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VIII

Er irrte; seine Hoffnung, es werde nun alles gut werden, war, wie er sie verstand, nicht erfüllbar. Wie mochte er glauben, mit seiner Gattin ohne weiteres an dem Punkte wieder anknüpfen zu können, wo sie sich befanden, ehe durch die Dazwischenkunft Doras alles geändert und verwirrt wurde? Dies mußte schon dadurch vereitelt werden, daß Anna, sobald ihre Beziehungen wieder vertraulich wurden, in ihm nicht mehr den erkennen würde, der damals zuerst seine Hand in ihre gelegt. Unvermeidlich mußte sie aus den mit ihm vorgegangenen Veränderungen auf geheime Erfahrungen schließen, die ihn ihr innerlich noch unendlich weiter entfremdet hatten als im äußeren Verkehr. ›Wenn sogar meine geringste Tat sofort ein Stück von mir und meinem Leben wird, was bin ich nach Erlebnissen wie diesen!‹

Hätte sie aber auch, dank großer Herzensreinheit, an ihm von allem nichts bemerkt, er wollte doch kein Glück mehr, das auf einem Grunde von Täuschung und Schuld hätte ruhen müssen. Das Vertrauen und die Liebkosungen seiner reinen Gattin hätte er niemals ohne Bangen und Widerstreben zugleich ertragen; er verdiente sie nicht, und sie galten nicht dem, der er war. Um ihre Ahnungslosigkeit froh genießen zu können, hätte er selbst beschränkter sein müssen. Aber er wollte verstehen, was er liebte, und wollte selbst verstanden und geliebt werden so, wie er war, mit seinen Fehlern und mit seiner Vergangenheit. Dauernde Zufriedenheit wäre gerade durch das Feinere und darum auch Bessere in seiner Natur ausgeschlossen worden. Seine Tugenden verschlimmerten die Folgen seiner Fehler.

Wenn daher die entschiedene Abrechnung über alles Geschehene, die er so gern vermieden gesehen hätte, auf alle Fälle bevorstand, so wäre sie doch sicherlich durch eine sofortige Entfernung um unbestimmte Zeit verzögert worden. Nun wurde aber, teils der noch recht rauhen Witterung wegen, teils aus Rücksicht auf den Major, der sich nur schwer an den Gedanken einer Trennung von seiner Tochter gewöhnen würde, ihre Abreise von Anna um vier Wochen verschoben. So blieb es dabei, daß der enge Kreis, der sich nach wie vor um ihn, seine Mitschuldige und die von ihnen Hintergangenen schloß, die Ereignisse antrieb und bestimmte.

Eine von vornherein unnatürliche Ruhe war über die nächsten Tage gebreitet. Durch jene halbe, erfolglose Aussprache mit seiner Frau meinte Wellkamp nun wirklich von dem so lange erlittenen Druck befreit, allem bisher für ihn Verhängnisvollen bereits entrückt zu sein und suchte sich dies auf jede Art zu beweisen. Er blieb jetzt häufig, besonders in den Abendstunden, die er in letzter Zeit, durch seine Nervosität entschuldigt, meist allein auf seinem Zimmer verbracht, mit den beiden Frauen in Unterhaltung beisammen; Herr von Grubeck, der neuerdings wieder über rheumatische Schmerzen klagte, pflegte sich früh zurückzuziehen, nachdem er tagsüber meist einsilbig gewesen. Mit dem durch Trotz und Selbsttäuschung unterhaltenen Anspruch, seine Beziehungen zu Dora unmittelbar als nichtig zu betrachten, sie am liebsten völlig zu verleugnen, richtete Wellkamp nun zuweilen das Wort an seine bisherige Geliebte mit einer Gleichgültigkeit und Sicherheit wie ein Schlafwandelnder auf gefährlichsten Stellen. Sogar Dora selbst mußte anfänglich getäuscht werden. Bald besprach er auch die bevorstehende Reise, die er vor Dora instinktiv noch unerwähnt gelassen. Sie waren eines Abends im Speisezimmer, das der Major bereits verlassen, eine Weile schweigend sitzengeblieben, als Wellkamp ohne Übergang begann:

»Es ist doch sonderbar, daß wir noch gar nicht das Ziel unserer Reise überlegt haben. Wollen wir planlos in der Welt herumfahren? Wenn wir aber einen dauernden Aufenthalt beabsichtigen, muß er mit allem Bedacht ausgewählt werden. Es gibt dabei für zwei noch mehr zu überlegen als für einen.«

»Ich überlasse dir gern die Wahl; ich werde mich überall einleben,« bemerkte Anna.

»Dann würde ich es für einen passenden Einfall halten, nach Kreuth zurückzugehen. Man sollte auf die Orte, an denen man liebe Erinnerungen hat, immer aufs neue zurückkommen. Sie geben einem Mut und guten Zuspruch.«

Er hatte den Kopf leicht in die Hand gestützt und völlig zu Anna hinübergewendet. Diese senkte unter seinem Blick mädchenhaft errötend die Stirn. Ein unbestimmtes, ihr selbst nicht erklärliches Schamgefühl verbot ihr, die Zärtlichkeit, welche die Worte des Gatten in ihr erregten, in Gegenwart dieser Frau merken zu lassen. So blieb es einen Augenblick still, bis sich unerwartet die ganz ruhige Stimme Doras hören ließ.

»Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, so wüßte ich nichts Besseres zu empfehlen als den Genfer See. Ich war mit meinem Vater einmal gerade in jetziger Jahreszeit dort und vergesse nie diesen entzückenden Frühling.«

»Aber daß ich daran nicht gedacht habe!« fiel Wellkamp, sich nach ihr umwendend, hastig ein. »Es gibt ja keine so ideale Frühlingslandschaft als das schöne Land von Waadt, besonders die Gegend von Montreux und dann das unvergleichliche kleine Ouchy mit seinen zackigen Kais am Fuße der Weinhügel.«

Er erging sich in einer Beschreibung der Gegend und erreichte wirklich damit, das Gespräch in Fluß zu bringen. Als man sich trennte, meinte er sogar, nichts sei geschehen. Dennoch war ein Stachel in ihm zurückgeblieben, den er bald genug fühlen sollte. Wie! Er kündigte Dora seine bevorstehende Abreise ganz unvermutet an, sie aber blieb ungerührt? Noch weniger ertrug er dies, als es sich wiederholte. Gegen seine eifersüchtige Regung war er machtlos; er mißgönnte ihr die innere Ruhe, wiewohl sie ihn in der seinigen, falls diese aufrichtig war, hätte bestärken müssen. Es war kein Zweifel, daß seine Eitelkeit verletzt war, die Eitelkeit des Liebhabers, der nicht dulden mag, daß die von ihm verlassene Frau sich allzu schnell über ihn tröste. Wenn er schon sich selbst auch innerlich von ihr losgesagt haben wollte, so hätte er doch gewünscht, sie gekränkter, leidender zu sehen. Noch verletzender für seine Eigenliebe war der Gedanke daran, mit wessen Hilfe sie seinen Verlust zu verschmerzen gedachte. So galt also er ihr nicht mehr als dieser alte, von ihm kaum je beachtete Mann! Denn er glaubte zu bemerken, daß Dora sich mehr als je früher mit ihrem Gatten beschäftigte. Es war, als bereitete sie sich darauf vor, für die Zukunft, die sie allein in seiner Gesellschaft leben sollte, eine größere Nähe zwischen ihnen herzustellen. Wellkamp fand sie dabei nahezu aufdringlich. Herr von Grubeck schien in einer an ihm längst nicht mehr wahrgenommenen Regung von Selbständigkeit sich ihrer Annäherung zu entziehen. Auch kam Wellkamp einmal über einen Wortwechsel hinzu, wobei seine Gattin gegen Frau von Grubeck das Recht verteidigte, in ihres Vaters Zimmer aufzuräumen, den Schreibtisch von Staub zu befreien und die übrigen dort stets von ihr geübten Geschäfte zu verrichten, welche nun plötzlich von Dora in Anspruch genommen wurden. Seine verlassene Geliebte stritt sich um ihren Mann, sofort erfaßte den Liebhaber wieder die besinnungsloseste Eifersucht. Er mißgönnte der Verlassenen, die ihm noch nicht verlassen genug war, den eigenen Mann. Er wußte sich lächerlich und abscheulich und wußte doch auch, der Ausbruch würde kommen.

Er kam an einem Abend, als man, früh mit der Mahlzeit fertig, in Doras Boudoir hinübergegangen war. Indes wollte keine rechte Unterhaltung zustandekommen, hauptsächlich durch Schuld des Majors, der bereits bei Tische in gereiztem, merklich störendem Schweigen verharrt hatte. Wellkamp begann den alten Mann, der mit seinen greisenhaften Leiden seine Umgebung nervös machte, vollends unleidlich zu finden. Endlich jedoch, als zufällig von Musik die Rede gewesen war, machte Herr von Grubeck, vielleicht nur, um seine üble Stimmung nicht zu auffällig werden zu lassen, einen Vorschlag.

»Du könntest uns etwas Musik machen,« sagte er zu Dora gewendet.

Wellkamps immer auf der Lauer befindliche Leidenschaft erhielt neue Nahrung, als er die junge Frau ohne weiteres annehmen sah. Sie hatte bisher in den seltensten Fällen, selbst zur Zeit ihres glücklichsten Verhältnisses, eingewilligt, in Gesellschaft zu spielen. Sie hatte ihm gesagt, sie könne nur in Gegenwart eines einzigen, nur in der Gegenwart dessen spielen, dem sie etwas zu sagen habe. Sie fühle dann, wie er ihr im Herzen erwidere, und so sei die Musik für sie ein Liebesaustausch wie ein anderer.

Es traf sich, daß Dora an diesem Abend jenes hellviolette Gewand angelegt, das sie an jenem ersten Morgen ihres Liebesglückes getragen. Schon dies erschien dem Eifersüchtigen als Entweihung, ja Beleidigung; er überlegte, während er als der letzte hinüberging, ob es würdiger wäre, der Schamlosen, wie er sie nannte, dadurch seine Nichtachtung zu bezeigen, daß er sogleich fortging. Aber er brachte es, mit der schrecklichen Neugierde des Leidens, nicht über sich, seine Pein abzukürzen, und blieb. Er saß in sich versunken an Annas Seite, ohne zu fühlen, wie die junge Frau ihn berührte, um ihn näher an sich zu ziehen, als fürchtete sie von der Musik und zumal von derjenigen, welche Dora wählte, einen schlimmen Einfluß auf seine Erregbarkeit. Und so hörte er Dora nun dieselben Lieder singen, die sie ehemals für ihn gehabt, »mit denen sie ihn besser betört«, sagte er sich bitter. Nach jedem Stücke sah er sie dankbar ihrem Gatten zulächeln, der ihr, da die beiden andern schwiegen, als der, welcher aufgefordert, wohl einige Artigkeiten sagen mußte. Jetzt sei das alles für ihn berechnet, dachte Wellkamp. »Niemand hat lieb mich,« sang Dora, und der Eifersüchtige erkannte den Ausdruck, diese Schwermut, die Berechnung war! Aufblickend gewahrte er wieder wie damals über ihr mattblondes Haar die Lichtreflexe spielen, die er so oft mit seinen Lippen verfolgt hatte, und auf ihren Wangen sah er dieselbe leichte, wie angehauchte Röte liegen wie einst, als sie ihm, nur ihm allein ihre Liebe sang.

»Komödiantin!«

Er fuhr erschreckt zusammen, im Zweifel, ob das Wort etwa gehört sei. Aber es war ihm nur wie ein Seufzer entfahren. Er war sehr blaß geworden, und es schwindelte ihm, ohne Weigerung ließ er sich von Anna, die seinen Arm fest in dem ihren hielt, hinausgeleiten. Nur Dora konnte bemerken, wie Herr von Grubeck den beiden nachsah, mit einem Ausdruck, in welchem Bitterkeit und Mitleid mit einer tiefen, peinigenden Ratlosigkeit gemischt erschienen.

Die Nacht verbrachte Wellkamp unter dem inneren Aufruhr, den diese für sein Gefühl abscheuliche, frevelhafte Szene hervorgerufen. Durch lange Stunden fand er immer nur den einen, verzweifelt wiederholten Ausruf, den er in den Kissen erstickte: »Es ist unerträglich! Es ist unerträglich!« Was? Und warum? hätte er entweder nicht zu sagen gewußt, oder er mochte es sich nicht gestehen. Und eben wegen ihrer Unvernünftigkeit war er gegen die Forderungen seiner Leidenschaft um so ohnmächtiger. Was ihm einst als unvergänglich erschienen und was in jedem Falle stark gewesen, nun mit so dumpfer Ruhe ersticken, von Heuchelei und Gleichgültigkeit langsam, langsam zugedeckt werden zu sehen, war ihm in Wahrheit das Unerträglichste. Und in langen Stunden befestigte sich seine Sehnsucht nach einem heftigen Ausbruch aller Feindseligkeit und Eifersucht, nach der großen Abrechnung.

Als er am Morgen, noch immer mit starr gegen die Decke gerichteten Augen auf dem Rücken liegend, die Tür leise öffnen hörte, wandte er unwillkürlich und schnell das Gesicht fort, um sich schlafend zu stellen. Kaum wußte er Anna wieder aus dem Gemache entfernt, als er sich im Bette emporwarf, angestrengt horchend, ob seine Gattin mit ihrem Vater das Haus verlasse. Nun hörte er ihre Schritte, die sich abwärts entfernten, und war auch schon aufgesprungen, sich eilig in seine Kleider zu werfen. Zwei Minuten später stand er in ihrem kleinen Gemache seiner bisherigen Geliebten gegenüber.

Dora war selbst kaum eingetreten, sie war im Begriffe, fröstelnd sich vor dem Kamin zurechtzurücken. Als sie ihn in einer Verfassung, welche die Kämpfe der vergangenen Nacht bezeugte, bleich, der Blick starr, Haar und Kleider in Unordnung, auf sich zustürzen sah, fand sie sofort den hochmütig abweisenden Blick der Frau, die ihre innere Erregung bei der Rückkehr des treulosen Geliebten verbirgt. Unter dem spöttischen Lächeln halb verdeckt, war dennoch eine kleine leidenschaftliche Bewegung ihrer Lippen bemerkbar, als hielte sie den Ausruf zurück: »Du liebst mich noch!«

Nein, er liebte sie nicht mehr, er dachte in diesem Augenblick an nichts weniger als daran, daß er sie jemals geliebt. Ihr Empfang, den er heuchlerisch nannte, hatte seine Wut erhöht. Er empfand nichts mehr als das Bedürfnis, sie, bevor er sie verließe, zu erniedrigen, wie noch nie eine Frau erniedrigt wäre. Sein Taumel ging bis zur Selbstvernichtungslust, er hatte alles vergessen, was ihn von dieser Frau trennen mußte, was ihm die Zukunft lieb und wünschenswert machte, Anna selbst. Sie sollte sehen, daß er nach wie vor die rücksichtsloseste Gewalt über sie besaß, und schon warf er sich auf sie, die, durch seine verzerrte Miene, seinen abwesenden Blick erschreckt und vorbereitet, ihn mit aller Kraftanstrengung von sich stieß. Durch den erlittenen Stoß halb ernüchtert, begann er nun, ihr einen Haufen entwürdigender Ausdrücke ins Gesicht zu werfen.

»Du – du widerstehst mir, du wagst mir zu widerstehen?« brachte er dann mühsam hervor.

»Aber ich will dir zeigen, wer du bist und was ich aus dir machen kann, sobald ich will. Dein Mann wird alles erfahren!«

Er hatte die unsinnige Drohung nur in der Wut ausgestoßen, nicht, weil er hoffte, sie damit zu erschrecken. Er verweilte jedoch sogleich dabei, als er die Wirkung bemerkte, die seine Worte auf die bisher bewegungslos Gebliebene ausübten. Dora war womöglich noch bleicher als er geworden; einen Arm, welcher bebte, streckte sie wie flehend gegen ihn aus, um ihn sofort wieder zurückzuziehen, entmutigt unter der Furchtbarkeit seiner Worte. Jedes von ihnen verursachte ihr eiskalte Fieberschauer der Furcht, der unsäglichen Furcht vor den oft vorausgesehenen Schrecken, an die er rührte.

Und er fuhr fort, doch nun ohne erregte Zufälligkeiten, mit kalter Bosheit seine Sätze überlegend und immer dasselbe wiederholend, wie wenn er in einer glücklich entdeckten wunden Stelle immer aufs neue das Geschoß herumwendete. Er sagte alles, was der seine Stellung mißbrauchende, unbarmherzige Mann zu sagen hat und was stets darauf hinauslief, sie als Frau wisse am besten, daß sie allein die Folgen zu tragen haben werde. »Du Schurke!« sagte sie; darauf antwortete er mit einem Schrei wie ein getroffenes Tier, hinter ihrem Sessel, wo sie ihn nicht sah … Er kam wieder hervor.

»Für mich ist dies ein Abenteuer wie ein anderes gewesen, für dich dagegen ist es das Ende.«

Er wußte nicht, wie sehr er wenigstens mit diesen letzten Worten recht hatte.

Sie hörte ihn weiter an, je nachdem sie der Klang seiner Stimme in einem wilden Flüstern oder in lautem, rücksichtslosem Schreien traf, entsetzt und furchtsam auffahrend oder ganz in ihrem Sessel zusammensinkend, während ihre Lippen nichts mehr hervorbrachten als ein tonloses, ganz leises: »Ich bitte dich, ich bitte dich –«

Plötzlich schwiegen sie, sahen einander in die Augen und erkannten, was sie taten. Dies war das Nachspiel ihrer Liebe.

Aber sie spielten es vor einer Hörerin, die nicht darauf vorbereitet und nicht dafür geschaffen war. Anna hielt sich schwindelnd an dem Pfosten der nur flüchtig zugeworfenen Tür, unfähig einen Schritt vor- oder rückwärts zu tun.

Sie hatte sich nicht, wie Wellkamp in seiner Ungeduld angenommen, schon in Begleitung ihres Vaters zum Ausritt entfernt. Sie war nur, um nach den Pferden zu sehen, hinabgestiegen, während Herr von Grubeck sich noch anzog. Zurückgekehrt, hatte sie ihren Gatten einen Dienstboten schelten zu hören gemeint, wobei sie nur überrascht war, daß seine laute angestrengte Stimme aus Doras Boudoir kam. Ihre Hand, welche schon auf dem Türgriff lag, war plötzlich, wie bei der Berührung eines glühenden Gegenstandes, wieder zurückgefahren, als ihr einige der gesprochenen Worte verständlich wurden. Im selben Augenblick waren Vermutungen schon überholt und kein Zweifel, keine Hoffnung mehr möglich: was sie vernahm, war zu nackt, zu hart, zu vernichtend. Eine Minute lang hörte sie nur das Flehen Doras, Wellkamps Stimme verdeckte es nicht mehr; sie meinte schreckenerfüllt, auch ihr eigenes Atmen, ihr Zittern sei zu hören, nahm ihre letzten Kräfte zusammen und floh.

Ohne Überlegung, ohne bestimmte Absicht, nur auf der Flucht vor dem fürchterlichen Tonfall der Worte, die in ihr weiterfielen, eilte sie in das Zimmer ihres Vaters. In dieser Stunde, da sie die jugendliche, verfrühte Überlegenheit ihres Geistes so jäh beschämt und getäuscht fühlte, und da so unbekannte, ungeheuerliche Erfahrungen über ihr Herz hereinbrachen, ward sie wieder Kind, ohne Herrschaft über andere, noch weniger über sich selbst, und mit dem unsäglichen, alles überflutenden Bedürfnis, in die Arme genommen und getröstet zu werden.

Sie war im Unglück glücklich genug, die Arme, die sie suchte, sogleich voll Verständnis geöffnet zu finden. Noch eine Demütigung, aber eine süße, ihre Hingebung vervollständigende erwartete sie. Ihren stillen alten Vater war sie gewohnt gewesen als den Schwächeren zu fühlen, sie hatte für ihn Liebkosungen gehabt, welche denen einer Mutter ähnlicher als denen eines Kindes waren; nun aber fand sie ihn überlegen und gefaßt, wo sie selbst überrascht und ratlos war. Sie war unbewußt selbstsüchtig wie ein verwundetes Kind, das seine Umgebung mit nichts anderem als mit seinem eigenen Schmerz beschäftigt glauben kann; daher kam ihr keinen Augenblick der Gedanke, was ihr Vater gelitten haben müsse, wenn er alles Vorgefallene gekannt hatte. Nicht nur, daß es ihn so schwer wie sie kränkte, mußte er es ihr noch verheimlichen!

Erst später sollte sie erkennen, mit wie glücklichem Temperament sie diese kritischen Zeiten durchschritten. Niemals hatte sie Gewißheit entbehrt, nur die anderen hatten gekämpft und verzweifelt. Wie hart und grausam der Schlag, den sie soeben erhalten, sein mochte, durch ihn war doch die feste innere Gewißheit, die die junge Frau bisher von der Treue ihres Gatten, von der Reinheit ihres ehelichen Verhältnisses und der Familie bewahrt, einfach in ihr Gegenteil verwandelt; keine langsam aufsteigenden Zweifel, kein beschämender Verdacht noch all jene Leiden, welche der langwierige Todeskampf des Glaubens mit sich bringt, hatten sie vorher zermürbt. Dies alles aber hatte der alte Mann erlitten, der vor ihr neben dem Sofa kniete und ihre kalten Hände streichelte. Sie hatte ihr Gesicht bedeckt. Tränen liefen unter den Händen hervor.

Herr von Grubeck hatte unmöglich wie seine Tochter ohne Ahnung bleiben können von dem, was um ihn her vorging, von der Heimlichkeit und dem Verrat, die ihn Tag und Nacht umgaben, die ihm ins Auge sahen und ihm die Hand drückten. Zwar hatte er die Täuschung dadurch erleichtert, daß er, so vollständig getrennt, wie er von ihr zu leben gewohnt war, seiner Gattin nicht mehr als die unbedingt nötige Aufmerksamkeit widmete. Er kannte nicht ihre Beschäftigungen, kümmerte sich nicht um ihre Tageseinteilung, ihre Ausgänge, und er sah sie kaum anders denn als einen Tischgast an, wenn er sie vor der Tafel wie nachher höflich begrüßte. Solange die Schuldigen sich in seiner Gegenwart noch den Zwang wie in der ersten Zeit ihres Verhältnisses auferlegt, hatten sie von ihm nichts zu befürchten gehabt. Die größere Vertraulichkeit Wellkamps mit Anna, durch die er während der Mahlzeiten zuweilen überrascht ward, sowie Doras besseres, lebhafteres Aussehen nahm er für Zeichen eines beginnenden glücklicheren Verhältnisses im Leben der Familie. Er glaubte endlich den von ihm so lange erhofften Erfolg der Heirat seiner Tochter, den Einfluß, welchen der junge Haushalt auch auf die Stimmung seiner eigenen Ehe ausüben sollte, zu bemerken. Es war seine zufriedenste Zeit.

Indes kamen jene Krisen der beiden, die zu sehr damit beschäftigt waren, sich gegenseitig leiden zu machen, um noch in Gegenwart des Gatten und Vaters viel an Vorsicht und Selbstüberwindung zu denken oder sie auch nur für notwendig zu halten. Damals geschah es, daß Herr von Grubeck zum ersten Male aus einzelnen, zwischen seiner Gattin und seinem Schwiegersohne ausgetauschten, plötzlichen und heftigen Blicken und Gesten schloß, daß ein näheres Verhältnis bestehen müsse, als sie öffentlich zugaben. Immerhin war er weit entfernt, das Schlimmste zu befürchten. Wie er Dora kannte, mußte er sie allerdings für unfähig halten, ihn zu betrügen. Nur begriff er nicht den Hintergrund ihrer Persönlichkeit, wußte nicht, unter welchen Prüfungen und Versuchungen sie die auf ihre Ruhe bedachte, zurückgezogene, fast streng lebende Frau geworden war. Er ahnte nichts von der Größe der Leidenschaftlichkeit, welche sie von Hause aus in sich zu unterdrücken gehabt, und rechnete auch nicht mit der Macht, die noch dicht vor jenem verhängnisvollen Übergang zum Matronenalter alles so lange Bezwungene und Verleugnete beim ersten Anlaß hervorbrechen ließ.

Natürlich war es dem Gatten dennoch unmöglich, sich bei seiner vermeintlichen Erkenntnis ihres Wesens zu beruhigen. Wenn er heute sich für sein ihn selbst beschämendes Mißtrauen gescholten hatte, war er morgen um so scharfsichtiger geworden. Bei leeren Vermutungen sich aufzuhalten, war er nicht der Mann. Einmal aufmerksam geworden, erhielt er sogleich die Eigenschaften zurück, welche nach dem Austritt aus seinem ehemaligen Lebenskreise aus Mangel an Verwendung in ihm eingeschlafen waren. Es erwachte in ihm der alte Kavalier, der, an Klatsch und gesellschaftlicher Beobachtung geübt, alles um ihn her Vorgehende ohne weiteres auf den Kampf der Geschlechter zurückführt.

Seitdem erschien es ihm immer unnatürlicher und törichter, die Schuld der beiden jungen Leute noch in Zweifel zu stellen, und um so weniger vermochte er dem Triebe, sich völlige Gewißheit zu verschaffen, zu widerstehen.

Seine heftigsten inneren Kämpfe galten der Unterdrückung der Bedenken, welche ihn vom Spionieren zurückhielten. Wieviel er unter den traurigen Umständen seiner Ehe von seinen ritterlichen Ehrbegriffen geopfert haben mochte, in diesem Punkte waren sie bisher unangetastet geblieben. Den entscheidenden Schritt tat er mit dem Herzklopfen eines Jünglings.

Eines Morgens hatte er Unwohlsein vorgegeben, um sich der Begleitung seiner Tochter auf ihrem Spazierritte zu entziehen. Ihrer Sorglichkeit war er verdrießlich und selbst schroff genug begegnet, um sie für den Augenblick von sich abzustoßen. Sie hatte sich allein entfernt, und er benutzte ihre Abwesenheit, um sich der morgendlichen Zusammenkünfte endlich zu versichern. Nach den ersten Worten, die er vernommen, war die Scham, mit der er hinter die Tür getreten, vernichtet von jäher, maßloser Wut. Er hatte eine Bewegung von solcher Heftigkeit gemacht, daß die beiden im Zimmer Befindlichen sie bei einer weniger erregten Unterhaltung hätten hören müssen. Doch ließ er den Türgriff sofort wieder fahren; er dachte an Anna, da schwieg die Gewalt.

Was sollte aus Anna werden, wenn sie dieser Schlag traf, so fragte er sich in tiefer Ratlosigkeit. Sollte er, ihr Vater, ihr die Illusionen entreißen, in denen sie zweifellos befangen war? War es nicht viel besser, sie so lange wie möglich in ihnen fortleben zu lassen? Vielleicht nahm ohnehin alles bald ein Ende, ohne daß sie jemals nötig haben würde, etwas davon zu erfahren. Er erinnerte sich ähnlicher Fälle aus seinem ehemaligen Bekanntenkreise. Zwar bestand andererseits die Möglichkeit, an die er nur mit Grauen dachte, daß sie das langsame Großwerden des Verdachtes, noch unsäglich schmerzvoller als er selbst, an sich erführe. Aber dies mußte nicht sein, es konnte gut enden.

Bald freilich verband er mit der zärtlichen Rücksicht auf die Tochter auch seine eigenen Wünsche. Einmal wieder in der Einsamkeit seines Zimmers, wurde ihm die soeben empfundene Regung seines Willens zum persönlichen Eingreifen mit jeder Minute unbegreiflicher. Er erschrak bei dem Gedanken, daß er jenem ersten Antrieb hätte folgen können. Dann hätte er jetzt vor seiner Gattin gestanden, ihren Blick, den er fremd und hochmütig auf sich gerichtet fühlte, hätte er nicht ertragen können.

Was war denn er ihr, und welche Pflichten hatte sie gegen ihn? War er ihr nicht von jeher alles schuldig geblieben, was er ihr verdankte? Die besonders unglücklichen Umstände seines Ehelebens hatten Herrn von Grubeck ein für allemal von seiner Schuld überzeugt, jedes Gefühl seiner Autorität, ja nahezu der Glaube an seine Rechte fehlte ihm. Wie hätte er wagen dürfen, seine Gattin Zur Verantwortung zu ziehen, da vielmehr sie von ihm Rechenschaft fordern konnte!

Diese Idee, daß einzig durch die Verhältnisse, für die er sich selbst alle Schuld beimaß, Dora aus der rechten, alltäglichen Bahn fortgedrängt, ließ ihm in natürlicher Folge auch die Schuld Wellkamps geringer erscheinen. Jahrelanges Verbleiben in einer falschen, sein ritterliches Gewissen bedrückenden Lage, hatte ihn entmutigt, jetzt fand er eine traurige Befriedigung darin, den Verführer seiner Gattin zu entschuldigen. Die Aussicht ward ihm immer unwahrscheinlicher, als könnte er vor den Beleidiger seiner Hausehre, so wie es seine Vergangenheit erfordert hätte, hintreten. Gab es für ihn eine Hausehre wie für einen andern, und durfte er Richter über sie sein?

In solchen Gedanken fühlte er sich in seinem Hause weniger als jemals heimisch. Die gereizte Stimmung, die man an ihm wahrgenommen, verbarg seine vollständige Mutlosigkeit, die in einen endgültigen Verfall seines Willens überzugehen schien. Von der schmachvollen Gewohnheit des Spionierens hatte er sich nicht mehr loszumachen vermocht. Sobald er sich ungestört wußte, verbrachte er als Lauscher an den Türen Stunden der schmerzlichsten Selbsterniedrigung.

Er ward gehetzt, vielleicht nicht weniger als die Schuldigen selbst es damals waren, von seiner Angst, das Verhältnis könnte eine unerwartete, noch gefährlichere Wendung nehmen. Und am Ende hatte die seltsame und grausame Ironie der Dinge ihn, den Betrogenen und Geschädigten, gleichsam zum Mitschuldigen gemacht.

Er fand die gleiche Erleichterung wie Wellkamp in jener scheinbaren Lösung, die Annas Entschluß, abzureisen, brachte. Er zählte bis dahin die Tage, fortwährend davor zitternd, daß der ruhige Verlauf der Dinge dennoch zuletzt durch irgendein gewaltsames Ereignis unterbrochen werden könnte.

Indes hatte er die größte Gefahr, eine endliche Entdeckung des Geheimnisses durch Anna, kaum vorgesehen. Die harten Kämpfe um seinen eigenen inneren Frieden hatten eine Zeitlang das Interesse für die unschuldige Ruhe seiner Tochter verdrängt. Um so unumwundener trat dagegen dieses in den Vordergrund, als er am heutigen Morgen Anna ins Zimmer stürzen sah. Ihr Gesicht schien größer geworden vor Entsetzen; den aufgerissenen Augen gab ein neues, furchtbares Wissen einen unbekannten Ausdruck.

Alles Väterliche und Männliche in Herrn von Grubecks Natur ward beim Anblick seiner Tochter aufs lebhafteste erregt. Er hatte in dieser Minute sämtliche Bedenken, Zweifel, Widersprüche, die ihn seit langen Wochen zu jeglicher Willensäußerung untauglich gemacht, besiegt, und all sein Denken und Empfinden war einzig auf die Verteidigung seines Kindes gelenkt. Er war ihr natürlicher Beschützer, und man hatte sie zu kränken gewagt; dadurch hatte alles sich unvermutet gelöst. Seine nunmehr zielbewußte innere Kraft verlieh ihm Macht über die so eigenmächtige Natur Annas wie noch nie. Er vermochte sie mit wenigen Worten und Liebkosungen zur Besinnung zu rufen. Sie gehorchte seiner Ermahnung, ihn ruhig zu erwarten, während er ihre Sache in Ordnung brächte. Sein Entschluß war gefaßt; dies verlieh seinem Auftreten eine gewisse Kürze und Entschiedenheit, die Wellkamp dennoch ein wenig stutzig machte. Im übrigen hatte dieser nach der Szene mit Dora kaum noch Sinn für eine Aussprache mit ihrem Gatten; die Überreizung, in der er sich befand, war unmöglich noch zu steigern. Aus Doras Zimmer, wo er sie in völliger Vernichtung, vom Sessel auf die Knie niedergesunken, zurückgelassen, war er ins Vorzimmer getreten und traf hier nun mit dem Major zusammen, dem er auf ein kurzes Wort hin mechanisch folgte, als handelte es sich um die gleichgültigste Angelegenheit. Schuld gegen den Gatten seiner Geliebten drückte ihn nicht einmal jetzt; er hatte für ihn nur stummes Achselzucken: ›Warum hast du dein Eigentum nicht besser bewahrt?‹

Überreizter Schwächling im Erleben mit Frauen, kannte er von Mann zu Mann das Weib noch immer nur als Beute, das sie einander abjagen. Im Speisezimmer, wohin ihn der Major, um möglichst unbelauscht zu bleiben, geführt hatte, sagte er sogleich: »Natürlich bin ich zu jeder Genugtuung bereit.«

»Genugtuung?« fragte Herr von Grubeck mit einer flüchtigen Betonung, als handelte es sich um etwas, daran er bisher nicht gedacht und das er sogleich zurückzuweisen gedenke. »Was verstehen Sie darunter? – Ist Ihnen die Lage der Angelegenheit so wenig gegenwärtig, daß Sie meinen, alles, was Sie bisher zerstört haben, mit ein paar Pistolenschüssen wiederherstellen zu können? Das Duell ist geschaffen für Leute, die eine gute Sache zu verteidigen glauben. Von alledem, was ich während der ganzen Zeit, da ich von dem Geschehenen unterrichtet war, von meiner Gewissensruhe geopfert habe, würde ich nichts zurückerhalten, wenn ich Sie jetzt nachträglich über den Haufen schösse. Oder sollte ich mein Kind, das ich dort drüben so zurückgelassen habe, daß Sie es nicht wiedererkennen würden, von Ihnen, der ihr alles genommen hat, auch noch der letzten Stütze, des Vaters, berauben lassen? Und wünschen Sie, der an dem Unglück schuld – aber vielleicht sind weder Sie noch Ihre Mitschuldige allein schuld daran –, doch gleichviel, wünschen Sie, unsere Schande zu offenbaren, Zeugen zu suchen, die Öffentlichkeit dafür zu interessieren? Nein, mein Lieber, die Angelegenheit hat ja ganz unter uns gespielt, in der Familie; machen wir also auch die Abrechnung unter uns ab …«

Der Major holte tief Atem. Seine Brust erschien nichts weniger als eingefallen, er hatte sich straff aufgerichtet und blickte auf Wellkamp wie auf einen Untergebenen herab. Seine Sprache war gleichfalls von einer längst verlorenen Festigkeit. Er hatte harte und zum Schlusse ironische Töne gefunden, und nur einmal, als er seine eigene Mitschuld andeutete, war seine Stimme leiser und stockender geworden.

Wellkamp war von Auftreten und Sprache seines Schwiegervaters anfangs überrascht, dann beunruhigt und endlich besiegt. Er ward plötzlich gewahr, daß er alles geschehene Unglück stets nur unter dem Gesichtswinkel seines eigenen Leidens betrachtet. Es hatte ihn gepeinigt, in einer durchseuchten Atmosphäre zu leben, von seinen Leidenschaften mehr und mehr beschmutzt und erniedrigt, darum hatte er sich aufgebäumt. Der Gedanke, daß er an anderen Unrecht verübte, hatte ihm Gewissensbisse verursacht, und auf eben diese seine eigenen Schmerzen beschränkte sich sein Gefühl. Er hatte sich das Leid der andern vorgeworfen, das er verursachte; es gesehen, so nahe, so körperlich wirklich, wie jetzt während der Anrede des alten Mannes, hatte er nie. Wer tut dies?

Anna! Der Gedanke, daß sie nun wirklich alles wisse, war ihm seltsam unbegreiflich, so lange er schon darauf gefaßt war. Es konnte nicht wahr sein, denn es wäre zu furchtbar gewesen. So groß seine Schuld sein mochte, die Strafe, sie zu verlieren, war dennoch übermäßig schwer.

Angesichts dieses Gedankens war er nahe daran, alles Geschehene als leichtsinniges Spiel zu betrachten, das er kaum ernst genommen und das er jedenfalls unterlassen hätte, wenn er des Einsatzes gedacht hätte, dessen er nun verlustig gehen sollte. Hatte er denn wirklich um Leben und Tod gespielt? In Wahrheit kam bei dieser Frage Todesangst über ihn; sie war der Boden, aus dem zum ersten Male große, von allen sie umringenden Umständen losgelöste Liebe zu seiner Frau in ihm aufstand.

Indessen hielt er den Kopf wie unter Nackenschlägen geneigt. Während kalter Schweiß auf seine Stirn trat, hörte er den andern mit hartem, nun trocken und wie geschäftsmäßig gewordenem Tone die Bestätigung dessen aussprechen, was er am meisten fürchtete.

»Ich denke,« fuhr der Major fort, »daß eine sofortige Trennung Ihnen jetzt ebenso erwünscht sein wird wie mir. Ich glaube leider, daß meine Tochter sich nur dann beruhigen wird, wenn Ihre Abwesenheit endgültig ist. Um sie also beschleunigen zu können, werden wir von einer plötzlichen Verschlimmerung Ihres Befindens sprechen. Unsere Angelegenheiten dürften sich brieflich am besten ordnen lassen. Wenn Sie in eine Scheidung willigen, stimmen wir hoffentlich darin überein, sie wenigstens ein halbes Jahr hinauszuschieben. Es kommt darauf an, alles möglichst unauffällig einzuleiten. – Also Sie reisen?«

»Ich werde reisen,« sagte Wellkamp ganz leise, doch noch immer mit der schwachen, gleichsam eine letzte Bestätigung erwartenden Frage im Ton seiner Stimme.

Wie eine Antwort hörte er im gleichen Augenblick Anna: »Du wirst reisen, aber nicht ohne mich.«

Sie stand da, die beiden Männer starrten sie an wie eine Erscheinung. Den einen von ihnen enttäuschte sie über seine ganze Auffassung der Dinge, brachte seine Festigkeit zugleich mit dem Ziele ins Wanken, auf das sie gerichtet gewesen; dem andern kam sie unverhofft zurück, nachdem er sie in diesen bangen Minuten schon lange, so lange verloren zu haben gemeint.

Herr von Grubeck trat ohne ein Wort des Widerspruchs, mit unmerklich schwankender Haltung ans Fenster; dem Zimmer den Rücken gewandt, lehnte er daran.

Wellkamp aber war ohne einen Gedanken, wie unter der Gewalt des Schicksals, auf die Knie gesunken. Er verstand nichts mehr. Jenes erste Mal, als er, wie jetzt wieder, ihre Hand mit seinen Tränen benetzte, hatte er sie, wie spielend, mit seiner halben Hingebung zurückzugewinnen geglaubt. Heute fand er für das, was geschah, keine Erklärung in sich selbst. Damals hatte Anna ihn nicht begreifen können, da er sie täuschte; er dagegen begriff sie heute nicht, weil sie ganz aufrichtig war.

»Nicht ohne mich!« wiederholte sie fast bittend. »Ich würde es mir nie verzeihen!«

»Du?« Er starrte sie an. »Wie willst du dann mir verzeihen?«

»Du hast mir viel, viel Leid zugefügt. Aber ich fürchte, dir selbst fast noch mehr. Das durfte ich nicht zugeben. Es ist sträflich, so blind zu sein. Ich habe dich Versuchungen überlassen … Ich glaube – heute morgen gehört zu haben, daß du unglücklich bist. Wenn wir es also beide sind, könnten wir dann nicht zusammen auch wieder glücklich werden?«

Wie der Klang ihrer Worte, so war das Gesicht der jungen Frau sehr ruhig, vielleicht noch klarer als sonst, wie befreit. Etwas wie der Schatten geistigen Hochmuts schien von ihrer Stirn genommen. Die furchtbaren Erfahrungen, die sie in ihrem Stolze enttäuscht, ihr Herz jäh aufgeschreckt hatten, schienen sie sanfter, ihre Empfindung weicher gemacht zu haben. Geängstet, noch zögernd stand sie auf der Schwelle des Verständnisses menschlicher Schuld.

Wie hätte sie Schuld bisher begreifen sollen? Sie hatte noch wie ein Kind alles mit den Augen ihrer Sympathien und Antipathien angesehen und von dem, was ihren Gatten seit so langer Zeit von ihr trennte, nichts ahnen können. Noch so geheime Verdächtigung des geliebten Gegenstandes würde sie als Beschimpfung ihres eigenen innersten Herzens empfunden haben. Mit Gewalt mußten die Augen ihr geöffnet werden; und auch dann glaubte sie ihrem Gefühl, nicht den Augen. Ihr Herz tat Buße für den Schuldigen, seine Schuld ward ihre.

Der Mann zu ihren Füßen verstand sie noch nicht. Er kniete jetzt noch vor ihr, wie ein Beter vor der Heiligen, die ein Wunder getan. Aber er hatte ein Leben vor sich, um sich aufzurichten an der Stärke eines Frauenherzens, welches liebt und vergibt.


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