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Man hatte im »Seehof« Kaffee getrunken und wanderte nun langsam am Ufer auf und nieder, sich immer in der Nähe des Wirtshauses haltend, wo die Pferde bereits zur Rückfahrt nach Kreuth eingespannt wurden. Alle drei hatten seit einigen Minuten die Unterhaltung ruhen lassen. Sie wurde nur dann zeitweilig belebt, wenn der Major stehen blieb, um seinem Entzücken über die Schönheiten der Landschaft Worte zu verleihen. Der alte Herr zeigte gern den Kunstbeflissenen; indes war das Bild, auf welches er das junge Paar aufmerksam machte, seiner Begeisterung würdig.
Die schon sehr schräg fallenden Sonnenstrahlen riefen auf dem fast bewegungslosen Achensee einen Schimmer hervor, der aus der Tiefe zu steigen schien, als machte eine Schicht Gold das Wasser bis zur Oberfläche erglänzen. Wie Riesen in ein Wunderland, tauchten in all den Glanz die schwarzen Spiegelbilder der vielfach mit Nadelholz bestandenen Felsen. Diese lagen, die Sonne bereits im Rücken, mit Ausnahme ihrer rotglänzenden Spitzen in völliger Dunkelheit.
»Seht einmal, bitte,« sagte Herr v. Grubeck mit einer Handbewegung auf den See, »sehen Sie, Wellkamp, können Sie sich etwas Vollendeteres vorstellen als die Brechung des Lichtes, dort, wo die kleinen hellen Streifen sich mit dem Schwarz verbinden?«
»Sehr schön,« stimmte der junge Mann seinem künftigen Schwiegervater bei, und er setzte hinzu:
»Der Achensee ist in seiner hellen, freundlichen Art, alle Eindrücke aufzunehmen und widerzuspiegeln, die ihm seine Umgebung bietet, so recht das Gegenteil von Gewässern, wie etwa der Feldsee eines ist. Ich war bei völlig wolkenlosem Himmel dort, und das ›Seebuk‹, von wo ich steil auf das Wasser hinabsah, trug das allerschönste Grün. Aber der See antwortet auf nichts. Man hätte ihn trotz all des Blau und Grün, das auf ihn einleuchtete, etwa für Torfboden halten können, wenn er nicht geglänzt hätte wie straffgespannter schwarzer Atlas.«
Wellkamp liebte es, bei allen Gelegenheiten irgendeine seiner zahlreichen Reiseerinnerungen zu Vergleichen herbeizuziehen.
Überdies war jeder der beiden Herren, vielleicht halb unbewußt, darauf bedacht, den andern auf möglichst vorteilhafte Weise mit seiner Person bekannt zu machen. Denn, ohne sich bisher nahe gestanden zu haben, waren sie bestimmt, in enge Beziehungen zueinander zu treten.
Nachdem diese Kreuther Bekanntschaft kaum vier Wochen gepflegt worden, war es auf dem heutigen Ausfluge ganz plötzlich und allen drei Beteiligten unvermutet zur Verlobung gekommen. Der Major hatte die beiden jungen Leute nur für einen Augenblick allein gelassen, als sie auch bereits einig geworden waren.
Anna hörte, während sie nun ihren Arm, ohne sich indes zu stützen, in dem seinen hielt, noch immer seine Stimme, die seltsam weich geworden war, als er ihr die entscheidende Bitte vorgelegt hatte. Und auf der Fahrt, vor der Ankunft im »Seehof«, waren sie beide so ausgelassen fröhlich gewesen, noch ganz unbekümmert um das Folgende!
Auf dem Gesichte des jungen Mädchens lag ein stilles, etwas träumerisches Glück, das zuweilen, vielleicht bei einem Gedanken an künftiges, zu heller Freudigkeit aufleuchtete. Auch Wellkamps Miene zeigte einen zufriedenen, frohen Ausdruck; der jedenfalls unbeabsichtigte, etwas verdrossene, müde Zug, der Anna mitunter darin aufgefallen, war häufig von einem stillen Lächeln überdeckt. Den Major dagegen hatte das Ereignis in geradezu lustige Stimmung versetzt. Er blinzelte aus den Ecken seiner schmalen, gekniffenen Augenspalten fortgesetzt die beiden Menschen an seiner Seite an, welche das Glück nunmehr gänzlich verstummen gemacht hatte.
Vor Glück verstummt! Und doch, so schlicht und gegeben solch Glück als Wirkung der Ursache erscheint, daß zwei Menschen, die an ihre Zusammengehörigkeit glauben gelernt haben, sich hierüber verständigten: wieviele der verschiedensten Empfindungen, Gedanken, Wünsche, Hoffnungen, vielleicht mit einem frohen Aufatmen, vielleicht im Gegenteil mit einer unbestimmten Beklommenheit verbunden, wirken zusammen, solch eine scheinbar durchsichtig einfache Stimmung hervorzubringen! So konnten auch hier das junge Paar wie der Vater in ihren Erwägungen und ihren Gefühlen sehr verschieden gestimmt sein, während ihre Mienen das gleiche schlichte, unzusammengesetzte Glück verkündigten.
Anna Grubeck wußte von ihrem Verlobten im Grunde nicht viel außer dem, was sie selbst in dieser Zeit täglichen Verkehrs an ihm wahrgenommen. Er war wohlhabend, wenn nicht reich, und jedenfalls imstande, ihr eine unabhängige Stellung zu geben. Sie war zu sehr gewohnt, alles mit praktischen Blicken anzusehen, um dies nicht anzuerkennen, auch jetzt, wo ihre Empfindung lauter zu sprechen bemüht war als jede Überlegung. Denn sie liebte ihn und wußte dabei, daß das Gefühl einer gewissen Überlegenheit, welches ihr Verkehr mit ihm sie gelehrt hatte, nicht den unbedeutendsten Anteil daran hatte, wenn sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Die Art ihrer Überlegenheit war ihr unbekannt geblieben, ebenso wie sie die Ursache seines Hanges, sich ihr in jeder Frage voll Ehrerbietung und mit einer merklichen Genugtuung unterzuordnen, nicht zu deuten wußte. Nur hatte ihr der weibliche Instinkt alsbald verraten, daß etwas anderes als einfache Ritterlichkeit in seinem Betragen zu suchen sei.
Bei ihrem Vater herrschte die Freude über die nahe Aussicht vor, den unhaltbaren Zuständen in seiner Familie ein Ende gemacht zu sehen. Zu allem Unglück, welches seine zweite Ehe herbeigeführt, hatte sie begonnen, seine Tochter zu isolieren. Es war gut, daß diese dem Kreise der Frau, mit der ein Zusammenleben auf die Dauer für sie nicht denkbar war, schon jetzt entrückt werden sollte. Mit dem Schwiegersohn war der Major einverstanden. Sein Alter wie seine pekuniäre Freiheit sagten ihm zu, auch war er ein liebenswürdiger und korrekter Mann.
Anders empfand der junge Mann selbst, durch dessen Annäherung an eine Familie so mannigfache Veränderungen hervorgerufen werden sollten.
In dem Augenblick, da Wellkamp an der Tafel des Kurhauses ein Gespräch mit seiner stillen und ernsten Nachbarin angeknüpft, hatte er erkannt, daß ein Verkehr mit ihr imstande sein könnte, ihn aus dem Zwange zu befreien, in dem ihn eine lange Vergangenheit und am unerträglichsten eine letzte Erfahrung hielt.
Denn die Erinnerung an das Berliner Abenteuer, dem er sich kaum entrissen, hatte ihn hierher ins Gebirge verfolgt. Es war ihm gewesen, als hafte an seinen Händen noch immer der entnervende Duft dieses Frauenhaares, in das er sich eingekrallt, wenn zwischen ihm und ihr der Kampf tobte, den diese ganze seltsame Liebe bedeutet hatte. Unaufhörlich hatte er das schrille Lachen des Mädchens zu hören gemeint, wie sie ihm zum Abschied nachrief: »Geh doch! Du kommst ja doch wieder!« Und wievielmal war er im Begriff gewesen, seinen Koffer zu packen, um die Fesseln wieder auf sich zu nehmen, die er nicht mehr entbehren konnte.
Ursprünglich war es eine unbeabsichtigte, flüchtige Begegnung. Das Mädchen war ihm gleich anfangs unsympathisch gewesen, und sie war es immer geblieben. Aber wie sie ihn am ersten Abend, durch eine eigentümliche Frechheit und Sorglosigkeit zu gefallen, zugleich reizte und abstieß, in eben solcher Weise hatte sich das Verhältnis zwischen ihnen fortgesetzt. Stets unleidlicher war es ihm geworden, und stets unmöglicher war ihm gleichwohl ein Bruch erschienen. Aus dem kurzen Aufenthalt in Berlin, den er beabsichtigt, war mehr als ein halbes Jahr geworden, als die Szene zwischen ihnen eintrat, die er sich nie zugetraut hätte. Er hatte sich auf ihm selbst unbegreifliche Weise eine augenblickliche Überlegenheit abgerungen, aber wer war der eigentliche Sieger? Er mußte auf seiner Flucht und später noch ihre Schönheit vor Augen sehen, die ihm nie so triumphierend und dabei so niedrig erschienen war wie zuletzt, als sie ihm nachrief: »Geh doch! Du kommst ja doch wieder!«
Jener Tag, als er mit Anna Grubeck bekannt wurde, machte all diesem Spuk ein Ende. Es war, als breitete sich, von ihr ausgehend, Klarheit und Friede über seine Stimmungen aus. Täglich merkte er deutlicher, daß ihr Einfluß das Leben seiner Gedanken und Gefühle völlig erneuere. Bei dem Klange ihrer ruhigen Altstimme, in der so gut ihr stillheiteres Wesen zum Ausdruck kam, wurde er allmählich ein anderer. Zuweilen überkam ihn, wenn sie sprach, eine träumerische Müdigkeit, während welcher einzelne Worte oder Bilder aus seiner Kinderzeit in seiner Erinnerung emportauchten. Oder er konnte sie in eine harmlose Lustigkeit mit hinreißen, ebenfalls wie ein Kind.
So genas er und hatte nur den Wunsch, die süße Rekonvaleszentenstimmung lange, lange hinauszudehnen, ohne einen Gedanken an die Zukunft. Trotzdem war es heute, fast wider seinen Willen, zur Aussprache gekommen. In das trauliche Wohlbehagen dieses Nachmittags hatte sich plötzlich die Furcht gemischt, der jetzige Zustand könnte zu Ende gehn, und ohne Zögern hatte er seinem Drange, das Verhältnis für immer zu befestigen, nachgegeben. Sonst langsam und unlustig, einen Entschluß zu fassen, sah er in seinem heutigen schnellen, kräftigen Antrieb die beste Bürgschaft dafür, daß er recht getan.
Der Major, der das längere Schweigen mit eingehender Beobachtung der Beleuchtungseffekte in der Landschaft ausfüllte, blieb wieder einmal stehen, da brach Wellkamp eine der Alpenrosen, die in dieser Höhe unmittelbar am Seeufer wuchsen, und überreichte sie seiner Braut. Er hatte ausdrücken wollen, daß er in der Blume ein Symbol für ihre Verbindung erblicke, aber er fürchtete, daß es gesprochen eine Banalität sein könnte.
Anna dankte ihm freudig lächelnd, und damit war die Stille, in der jedes seinen Betrachtungen nachgehangen, gebrochen. Der Major erinnerte an den Aufbruch.
Einmal wieder auf der Fahrt, blieb mit der Träumereien erzeugenden abendlichen Uferlandschaft auch die Stimmung der vergangenen Stunde zurück. Alle drei begannen, völlig ermuntert, an die Zukunft, die ihnen winkte, heranzutreten. Mit Eifer wurden Pläne geschmiedet. Natürlich wünschte das junge Mädchen, um dem Vater nahe zu bleiben, in Dresden Wohnung zu nehmen, und Wellkamp stimmte ihr bei.
»Ich kann mir,« sagte er, »für eine junge Ehe keinen geeigneteren Aufenthalt denken als diese stille und elegante Stadt. Alles wird uns dort mehr Behagen und Vertraulichkeit bieten, als in dem Getriebe eines regen Verkehrsplatzes zu finden sein würde – ohne daß wir dabei die Vorzüge eines solchen zu entbehren hätten.«
»Du kennst Dresden?«
Anna sprach das »Du« bereits ruhig und geläufig aus, wie wir wohl jemand laut einen Namen geben, mit dem wir ihn in unsern Gedanken seit langem benannt haben.
»Wenige Wochen, wie überall, habe ich mich auch dort aufgehalten,« entgegnete ihr Verlobter. »Wenn die Plätze, an denen wir vorübergehen, uns verraten wollten, unter welchen Bedingungen wir zu ihnen zurückkehren werden! Ich hätte dann eine deutlichere Erinnerung an die Stadt. Was meinst du aber zu einer Wohnung am Bismarck-Platz?«
»Nicht wahr? Gerade wollte ich sagen, daß es meine Lieblingsidee ist. Und dabei fast in Papas Nachbarschaft.«
Der Blick des jungen Mädchens machte sich eigentümlich zärtlich, als sie ihn, ohne ihr Plaudern zu unterbrechen, ihrem Vater zuwandte.
Auch darin ward man sogleich einig, einen langen Brautstand entbehrlich zu finden. Einer baldigen Verbindung standen durchaus keine Hindernisse entgegen. Vorerst wurde die Abreise auf morgen festgesetzt. Wellkamp erklärte, nur bis München mitzureisen, wo ihn Geschäfte einige Tage zurückhalten würden. Dafür aber sollte der heutige Abend dem festlichen Anlaß entsprechend begangen werden.
Der Major erklärte sich auf die Fragen der jungen Leute mit allem einverstanden, indes war er nach und nach schweigsamer geworden. Er sah häufig scharf in die dunkelnde Gegend hinaus, als studierte er sie. Wenigstens mochte es sein Bemühen sein, dies die andern glauben zu machen. Aber Anna bemerkte, daß sein Blick unruhig abirrte. Sie legte ihm in ihrer kindlichen Sorglichkeit den Mantel um, da es kühler ward und der Wagen sich Kreuth näherte, wo der kalte Wind eingetreten sein mußte, der hier jeden Morgen und jeden Abend mit der Regelmäßigkeit von Ebbe und Flut wiederkehrte.
Kurz vor der Einfahrt begann der alte Herr lebhaft und mit etwas übertrieben lauter Stimme zu sprechen, und im Laufe des Gesprächs warf er eine Bemerkung hin, deren unsicher fragender Tonfall die Gleichgültigkeit der Redeweise verdächtig machte.
»Nun bleibt uns noch,« sagte er, »morgen mit dem frühesten meiner Frau zu depeschieren, was sich ereignet hat. Sie muß es unbedingt noch vor unserer Ankunft wissen; es wird sie doppelt freuen.«
Wellkamp erwiderte seinem Schwiegervater mit einer stummen Verbeugung. Eine Frage hielt er zurück, sie schien ihm nicht angebracht, da man es bisher vermieden, ihn von einer zweiten Ehe des Majors zu unterrichten. Nur daß ihre Mutter nicht mehr am Leben, hatte er von Anna erfahren.
Inzwischen hielt der Wagen vor dem Kurhause.
Nun der Major sich der ihn lange beschwerenden Mitteilung entledigt, ward seine Munterkeit ungezwungener und lauter als vorher. Im Laufe des Abendessens ward er sogar ausgelassen. Man verzehrte dieses, da die frühe Abendtafel des Hotels bereits beendet, allein, in einer Fensternische des Speisesaales traulich abgeschlossen.
Zum ersten Male mußte Wellkamp Näheres über seine Familienverhältnisse berichten.
»Ach, deine Mutter auch schon tot?« wiederholte Anna.
»Ja, gleich nach meiner Geburt.«
»Aber Ihr Herr Vater!« rief der Major, rasch ablenkend. »Hätten wir doch bald vergessen, Ihrem Vater gebührt auch eine Depesche. Mach'n wir gleich morgen früh. Wie lange das wohl bis Hamburg dauert? Is doch 'n ziemliches Endeken.«
Angesichts der Bowle, mit deren Bereitung er Ehre eingelegt, begann der alte Herr in den Jargon seiner Leutnantstage zu verfallen.
»Dein Vater wird hoffentlich nach Dresden kommen?« fragte Anna.
»Ich weiß nicht, aber« – Wellkamp stotterte in augenblicklicher Verlegenheit – »aber ich glaube kaum. Er ist so stark beschäftigt, ihm bleibt zu wenig Zeit für andere Dinge.«
Anna schlug die Augen nieder, sie hatte seine Verwirrung wahrgenommen. Es mußte eine verlegene Pause eintreten, doch der Major hatte, von der Bowle in Anspruch genommen, nichts bemerkt. Er begann zu versichern, daß er kein Redner sei, daß man sich schon ohne Redner behelfen müsse.
»Aber« – er erhob sein Glas und blinzelte Wellkamp zu – »auf ein glückliches Philisterium!«
Die Müdigkeit seiner Tochter nötigte den alten Herrn schließlich, die Tafel aufzuheben. Er hätte gern den letzten Abend seiner Freiheit länger ausgedehnt, wie Wellkamp ihn im Hinausgehen sagen hörte.
Letzterer fühlte trotz der späten Stunde, daß es für ihn nutzlos sein würde, Ruhe zu suchen. Sein Denken und Empfinden war übermäßig angespannt worden durch die heutigen Ereignisse. Sie eröffneten ihm die Aussicht auf eine gänzlich unvorhergesehene Zukunft, zugleich aber führten sie eine schmerzliche Berührung seiner Vergangenheit herbei. Welche Flut von Erinnerungen auf ihn eindrang, während er in seinem Zimmer auf und nieder schritt, hier und da einige Gegenstände ordnend, um sie in die bereitstehenden Koffer zu legen.
Erich Wellkamp stammte aus einer Hamburger Familie, die erst durch seinen Vater zum Wohlstand gelangt war. Sie war durch nichts mit einem der alten, einflußreichen Häuser verbunden, welche die Träger des Ansehens der mächtigen Handelsstadt sind. Aber in ihnen hatte der junge Wellkamp stets den niederdrückenden Gegensatz zu dem Emporkömmlingsstande vor Augen, dem er selbst angehörte.
Diese Patrizierfamilien schienen ihm Fürstenhäusern zu gleichen, so erhaben waren sie über die von Tag zu Tag stattfindenden sozialen Wandlungen, so gefestet in den vornehmen Traditionen ihrer Häuser. Ihre Mitglieder traten in der Öffentlichkeit schlicht und ohne die Sucht zu glänzen auf, welche die »neuen Leute« kennzeichnete, denen nicht durch die Gewohnheit von Generationen Reichtum und Rang zur Selbstverständlichkeit geworden. Auch konnte sie wahrscheinlich keiner der Vorwürfe treffen, die gegen Kapital und Bürgertum geschleudert wurden. Sie verkörperten in einer Zeit der Auflösung und des Niedergangs der kaufmännischen Rechtlichkeit die unantastbare Arbeit ihres Standes.
Die Vergleiche, welche er zwischen Leuten dieses Schlages und seinem eigenen Vater anstellte, mußten für den aufgeweckten Knaben bitter genug ausfallen.
Der ältere Wellkamp hatte, aus kleinen Verhältnissen aufgestiegen, ein nicht unbeträchtliches Vermögen erworben, als er die Tochter eines Münchener Geschäftsfreundes heimführte. Die Frau, deren feine, sanfte Züge Erich nur aus ihrem Bilde kannte, mochte bei ihren Lebzeiten einen mildernden, verfeinernden Einfluß auf ihren Gatten ausgeübt haben. Jedenfalls waren nach der Geburt des Knaben und ihrem Tode sowohl seine geschäftlichen Manipulationen wie sein Privatleben immer zweifelhafterer Natur geworden.
Der heranwachsende Sohn unterließ es nicht, als Entschuldigung für den Vater anzuführen, daß er sich über den Tod der Gattin, die er wahrhaft geliebt zu haben schien, vielleicht auf seine Weise zu trösten versuchte. Überdies lag es nicht in der Natur des jungen Wellkamp, über das Treiben eines andern moralisch abzuurteilen. Was ihn auf eine ihm selbst nur halb begreifliche Weise gegen seinen Vater erbitterte, war, daß er selbst mit dem Hange zu gleichen Ausschweifungen zu kämpfen hatte. Vergebens rang er anfänglich in Stimmungen des Überdrusses mit sich um den Sieg über die Leidenschaft. Langsam erzog ihn dann die Zeit zur Gleichgültigkeit, – bis jene Szene erfolgte, deren er nie gedenken konnte, ohne zugleich Schmerz und Abscheu zu empfinden, und die einen nie geheilten Bruch zwischen ihm und seinem Vater herbeiführte, um einer Frau willen.
Während des Mittagessens, der einzigen Gelegenheit, die sie mitunter zusammenführte, hatte ihm der Vater an jenem Tage den Verkehr mit einer bestimmten Frau untersagt.
»Warum gerade mit ihr nicht?«
Als auf seine wiederholte Frage das Verbot nicht begründet wurde, hatte er in einer Aufwallung seines Blutes, die vielleicht durch beleidigtes Selbstbewußtsein, vielleicht durch Eifersucht verursacht war, seinem Vater die Beschuldigung zugeworfen:
»Weil du selbst Absichten hast!«
Zwar war er darauf selbst erschrocken, seinem Instinkt recht gegeben zu sehen, als jener in nicht länger zurückgehaltener Wut ihn anherrschte:
»Nun, und was weiter? Ich werde dich einfach überbieten!«
Wie namenlos roh und unwürdig ihm später diese und die dann folgenden Antworten erschienen! Konnte er es wirklich sein, hinter dem diese Szene lag, er, der gegen jedes hemmungslose Auftreten eigentlich tiefste Abneigung fühlte?
Nach einem solchen Ende seiner Beziehungen zum Vaterhause war er aufgebrochen, um draußen seine Gewohnheiten, die stärker als er waren, fortzusetzen. Was hatten die Reisen, welche seit seinem zweiundzwanzigsten Jahre, nun zehn Jahre hindurch, sein Leben ausgefüllt hatten, ihm an innerem Gehalt gegeben?
Er legte sich die Frage in dieser Stunde mit einem bittern Lächeln vor. Er ließ einiges von dem, was sich in seinen Koffern an Reiseerinnerungen fand, durch die Hände gleiten: Antiquitäten, Bilder, Andenken, das meiste unbedeutend, einiges von Wert.
»Weiter nichts?« fragte er.
Er glaubte sich gestehen zu müssen, daß er immer derselbe geblieben, von jenem Bruch mit seinem Vater bis an den gewaltsamen Abschluß des letzten Berliner Abenteuers, dem er kaum erst entronnen. Das hatte sein Dasein ausgemacht.
Unter dem Druck der Erinnerungen erschien ihm die Vergangenheit so grell und so mißtönig, daß er zweifeln zu müssen meinte, ob sie selbst von einer tröstenden und befreienden Zukunft völlig überwischt und zum Stimmen gebracht werden könnte.
Wie dem auch sein mochte, er klammerte sich an die Hoffnung, hier einen letzten Ausweg aus allen seinen Irrungen vor sich zu haben. In hoher, reiner Luft hatte er eine Alpenrose gefunden; in ihre Atmosphäre mußte er sein in dumpfer Niederung erstickendes Leben verpflanzen, um gesunden zu können. In Furcht und Hoffnung zugleich fieberhaft zitternd, suchte er endlich sein Lager auf, fand aber bis gegen Morgen keinen regelmäßigen Schlaf.
Als Wellkamp beim Frühstück mit den Grubecks wieder zusammentraf, konnte er bemerken, daß auch hinter ihnen eine größtenteils ruhe- und erholungslose Nacht lag. Der Major schien zudem die Nachwirkung des ungewohnt reichlichen Weingenusses noch nicht überwunden zu haben. Seine kleinen Augen, die er mit Anstrengung geöffnet hielt, erglänzten feucht.
»Ich wußte es ja, daß ich Bowlen nicht mehr vertrage,« beteuerte er. »So ein unnatürliches Gemisch! – Aber was tut man nicht für seine Familie!« fügte er hinzu.
»Übrigens habe ich bereits telegraphiert,« sagte der alte Herr, als man sich zum Tee niederließ, worauf Wellkamp, um weiteren Fragen zu entgehen, flüchtig entgegnete, daß auch er seine Depesche aufgegeben habe.
Auf der Wagenfahrt zur Bahnstation Gmund begann bei allen drei schon Abschiedsstimmung sich bemerkbar zu machen. Der Major mochte überdies durch die nahe Aussicht des Wiedereintritts in seine ungeliebte Häuslichkeit bedrückt werden. Sanfter, frischer Morgenwind und das regelmäßige, einwiegende Geräusch der Pferdehufe schläferten ihn indes bald ein.
Wie das Haupt des alten Herrn tiefer auf seine Brust sank und seine Atemzüge hörbarer wurden, überkam die ihm gegenübersitzenden jungen Leute das ihnen bisher unbekannte Gefühl der engsten Zusammengehörigkeit, das durch ein erstes Alleinsein hervorgerufen wurde.
Sie störten diese Stimmung durch kein Wort, aber unbewußt fanden sich ihre Hände auf dem Polster zwischen ihnen. Wellkamp streichelte nur leise die schmale Hand. Erst später tat er, ohne indes seine Nachbarin anzusehen, eine Frage, für die sich, wenn sie jetzt versäumt wurde, vielleicht nicht sobald eine Gelegenheit wiederfand.
»Du mußt mich nun ein wenig über eure häuslichen Verhältnisse unterrichten.« In seiner Stimme sprach sich das Bemühen aus, eine schwierige Angelegenheit leichthin und in vertraulicher Weise zu erledigen. »Es geht nicht wohl an, daß ich gar so unwissend in euern Kreis eintrete, man stößt dann leicht an, weißt du? Also was ist es mit dieser zweiten Ehe, über die der Papa so ungern spricht?«
Die schnelle und fertige Antwort deutete an, daß Anna die Aussprache, welche ihr Verlobter herbeiführte, vorausgesehen hatte.
»Siehst du, Erich,« erwiderte sie, »wer an den unfreundlichen Zuständen in unserer Familie die Schuld trägt, darüber möchte ich nicht urteilen. Vielleicht hat der arme Papa in allerbester Absicht, bloß aus Besorgnis um mich und meine Bequemlichkeit, einen Fehler begangen. Das kleine Vermögen meiner Mutter hatte Papa in den ersten Jahren nach ihrem Tode« – sie stockte einen Augenblick – »glaube ich, verloren. Und als er nun vor drei Jahren auch noch seinen Abschied nehmen mußte, waren seine pekuniären Verhältnisse so schwierig, daß er sich zu einer zweiten Heirat entschloß, nur weil er darauf bestand, mir den Komfort zu bieten, den er für unentbehrlich hielt. Ich hätte ihm darin wohl widersprechen sollen, aber – mein Gott, ich war damals ein dummes Ding! – Es ist erstaunlich, wie rasch entwickelt man sich in meinem Alter finden kann.«
Nach diesem philosophischen Zwischensatz, mit dem sie eine nachdenkliche Pause ausgefüllt, schien sie eine Zwischenbemerkung des Hörers zu erwarten. Als Wellkamp jedoch schwieg, fuhr sie mit einem leisen Seufzer fort:
»Wie gesagt, ich möchte die Frau nicht anklagen, obwohl sie mich haßt und ich sie nicht liebe. Papa und sie können einander eben nicht verstehen, das ist alles. Wie soll ich sie dir beschreiben, du wirst sie ja kennen lernen. Sie ist jedem unverständlich, und das genügt doch wohl schon, um kein rechtes Einvernehmen aufkommen zu lassen. – Denke doch, könntest du etwa eine Frau auf die Dauer – lieben, die du nicht verstehen könntest? – Mich wenigstens hast du von Anfang an klar und ehrlich vor dir. – Man muß sich gegenseitig von seiner Natur nichts verheimlichen können. – – Und Papa, weißt du, ist im Gegensatz zu ihr ein so einfacher und offener Charakter –«
Sie war im Begriff, ihre Auseinandersetzung von vorn zu beginnen, so verlegen war sie durch sein beharrliches Schweigen gemacht. Die letzten Sätze hatte sie bereits zögernd gesprochen und nur, um eine peinliche Pause zu vermeiden. Sie fürchtete, ihn durch irgendeines ihrer Worte verletzt zu haben. Endlich kam seine zerstreut klingende Zustimmung: »Ja, gewiß.« Dann schwiegen beide.
Wellkamp hatte während der schlichten Erzählung seiner Braut an dem unbestimmten Gefühl von Beklemmung, das sich auf seine Brust legte, das Herannahen einer neuen, noch unbekannten Gefahr zu ahnen gemeint. Er zitterte vor ihr um so mehr, als ihm zu ihrer Überwindung auch der Anschluß an Anna kein Vertrauen einflößte. Denn im Verlaufe ihrer Auseinandersetzung, welche sein Interesse auf unerklärliche Weise erregt hatte, glaubte er zum ersten Male eine Grenze ihrer Fähigkeiten bemerkt zu haben. Sie hatte so zuversichtlich, als sage sie etwas Selbstverständliches, davon gesprochen, daß man einander, um das Glück einer Verbindung zu ermöglichen, nichts verheimlichen können dürfe; also mußte sie wohl die Geheimnisse seines eigenen Innenlebens in ihrem Besitze glauben. Sie mußte ihn zu kennen wähnen! Durch diese Beobachtung schien ihm unvermutet eine eigentümliche Ironie ihres Verhältnisses aufgedeckt. Mochte er sie am Ende nur hineinlegen mit dem gewöhnlichen Hochmut der vom Leben Mitgenommenen, an schlimmen Erfahrungen Reichen, die auf unschuldige und vertrauensvolle Menschen, so sehr sie sie beneiden und lieben mögen, im tiefsten Herzen doch immer herabblicken – jedenfalls war seine jetzige Empfindung nicht geeignet, ihn zuversichtlicher zu stimmen.
Das unausgesprochene Mißbehagen, welches auf diese Weise sich zwischen sie gelegt hatte, wurde auch während der Bahnfahrt von Gmund bis München nicht beseitigt. Sie redeten nur Gleichgültiges miteinander, während Herr v. Grubeck sich auch im Kupee eine Schlummerecke eingerichtet hatte. Als er kurz vor der Einfahrt in die Halle geweckt wurde, machte der alte Herr sich eifrig mit dem Gepäck zu schaffen und umarmte sodann den Schwiegersohn mit verhaltener Rührung, während er sich durch die immer wiederholte Versicherung eines baldigen Wiedersehens Trost zusprach.
Wellkamp geleitete Vater und Tochter an den für Dresden bestimmten Zug, wo man eilig Abschied nehmen mußte. Während die Verlobten sich die Hände reichten, bemerkte einer in des andern Blick das Bedauern über das unbestimmte Hindernis in seinem Gefühl, welches den Abschied nicht so herzlich werden ließ, wie jedes von ihnen es wünschte.