich mochte ihnen nicht wehren. Es tat so wohl, ihre schwächende Umarmung zu erleiden.
Wirklich fühlte ich mich, als ich endlich aufstand, schwächer und kränker, als seit langem. Es bereitete mir eine seltsame Genugtuung.
Sie hatte sich zuerst erhoben und war nahe an das Geländer getreten, auf das sie die Arme stützte. Ihre schmächtige Brust hob sich leise. Mehr zu fühlen, als zu sehen war es, wie ihre Gestalt und ihr Wesen sich dehnten in der steigenden Mittagswärme. Sie blickte hinüber in das Funkeln des Wassers und das Flimmern der Luft, ohne daß der harte Glanz ihre weit geöffneten Augen bewegte. In unveränderter Haltung fragte sie nach einer Weile:
›Kennen Sie das Lied?‹
›Ich erinnere mich, es früher gehört zu haben‹, sagte ich und fügte die Frage hinzu:
›Sie singen es nicht?‹
Als ob ich es nicht soeben von ihr gehört hätte.
Sie erwiderte einfach: ›Nein. Ich mache nur noch ganz stille Musik – wie eben.‹
Und dies blieb die einzige Andeutung, die ich damals über sie selbst, über ihren Zustand von ihr erhielt. Sie sagte nichts Derartiges mehr, so viele Tage nun auch folgten und so endlos viele Stunden, die ich in ihrer Gesellschaft auf der Terrasse verbrachte oder drunten zwischen den hohen, verwilderten Hecken und den grauen Marmorbildern oder auf dem See, unter jenem Laubgewölbe, wo ich zuerst mit ihr zusammengetroffen war. Wir schritten langsam dahin und blickten, stehenbleibend, in eine gemeinsame Ferne, die wir kaum sahen. Ja, obwohl der Raum, in dem wir uns bewegten, im Grunde nur klein war, schien es doch nicht anders, als wandelten wir, Seite an Seite, in unendliche Weiten fort. Ich hatte das Gefühl für Raum und Zeit verloren in dem namenlosen Zauber ihrer Gegenwart. Ich kannte nur das Licht und den Duft und die stille Schönheit, sehnsüchtig, in ihnen aufzugehen mit ihr.
Denn ich nahm, so wunderlich es klingen mag, kaum wahr, daß sie den alltäglichen Lebensbedingungen gefolgt wäre. In ihrer Nähe, unter ihren Händen, die mit lässigem Schmeicheln darüber hinstreiften, schien alles sich zu entkörpern. Wie oft saß ich ihr im hohen Speisezimmer gegenüber und sah ihr Bild, das mir im Rahmen eines offenen Fensters erschien, vom sonnigen Blättergrün und Himmelsblau zart abgehoben. Ein Teil der Wände war mit heller Fayencemalerei belegt, über die an verschiedenen Stellen ein mattfarbiger Gobelin fiel. Auf schlanken Säulen lehnten sich Schäferinnen aus Porzellan kokett gegen diesen ernsten Grund. Auf dem Tische standen silberne Vasen und Südseemuscheln, gefüllt mit ausgewählten Blumen, deren Farben mit denen der Früchte, ja mit denen der aufgetragenen Speisen zusammengestimmt waren. Formen, Farben und Düfte, alles was sie umgab, hauchte mit einem einzigen Atem eine Schönheit aus, von der sie mehr als von Speise und Trank unterhalten schien.
Und wenn diese Schönheit und ihr Walten mir unweltlich und traumhaft deuchten, konnte es doch nicht den Grund haben, daß sie sich vor mir in Szene setzte. Ganz im Gegenteil blieb sie oft genug unachtsam für meine Anwesenheit. Einmal sah ich sie den Diener mit Geld versehen. Aus einem unverschlossenen Schränkchen nahm sie eine zierliche stählerne Schatulle. Während sie die Hand, die hineingegriffen hatte, wieder herauszog, klirrte ein goldener Strahl zurück. Das Gold rieselte durch ihre weißen Finger über den graublauen Stahl. War es Geld oder ein Farbenspiel? Auch dies ließ mich wieder empfinden, wie seltsam sie losgelöst war von der Welt, von den Werten und Beziehungen, die in ihr gelten.
Wußte ich doch so wenig wie am ersten Tage, wer sie sei und woher sie komme. Sie hatte mir erlaubt, sie Lydia zu nennen. Ich hörte sie alle Sprachen mit gleicher Unbefangenheit sprechen. Ihr Deutsch hatte zuweilen einen slawischen, weich klagenden Akzent, doch kamen dann auch süddeutsche Laute dazwischen. Mit den beiden alten Leuten, dem Diener und seiner Frau, verständigte sie sich in einem mir fremden Idiom. Aus alledem vermochte ich nichts zu entnehmen und niemals hätte ich eine Frage tun mögen, so wenig wie ich ihre Lippen zu einer Frage über mich und meine Herkunft sich je hatte öffnen gesehen.
In ein unbestimmtes Verhältnis zu etwas, das ich schon früher geschaut und erlebt hatte, vermochte ich sie nur bei einer Gelegenheit zu setzen. Wenn wir an feuchten Tagen auf der Terrasse saßen – es regnete nicht, doch die Luft rieselte weiß und flockig. Wie eine ganz leichte Watte hüllte die warme Feuchtigkeit alles, das Seeufer, die Büsche und Baumstämme, den Marmor und uns selbst ein. Über dem Kragen ihres weichen gelblichen Kaschmirkleides nahm dann die Haut ihres Halses und Gesichtes einen matten Ton von Elfenbein an. Von oben sickerte, da es gegen Mittag ging, ein trauriges, glanzloses Licht langsam liebkosend über ihr Haar. Und ihr farbloses Haar, dem eine glänzende Sonne keinen Widerschein entlockte, vereinigte diese schüchternen matten Strahlen zu einem leisen Schimmer, der nun von ihr auszufließen schien über alles, was sie umgab. – Wenn ich sie so sah, kam mir halb unbewußt die Erinnerung an jenes Madonnenbild zu Florenz, in dessen leidenden Reiz ich mich einst versenkt hatte.
Doch so wenig wie von jener Heiligen wußte ich von ihr – vielleicht noch weniger. Nur eins wußte ich: sie starb.
Nach solchen bedeckten Tagen fand ich sie kränker als vorher. In ihrem durchsichtig blassen Gesicht brannten die zu roten Lippen. Ihr Wesen schien so sehr ausgelöscht, daß die Umrisse ihrer Gestalt mir vor den Augen verschwammen. Dann erfaßte mich eine entsetzliche Angst, sie möchte so entschwinden, sie, die schon jetzt von der Welt nicht mehr gesehen ward, möchte dorthin gehen, wo auch ich sie nicht mehr finden würde. Sie hatte sich hierher zurückgezogen, in einen künstlichen, unweltlichen Kreis, für den die Verhältnisse des Lebens der andern nicht mehr galten und dessen Grenzen in die ewige Leere hinüberflossen. Ihr Dasein berührte sich schon hier, wo man langsamer oder schneller, ohne das Bewußtsein der Zeit lebte, mit der Unendlichkeit. Wie nun, wenn sie verklang wie ein einmal vernommener Ton von drüben und mich zurückließ in der Endlichkeit, aus der ich ohne sie keinen Ausweg finden würde. Ich ahnte zum voraus meine namenlose Verlassenheit. Ich mußte ihr folgen, es war unmöglich, ihr nicht zu folgen. Ich war krank und sterbend gleich ihr. Ich wollte es sein.
Jeder Wechsel ihres Zustandes warf mich in die qualvollste Unruhe, in streitende Hoffnungen und Ängste. Ich kannte den schrecklichen Augenblick, wenn sie sich plötzlich im Sessel hoch aufrichtete, wenn ihre zerbrechlichen Schultern sich an der steilen Lehne emporrangen und ihre Hände die Armpolster umkrampften. Ihre Augen waren übermäßig weit geöffnet und durchscheinend, Augen, die von der Welt nichts mehr sahen. Ich fühlte, daß ich nicht mehr da war für sie, während sie aufstand und tastend, mit dem Schritt einer Nachtwandlerin, fortging. Vielleicht war es die rührende Koketterie ihres Leidens, die mich solche Anfälle und das Elend und die Häßlichkeit des Sterbens nicht sehen lassen wollte. Die Schönheit sollte auch noch das letzte besiegen. Mich aber trieb, während ich sie so sich weiter und weiter entfernen fühlte, eine verzweifelte Sehnsucht, mich auf der Stelle, wo sie noch eben gestanden hatte, niederzuwerfen, als vermöchte ich nur so, ihren Tod einzuholen und mich mit ihm zu vereinigen. Und dennoch erwartete ich mit einer phantastischen, halb unsinnigen Hoffnung ihre Wiederkehr und zitterte in den Schauern einer Erlösung, wenn ich sie endlich erscheinen sah, den Gang noch schleppend und mühsam, doch mit dem gewöhnlichen Ausdruck, nur auf den blassen Wangen zwei hohe dunkelrote Flecken.
Dann folgten oft viele Tage, in denen ich sie wenig sah. Einsam irrte ich durch Haus und Tal, angstvoll vorwärts getrieben von etwas, das ganz im Grunde, wo das Bewußtsein fehlte, da war und wartete. Es wartete, daß alles erfüllt sei, und mußte mir's alsbald sagen. Unmöglich war es, daß ich sie auch nur um eine einzige Sekunde überlebte. Lebte ich doch nur von ihrer Seele und ganz eingeschlossen in den Rätseln ihres Wesens, die für mich keine waren. Ich kannte sie, weil ich mit ihr eins war. Wie hätten die getrennten Körper in der letzten Stunde unsere Vereinigung lösen können.
An einem gewitterschwülen Tage war ich lange am Seeufer hingegangen, unter den tief an den Bergen herniederhängenden Wolken. Gegen Abend erst kehrte ich in das Haus zurück, und fand auch hier keine Ruhe. Eine innere Macht scheuchte mich auf, sobald ich mich niedergelassen hatte, und ließ mich über die Teppiche, die meinen müden Schritt hinderten, weiterirren. Aus dem Speisesaal ging es in einen großen Wohnraum, in dessen Mitte, von den Statuen der Meister umringt, der Flügel stand. Immer fand ich einen ihrer Gesänge aufgeschlagen, von denen sie keinen sang. Ohne Absicht näherte ich mich seitwärts einem dunklen Vorhange, den ich noch nicht beachtet hatte. Als ich ihn zurückgeschlagen hatte, blickte ich durch eine angelehnte, niedrige Tür in ein kleines Kabinett, das zur Hauskapelle eingerichtet war. Es lag in tiefer Dämmerung. An die Bergwand grenzend, erhielt der Raum durch das einzige, gotisch spitze Fenster fast kein Tageslicht. Die geringe Beleuchtung kam von der getäfelten Decke, aus der ein grünlicher Schein fiel. An der weißen Wand stand ein geschnitztes Kirchengestühl. Mein Blick ward festgehalten von der lebensgroßen, in Elfenbein gebildeten Gestalt des gekreuzigten Christus, die inmitten zweier silbernen Kandelaber auf einem schmalen Altar vor dem Hintergrund einer schwer herabwallenden Silberstickerei geheimnisvoll schimmerte.
Erst nachdem meine Augen sich an die schwache Beleuchtung gewöhnt hatten, nahm ich zu Füßen des Altars einen niedrigen, schwarz bekleideten Betschemel wahr. Und etwas, das ich solange für einen matten Widerschein des Lichtes gehalten, unterschied ich dann als eine weiße Gestalt.
Sie war ganz zusammengesunken, hingeworfen, fast wie eine leblose Sache, über die niedrigen Stufen. Das weite Gewand ließ mich keine Formen erkennen, und von ihrem Kopf, der über den Rand des Pultes hinübergeschoben, auf ihren herabhängenden Armen zu ruhen schien, sah ich nur das Nackenhaar im leisen grünlichen Schimmer hin und wieder erzittern. Es war das einzige Zeichen von Leben.
Plötzlich begann sie tonlose langsame Worte zu flüstern, die ich nicht verstand. Wenige Augenblicke, dann blieb aufs neue alles still, eine lange Weile.
Da wieder – sie flüsterte, doch rascher, heftiger, durch schwere Atemzüge unterbrochen, als wolle sie ihre Bitte erzwingen. Bat sie um Leben oder Tod? Ich stand mit angehaltenem Atem, zitternd, jeder Nerv, alle Muskeln gelöst, und kraftlos hätte ich hinsinken müssen, wäre nicht das Etwas gewesen, das in mir war und wartete, und das mir sogleich, in einer Sekunde, verkünden mußte, es sei erfüllt, um was ich in ihrer Seele, mit ihr flehte.
Und dann geschah, was ich fürchtete und hoffte. Mit einem langen matten Stöhnen hob sie den Kopf und streckte mit langsamer, steifer Gebärde die Arme dem Christusbild entgegen. Wie sie aus den zurückgefallenen Ärmeln emporragten, erschrak ich über ihre krankhafte Magerkeit, und weil sie elfenbeinern aussahen wie das Bild. Ruckweise, mit einer nervösen Kraft, die niemand der gebrechlichen Gestalt zugetraut haben würde, folgte dann der Körper der sehnsüchtigen Bewegung der Arme. Er stieg empor; unter den Falten des Gewandes sah ich den überschlanken Leib sich dehnen und wachsen. Ihr Kopf befand sich in der Höhe der Füße dessen, zu dem sie sich hinanreckte, und ihre Lippen glitten über diese gekreuzten Füße hin. Aber sie erhob sich weiter. Sie kniete nicht mehr, und stand sie noch? Sie schien zu schweben; ihr Kopf, gewaltsam in den Nacken geworfen, war nach dem Haupte des Erlösers gerichtet. Dorthin trachtete, mit einer einzigen Gewalt, all ihr Wesen. Es war, als wollte sie ihm ein Wort nahe ins Angesicht sagen. Aber er hörte es nicht, und sie blieb stumm unter der schmerzlichen Majestät seines Blickes. Noch eine übermenschliche Anstrengung – ihre Arme stießen zur Seite, wie im Krampf, daß ich die Gelenke krachen hörte. Einer von ihnen traf den Kandelaber, daß er klirrte.
Ich weiß nicht, ob er umfiel. Ich sah nur noch, wie die unmögliche Spannung ihrer Glieder nachließ, wie ihr Körper weich und schwer, als sei mit einem einzigen Hauch all sein Wille ausgeblasen, zurückfiel. Und aus der gleichen unbegreiflichen Höhe, in die meine Seele mit der ihren getragen war, sank ich selbst, ohne Widerstreben, wie sie der Verkündigung des Endes gehorchend, ins Leere. –
In der Nacht, es mochte gegen Morgen sein, erwachte ich einmal. Zuerst war alles stumm und dumpf in mir, aber dann arbeitete etwas sich aus mir heraus, das zu toben begann. Es brauste rings um mich her, und plötzlich klang es in das verworrene Lärmen hinein wie das klirrende Aufstoßen von Silber. Darauf verbreitete sich allmählich ein ungewisser Schein, in dem ich endlich den Rahmen eines Fensters unterschied. Sie stand davor, die weiße Gestalt erhob sich dort langsam gegen das Fensterkreuz, und hinaus. Sie schwebte hinaus. Einen Augenblick stand sie draußen mit geschlossenen Füßen in der Luft, dann entglitt sie weiter, auf den rankenden Zweigen der weißen Winde, die ihre geschlossenen Füße nicht berührten, weiter und weiter, in dem Scheine, den sie nach sich zog. Hinter ihr schloß sich die Dunkelheit, ich blieb darin zurück. Ich wollte schreien: ›Hilf mir! Ich auch!‹ Aber ich sank in Bewußtlosigkeit.
Jede Nacht war es dasselbe, ich weiß nicht wie viele Nächte. Ich erwachte, und meine Augen fanden langsam die Helligkeit, weißgrünlich, und die schwebende Gestalt. Mein Blut toste und wälzte in meinem Hirn Gedichte von unmenschlicher, zum Fluge verlangender und an den Boden gebannter Sehnsucht – Fiebergedichte, die keine menschlichen Worte hatten.
Eines Morgens endlich begann ich wieder zu sehen, durch einen Schleier, mit noch stumpfen Sinnen, doch waren es wieder die Dinge dieser Welt. Die Dämmerung lichtete sich. In einem Winkel des Zimmers, von dem Tisch, an dem sie gesessen, erhob sich die Gestalt meiner Gesichte. Sie trug zwei silberne Leuchter zum Kamin, auf dessen Marmorplatte sie leise niederklirrten. Als sie die Kerzen gelöscht hatte, ging sie mit ihrem schwebenden Schritt zum Fenster, das sie der herbstlichen Morgenluft öffnete.
Um ihr mit dem Blick folgen zu können, wandte ich den Kopf. Sie hatte meine Bewegung gehört, sie sah mich an. Und während unsere Augen sich trafen und lange, lange ineinander vertieft blieben, erfuhr ich, daß endlich, dennoch, die Trennung unserer Körper besiegt sei, daß sie nun ganz mein Traum geworden und ich der ihre, und daß wir fortan ohne Furcht und sicheren Schrittes miteinander in die Unendlichkeit wandelten.
Sie trat an mein Bett und reichte mir ihre Hand, durch die das Licht hindurchschimmerte. Ich sah es mit freudigem Herzklopfen und neigte mich über diese Hand, die meine tastenden Lippen kaum fühlten. In ihrem Gesicht, so schien es mir, war nichts mehr, als die Augen, große fremde und vertraute Sterne einer anderen Welt, die ich nicht mehr losließ.
Sie neigte sich über mich und sagte mit einer Stimme, die nur noch ein Hauch war:
›Du sollst ganz still bleiben.‹
Aber ich wußte mir kein Wort, das ich ihr noch zu sagen nötig gehabt hätte.
Nach einer langen Weile, als ich schwieg, tat sie selbst eine Frage:
›Du fühlst dich sehr schwach?‹
›Du warst immer bei mir?‹ fragte ich und beachtete so wenig dieses erste ›Du‹, das ich aussprach, wie das von ihr empfangene.
Sie nickte. Ich begann wieder:
›Du hast alles gehört, was ich gesprochen habe, all diese Nächte?‹
›Nichts. Aber ich weiß alles. Sei still!‹
Ich war still, und ganz still und trostreich blieb es in mir die Tage, die sie noch an meinem Lager zubrachte, und später, als wir wieder in guten Stunden miteinander auf der Terrasse saßen.
Es war wie früher, nur daß kaum noch gesprochen wurde, weil wir unsere Gedanken kannten; nur daß man seinen Körper kaum noch fühlte. Die Zeit des Wartens war vergangen, wir befanden uns jenseits von Furcht und Hoffnung.
Wir saßen inmitten des Rot und Gelb der fallenden Blätter. Um uns her blühten große Blumen in undenkbaren Farben auf, und ganz drunten, hinter unwirklich blauen Schleiern, zogen die Ewigkeiten vorüber, die wir mit unbewegten Augen sahen.
Der Herbst ward kühler. Zusammenschauernd sagte ich zu meiner bleichen Gefährtin:
›Wir werden fortgehen. Was tun wir in einer sterbenden Welt?‹
Sie antwortete:
›Bleibe noch eine Zeit. Dann wirst du mir folgen.‹
›Dir folgen? Was kann uns denn trennen?‹
›Nichts. Nur mußt du einen Augenblick von mir gehen, bevor das Letzte, Häßliche mit mir geschieht, in der Zeitlichkeit.‹
›Ich soll von dir gehen!‹
›Nur für die Minute, da ich dir vorausgehe. Dann wirst du mich überall wiederfinden. Nur das Letzte, wie könntest du das sehen wollen. Wir glauben nur, wenn wir nicht sehen.‹
Sie fügte noch hinzu: ›Du wirst es erfahren, wenn der Augenblick bevorsteht.‹
Und wieder ein Tag, da war der Augenblick gekommen, für dessen Dauer ich sie verlassen sollte.
Als ich, von einem Morgengange zurückkehrend, langsam zur Villa hinanstieg, sah ich schon von weitem, durch das gelichtete Laub, ihre weiße Gestalt droben auf der Terrasse undeutlich schimmern, wie ein Phantom, das mir nun, ich fühlte es, sofort aus den Augen entschwinden sollte. Sie ging nie mehr an den See hinunter und selten betrat sie noch die Terrasse. Nun hatte ein blauer Herbsttag die letzte warme Sonne gebracht. Und wie ich, mich nähernd, ihre Gestalt in hinfälliger Anmut gegen die Säule gelehnt sah, mit den verwischten Zügen des Gesichtes, in dem nur die Augen ein eigenes, von dem des Körpers unabhängiges Leben führten, sagte mir eine grundlose, unwiderlegliche Ahnung, daß sie mich erwarte und daß sie in der nächsten Minute die Entscheidung sprechen werde.
Sie winkte mir nicht und blieb ohne Bewegung, bis ich, um Zeit zu gewinnen, langsameren Schrittes, dicht vor sie hingetreten war. Ganz ruhig, ohne Trauer und ohne die Betonung von etwas Außerordentlichem sagte sie:
›Es ist das letztemal, daß ich hier draußen bin. Die Zeit ist um.‹
Einen einzigen Augenblick begehrte ich dennoch auf.
›Ich soll dich verlassen!‹ rief ich, daß es roh in eine Geisterstille klang.
Aber sie legte nur beschwichtigend den Finger auf die Lippen, und ich wußte wieder, daß alles geschehen müsse, wie sie es längst vorausgesagt hatte.
Sie hatte einen Schritt zur Seite getan, hinter ihr erschien der Diener, mit meinem Gepäck beladen, in der Tür.
Der Mann war schon ein Stück die Terrasse hinab. Wir standen noch immer. Dann reichte sie mir die Hand und sagte:
›Auf Wiedersehen.‹
Ich wiederholte die beiden Worte, und es blieben die einzigen, die wir sprachen. Ich wandte mich und ging.
Im Gehen fühlte ich nichts anderes, als in meiner brennenden Hand einen kühlen Hauch an der Stelle, wo eben noch die ihre gelegen.
Auf halbem Wege blickte ich zurück, um droben, zwischen den Zweigen, ein flackerndes weißes Licht zu sehen, das im Verlöschen war. Als ich, unten angelangt, mich noch einmal umwandte, fand ich es nicht mehr.
Wie soll ich nun erzählen, auf welche Weise ich sie vergessen habe?
Denn seltsamer als alles andere ist, daß ich sie vergaß, und dennoch so natürlich. Kaum, daß ich sie verlassen hatte, begannen die Linien ihrer Gestalt, die von meinen Sinnen kaum je recht erfaßt worden waren, sich in meinem Gedächtnisse zu verwischen. Wenn ich des Nachts erwachte, fand ich vor meinen geschlossenen Lidern einen stillen verschleierten Glanz, den Widerschein eines fernen Sternes, ihres Auges. Der Glanz ward undeutlicher, aber ich behielt in der Seele den Widerschein des wunderbaren Sternes, in dem ich einmal gelebt hatte. Er blieb immer, wenn auch die nach jenem Sterne zurückverlangende Seele besiegt wurde von dem Körper, der gesundete und stärker ward als je. Das Leben tat an mir seine Arbeit und, noch mehr, stellte mir die Arbeit, die ich zu tun hatte. Ich kehrte heim und erarbeitete mir ein bürgerliches Glück.
Aus dem Augenblicke, den unsere Trennung währen sollte, ist ein langer Zeitraum geworden. Ob sie mich heute wiedererkennen würde? Ich habe sie überlebt, und, ich weiß nicht, wie es geschah, aber heute erinnere ich mich ihrer kaum wie eines Menschen. Und doch habe ich keines Menschen Seele näher gestanden als der ihren. Ich wußte, solange ich bei ihr weilte, nichts von ihr und habe doch nie wieder jede Regung eines andern Wesens so mitgelebt und dies ganze, rätselvolle Wesen zu dem meinen gemacht, wie damals. Denn das Unbegreifliche war Leben geworden, und man atmete in lauter Rätseln, die keine waren, weil keine noch so leise Frage sie verriet. Man hatte das Wunderbare ganz erfaßt, weil man den Begriff des Wunderbaren ganz verloren hatte.
Sprach sie nicht das Wort, daß man nur glaubte, wenn man nicht sah?
Ich habe nicht nur sie überlebt, sondern auch das Wunderbare, dessen außerweltlicher Schein einmal auf mich fiel und dessen man später, auch wenn man es erfahren hat, nur wie an etwas Unwirkliches denkt.
Das Wunderbare! Zuweilen hege ich Zweifel, aber dann meine ich doch wieder, es sei besser, ein einziges Mal träumend von seinem vollen Schein getroffen zu sein, als die andere Art, wie ihr andern den gemeinsamen Idealen unserer Jugend näherzukommen sucht. Ihr ringt und hastet, und hier und da erhascht ihr einen Fetzen des Ideals, der euren prüfenden Händen gleich wieder entfliegt, ohne daß ihr je dahin gelangtet, ganz zu können, ganz zu verstehen oder ganz zu vergessen.«