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Zuerst erschienen in »Das Wunderbare«, Albert Langen Verlag, München, 1897
Textquelle: Aufbau-Verlag, Berlin, 1953. Heinrich Mann, Novellen, II. Band
»Du kannst dir also gar nichts denken?« sagte Enrichetta, während sie ihren Narciso kokett und etwas spöttisch von der Seite ansah.
»Wirklich, ist es das?« fragte er, und er legte zärtlich den Arm um ihre Taille, die er nun – aber ohne ihre Andeutung hätte er es sicher nicht bemerkt – ein wenig breiter als sonst zu fühlen meinte.
Enrichetta lachte plötzlich so stark, daß ihr von Stirn und Schläfen in lockeren Kämmen abstehendes, schwarzes Haar auf und nieder flog. In ihrem goldig blassen Gesicht, ganz dicht unter den dunkel umschatteten Augen, erschienen zwei rote Flecken.
»Und Bucci!« rief sie unter Lachen.
»Nun, und Bucci?« wiederholte er. »Jetzt wird er dich doch wohl in Ruh' lassen, wenn er das erfährt.«
Sie beschrieb eine verneinende Bewegung mit dem Finger.
»Er weiß es schon. Du armer Kerl, er ist scharfsichtiger als du. Und er hat gesagt: Jetzt gerade.«
Sie küßte ihn mit erneuter Heiterkeit auf den Mund, ohne doch seine üble Laune ganz beschwichtigen zu können.
»Ah«, sagte er, »ich sehe, wir können nicht mehr zu Falconi gehen.«
Sie schmollte.
»Aber warum denn nicht? Bist du denn nicht Student, wenn du jetzt auch Familienvater werden sollst? Es ist doch so natürlich, daß du dich des Abends mit den Kameraden im Café triffst und deine Freundin mitbringst, wie die andern auch tun – sooft sie eine haben.«
»Aber Bucci!«
»Was geht dich Bucci an. Du weißt ja, daß er nur neidisch ist.«
Diese Auffassung tat Narciso wohl. Er sagte:
»Der Schlingel weiß nicht, wie er sein Geld hinauswerfen soll.«
»Obschon er bald keins mehr haben wird. Nun kann er nicht begreifen, daß ich mit dir – allein glücklich bin.«
»Das ist wahr. Er denkt noch an – früher, als er, mit den andern, vielleicht auch Aussichten gehabt hätte –«
Narciso fing zu lachen an. Erst ein wenig verlegen, aber dann gab Enrichetta ihm einen freundschaftlichen Schlag auf seine breite Wange, und sie schloß seinen Satz:
»Und nun will er nicht einsehen, daß dies aufgehört hat, weil er eben nicht weiß, wie sicher du dich mit Enrichetta fühlen darfst.«
Narciso steckte die Hände in die Hosentaschen und sah sehr zufrieden aus. Es lag allerdings in seinem Temperament, sich sicher zu fühlen, und Bucci war noch nicht der Mann, ihn zu beunruhigen.
Die jungen Leute standen aneinandergelehnt auf ihrem engen eisernen Balkon und sahen einer mit Blumen und Gemüse beladenen Barke zu, die unterhalb des Aventin anlegte. Der Hügel schob sein von den drei Klosterkirchen und dem Palast der Malteserritter phantastisch ausgezacktes Profil schwarz in den rosigen Himmel. Der Märzabend war merkwürdig lau. Enrichetta atmete den Duft von Orangenblüten ein, der vom Fenster unter ihnen heraufstieg. Aber sie hustete ein wenig, und Narciso zog sie ins Zimmer zurück.
Sie wohnten nun seit acht Wochen in ihren drei kleinen Räumen des fünften Stockwerks in Trastevere. Das war weit von der Universität, aber seit er mit Enrichetta zusammen lebte, hatte dies für Narciso nicht mehr viel zu bedeuten. Er mußte sich sehr zusammennehmen, um mit der kleinen Monatsrente, die er von seinem Vater, einem ländlichen Bürger in der Nähe von Cortona, bezog, ihren Haushalt zu zweien einzurichten. Aber er entbehrte nichts dabei, da er Familienneigungen besaß. Als er in dem kleinen Cafékonzert, wo viele Studenten verkehrten, Enrichetta zuerst auftreten sah, hatte er sich plötzlich verliebt und, flüchtigen Abenteuern wenig zugetan, ebenso plötzlich Lust bekommen, sie ganz für sich allein zu behalten. Das geregelte häusliche Leben war ihm Bedürfnis, er fand die Familienküche besser als das Essen im Restaurant, wohin sie nur selten, mit Freunden, gingen. Seinem etwas schweren Blut, wovon er zuviel hatte, bekam der Umgang mit der sanguinischen Enrichetta gut. Er genoß die Vorzüge der Ehe mit dem Gefühl, seine Freiheit darum nicht aufgegeben zu haben. Nach der Vergangenheit des Mädchens fragte er nicht. Es genügte ihm, fortan nichts zu fürchten zu haben, denn er war sicher, von ihr geliebt zu werden.
Enrichetta liebte ihn, vor allem weil er stark war. Was hätte sie mit einem kleinen Menschen wie Bucci anfangen sollen, der immer mit nervösen Fingern über sein gelbes Gesicht, durch seinen schüttern schwarzen Kinnbart fuhr. Schwach wie sie selbst war, konnte ihr ein Schwacher nicht helfen. Narciso aber dankte sie es, aus Verhältnissen entronnen zu sein, für die sie nicht geschaffen war. Der Zufall hatte sie zur Chanteuse gemacht; aber in langen Kleidern zu singen, das langweilte sie, und in kurzen machte es sie verlegen. Das galante Leben erschien ihr schon gar trist, obwohl sie weiter nichts dagegen einzuwenden hatte: ihre ehemaligen Freundinnen sah sie noch jetzt sehr gern. Nur daß sie selbst es vorgezogen hatte, mit dem ersten besten braven Burschen davonzugehen, der sich durch sie glücklich machen lassen wollte. Enrichetta lechzte nach einem ganz bürgerlichen, dauerhaften Glück. Manchmal kam eine Mahnung von dem Alten aus Cortona: der Cavaliere Francesco denke daran, seine Advokatur niederzulegen, und Narciso möge daher sein Studium beendigen. Und manchmal ward Enrichetta durch ein länger anhaltendes Stechen in ihrer schmächtigen Brust geängstigt, und sie schloß sich im Schlafzimmer ein, um vor Narciso ihren Husten zu verbergen, ihn in den Decken zu ersticken. Nach solchen Tagen klammerte sie sich in leidenschaftlichsten Umarmungen an den Geliebten und an das Leben. Des jungen Mannes immer gleichmäßige Vertraulichkeit unterhielt in Enrichetta eine Art von dankbarer Verehrung, die bei dem Geliebten zwischen Hochherzigkeit und Phlegma nicht eingehend unterschied.
Sie gingen in den nächsten Wochen sogar öfter zu Falconi als früher. Denn Narciso fand es sehr schmeichelhaft, den Kameraden seine Freundin in ihrem neuen Zustande zu zeigen und die allgemeine Bewunderung zu genießen. Sie erschienen spät in dem kleinen Café, nur um im Vorübergehen einen Punsch zu trinken, als Leute, die in geordneten Verhältnissen leben und nicht Zeit haben, von sieben bis zwölf auf den Plüschbänken umherzusitzen. Einmal rief die dicke Ines, die jedesmal die Fortschritte in Enrichettas Zustande wahrzunehmen behauptete, schon bei ihrem Eintritt über den Tisch:
»Es ist sehr fraglich, ob du, Bucci, das gekonnt hättest!«
»Was für ein dummes Gesicht er macht!« kicherte Enrichetta, und Narciso strahlte vor Vergnügen.
Im Mai gingen sie viel ins Freie, vor das Tor von San Pancrazio, nicht weit von ihrem Hause. In der Villa Pamphili blieb Enrichetta am liebsten, wo man auf den weiten Wiesen weiße Primeln pflückt und Kränze flicht, während man auf den Stufen eines Brunnens sitzt. Narciso, der die Sonne schon zu heiß fand, trat an den Weg und blickte im Schatten der Bäume den Karossen nach, in denen große Damen vorüberfuhren. Nachher suchten sie den benachbarten Scarpone auf, um einen halben Liter zu trinken, und sie fühlten sich so froh und glücklich, daß Narciso noch tiefer in seine Tasche griff und einen Wagen zur Heimkehr nahm.
Sie verbrachten auch die heißen Monate in der Stadt. Narciso hatte nach Hause geschrieben, er könne in diesen Sommerferien Rom nicht verlassen, da er die Vorbereitung für sein Examen nun nicht länger aufschieben wolle. Die Hitze machte Enrichetta bequem, und in den langen unbeschäftigten Stunden ward sie manchmal von ängstlichen Beklemmungen befallen. Sie lehnte sich ans Fenster und blickte aufmerksam in jeden vorüberfahrenden Wagen, ob nicht Narciso darin sitze und ob man ihn ihr nicht krank zurückbringe. Entstand ein Geräusch auf der Treppe, so sah sie eilig nach, ob er nicht verunglückt sei. Gleichwohl ward sie in dieser Zeit von ihrem Husten fast gar nicht gequält.
Nur selten verließen sie jetzt das Haus. Besonders auf dem linken Tiberufer mochte Enrichetta sich mit ihrem Gang, der doch schon recht schwer wurde, nicht mehr blicken lassen. Einmal, als sie Einkäufe zu machen gehabt hatten, gerieten sie nachmittags auf den Corso, zu der Stunde, wo dort auch an den verödeten Julitagen ein ewig Leben herrscht. Vor dem Fenster des Juweliers Suscipi sahen sie sich unvermutet Bucci gegenüber. Enrichetta, ein wenig verlegen, beachtete plötzlich in der Auslage einen Saphir, der in einer schön ziselierten Armspange von mattem Gold stak.
»Sieh nur, wie reizend!« sagte sie.
Bucci lachte.
»Warum gerade der? Übrigens laß ihn dir doch von Narciso schenken.«
Enrichetta sah sich lächelnd nach Narciso um, der ein wenig abseits stand. ›Der arme Narciso‹, dachte sie, ›woher soll er die hundertfünfundsechzig Lire nehmen.‹ Es kam ihr ein komischer Gedanke. Sie blickte an ihrer eigenen Gestalt hernieder und fragte:
»Bucci, jetzt würdest du sicher nicht mehr wollen?«
Bucci griff mit seiner gewöhnlichen Gebärde in sein spärliches Bärtchen und schnitt eine nervöse Grimasse.
»Wer weiß?« sagte er mit einem gewissen eindringlichen Lächeln, das Enrichetta ganz nachdenklich machte.
Zu Hause wunderte sie sich, daß sie noch immer an den Saphir denken mußte. Seitdem sie die falschen Brillanten, die zu ihrem ehemaligen Handwerk gehörten, weggetan hatte, trug sie bloß einen vergoldeten Ring mit einer einzigen kleinen Perle, den ihr Narciso am Anfang ihrer Beziehungen gegeben hatte. Ihr zufriedener Sinn stand nicht nach glänzenden Kostbarkeiten. Warum mußte es nun dieser Saphir sein? Sie blieb während der Mahlzeit schweigsam, ging früh zu Bett und horchte noch lange auf Narcisos ruhige Atemzüge, während sie einen blauen Glanz vor Augen sah, der ihr ganz unheimlich machte und sie doch mit unbeschreiblicher Sehnsucht erfüllte.
Am Morgen fühlte sie sich dumpf und unruhig, als müsse irgend etwas geschehen. Sie mochte nicht wie sonst, nachdem Narciso ausgegangen, singend und bei weit offenem Fenster, den Haushalt versehen. Der Himmel leuchtete so blau wie der Saphir. Sie blieb in einer Ecke sitzen, den Kopf voll dummer Gedanken. Hundertfünfundsechzig Lire waren doch wirklich eine Lumperei. Narciso konnte ja nichts dafür, daß er sie nicht besaß. Aber sie mußte den Saphir haben. Sie sah ihn überall vor sich, meinte plötzlich, er schimmere von der Kommode herüber und wollte schon danach greifen, lüstern und unbesonnen, wie ein Kind nach einem gemalten Kuchen greift. Ihre Seligkeit hing von dem Besitz des Saphirs ab, und bevor Narciso heimkehrte, mußte sie ihn haben. Sie sprang auf, lugte unter der aufgestellten Jalousie auf die Straße, sah vorsichtig über die Treppen hinab und verließ das Haus. Sie stieg in einen vorüberfahrenden Wagen und nannte dem Kutscher Buccis Wohnung.
Nach anderthalb Stunden kam sie atemlos nach Hause und warf die Armspange mit dem Saphir in die Schieblade, unter ihre Leibwäsche. Narciso fand sie ausgelassen heiter, bei Tische plauderte sie unablässig, unter Scherzen, die er nicht alle verstand, die aber sein Behagen erhöhten. Später schickte sie ihn unter einem Vorwande fort und nahm die Spange aus der Kommode hervor. Sie ließ den Stein im Lichte blitzen, die Spange wieder und wieder über ihr Handgelenk gleiten, hundertmal. Dann trat sie vor den Spiegel, entblößte ihren Arm, erneute, während zwei rote Flecken auf ihre Wangen traten, ihre stille Belustigung, ganz gedankenlos, bis sie Narciso auf der Treppe hörte und eilig das Schmuckstück in die Schieblade zurückwarf.
Abends war sie abgespannt und müde, sie ängstigte sich im Schlafe, und am Morgen meinte sie aus einem schweren, schrecklichen Traum erwacht zu sein, der den ganzen vorigen Tag gedauert hatte. War es möglich, sollte sie das getan haben? Sie hatte wirklich ihren Narciso hintergangen, wegen eines blauen, glänzenden Dinges, das dort in der Kommode lag, wo sie gar nicht mehr vorbeigehen mochte! Ihr ganzes Glück einem solchen Unsinn zuliebe verscherzt zu haben! Den Frieden und die Sicherheit, die sie Narciso verdankte, die konnte sie nun nicht wiederfinden, ob er von der Sache wußte oder nicht. Sie ihm zu verbergen, das wäre ein weiterer unaufhörlicher Betrug gewesen. Das war ganz unmöglich, der Gedanke daran benahm ihr den Atem. So plötzlich, sie wußte kaum wie, war alles zusammengebrochen. Und sie mußte es ihm sagen. Sie wagte nicht zu hoffen, daß er ihr verzeihen werde, denn ihre Schuld war zu groß. Aber sagen mußte sie es ihm. Als er aber kam, sagte sie nichts. Sie konnte nicht sprechen, ihre Kehle war trocken, ihre Augen schwarz umkreist. Narciso fand sie so schwach, daß er unruhig wurde, doch tröstete sie ihn.
In der schlaflosen Nacht beschloß sie, es ihm zu schreiben. Und am Morgen schrieb sie ihr Geständnis auf, ganz kurz, denn zu erklären wußte sie nichts, und zu bitten wagte sie nichts, nur gestehen mußte sie es. Sie trug den Brief an den Kasten.
Nachmittags befand sie sich in fieberhafter Unruhe, die sie zu verraten fürchtete. Sie horchte hinaus und schrak jeden Augenblick zusammen. Die Portiersfrau rief auf der Treppe: »Ein Brief für den Advokaten Narciso!«
Narciso ging verwundert hinaus, denn von wem sollte ein Brief kommen? Aus Cortona schrieb man ihm monatlich zweimal, an bestimmten Tagen. Er trat wieder ins Zimmer und betrachtete die Aufschrift des Briefes. Dann sagte er:
»Das sieht aus wie deine Schrift?«
Als er sie mühsam und angstvoll lächeln sah, fragte er weiter:
»Aber was solltest du mir zu schreiben haben?«
»Ich muß dir doch wohl etwas zu schreiben haben«, brachte Enrichetta mit Anstrengung hervor.
Ihre Tränen erstickten sie, sie sah Narciso den Brief nachdenklich und verlegen in der Hand herumdrehen, und sie ließ ihn allein. Sie schloß sich im Schlafzimmer ein und wartete. Nach einer Viertelstunde klopfte Narciso an die Tür und sie erschrak heftig. Aller Mut hatte sie verlassen, sie wünschte nur, das Verhängnis hinauszuschieben und rief mit schwacher Stimme:
»Ich habe mich hingelegt, um ein wenig zu ruhen. Wünschest du etwas?«
»Nichts Besonderes. Auf Wiedersehen.«
Er hatte dies mit seiner gewöhnlichen Stimme gesagt. Sie dachte lange darüber nach, was er zu tun beabsichtigte. Aber am Abend fand sie ihn nicht anders als sonst, freundschaftlich wie immer. Sollte er ihr wirklich verziehen haben? Sie sah ihn, während er etwas Lustiges erzählte, unverwandt an, mit großen Augen, in die ein nie geahntes Glück eintrat. Nach Tische, wie er eine Zigarette drehte, ergriff sie plötzlich seine Hand und küßte sie. Es war ein stiller Jubel in ihr. Sie hätte gern laut ihre Wonne hinausgesungen, doch fühlte sie sich noch ein wenig schwach, eine Genesende, die zu ihrem Retter, dem allein sie das Leben verdankt, in mystischer Gläubigkeit aufsieht. Ah, er hatte ihr verziehen, denn er wußte, daß sie einzig ihn liebte. Ah, er besaß ein starkes und gutes Herz.
Es kam nun die Zeit für Enrichetta, in die Kirche von S. Agostino zu pilgern, zu der schönen, glänzenden Madonna, die inmitten der hundert, von Müttern gewidmeten Herzen thront und die Bitten der Frauen um eine glückliche Geburt erhört. Schon wenn sie den Schatten des breiten niedrigen Gewölbes betrat, umschauerte es sie andachtsvoll. Sie lag über ihrem Betschemel, lange Viertelstunden, und ihre Gedanken an ihr Kind flossen mit denen an Narciso zusammen. Sie liebte ihn schon jetzt mit aller ihrer künftigen Mutterliebe. Wenn sie sich endlich aufrichtete, um den vorgestreckten Fuß des Madonnenbildes zu küssen, so taumelte sie vor Inbrunst. Sie hatte nie geglaubt, so fromm zu sein.
Und auch so lieben zu können, wie sie jetzt liebte, hatte sie nie geglaubt. Nach ihrer Heimkehr aus der Kirche hing sie an Narcisos Halse und wollte nicht aufhören, ihm heiße Worte, immer aufs neue ihren Dank und ihr Glück, ins Ohr zu flüstern. Narciso streichelte ihre schmalen Wangen und betrachtete ihren armen verunstalteten Leib mit Mitleid und Unruhe. Doch Bucci, der als Mediziner Bescheid wissen mußte, versicherte ihm, daß derartige Anfälle, übertriebene Gefühlsausbrüche und unerklärliche Begierden, in dem Zustande ganz gewöhnlich seien und schon vorübergehen würden. Hiermit beruhigte sich Narciso. »Es wird schon vorübergehen«, das war seine Philosophie.
Es ging vorüber mit dem Sommer. In den ersten Sciroccotagen ward Enrichetta wieder von ihrem Husten befallen. Die schwüle nasse Luft bedrückte ihr die Brust, sie blieb schwer atmend in ihrem Winkel sitzen, ohne sprechen zu können. An einem solchen Oktobermorgen legte sie sich, bald nachdem sie aufgestanden war, wieder nieder. Es mußte nun bald die Erlösung kommen. Die Wehen wurden unerträglich, und dazu das Stechen in ihrer Brust. Sie blickte angstvoll auf Narciso, der bekümmert und ungeschickt dabei stand. Sie sagte leise:
»Ich glaube, ich glaube, du solltest nun zum Doktor schicken.«
In dem Augenblick, während er hinausgegangen war, brach die Angst mit verzehnfachter Gewalt über sie herein.
›Ich werde sterben‹, dachte sie, indes sie sich im Bette herumzuwerfen versuchte.
›Ich werde sterben, ohne ihm sein Kind in den Arm legen zu können. Nichts von dem kann ich ihm vergelten, was er für mich getan hat. Ich bin seiner unwürdig gewesen.‹
Narciso trat wieder ein und sie fragte ihn:
»Du hast mir wirklich alles verziehen?«
»Was denn, meine Liebe, ich habe dir nichts zu verzeihen.«
Sie wiederholte mit einem blassen Lächeln:
»Sag es mir doch noch einmal, daß du mir damals verziehen hast?«
»Wann, Enrichetta?«
»Das mit dem Saphir – und mit Bucci.«
»Bucci?« fragte er.
Sie blickte mit weit offenen Augen auf seine Stirn, die sich plötzlich faltete. Eine neue, schreckliche Furcht ergriff sie.
»Der Brief, hast du den Brief?« fragte sie mit erstickter Stimme.
Er wollte verlegen leugnen, aber sie nahm plötzlich alle Kraft zusammen, um zu befehlen:
»Geh, hol ihn!«
Er wendete sich hin und her und verließ das Zimmer. Durch die offene Tür sah sie ihn nebenan im Schranke kramen. Unter Büchern und alten Kollegienheften zog er den Brief hervor und brachte ihn herbei. Der Brief war uneröffnet.
Sie blieb bewegungslos, fast ohne Atem. Die Spannung in ihr war noch nicht gelöst. War sein Vertrauen so groß gewesen, daß er nicht einmal lesen wollte – oder war er nur feige? Sie wußte noch nicht. Sie befahl nochmals:
»Öffne und lies!«
Er tat es, und da sah sie in seinem Gesicht, das sie nicht aus den Augen ließ, wieder die Falten erscheinen, und seine Mundwinkel herabhängen. Er sah ärgerlich und böse aus. Jetzt wußte sie, und es war ihr, als schlössen sich die Pforten einer geträumten Welt hinter ihr und sie stände nun wieder vor der breiten, grauen Gewöhnlichkeit. In dieser Minute fühlte sie ihr Kind sterben, ihr eigenes Leben zerbrechen. Ah, wie hatte sie ihm gedankt und ihn vergöttert, und nun war alles ganz sinnlos gewesen. Sie wandte den Kopf ab.
Der Schritt des Doktors wurde hörbar, Narciso ging ihm entgegen. Er sah nicht den Abscheu und das Grauen der Enttäuschung, die Enrichettas sterbendes Gesicht entstellte.