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Zola

Emile Zola

Emile Zola
Quelle: de.wikipedia.org

Jugend

Der Schriftsteller, dem es bestimmt war, unter allen das größte Maß von Wirklichkeit zu umfassen, hat lange nur geträumt und geschwärmt. Ein Schöpfer wird spät Mann. Zola war der poetisierende Jüngling, der sich hingibt und der glaubt, bevor er zweifeln und sich behaupten lernt. Absichtslos mit Kinderhänden werden Vorräte gesammelt an seelischer Triebkraft, tragendem Gefühl: Besitzergreifung seiner selbst, eine Art innerer Meisterschaft vor der produktiven; und eben sie wird dann den Arbeiter unverbraucht erhalten bis zum Schluß, ihn unnachsichtig tapfer bleiben lassen in Jahren, wo andere schon nachgeben, wo andere sich schon ergeben.

In Aix zuerst die Schülerzeit, die junge Schwelgerei an Natur und Erdenweite, die ersten Freunde. Wie unermeßlich blau der windige Himmel der Provence über ihren ausgedörrten Flußbetten, wenn damals die Knaben Baille, Zola und Cézanne, erhitzt und frei, das harte Gras eines fernen Hügels zum Polster jenes Paradieses nahmen, in dem vor sie hin die ersten Dichtungen traten. Sie lasen laut; die erhabenen oder süßen Wortgestalten wehten zum Himmel auf und versprachen noch mehr als er an Höhe, Farbe und Bewegtheit. Hier geschah es, daß sie sich berufen fühlten zum Leben; und wenn sie hätten zweifeln können, daß Welt und Worte soviel halten, sie hatten doch einander und schwuren, sich nie zu lassen.

Dann mußte er fort. Die Seinen waren seit dem Tode des Vaters immer mehr verarmt, ihre Lage wurde unhaltbar in der kleinen Stadt, die ihre gute Zeit gesehen hatte. 1857 kehrt er in seine Geburtsstadt zurück, denn Paris war es, wo er siebzehn Jahre vorher, auf einer Reise seiner Eltern, geboren war. Er beendet das Gymnasium, erfolglos, weil hier in der Luft der Hauptstadt sofort die Literatur ihn allem andern fremd macht; und als Zwanzigjähriger und verpflichtet, nun seinerseits der Mutter zu helfen, sieht er sich mittellos und ohne regelmäßige Anwartschaft auf irgendeinen Platz in der Gesellschaft vor das Leben gestellt. Ein Gönner bringt ihn in den Docks unter, bis vier Uhr trägt Zola Zolldeklarationen ein, dann heim und schreiben. Abends das selbstgeschaffene Leben, am Tage die Notdurft: es verträgt sich nicht lange, der Lebensschüler muß wählen, er verläßt die Docks. Nun ist er ohne Stellung, aber frei, darf träumen nach Belieben, auch wenn er mit geliehenen Pfennigen sein schlechtes Zimmer bezahlt und, um essen zu können, im Bett bleibt, weil sein Rock versetzt ist. Er lernt die bittere Kälte kennen, nicht die des Winters der Armen nur, auch die Kälte der Welt, diese Verlassenheit von allen. Mahnend wird er umschlichen von abgehausten Wesen, die einst vielleicht waren, was er ist, von Laster und Schande. Die Säufer des Assommoir, die verfehlten Künstler in L'Oeuvre, und auch die Durchsuchung eines Absteigequartiers durch die Polizei, wie in Nana, alles liegt schon hier, ist hier schon mitgemacht und wäre hier erlebt, – wenn Erleben genannt werden darf, was Herabschauen ist aus einer entrückten Höhe, ein Mitgefühl wie das eines jungen Gottes, klarsichtig und geneigt, aber unberührbar im Innern. Denn das Elend dieser zwei Jahre, düster und vielleicht verhängnisvoll für gemeine Anfänger – einen, der sich anders und darüber weiß, kann es nur bestätigen auf seinem besonderen Weg. Je morscher der Weg, um so leichter sein Schritt. Es ist nicht Mut, wenn er aushält, er kämpft noch gar nicht. Unschuldig dem Schicksal hingegeben, läßt er sich vollziehen, was in ihm ist. Verse schreiben viele, er weiß es, und alle glauben an sich. Aber er schreibt seine Verse. Er sagt: »Machen wir lyrische Gedichte – bis auf weiteres.« Er schreibt ohne Plan und sagt: »Ich weiß wohl, das ist nicht der Weg zu Meisterwerken.« Rückblickend wird er einst sagen: »Wenn ich nicht den Glauben an mein Werk hatte, ich hatte doch Vertrauen zu meiner Anstrengung.« Und daher hat er Zeit. »Ich bin unwissend in allem, noch lange denke ich nichts herauszugeben, sondern tüchtig zu lernen.« Das Gedicht, um dessenwillen er zu streben meint, ist ohne Beziehung zu seiner Gegenwart, eins der ahnungsvollen Jünglingswerke, die vorwegnehmen, – die mehr vorwegnehmen als der Stärkste später verwirklicht. Zola hat die soziale Geschichte eines Reiches gestaltet. Der junge Zola nimmt es mit dem Werden und der Entfaltung der ganzen Menschheit auf, bis in ihre unbekannteste Vergangenheit, bis zu ihrer gottgleichen Vollendung. Die Synthese, die er plant, ist ungeheuer, die später ausgeführte wird nur groß sein. Die Geburt der Welt, der erste Teil des Jugendgedichtes, geschieht in seinem wirklichen Werk durch eine einzige Figur, Adélaïde Fouque, die Mutter des ganzen Geschlechts der Rougon-Macquart, Keim und Vorbestimmung ihrer Triebe, Laster, Krankheiten, und auch ihrer Größe. Zwanzig Jahre einer bestimmten Zivilisation werden ihm für seine ganze Manneszeit Stoff genug sein, der Jüngling braucht dreitausend. Und der dritte Gesang, vom Menschen, »der sich immer höher hinanschwingt auf der Leiter der Wesen«: auch ihn soll er einst erleben, aber dazwischen wird Arbeit und wieder Arbeit liegen, viel Düsterkeit und Schmerz der Erde, und auch, mit allem Bittern und Wirren, die Tat. Der Gealterte endlich wird, als er den guten Kampf beendet, die Gewißheit von der Vervollkommnungsfähigkeit der Menschen halten und verkünden. Aber ohne Kampf greift danach schon der Jüngling. Denn Jünglinge lieben Begeisterungen, die sie noch nicht verdient haben. Gehoben und gespannt von dem Vorgefühl künftiger Kraft, wollen sie schon den berauschenden Saft trinken aus Leistungen, die nur erst Träume sind. Ihre Ohnmacht vor dem Leben, das sie mit den Augen zu entkleiden versuchen und doch nicht besitzen dürfen, macht sie recht unglücklich.

Der junge Zola flüchtet sich zu den Freunden in den endlosen Jünglingsbriefen, die alles auf einmal sind: Selbstzergliederung des Lernenden, Selbstbehauptung der noch so unbewährten Persönlichkeit, und Reibung an dem andern, erster Kampf, erste Erkenntnis. Wie gern in solchen Briefen tut man vor dem andern stark und faßt ihn hart an, – indes man doch in all der weiten fremden Welt nur eben den einen kleinen Punkt dort hinten weiß, der vertraut ist, den Freund. Der in Paris Verlorene zittert um die beiden, die zurückblieben. Er erinnert sie an ihren Schwur, durch das ganze Leben, die Arme verschlungen, mit ihm den gleichen Pfad zu gehen! Er fühlt ihre Schwäche, und daß man unaufhaltsam auseinander gerät; in Baille stößt er schon auf den künftigen Spießbürger, in dem jungen Cézanne auf jenes Versagen, das einst, in L'Oeuvre, zu jener Tragödie führen soll; aber er klammert sich an diese Gemeinschaft von Hoffnung und Freundschaft. Die hochgespannte Zärtlichkeit des Zwanzigjährigen, sein Herz, wenn es, von sich selbst betört, in offene Arme rennen will, alles den Freunden! »Der Tag wird kommen, wartet nur, wir werden einen langen Weg hinter uns haben, werden getrennt gewesen sein, in verschiedenen Welten gelebt haben, ungleich begünstigt vom Glück, und doch werden wir nur eine Seele haben, um den verwehenden Duft unserer Jugend zu atmen!« Und: »Ich sah Paul! Verstehst du die ganze Melodie dieser drei Worte?« Liebevollster Eifer wird aufgewendet, um nur nicht überlegen zu scheinen. Haupt einer Schule wie Victor Hugo – er verwahrt sich schon hier dagegen, wo die Beschuldiger noch fern sind. Später werden sie auftreten, er wird sich immer verwahren. Was nicht hindert, daß er die beiden Jungen gewinnen möchte für vielerlei Einblicke und Überzeugungen. Nicht nachahmen! Die romantische Schule ist tot, trotz seiner eigenen Verse. Er möchte Jeanne d'Arc sprechen lassen, wie ein junges Mädchen wirklich spricht. Andererseits »ahnt man gar nicht«, wie wenig für die Dichtung diese Worte bedeuten: Wissenschaft, Zivilisation. (Später werden sie alles bedeuten.) Aber doch auch hier schon, das Tiefste und Zukunftsreichste in seinem Gewissen: »Der Roman soll nicht nur schildern, er soll bessern.« »Den Menschen anschwärzen, das kann mir nicht gefallen!« und eine Verteidigung des Volkes gegen die blöd feindseligen Begriffe der Bürger …; Besonnene Prüfung in allem, schon hier trotz Jugenddrang, und niemals schön gefärbt. Seinen Zimmernachbar, einen untergegangenen Dichter, der seinen berühmten Altersgenossen nicht verzeihen kann, beurteilt der nachrückende Junge, trotz der unermeßlichen Überlegenheit seiner Jugend, ohne Flüchtigkeit, mitleidig höchstens, und gewiß mit Geringschätzung des Mannes, aber doch voll jenes Respektes vor der Erscheinung, der die beste Gewähr seines künftigen Talentes ist. Der Zwanzigjährige glaubt keineswegs an die sittliche Hebung der Dirne, – die er vielleicht gerade versucht, in dem Absteigequartier, wo er wohnt. Aber auch an die Existenz einer moralischen Jungfräulichkeit glaubt er nicht, und dies können nur seine platonischen Träume ihm enthüllt haben. Diese Träume eines keuschen jungen Mannes sind schwermütig und gefaßt. »Ich habe immer nur im Traum geliebt, und geliebt worden bin ich nicht einmal im Traum.« Seine Grundstimmung außerhalb der Arbeitszeit wird unruhiger, Wechsel erfaßt sie von Sehnsucht und Trauer. Später wird es sich erweisen, daß die Arbeit, nur sie, ihm zu dem starken Lebensgefühl hilft, das er sucht. Aber die Arbeit ist noch nicht geregelt, ist unsicher und enttäuschungsträchtig. Schwere Stunden in dem luftigen Belvedere, das er eines Tages bezieht, sieben Stock hoch, und drunten ganz Paris. Einer hat hier auch gehaust, der wohl glücklicher war, Saint-Pierre, Verfasser von Paul et Virginie, eines Meisterwerkes und Ruhmestitels. Wie lange bis dahin! Alles säumt oder bleibt aus: auch die Freunde, die doch nachkommen sollten. Als Paul endlich da ist, gehört er den Malschulen. Manchmal freilich wird bei Zola gemalt, und dazwischen tanzt man, raucht Pfeifen, macht Lärm. Ach! das Tanzen räumt nur wenig schwere Stunden fort; zu bald sitzt der Ernüchterte wieder am leeren Kamin, die Einsamkeit ist wie eine Krankheit, die Untätigkeit drückt, in Kälte und Armut der Gegenwart ist er darauf angewiesen, sich mit der Vergangenheit zu unterhalten – und mit der Zukunft.

Die Zukunft? Sollte man nicht vor ihr flüchten, in eine Grotte, in ein Mönchskleid? Die Zukunft! Taumelnd groß wird sie sein, reich unermeßlich, sieghaft bis zum Wahnsinn! Ach, die Zukunft: wenn sie gut ist, wird sie die Mansarde sein, das Häuschen im Gebirge, stilles Traumvolk darin, auch zwei, drei Freunde; von weitem, mag sein, das schmeichelhafte Gemurmel der Menge, nur kein Kampf, kein Lärm und Kampf. Aber wie die bedrängte Jugend das Zimmer durchmißt, das enge Gehäuse so vieler Stürme, da liegt drunten, atmend wie ein Wesen, Paris. Atmend und wartend – auf den Armen, der in seine Flanke hinabsteigt, irrt und sucht, nach Brot, nach Erfolg, nach Chimären. Er selbst, Zola Emile aus Aix in der Provence, ein Armer, keinem Bekannter, hat schon in hundert Gassen, dort und dort, die Leute angegangen um Stellungen, irgendeine, um das bißchen Leben. Er ballt die Faust: und vor ihm sein Vater! Schon sein Vater war dort unten atemlos nach Geld gelaufen, und als es ihm endlich versprochen war, als sie ihm erlaubt hatten, in Aix den Kanal zu bauen, da starb er, François Zola, Zivilingenieur, zweiundfünfzigjährig, hinterließ die unkundige Frau und den Sohn von sieben Jahren. Was hatte er gehabt, was hält das Leben? Ganz jung hatte er in den Napoleonischen Armeen gedient, ein Venetianer, zur Befreiung seines Vaterlandes. Dann umhergereist und vom Zufall gezehrt, ein Abenteurer eigentlich. Von großer Lebenskraft wohl und mit Phantasie, denn später, als Leutnant in der Fremdenlegion, hat er eine Leidenschaft bestanden, die ihn auch die Ehre hätte kosten können. Endlich sah er seine Familie doch glücklich, aber dafür mit fünfzig Jahren noch immer kämpfen müssen wie am ersten Tag. Das war alles. Der Sohn lehnt sich auf: wenn das alles ist, wozu dann; und er wirft den Blick hinab, in Grauen und Haß, auf dies Paris, dies fressende Tier, Sinnbild des Lebens, das ihn selbst nun erwartet. Eine Regung des Stolzes, er rafft sich zusammen. Wenn die Gefahr so furchtbar wäre, wie schön dann die Leistung, wie ergreifend dann der Mut aller der Kämpfer dort unten! Dies ist ein ewiges Schlachtfeld, dies ist eine lebende Epopöe! Dort unten vollziehen sich allstündlich, laut oder namenlos, Triumphe und Vernichtungen. Von dort unten steigt in einem ungeheuren Zusammenklang Schluchzen herauf und Frohlocken, der Atem der Gier, der Geruch der Angst, das Qualmen vieler Laster, der Schwung jedes Ehrgeizes, und mit allem, in allem ein Flügelschlag von Unschuld. Sie sind unschuldig dort unten, denn sie erfüllen die Bestimmung dieser Erde, sie arbeiten. Das Wort der Riesenstimme, die heraufsteigt aus Paris, ist Arbeit! Jede der Figuren im Gewimmel ist die Summe der unermeßlichen Arbeit aller! Dem Zuschauer hier oben zittert die Brust vom Drang der Brüderlichkeit. »Ich bin der eure, gleiche noch dem letzten von euch, und mein Schicksal, wäre es selbst herausgehoben, wird, wie eures, die Arbeit sein. Ihr wißt noch nicht, wie dies groß ist, wie dies schön ist: fühlen, daß unsere Anstrengung die Anstrengung aller ist, daß jeder tut, was alle wollen, und daß ich nur ausspreche, was unschön seid. Dennoch ist dies etwas Vereinzeltes und Schweres …;« Sein Blick vertieft sich. Vorahnungen durchrauschen ihn, von Werken ohne gleichen, deren Held dies Paris sein wird, diese Zeit, diese Menschheit; deren größerer Held die Arbeit sein wird, die Anstrengung vorwärts, aufwärts. Er wird sie sich auferlegen und wird sie ihnen auferlegen, sie sollen ihm folgen …; Und aus den heißen Gesichten des Jünglings hernieder senkt sich feierlich in sein Herz das Gewissen einer Verantwortung, die Sendung einer Führerschaft. Er läßt die Muskeln seines starken Körpers spielen, er stemmt die viereckigen Schultern gegen einen Druck von oben, seine breiten Hände greifen zu, wie nach dem Inbegriff des Lebens; forschend und planend umfaßt er mit den Augen nochmals dort unten das weite Gebiet seiner Zukunft. Sein Blick ist sanft und durch Kurzsichtigkeit ungewiß, sein Mund schmollend wie bei einem Knaben, der Ausdruck ernst, unruhig und bekümmert; – aber dies ist der kurze Schädel mit den rund und genau angewachsenen Haaren und der eigensinnigen Stirn, Zeichen einer Rasse; dies auch ihr Gesicht, Marmorglätte und leichte Erregbarkeit. Hier ist der Typus jener Menschenführer, die vom Mittelmeer herkommen, Cäsar, Napoleon, Garibaldi. Diese sind stark, wenig heiter, aber von warmer Seele. Ihre Taten sind machtvoll, und ihre Phantasie eilt immer über ihre Taten hinaus. Sie legen der Welt ihre Macht auf, gewiß um der Macht willen, aber auch zum Ruhm einer Idee. Sie sind Eroberer, und dann Zivilisatoren. Sie führen die Menschen, wie jeder sie führt, durch Wirrnis und Leiden; aber sie glauben, daß sie sie zum Glück führen …; Der junge Führer unter seinem Mansardenfenster, im Angesicht von Paris, 1860 in einer Schicksalsstunde, schließt die Augen, spricht vor sich hin: Emile Zola, – lauscht, und möchte erraten, ob so die Welt einst lauschen wird.

Arbeit

Er tritt in den Verlag Hachette ein und wird bei der Reklameabteilung beschäftigt, – was er als Förderung anerkennt; denn er weiß, für ihn heißt es, von unten hinaufdrängen und nicht verschmähen, auch den Betrieb der Literatur zu erlernen, bevor er sich ihrem Geist nähert. Am Abend zu Haus schreibt er zarte kleine Novellen, Übergänge von der Lyrik, aus der er herkommt, zu seiner künftigen Prosa. Als die Contes à Ninon fertig und erschienen sind, wagt er den Schritt vom Buchhandel zum Journalismus. Villemessant, Gründer des Figaro, wird von ihm gewonnen, Zola sieht sich auf dem Weg zum Erfolg; da erfüllt sich zum erstenmal seine lebenslange Bestimmung: Haß zu erregen. Er hat Manet und die jungen Impressionisten gerühmt auf Kosten der Romantiker, die die Macht hatten. Genötigt, seinen »Salon« abzubrechen, versucht er es im Figaro noch mit einem Roman, wieder zu zart, um aufzufallen; dann ist die Gunst seines Herrn erschöpft, er muß weiterziehen. Er tritt in andern Blättern auf, aber nichts konnte gelingen, solange er Meinungen oder Werke, die ihr fremd waren, in die Presse einschmuggelte. Den anderen Weg zeigt der Herausgeber eines Marseiller Blattes, der ihm die Akten von lokalen Sensationsprozessen zugänglich machen will, damit der junge Mann ein Gegenstück zu den berühmten »Geheimnissen von Paris« schreibt. Zola, entschlossen, sich den niedersten Arbeiten des Handwerks zu unterziehen, nimmt an; und der Segen der Arbeit, an den er glaubt, geht schön in Erfüllung. Das Handwerk, die marktgängige Arbeit ist es, die seinem Willen zur Gestaltung die erste, fest weltliche Grundlage gibt. Hier in diesen Akten sind Menschen, die wirklich gelebt, die begehrt, genossen, sich schuldig gemacht und furchtbar gelitten haben. Hinter diesen Antworten vor Gericht steht mehr, als so dürre Worte sagen; die innere Vorgeschichte der Tat war schwieriger und stärker; weit grausamere Bußen werden erlebt als die, die ein Richter auflegt. Und neben den Mystères de Marseille, gleichzeitig Tag für Tag mit diesem Feuilletonroman, schreibt Zola das erste Werk seines eigenen Gepräges, Thérèse Raquin, ein pathologischer Dämonenspuk von Liebe und Verbrechen, hinter Gaslaternen im Alltag eines Pariser Durchgangs. Noch mehr, die Marseiller Akten liefern ihm den ersten Stoff der Rougon-Macquart. Sie zeigen, straffer beisammen und in einen entscheidenden Augenblick gesammelt, was auch im Leben sich ihm immer am stärksten aufgedrängt hat, das Überlaufen der Begierden, den Sturm des Zeitalters, der neuen Geschlechter auf die Genüsse. 1852, vor siebzehn Jahren, führte es zu allen Genüssen der Welt, wenn man Bonapartist war. Die Bonapartisten, das waren, menschlich gesprochen, die Lebensgierigsten: darum siegten sie. Zola stand auf bei diesem Gedanken, er staunte; auf einmal war die Formel gefunden für jene Menschen, die, jeder an seinem Platz und Anteil, ein Reich gegründet hatten. Die Spekulation, wichtigste Lebensfunktion dieses Reiches, die zügellose Bereicherung, der gigantische Genuß, alle drei theatralisch verherrlicht in Schaustellungen und Festen, die allmählich an Babylon mahnten; – und neben diesen blendenden Massen der Apotheose, hinter ihnen, von ihrem Strahlen noch unterdrückt, dunkle Massen, die erwachten, die hervordrängten. Das Erwachen der Masse! Auch das konnte eine Aufgabe sein? Ja, eben dies! Auch für die Literatur sollte die Masse erwachen! Der Auftrieb und Zukunftsdrang der Masse, dies war das Unerhörte, jetzt zu Bewältigende. Wie es begeisternd war, da es so schwierig war! Nicht nur darum. Diese Masse kam herauf mit Idealen, die Erfüllungen von morgen waren. Sie war die Menschheit von morgen! Auf ihr, auf ihr mußte das Licht der Apotheose liegen, das eine abgehauste Genießerbande sich anlog. Keine Ausnahmen darstellen, so sehr sie uns Künstler reizen. »Meine Thérèse und meine Madeleine sind Ausnahmen. Ich war durch den Gedanken an Stendhal zu dem Irrtum verführt, daß durch Ausscheiden aus dem Alltäglichen das Werk Rang bekomme. Und fort mit dem aristokratischen Künstlerstil, er liefert Kunstleckerbissen, die menschlich nicht mitzählen. Starke Werke wären mir lieber.« »Aber starke Werke?«, überlegt der Tastende. »Wo sind sie noch übrig nach den Meistern? Balzac hat alles analysiert, die ganze Gesellschaft, Typ für Typ. In Madame Bovary ist sogar das unendlich Kleine der Gefühle zerlegt …; Also keine Analysen mehr, keine Seltenheiten! Nur noch durch die Menge der Bände, die Macht der Schöpfung, kann man zum Publikum sprechen.« Und er erkennt, daß die Masse, Gegenstand und Ziel seines Werkes, auch formal sein Prinzip werden muß. »Fest gebaute Massen müssen die Kapitel sein. Logisch und natürlich gewachsen, folgen sie, wie geschichtete Blöcke, die ineinandergreifen. Atem der Leidenschaft beseelt alles, von einem Ende des Buches zum andern. Aber jedes Kapitel, jede Masse muß sein wie eine Kraft für sich, die der Lösung zutreibt.« Damit dies vollbracht werde, trage der Romancier in sich das rhythmische Wogen der modernen Demokratie, das Balzac nur erst heranrollen sah. Er sei endlich wieder der Sänger aller, sei Homer! Sein Buch sei geschrieben wie von der Masse selbst! …; Im Grunde gab es nur sie. Die einzelnen zeigten, innerhalb eines Reiches und Zeitalters, alle so deutlich die gleiche Herkunft, als wären sie aus einer einzigen Familie gewesen. Eine Familie! Dunklen Ursprungs, nicht wahr? – wie die Bonaparte selbst; und vom Volk ausgehend, verzweigen sie sich in der ganzen zeitgenössischen Gesellschaft, steigen auf zu allen Stellungen, sind Minister oder Millionäre; aber in ihren weniger begünstigten Exemplaren bleiben sie mager und stecken im schmutzigen Laster, statt im eleganten. Alle Vettern! Geht, ihr habt euch nichts vorzuwerfen! Alle von derselben unbedachten Gier, Geschöpfe eines Augenblicks, den Keim des Todes schon in euch, wie euer Herr und Meister in den Tuilerien. Was soll nachkommen? Das Reich verbraucht wie sein Kaiser, und die typische Familie des Reiches – die Rougon-Macquart – zum Schluß so verdorrt, so zum Untergang reif wie die Dynastie. Verdorrt und verbraucht durch ihre Überanstrengung, – die nicht ohne Verdienst war; denn dies Reich, diese Dynastie und diese Familie haben in Krisen und Krämpfen eine neue Welt geboren, die nun bevorsteht, die Demokratie. Das wird sie rechtfertigen. Das wird auch die innerste Rechtfertigung und Weihe dieses nachsichtslosen Werkes sein, der Romanreihe, ihrer furchtbaren Geschichte. Wie aber wird der Ausgang des Werkes sein? Das letzte Wort? Wenn es nicht Zusammenbruch heißt, dann hat es kein letztes! »Für mein Werk, um seiner Logik willen, brauche ich den Sturz dieser Leute! So oft ich das Drama zu Ende denke, ihr Sturz ist immer das Ende. Wie in Wirklichkeit die Dinge stehen, ist es nicht wahrscheinlich, daß er bald eintritt. Aber ich brauche ihn.«

Dies sagte sich Zola 1869, indes er an seinem ersten Band schrieb. Und dann stürzte das Reich. Es stürzte auf einmal, über Nacht, und mit der vollen künstlerischen Rundung einer Katastrophe. So und nicht anders hatte ein Erfinder von Romanen sie vorhergewußt. Wer noch? Sie schien fern, schien undenkbar. Die sie wünschten, glaubten kaum an sie. Nicht einmal jenseits der Grenze, dort wo man sie vorbereitete und belauerte: jene fremden Persönlichkeiten, die zu Weltausstellungen und politischen Freundesbesuchen nach Paris kamen, die hochstehende Sonne der Zivilisation genossen, am Hof des Kaisers charmant plaudern lernten in der Sprache des Beneideten, und unter der Hand Erkundigungen einzogen, ob dies alles nun bald reif sei für die Schlachtbank: auch sie hatten nicht diese Vorstellung vom Ausgang ihrer Wünsche, gewiß nicht diese. Die Katastrophe, allen unbekannt und ohnegleichen, fand sich vorweggenommen in Plänen zu einem Romanwerk. Einer, der äußerlich nichts vor Augen hatte, als was alle vor Augen hatten, Macht, Glanz und Erfolg, hatte diesem Reich und dieser Zeit dennoch stärker und tiefer in die Augen gesehen als alle. Die Geschichte vollzog sich im Sinn eines noch ungeschriebenen Buches. Die Katastrophe trat ein, als sei sie eine ästhetische Notwendigkeit, – als wäre er selbst, der sie vorherbestimmt hatte, der Richter, und sein Werk das Ziel des Geschehens gewesen. Ihm schien wahrhaftig eine mystische Bestätigung geworden. Er sagte später, daß er keinen Willen habe, nur die fixe Idee seines Werkes. Tatsächlich war dies Werk zu einer Sendung geworden und die Arbeit daran, die Arbeit in Krankheit, die Arbeit in Erfolglosigkeit und Armut, war auferlegt, war gut, war das einzige Gute. »Sich einem Werk geben«, sagt er »ich versichere Ihnen, in dem Nichts aller Dinge ist dies noch die Unnützlichkeit, der wir am meisten Lebensgefühl verdanken.« Und gegen Ende seiner Tage: »Die Arbeit, der Gedanke an mein Werk, an die Pflicht, die ich erfüllen mußte, hat mich immer aufrechterhalten.« Wobei es sicher ist, daß das Gefühl der auferlegten Pflicht allen Schöpfern gemein ist. Aber es wartet doch immer auf Bestätigung.

Da das Werk Sendung und Pflicht war, war es Kampf. Während des Krieges mit Deutschland, genötigt, sich mit Politik zu befassen und im Begriff, Unterpräfekt zu werden, sah Zola zuweilen seinen angefangenen zweiten Band an, voll der Frage, ob es denn wirklich hiermit aus sei für immer. Er überlegte noch einmal das schon Hingestellte, überzeugte sich wieder von seiner Notwendigkeit, entdeckte im instinktiv Geschaffenen die allgemeinen Ideen und legte jetzt die theoretische Grundlage für das Werk seines Glaubens. Er sagte sich, wenn er sein Buch las: »Ich habe die Gabe des Lebens.« Mit Stolz setzte er hinzu: »Denn ich habe die tiefste Leidenschaft für das Leben!« Er ging weiter. »Was ist das, die Gabe des Lebens? …; Es ist die Gabe der Wahrheit!« Die Wahrheit lieben: anders wird keiner groß. Alle ihre Mächte lieben, Wissenschaft, Arbeit, Demokratie: diese große, arbeitende Menschheit, die hinauf will, los von den Beschönigungen und Ungerechtigkeiten der Vergangenheit. Sich als einen der ihren fühlen und als nichts weiter; im Leben stehen wie alle Welt, dann kann man schildern, was alle Welt erlebt. Nur nicht sich abseits und besonders dünken; teilnehmen als einer unter vielen an der großen Untersuchung über das Jahrhundert, über das moderne Leben. Seine Zeit lieben! Wer sie nicht geliebt hat, die Romantiker etwa, geht bald niemanden mehr an. »Wer heute nicht mit der Wissenschaft ist, lähmt sich selbst. Man ahnt gar nicht, was für eine unbezwingliche Kraft es einem Mann gibt, wenn er das Werkzeug der Zeit in Händen hat und mithilft zu der natürlichen Entwicklung der Tatsachen. Dann trägt es ihn. Er kommt so schnell und so weit voran, weil er die Leidenschaften seiner Zeit hat, und weil seine Leistung vervielfacht wird durch die Arbeit der kreißenden Menschheit. In der Wissenschaft, vielmehr in dem wissenschaftlichen Geist des Jahrhunderts, findet sich der Geistesstoff, dem die Schöpfer von morgen ihre Meisterwerke entnehmen werden!« So die Idee der Vererbung: beim ersten Hinsehen nichts als ein Faktor der materialistischen Methode. Thérèse Raquin? Sie und ihr Liebhaber sind Menschentiere, nichts weiter. Erst auf die Länge, wenn man die erhabene und rührende Anstrengung des Menschengeschlechtes würdigen lernt, das aus seiner Tierheit und trotz allen Klammern, die es darin festhalten, nach anderem langt: da ändert die Idee der Vererbung ihr Gesicht und ihre Bedeutung. Sie interessiert jetzt nicht mehr bloß medizinisch, sondern soziologisch und moralisch, als eins der Bande zwischen den Menschen, mit deren Hilfe sie gemeinsam ihrer höheren Bestimmung entgegengehen. Von der modernen Moral hat Claude Bernard, erster Meister der modernen Physiologie, gesagt, daß sie die Ursachen suche, sie erkläre und auf sie einwirke. Sie wolle bestimmen über Gut und Böse, wolle das eine pflegen, das andere ausrotten. Und wir? »Wir erweitern die Rolle der Experimentalwissenschaften, wir dehnen sie aus auf das Studium der Leidenschaften und auf die Schilderung der Sitten. So entstehen unsere Romane, experimentelle Romane, naturalistische Romane, die Natur zerlegend und auf sie einwirkend. Über den Lügen der sogenannten Idealisten läßt sich keine Gesetzgebung gründen. Auf Grund aber der wahren Dokumente, die wir Naturalisten herbeibringen, wird man ohne Zweifel eines Tages eine bessere Gesellschaft errichten, die leben wird durch Logik und Methode. Da wir die Wahrheit sind, sind wir die Moral.« Er erhebt sich. »Höre dies, Jugend Frankreichs! Habe den Mut zur Wahrheit! Folge dem Physiologen Claude Bernard, laß hinter dir die mutlose Skepsis derer, die, wie Renan, nur den Ruf von Flötenbläsern haben, da sie doch den unvergänglichen Ruhm großer Denker hätten erstreben können.« Und im höchsten Glaubenseifer, durchdrungen von dem Heil, dessen Träger sein Werk ist: »Wir, die Frankreich wissend wollen, entlastet von den lyrischen Deklamationen, gewachsen im Kult der Wahrheit; die wir die wissenschaftliche Formel anwenden überall, in Politik wie in Literatur, wir sind die wahren Patrioten! Die Herrschaft der Welt wird der Nation gehören, die am klarsten beobachtet und am stärksten zerlegt!«

Ist dies noch eine Propaganda für Romane gewisser Art? Ist es nicht politische Agitation? Zola hat sie begonnen, als er den ersten Gedanken seines Werkes gegen das Kaiserreich richtete, und auf die kommende Republik. Wie die Republik dann da ist, betätigt er ihr Ideal, das in seinem Sinn das Ideal der Wahrheit ist. Er weiß, sein Werk wird menschlicher dadurch, daß es auch politisch wird. Literatur und Politik, die beide zum Gegenstand den Menschen haben, sind nicht zu trennen in einer Zeit von psychologischer Denkweise und in einem freien Volk. Wenn um den Naturalismus die Welt leidenschaftlicher streiten wird als um andere literarische Formeln, so deshalb, weil der Naturalismus nicht nur der Kunst, sondern der Welt gehört. Zola, Darsteller und Inbegriff der arbeitenden Menschheit, lebt in derselben heißen, streiterfüllten Luft wie sie. Man soll ihn hören! Sein Werk ist ein Kampf, und um sein Werk her kämpft er in den Zeitungen, hämmert »den Nagel« täglich etwas tiefer in die Köpfe, schont niemand, kein fremdes Ideal, keinen verhaßten Ruhm, und »hat die Sucht, immer von sich selbst zu reden«. Aber die es nicht gern sehen, die Freunde selbst und auch Flaubert, durchschauen wohl kaum, daß er nicht unbescheiden ist, sondern nur hart, und daß er nicht überheblich kämpft, sondern eben nur kämpft wie das Leben selbst. Er feiert den Kampf um das Dasein, und er führt und besteht ihn. Der Überschwang seiner Selbstbehauptung ist neunzehntes Jahrhundert, ist rauher Darwinismus, – und eben daher sein unzartes Trumpfen auf das Recht der naturwissenschaftlichen Bloßstellungen, mit eingeschlossen, was pornographisch hieß. Hätten sie Recht gehabt und wäre es ihm gleichgültig gewesen, daß eben diese Teile seines Werkes den Absatz erhöhten, was weiter. Das Schicksal des Ganzen war wichtiger als das von Teilen; und der Kampf des Lebens blieb geheiligt, ob keusch oder nicht. Er ist nie keusch, die Vehemenz der öffentlichen Leidenschaften, die den Grundton dieser Bücher gibt, macht ein Bacchanal aus der unsinnlichsten Szene. Allgegenwärtig ist die Zeitseele, die Seele der dargestellten Epoche. Der gesteigerte Ausdruck, die ständige Nähe des Äußersten in diesen Romanen sind mehr als französisch, sind gärende Demokratie, zweites Kaiserreich, sein Lebenstempo, kurz und gewaltsam, umwälzende Genußsucht, Gründungswut, die blind in die von ihr aufgerissenen Straßen stürzt. Den Gegensätzen des Stils hier, der nun flammt und nun sich wälzt, entsprechen dort die gesellschaftlichen Kontraste, die jähe Unmäßigkeit des Luxus und eine Not ohne Maß und Scham, der Kapitalismus noch im wilden Zustand, keine soziale Gesetzgebung, – und dieselbe Handlung umschlingt den Palast des Goldes und des Wahnsinns, wo ein Vater wohnt, wie die tierische Herberge seines unehelichen Kindes, jene Cité de Naples, Vision aus Lehm und Unzucht …; Hier sucht Ihr Seele, zergliederte Seele? Eine andere als die der Zeit und des Reiches, Einzelseelen, in einsamer Ergriffenheit? Der Raum ist nicht groß, im Ganzen des Menschlichen, wovon diese Dichtungen leben, für die Vorgänge des Herzens und des Gewissens. Wer lebt überwiegend mit der Seele? Einige Einsame und manche Luxuswesen. Die anderen handeln, sorgen und ertragen; das nutzlose Gefühl ist beschränkt auf Stunden ihres ganzen Daseins, und die Stunden zersplittern in flüchtige Blitze. Nicht anders aber vollzieht es sich bei Zola. In dem massigen Mechanismus des Lebens schluchzt manchmal eine Menschenstimme auf: sagt nicht mehr kollektive Rollen her, spielt nicht Zeitleidenschaften, nackte Triebe oder Klassenbeschränktheiten ab, sondern schluchzt auf, wie Menschen eh und je. Dies ist, als sei man dem verschlingenden Triebwerk einer öffentlichen Straße überliefert, wo alles ineinander arbeitet, strebt und Zweck hat, – und plötzlich, hinter einem Fenster im Halbdunkel, kniet einer, ist allein und betet. Ergreifender so, als würde die ganze Straße beten.

Aus der Arbeit die Idee, aus der Arbeit auch der Kampf. Sein Vorgänger Flaubert wußte es noch nicht. Denn Flaubert hat nicht gekämpft, er hat verachtet; und die Idee erwuchs ihm nicht aus der Arbeit, sondern aus der Form. Er stellte nicht die arbeitende Menschheit dar, nur die Dummheit der Menschen. Er liebte nicht sein Jahrhundert, nicht die Mitlebenden; so umwälzend er wirkte, »nie wollte er zugeben, daß alles vereint marschiert, und daß die Nachrichtenpresse die jüngere, wenn auch vielleicht verwahrloste Schwester von Madame Bovary ist«. Denn er, romantischem Empfindungsprunk zu tief noch verpflichtet, hatte sich wohl durchgerungen bis zur Wirklichkeit, aber unter Opfern, aber mit Murren. Er würde die Wirklichkeit gern verlassen haben, er verließ sie, wo es anging. Dem alten, unfruchtbar gewordenen Spiritualismus entwachsen, verharrte er in Skepsis und gelangte unter allen zum tiefsten Einblick in das Nichts. So wert war ihm niemals die Wirklichkeit, die er doch bemeisterte, daß er ihr die Hervorbringung neuer Ideale zutraute. An solchen aber schuf Zola. Flaubert schrieb um des Schreibens willen. Wozu sonst? Er schrieb unter dem Kaiserreich. Er stellte es nicht, wie der Jüngere, dar, als es überstanden war; es drückte auf ihn und bestimmte ihn. Ästhetizismus ist ein Produkt hoffnungsloser Zeiten, hoffnungtötender Staaten. Flaubert war berühmt, war dabei ohne Feierlichkeit und hilfsbereit, ein guter Mann, und schuf doch um sich her weder Bewegung noch Wärme. Gealtert, war er nicht einmal ehrwürdig. Denn der Ästhet hat kein Alter. Autorität, Ehrwürdigkeit, jede hoch menschliche Wirkung ist bei dem Moralisten …; Wird Zola so hoch steigen? Bald zehn Jahre seit seinem ersten Auftreten als Naturalist, und im Grunde kennt immer noch kein Mensch ihn. Er kämpft all die Zeit ohne Waffenstillstand. Sein Journalismus ergänzt ihm, wie es geht, die unzulänglichen Einnahmen aus seinen Büchern, und überdies trainiert er ihn; denn Zola hat sich verpflichtet, zwei Bände jährlich zu liefern. Er hat geheiratet, in dem schwierigsten Augenblick, gerade vor dem Krieg; wohnt seither bürgerlich, in Gartenhäusern mit Gelegenheit, sich im Freien körperlich zu üben; und unter Arbeit, Kampf, Enttäuschung vergehen Jahre, unter drängenden Sorgen, Bankerott des Verlegers, neuem Kampf vergehen Jahre. Welche immer zunehmende Spannung, was für ein erbittertes Warten vor einer noch verschlossenen Tür! Der Erfolg war ihm geschuldet! Nicht er allein, die Zeit, das Leben selbst forderten Erfolg für ihn, ihren Verkünder! Damals fanden Beobachter ihn so ruhelos, angstvoll, verwickelt und tief, so schwer zu fassen und zu durchschauen, daß sie ihn für das melancholische und erbitterte Opfer einer Herzkrankheit hielten. Die feine Modellierung seiner Züge fiel auf, die Skulptur der Lider, die merkwürdige Nase, vorn gespalten und beweglich wie die eines Jagdhundes – und dabei der bebende Zorn vor der verschlossenen Tür des Erfolges, dieses Pochen auf seine Jugend, das ewige Zurückkommen auf sich. »Die Sache ist die, ich habe so viele Feinde. Und es ist so schwer, von sich reden zu machen.« Wo war das Dachstübchen, darin er ehemals reine und unverwendbare Verse schrieb. Die hatten freilich keine Feinde. Jetzt waren die Fallstricke der Welt entdeckt, ihr Mangel an Gutherzigkeit und ihre Neigung, selbst zum Guten, gerade zum Guten, sich immer nur zwingen zu lassen. Der Gewitzigte übertreibt noch die Neigung. Da wir kämpfen müssen, stellt er sich auf einen äußerst gewaltsamen Kampf ein, – den die Welt vielleicht manchmal nicht weniger belächeln wird, als sie zuviel Naivität belächelt. Denn die Welt ist selten irgend jemandes vorgefaßter Feind; sie ist nur träge und mittelmäßig.

Und endlich der Erfolg. Er kam, wie er immer kommt, wenn Unerhörtes durchdringt: mißverständlich und mit bitterem Beigeschmack. Am Meeresstrand, vor der großen, einfachen Linie des Horizontes, hatte ein Träger einfacher und großer Menschlichkeit geahnt und gesucht. »Ich müßte etwas finden wie dies.« Dann schrieb er das Leben einer Frau aus dem Volk, ihren Weg in das Elend, mit einem Mann, der zum Trinker wird. Die Zeitung aber, die den Roman brachte, mußte ihn abbrechen, der Lärm ward zu groß; und dieser Lärm behielt auch noch beim Erscheinen des Buches ebensoviel von einem Skandal wie von einem Triumph. Es ist wahr, L'Assommoir war ein Volksroman nicht nur dem Stoff zufolge, sondern dem Sinn nach und in der Arbeit selbst. Sogar die erzählenden Stellen waren in der Sprache der Personen gehalten, von denen erzählt wird; und nicht feiner als ihre Sprache waren ihre Handlungen. Fast alle diese Arbeiter lebten zu nahe am Laster hin, wenn sie ihm nicht schon gehörten, und von der untersten Klasse des Proletariates, seinen verlorenen Söhnen, waren sie nicht entschieden genug getrennt. Auch fügte es sich, daß die Untersten, diese Zuhälter, Drohnen des Proletariates, die, genau wie die oberen Drohnen, für jede Macht zu haben sind, wenn die Macht sie bezahlt, in L'Assommoir Revolutionäre waren. Doppelter Genuß! Dem bürgerlichen Leser ward geschmeichelt in seinem Haß auf das Volk und in seiner Lust am Gemeinen. Das Buch, in allen Bürgerhänden, ward von der bürgerlichen Kritik mit sämtlichen Dingen verglichen, die man nicht anfaßt. Hilfe und der erste Beifall, der nicht beleidigend war, kamen dem Urbild des naturalistischen Romans von einem Ästheten, Catulle Mendès. Auch dieser genoß; denn die Poesie der Demokratie, hier zeigte es sich das erstemal, ist üppiger und hinreißender als jede andere. Hier waren Bilder kraftgesättigt, das Erwachen von Paris, der Schritt der Arbeiterbataillone, Coupeau und Gervaise machen Hochzeit, und die schnell berühmte Prügelszene in der Waschküche. Hier war mehr. Nicht die realistische Literatur nur, wie vorher in einem Roman der Goncourt, ergriff Besitz von den Arbeitern und ihrer Welt: das moderne Menschentum tat es im Namen des sozialen Gewissens, Miterlebens, im Namen seiner tiefen Brüderlichkeit. Das Bittere des Buches und seine Härte waren agitatorisch, bedeuteten Zorn und Aufruf. Einseitig war die Idee aus Leidenschaft, und die Gewaltsamkeit war verklärt, weil ein Mensch, bürgerlicher Literat seines Standes, mit seinem Innersten die Grenzen überschritt der Barbaren, der noch nicht Nachgerückten, des unbekannten Volkes. Barbaren – er verheimlicht es nicht, er gibt noch darauf, zu ihrer Barbarei, er scheint zu verleumden, so sehr will er wahr sein. Aber in solcher Inbrunst der Wahrheit, die sich nie genug tut, ist Protest und Forderung, ist Führerwille. »Hinauf, Menschen! Heraus aus eurem Schmutz, den ich nachmale, eurem Elend und eurer Schande, die ich nackt hinstelle; hinauf mit mir, arbeitend ihr und ich! Wir sind Brüder, nicht viel Worte davon. Es heißt seine Pflicht tun.« Geistige Liebe ist hier die Wahrheit, geistige Liebe, und der Tatwille des Geistes in ihr schon beschlossen. Herangereift während der langen Anstrengungen der Rougon-Macquart, worin das Volk überwiegt, erklärt er sich eines noch fernen Tages ohne Scheu und Rückhalt. Man gebe acht auf einen großen Künstler, der liebt.

Dieser Erfolg, heiß erkämpft, spät heimgetragen, konnte nicht betören. Der Siebenunddreißigjährige sieht dem Erfolg, wenn er ihm endlich begegnet, weniger harmlos in sein fragwürdiges Gesicht, als ein angenehmes junges Blut, dem die Mitwelt, weil sie gut gelaunt ist, den unverdienten Kranz aufsetzt. Was blieb, was immer nachzitterte, war das Gefühl einer überstandenen Gefahr. Auch diesmal hätte es gehen können wie sonst: von dem und jenem entdeckt und wieder fallen gelassen; gelesen oder auch nicht. Ein Band schien kühn und ärgerte oder warb; ein anderer enttäuschte; weil er gewissen Politikern nicht gefiel, galt der dritte für erledigt. Eine so geringe Macht war dieser Autor, noch nach sechs Bänden seines Werkes. Er stand im Begriff, endgültig eingereiht zu werden, nicht unter die Mittelmäßigkeiten, aber wohl unter die Talente, die gruppenweise auftreten und auch gruppenweise wieder verschwinden. Er war ein Realist, im Gegensatz zu dem Nachtrab der Romantik. Nirgends, außerhalb einer kleinen und einflußlosen Freundesschar, hat ihm gegenüber Verständnis aufgeblitzt, Vorgefühl eines einzigen Vorganges: das Heraufkommen eines Führers. 1877, als endlich L'Assommoir entschied und Raum schaffte, stand alles auf der Schneide. Noch einer oder zwei von diesen Auftritten in halber Öffentlichkeit, und dem Namen Zola war für die Dauer des lebenden Geschlechts, wenn nicht für immer, die Schwungkraft genommen. Er selbst war damals durchdrungen von seiner Lage und blieb immer unfähig zu vergessen, daß das Leben auf der Schneide stehen kann. Der Erfolg wiegt ihn nicht in Sicherheit. »Niemals wieder werde ich einen Roman schreiben, der aufrührt wie L'Assommoir, einen Roman, der geht wie Nana.« Der Erfolg steigert seine Unruhe bis zu Zweifeln, ob er verdient sei. »Unsere Erfolge hängen immer auch mit dem Lyrismus zusammen, der sich trotz allem einschleicht in unsere Werke …; Das Beste sind vielleicht meine kritischen Schriften …; Denn die Kritik ist für mich einfach eine Art historischer Roman, Anatomie einer Persönlichkeit, die gelebt und Dokumente hinterlassen hat.« Das Beste ist vielmehr diese Fähigkeit, ganz zu vergessen, was schon erreicht ist, im Geheimsten sich noch immer arm und verkannt zu fühlen, und wenn die Siege zu leicht fallen wollen, neue Kämpfe herauszufordern. Sein Kampf um den Eintritt in die Akademie war vor allem eine Erweiterung der Lebensgebiete, auf denen er kämpfte. Er hatte sie redlich verachtet. Als aber sein Ruhm und seine Macht sie überholt und sie ihm nichts mehr zu bieten hatte außer einer offiziellen Bestätigung seines tatsächlichen Besitzstandes, da gerade würdigte er sie dieses aussichtslosen Kampfes. Er hatte »zu viel Sinn für das Leben«, um Ehren auszuschlagen. Alles erobern im Namen der Wahrheit! …; Auch mit dem Theater kämpfte er im Namen der Wahrheit, und ebenso zwecklos. Er kannte das Theater, er hatte ihm seinen Rang erteilt. »Das ganze Genie der Zeit erscheint gesammelt im Roman, er nur wird die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts einst kennzeichnen.« Da er die Breite und die Fülle hatte, das umfassende Leben einer arbeitenden Demokratie, was suchte er in einem abgesonderten Raum, wo nur gesprochen ward, und wo Episoden privater Natur stattfanden? Sein Reich war vom Menschlichen das Allgemeine. Wenn es nicht höher war, ganz sicher war es mächtiger. Die Dramatisierungen seiner Romane blieben Romane. Ihr großer Bühnenerfolg bewies gerade so wenig wie der geräuschvolle Mißerfolg der Kleinigkeiten in drei, vier Akten, die er beiseite und ohne große Überzeugung, noch für das Theater schrieb. Aber nach der triumphalen Premiere von Nana war er tieftraurig, und nach dem Durchfall einer Komödie bleich, betäubt, gramversunken. Und eben dies, die ewige Leidenschaft des Anfängers, der Krampf der Entscheidung, die Verzweiflung nach Niederlagen, waren Bürgschaften einer nie verbrauchten Kraft des Erlebens und eines Weges, der immer noch hinanging. Er kämpfte, also wuchs er. Jeden Morgen sich an den Tisch setzen mit dem einzigen Glauben an die Arbeit, an den Willen zur Arbeit – und mit der Furcht, man könne keine zwei Zeilen mehr schreiben. In diese drei Arbeitsstunden alles zusammenpressen, was du hast, was dein Leben hergibt. Nichts fühlen als die Arbeit; nachher nicht wissen, daß die ganze Zeit ein Hund geheult hat oder daß Gewitter war. Entnervt nachher bis zu Krisen wie die eines jungen Menschen, der in der Angst des Examens, nun gilt es, seinen Aufsatz beendet hat. Er ist fertig, das Tagewerk ist getan, man geht umher, zerstreut, ohne jemand zu erkennen, aber doch nicht in Gedanken; denn man denkt heute nichts mehr. Man denkt nur, wenn man schreibt. Man liest nicht einmal, außer für seinen unmittelbaren Gebrauch. Alles Verwendete vergißt man sofort, und auf Unverwendbares verzichtet man achselzuckend. Was wir nicht kennen, werden wir nie darstellen: wozu sich Gedanken machen über Gott und Jenseits. Zola hat nur mit Mühe eine abstrakte Idee festgehalten. Wenn eine Wissenschaft ihm nahe kommen sollte, mußte sie sich auf den Menschen beziehen; und er gehörte nicht zu denen, die bei dem Begriff »Wirtschaft« sich Zahlenreihen vorstellen, sondern er sah bewegte, getönte Menschenmengen, er roch sie sogar. Jeden Augenblick, solange er Le Ventre de Paris schrieb, konnte er den Geruch wachrufen, den in den Markthallen die hoch aufgeschichteten Hühner haben. Er sah, was er sich vor Augen rief, in Farben, in verstärkten Farben, – indes die Linien durcheinanderliefen unter den Schlägen der Bewegung, die immer in ihm war. Bewegung, das ist Ursprung, Haupttugend und Endziel der französischen Romane, die er schrieb …; Ach! Niemand verschließt sich ungestraft gegen alles, was ihn hemmen will in seiner Leidenschaft, was ihn zerstreuen und an der Oberfläche erhalten will. Auch hier ist der Mißbrauch einer einzigen Fähigkeit gebüßt worden. Zuerst mit Vereinsamung. Menschen gewähren selten das gehobene Lebensgefühl, zu dem das Werk verhilft. Nicht einmal Nutzen kann man aus ihrer Erscheinung ziehen; man hat sie, wenn man darstellte, schon längst übertroffen und hinter sich gelassen. Und der Alleingebliebene verfällt in Wunderlichkeiten und Nötigungen, die abergläubische Vorliebe für gewisse Zahlen, oder das Berühren von Gegenständen, die Glück bringen sollen: wiederaufgelebte Elemente aus den Köpfen längst entschwundener Südländer, die seine Vorfahren waren, Rache der Unvernunft an seiner allzu hohen Vernünftigkeit. Was aber ist dies? Mitten in Glück und Gelingen beschleicht ihn Trauer. Noch soeben, bei der Arbeit, während einer Diskussion mit den Freunden, hat sein Glaube geflammt; plötzlich, da das Räderwerk des Geistes abgestellt ist, tritt Zweifel ein, Versuchung, sich zurückzuziehen aus der Öffentlichkeit, – vernehmbar werden die Zuflüsterungen des Nichts. Sinnestäuschungen erscheinen, und es kommt Todesangst. Die Furcht, nicht fertig zu werden, legt sich um jedes Werk, legt es wie in ein Leichentuch. Seine Mutter stirbt, der Sarg ist breiter als die Tür, er wird durch das Fenster hinabgelassen, – und fortan zieht dies Fenster ihn grauenvoll an bei Tag und bei Nacht: wer von uns Übriggebliebenen wird zuerst dort hinausfahren? Die Mutter war es, die ihm ihre nervösen Störungen vererbt hatte. Gegen das dreißigste Jahr brechen sie aus, verschlimmert durch die Nachwirkung des vergangenen Elends, des trockenen Brotes, fruchtlosen Ehrgeizes, und nachhaltig gemacht durch eine Überanstrengung, die zur immer strengeren Regel wird. Die Arbeit ist nachgerade wie ein Laster, das nur so lange aufrecht hält, als man es vollzieht. Zwei Tage ohne zu arbeiten, eine verdammte Seele. Acht Tage, er würde krank werden. Er ist krank. Sein Herz täuscht ihm ein schweres Leiden vor, er hat kurze, schlechte Nächte, matt und mit Zagen sitzt er schon eine Stunde nach dem Aufstehen, denn der frischen Stunden sind wenige, vor seinem Werk. Dies war der selbstgewisse Büffler und Geldmacher, den seine Gegner beschrieben. Schwer trug er an seiner Arbeit, dieser Sendung.

Und trug doch leicht. Die Arbeit hatte selbst in sich alle Heilmittel für ihre unvermeidlichen Folgen. Die Manien verloren ihr gegenüber den Ernst, vergessen waren alle Schmerzen, und der Tod war fern. Für die Arbeit kämpfte man, nie entmutigt, gegen jeden Schatten, der herbeiwachsen wollte. Wenn der ungeübte Körper sich verfettete, ward ihm dieselbe geduldige Anstrengung gewidmet wie der Arbeit, für die er tauglich bleiben mußte. »Er hat die Kraft«, hatte Flaubert gesagt. Die Kraft aber war auch hier gemacht aus Entsagung, Willen und Intensität. »Das Genie gibt die Natur wieder, aber intensiv«, so dachte Zola; so dachte er wohl von sich selbst. In guten Stunden hat er mit Zuversicht der »strotzenden Schöpfer« gedacht, »die eine Welt mit sich tragen«, und die schließlich immer weiterkommen als Subtile und Angenehme. Dies war in Wahrheit sein Grundbewußtsein, – da es das Grundbewußtsein der strotzenden Schöpfer ist. Zweifel trafen nur die Gegenwart, die kleine Leistung dieses Morgens. Aber alle die kleinen Leistungen zahlloser Morgenstunden aufeinandergelegt, ergaben ein Werk und eine Zukunft, die ohne Zweifel waren. Freilich sah er doch lieber in kein früheres Buch hinein, aus Furcht vor peinlichen Entdeckungen. Denn wir sind vielfältig, und gläubig und ungläubig in einem. Dieser hier, Neuropath und morbid, streift, wenn es gilt, alles ab und ist gesünder als die Gesunden, von einer Gesundheit höheren Ranges. Seine kurzsichtigen Augen, die sich unermüdlich über alles neigen, was dienen kann, nehmen genauer wahr als die meisten anderen Augen. Alle seine Sinne, mit ihrer Unbestechlichkeit, nötigen ihn, wahr zu sein, stellen ihm fortwährend als unausweichliches Gesetz die Wahrheit hin. Hätte er die Neigung, starke Farben zu geben und, einer überwältigenden Bewegung zuliebe, zu vergröbern; möchte er schwül und brutal sein, womit man modern ist und nichts weiter: die Wahrheit ruft ihn vom Irrweg fort. Die Wahrheit, Seele seiner Arbeit, bürgt ihm dafür, daß nicht weniger Glück als Leiden dem wird, der arbeitet. Wie fest stand er da, dieser Mann, seine Wahrheit im Herzen, und im Hirn die Kraft, sie durchzuführen! Wie stand er fest in der Zeit, ihrer so sicher wie seiner zwanzig Bände, in denen sie darin war, unweigerlich: die Natur selbst, gesehen durch ein Temperament. Glücklicher Standpunkt, an jener Stelle, wo Romantik zusammentraf mit Wissenschaft, die Romantik unschädlich, nur noch Diktion, nur noch Mittel zur Wirkung, der wissenschaftliche Geist aber jung, lebenumspannend, stark wie seither nie. Da ließ er denn aus Dokumenten, die ihm alles brachten, Plan, Charaktere, Handlung, eine Wirklichkeit sich bilden und vollenden, die dennoch nur seine war, – aber die Zeit nahm sie entgegen, sie bestätigte seine Wahrheit! Warum? Er konnte das größte Gedicht des materialistischen Jahrhunderts, konnte La Terre schaffen, und es konnte totgeboren sein, weil in seiner Stadt, seinem Land die meisten nicht sehen wollten, was war. Er hätte den Anfang eines Reiches, La Fortune des Rougon, und in dem Anfang schon den Keim des Endes erschauen und doch in einem Volk schreiben können, wo Konsequenzen nicht eintreffen, alle Halbheiten weitergeschleppt werden, und wo die Wirklichkeit ihn nie bestätigt, ihm nie auch La Débâcle nachzuschreiben gegeben hätte. Aber der vollkommene Beruf und die restlose Organisiertheit für eine zu leistende Arbeit bedeuten vielleicht, daß hier die Zeit einen Auftrag erteilt hat, und verbürgen schon das Glück. Und so hatte er Glück, schuf im Glück, litt sogar im Glück. Er hat sich immer als braven Mann empfunden, – denn alles stimmte, und ein braver Mann ist der glückliche Mann. Die großen Ängste, die großen Gefahren blieben, er wußte sie bereit wie je; dennoch hat man sich auf der Lebenshöhe nachgerade bei ihnen eingewöhnt und fühlt sich auch unter Raubtieren zuweilen nicht unbehaglich. »Ich bringe hervor und bin gesund.« Dies war nicht mehr der tief Unruhige, der ausgezehrt wie von einer inneren Krankheit, unter eine Gesellschaft trat, sich in den Stuhl fallen ließ wie erdrückt, und das Glück für nichts erklärte, – indes draußen die Welt von seinem Namen voll war. Das Leben, das er arbeitend so leidenschaftlich feierte, war manchmal auch dann gut, wenn er sich ihm einfach hingab. Sein Haus, das erarbeitete Haus in Médan, fortwährend vergrößert, war ein Bild der Wahllosigkeit eines großen Arbeiters vor den Früchten seiner Arbeit. Marotten und kostspieliges Gerümpel; Wappen aller Städte, wo seine Vorfahren gehaust hatten, im Billardzimmer; sein Arbeitszimmer eine Kirche, ungeheuer hoch und so voll Mittelalter, daß Flaubert, ergriffen, darin das Zimmer Sankt Julians des Gastfreundlichen sah; – in der Dämmerung aber spielte der Verfasser von Germinal auf dem Harmonium. Der Typus des reich gewordenen Bürgersmannes ward in diesem Fall ausgebaut durch den Ungeschmack des Genies. Er wollte das Moderne, aber schön, wollte das Schöne, aber klar und bestimmt, und so wollte er als erklärtes Ideal: eine Maschine aus Diamant. Geld freilich schien ihm vor allem den Wert seiner Launen zu haben; er schätzte es nicht nach der Arbeit, durch die es hervorgebracht war. Alle andern Werte des Lebens bestanden neben der Arbeit, in ihrem Schatten nur, so wert sie waren. Die gute Frau, die die seine war, ging so leise, wie er es brauchte, die weite Straße mit, die er sich baute. Er dachte sie nicht nur für sich zu bauen, er hat geglaubt, viele würden nachkommen, »Naturalisten« wie er, und ihn ablösen. Freundschaft ist immer für ihn der reine Bund geblieben, der sie einst in seiner frühen Zeit gewesen war; nie wurde sie zur Verknüpfung von Interessen. Schüchtern vor Menschen, weil er von ihrem Wert gerade so überzeugt war wie von seinem, vollzog er jede Annäherung immer nur wie eine ernste Handlung. Freundschaft hatte das Gewicht der wahren Liebe. Flaubert, der noch lebende Goncourt, Daudet und Zola: Vertrautheit und Freimut. Keine starren Individualitäten, jede eine verhandelnde Macht; sondern biedere Mitkämpfer. So wenigstens empfand er seine besten Erinnerungen aus dem literarischen Leben, wenn sie zusammen gesessen hatten, wenn die Geister aufeinander stießen, einander für mehrere Tage Bewegung mitteilten, und man dabei gewiß war, im Grunde sei man einig. Flaubert tot, Daudet mißtrauisch, halb feindlich: als Trost blieben einige Altersgenossen, die ihm anhingen, und dann die Jungen. Sie sollten zu ihm kommen als Gleichberechtigte, nicht zu einem unantastbaren Meister, nur zu dem Kameraden, der als Beispiel dient. Ein großer Mann, wohl; aber ein demokratischer großer Mann! So hatte er, wie in jener frühen Zeit, Gesellen, mit denen er gemeinsame Arbeit zu tun meinte, hatte Gesinnungsgenossen, die er für unwandelbar hielt, strahlte aus, indem er lebte, und liebte, weil er reich war. Dann entfremdete sich ihm dieser und jener, andre versagten, es gab auch welche, die verrieten. Selbst Eckermann stirbt, der gute Alexis, die ergebene Seele, die nie fehlt, wo so viel Kraft ist. Allein zum Schluß, keine nachrückende Truppe, nur ein General; aber sein Name, dieser Name aus zwei hellen Noten, verkündet wie ein nahendes Hornsignal immer lauter, was er tut, und daß er lebt. Kein anderer wird so laut, das Jahrhundert hat keinen aus Arbeit gemachten Ruhm, der diesem gleicht. Sein Werk, alle die aus seinem Zimmer hervorgegangenen Bände, millionenfach in den Händen der Welt, der Welt, so weit sie ist, bestätigen ihr die höchste Macht, der sie anhängt, die Arbeit. Zola in seinem Zimmer, abgeschieden und doch öffentlich, liebt in seiner Macht, die er von allem am meisten liebt, die Macht der Arbeit, den Aufstieg der arbeitenden Menschheit. Da er sich vom selben Wesen weiß wie sie, wird er eines Tages, als ihr Gefahr droht, alles was er ist und vermag, für sie einsetzen. Im Namen der Wahrheit, die sein Werk beseelt hat, wird er die Demokratie retten. Seine Tat wird der Abschluß seiner lebenslangen Arbeit sein. Aus Arbeit ward ihm Kampf, Idee, Erfolg, Leiden und Glück. Aus ihr auch Macht. Und aus ihr, was von ihm bleiben soll, sein Werk, dies große Gedicht.

Erdengedicht

Homerische Landschaften, und darin griechisches Idyll, viel Leidenschaft auf öffentlichem Markt, hohe Unschuld und große Abgefeimtheit, heroische Ziele, die Verwirklichungen aber erbärmlich zugleich und tragisch: dies ist der Beginn des zwanzigbändigen Gedichts. La Fortune des Rougon setzt ein als Hoheslied des Volkes, eines Volkes im Süden, denn Plassans liegt, wo Aix liegt, – seiner Wärme, Triebkraft, seines liebreichen Menschentums und Willens zur Erhebung gegen Herren und Erniedriger. Diese Gegend ist weit und frei wie diese Seelen, mit Mondlicht jetzt eben auf den Abhängen fernhin, und gegen den fernsten, hinter der letzten Wolke grauen Öllaubes, rollt das Meer. Ein Blick von oben! Durch eine Erdfalte, verloren in der Weite, wimmelt es von Wesen, die herbeistreben, Menschenwesen, Seelen eines gemeinsamen Dranges. Sie mehren sich, aus Seitenwegen kommt Zulauf rottenweise, Waffen blinken auf, bäurische Geräte, die Waffen sein sollen. Der Geruch der Armen zieht mit ihnen; über ihnen, getragen von einem Mädchen in rotem Mantel, schwebt ihre rote Fahne, und auch ihr Gesang steigt auf, die Hymne der Revolution. Dennoch sind dies keine Revolutionäre mehr, sie waren es vor drei Jahren, 1848; heute heißen sie nur noch Insurgenten. Die Zeit geht vorbei an ihnen mit fremdem Gesicht, zielbewußte Begierden siegen über ihre unsichere Begeisterung. Nach einer kurzen Wallung des sittlichen Wollens ist wieder einmal der Sinn für das Wirkliche bei den Menschen obenauf gelangt, und die härteste Militärmacht kündet sich an. Sieger noch vor kurzem und einig mit dem Herzen des Landes, sind diese nun überlebter, irrender Aufruhr, der im Mondlicht durch schlafendes Land zieht, das wandelnde Ideal, hochherzig und unwissend, dem Tod schon geweiht, bevor es kämpft. Im Schatten der Stadt aber wachen jene, die das gemeine Leben verstehen wie einen Kumpan, mit ihm verbrüdert sind und dasselbe Geschäft haben. Das sind die »Bürger«. Ihnen sagt ihre Natur: eine idealistische Republik kann nicht leben; geboten ist es, den Gewalten beizuspringen, die sie umbringen. Der neue Imperialismus wird Macht und Genuß zu verteilen haben, nicht früh genug kann man sich ihm nützlich erweisen: unter der Hand, versteht sich, und mit Vorbehalt, falls es anders käme. Die Familie Rougon, schäbig bisher trotz Bedenkenlosigkeit, und von allen Begierden gehetzt, macht sich zum bonapartistischen Agenten, kanalisiert Haß und Furcht der Spießbürger vor dem Volk, und arbeitet auf hundert Schleichwegen für den einen großen Augenblick, in dem Blut fließen soll. Denn nur Blut trifft die Einbildungskraft und macht unwiderruflich. Nur auf schlüpfriges Blut werden die festen Reiche gegründet. Der Ordnung hilft man am sichersten zum Sieg durch ein Verbrechen. In Paris tun die Bonaparte es, in Plassans die Rougon. Was in Paris Geschichte ist und Staatsstreich heißt, in der kleinen Stadt ist es lumpige Schufterei; die Tuilerien, die erobert werden sollen, sind hier das Haus des Steuereinnehmers. Aber der Aufstieg der Rougon hat den gleichen Ursprung wie der jener andern Familie, auch sie haben verraten, auch bei ihrem Siegesfest liegt vergessen unter dem Bett ein Schuh mit blutigem Absatz. Sie haben fette, schlaffe Körper, verunstaltet durch Beschäftigungen, die weder geistige noch körperliche Arbeit sind. Es scheint, daß sie kein Recht auf Furchtbarkeit haben. Auch werden sie nur fruchtbar um eines kleinen, gemeinen Nutzens willen. Man möchte sie nicht fürchten müssen, wie man die großen Menschenschlächter fürchtet. Wenn aber die Stunde kommt, gleichen sie diesen. Hier wie dort treibt die Angst dem Verbrechen zu: »Not kennt kein Gebot«, sagen auch sie, bevor sie es begehen; und im Schlummer, wenn das Geschehen zum Gleichnis wird, macht es nichts aus, daß es nur Krämersleute sind, die träumen. Fahl und schwitzend in ihren Laken, sehen sie einen Blutregen fallen, dessen Tropfen sich am Boden in Goldstücke verwandeln. Ein Kaisertraum. Wer sagt, daß sie nicht auch wachend mit großen Gedanken einhergehen können? Einige sind Träumer der Macht, unvergleichbar jenen elenden Begierden, deren sie sich bedienen. So ist Félicité, Rougons Frau: der Weib gewordene Wille eines Geschlechts, hinaufzugelangen. So ihre Söhne, der Minister und der Spekulant. Der dritte Sohn aber, Doktor Pascal Rougon, spricht: »Ich werde beschuldigt, ich sei Republikaner. Gut, das kränkt mich nicht. Ich bin es wohl wirklich, wenn man damit einen Menschen meint, der das Glück aller herbeiwünscht.« Denn diese Familie und diese Menschheit sind eingeteilt in solche, die an die Macht glauben, und andere, die das Glück wollen. Diese bilden das Volk, jene sind Bürger. Dem Bürger stehen nicht, wie noch bei Flaubert, nur die Geistigen gegenüber. Auch die Geistigen stehen ihm gegenüber, aber mit dem Volk. Die Gegenspieler des Bürgers sind größer geworden, denn er selbst ist gewachsen. Das scham- und hemmungsloseste aller Reiche, die er sich bis damals schuf, öffnete seine Schwelle. Die Fähigkeit, die einzige, mit der er sich erheben kann über sich selbst, die Spekulation, wird grenzenlos. Schon hier, im ersten Band dieser Geschichte eines Bürgerreiches, fühlt man einen Hexensabbath kommen ohnegleichen; und fühlt, auch die Stunde kommt dann, da alles fortgefegt wird und reinere Kräfte wirken dürfen. Geschrieben ward dies, als sie nahe war; die leidende Ungeduld hat mitgeschaffen, wann stürzt das Reich? Das Volk, dessen Tag bevorsteht, ist hier verklärt, wie nur Sehnsucht verklärt. Gegenüber dem Bürger, knifflich-verbrecherisch und mißlungen in seiner halben Denkfähigkeit, erhebt das Volk sich ganz aus einem Stück, wie der Sturm einer einzigen, nur gefühlten Idee. Die Volkskinder lieben einander rein, mit der Reinheit antiker Liebender; Schmutz und Geruch ihrer Arbeit sind verflüchtigt, als seien sie zurückgekehrt aus Jahrtausenden. Immer ist Poesie für Zola nur in den rauhen Lebenskreisen, unter Menschen, die sie nicht suchen. Ihnen folgt seine Sehnsucht. Und seine Erinnerung. Denn Zola hat es noch in sich und wird es immer in sich behalten, wie frei, gütig und vom Adel der edelsten Natur beseelt jenes Volk war, das Volk am Mittelmeer, dem er angehört hatte, bevor er Großstädter ward. Ein Idealbild des Volkes, der wahren Menschheit, wird ihn heimlich begleiten durch sein ganzes Werk, bis in seine hoffnungslosesten Schilderungen des Wirklichen. Im Alter endlich wird es alles überstrahlen, alles Wissen, alle Bitterkeit, und allein übrigbleiben. So kam es, weil er ein Grieche war. Grieche – das ist ein Auge, das in reine Ferne zu sehen gewöhnt und Erdenräume zu überblicken fähig ist. Er wird in die Abgründe der Gesellschaft tauchen, wird sich zu Leidenschaften versteigen, die sowohl die Welt als Gott vergessen haben, – und wird doch immer alles Menschliche umfangen wissen von weitem Himmel, bestimmt sich aufzulösen, Schicksale, Familien, Reiche, und einzugehen in die ewige Erde. Er dichtet aus der Höhe; das rasendste Leben sieht er doch nur in kleinen Erdfalten vor sich gehen. Sein Gedicht gilt der Erde.

Und so erblickt er Gleichnisse, schafft in Gleichnissen. Der Roman der Pariser Markthallen wird zum Sinngedicht der Mageren und der Dicken, der triumphierenden Menschheit und der besiegten. Die Geschichte eines Ministers rollt sich ab, wie ewig auf Erden das Wesen der Macht sich abrollt, typisch bis zur Ungreifbarkeit, und wieder sinnlich durch die Kraft der Idee. Dies ist der Machtmensch, der Herr schlechthin, und ganz unnütz, wenn er nicht Herr sein darf. Die zwecklose Wucht der massigen Schultern! – bei einem gestürzten Machthaber, der auf seine Rückkehr wartet und nur wartet, ohne geistige Interessen, ohne eine Tätigkeit außer der Macht, und zu allem bereit, damit er sie wieder ausüben darf, bereit zur Verleugnung seiner ganzen Vergangenheit, ja, käme es darauf an, zum Spiel mit dem Leben seines Fürsten, – denn der war immer nur der Vorwand für den Machttrieb seines treusten Dieners …; Was ist Nana? Zuerst ist sie »das Gedicht der männlichen Begierden«. Zum Schluß »fehlt nicht viel«, daß ihr mit Blattern bedeckter Körper das gegen den Tod kämpfende Frankreich des zweiten Kaiserreiches bedeute. Und nichts fehlt, daß sie mehr bedeute, »eine Naturkraft«, unwissend über das Böse, das sie tut. Großstadt; die Tochter des ausgesogenen Volkes rächt es an den Reichen, kraft ihrer vergifteten Schönheit. Die Gosse spritzt ihnen in das Gesicht, und sie krepieren daran. Kreislauf des Lasters, Kreislauf des Todes; Menschengetriebe, großartig wie Natur; Poesie des Äußersten; im dumpfigsten Winkel atmet noch immer Pan; Großstadt, aber Stein ist Erde. Der Jüngling, der davon träumte, die Menschheit aller Zeiten zu schildern, die Jahrhunderte, nicht das Jahrhundert, hat mitgeschaffen hier. Er hat immer mitgeschaffen; »das Erhabene, das mein verdammter Schädel nicht lassen kann zu träumen«; – und einmal, auf der gebieterischsten Höhe des ganz gereiften Mannes, ist der Jüngling von einst seinem Traum näher gekommen, als Menschen hoffen dürfen von sich und ihren Träumen. Dies Wunder heißt La Terre – und ist das Werk der äußersten Wahrheit, unnachsichtig wie Evangelien sind, und nicht weniger gewaltig als sie. Was wäre noch zu verklären oder zu erkämpfen, hier, wo das Handelnde die Erde selbst ist, sie, die ihre Geschöpfe gebiert und frißt, sie, die ihnen keine Spanne Freiheit zuläßt von ihrem Gesetz, keine Begierde, die nicht Erde, keinen Gedanken, der nicht Erde wäre, Mutter und Anstifterin sie, jeder guten Tat und jedes Verbrechens. Je näher bei ihr, um so unerbittlicher der Mensch. In diesen Bauern lebt nur das eine: Erde besitzen, – und wären dafür die Eltern totzuschlagen. Noch wenn sie lieben, hält die Erde ihre Kinder in ihrem Schmutz fest, eine Verlobung geschieht in einem Bach von Jauche; und rührend wird der Mensch nur eben durch seine Untrennbarkeit von ihr, seine Hingebung an diese gefräßige und undankbare Erde. Denn was gibt sie zurück, für so viel Arbeit, so viel Leidenschaft? Was stillt sie, von allen Hoffnungen auf ein besseres Leben, auf Glück, Emporstieg, Veredlung? Sie stillt nur gerade den Hunger und gibt nur gerade das Brot. Sie läßt sich befruchten, und in alle Ewigkeit ist ihre Frucht die gleiche. Fruchtbarkeit, die zwecklose Unzucht ist: so lebt sie, so leben ihre Kinder. Wo ein armes menschliches Arbeitstier im Tod zusammenbricht auf der weiten gefurchten Erde, die es nicht sieht, da, einige Heuhaufen weiterhin, hat ein anderes Weib sein erstes Geschäft mit dem Mann. Schicksale von Tieren! – und eine Kuh und eine Frau entbinden gemeinsam Wand an Wand, in dem durchdringendsten Erdengeruch, den beschriebene Seiten je ausgeatmet haben. Ein Esel aber betrinkt sich wie die Menschen. Das Erdenleben ist grotesk, idyllisch oder furchtbar, in allem aber gefühllos, dies ist die Wahrheit. Die Erde hat die Gefühllosigkeit eines Riesenrückens, worauf Insekten wimmeln. Im ungeheuren Raum verschwinden Jammer und Gier der Insekten. Was bleibt, ist Weite. Was bleibt, ist Ewigkeit. La Terre zieht hin wie durch Zeitlosigkeit, episch ohne Grenzen; die Kapitel sind Atemzüge der Ewigkeit, die Kapitel der Jahreszeiten, die Kapitel des Unwetters, der Sonne, der Feste, der Verbrechen, das Kapitel vom Winter und vom Tod. La Terre spielt immer und endet nirgends.

Gleichwohl ist auch dies ein Roman der Zeit, das Kaiserreich wird auch hier gerichtet. Man fürchtet und haßt es, wie die beiden bösen Hunde, die »Kaiser« und »Massaker« heißen. Die Agrarkrise, die das Land erschüttert, ist das Werk dieses Reiches der Spekulanten. Das schlimmste aller denkbaren Regimente, der kapitalistische Militarismus, treibt dies Volk einer Katastrophe zu, und ist es nicht der Krieg, dann wird es die Revolution sein. Die Drohung der Revolution geht mit der Handlung mit, steigert sie und wird genährt von ihr. Die Bauern, zuerst nur belustigend und des Mitleids wert in ihrer Erdgier, bekommen die erste Mahnung nur im Rausch und scheinbar sinnlos zu hören, von einem der Ihren, der verlumpt ist und der pfeift auf die Erde, der sie vertrinkt, weil sie ein schlechtes Geschäft ist, eine Falle, ein Aussauger. Dann verdüstern sich die Dinge, die Irrungen der Erdgier scheinen unentwirrbar: da spricht ein Wanderredner von der Enteignung, dieser gewaltsamen Rettung aus aller Not. Endlich steht einer auf, der alles mit angesehen hat, was unter Menschen vor sich geht, und der immer vorsichtig geschwiegen hat, steht auf in ausbrechendem Fanatismus und schreit nach Blut; aber da ist schon der Mord da, der Mord aus Erdgier. Was wollt ihr, verstrickt wie ihr seid in eure Schicksale, und bestimmt, euch immer tiefer zu verstricken bis an das Ende, das nur eures ist? Denn verstrickt wie ihr, und ohne Ausblick zurück oder vorwärts, wie ihr, werden eure Kinder sein! Wieder und wieder wankt über die Erde, die er zu sehr geliebt hat, der alte Bauer, ein Opfer seiner Kinder. Er trat sie ihnen ab, nicht früher, als bis die Kraft ihm versagte, und wird nun gehetzt von ihnen um der geringen Ersparnisse willen, des Ertrags eines ganzen Lebens im Kampf mit der Erde. Sie aber, was bietet sie ihrem abgenützten Liebenden? Verstecke, nichts weiter, Verstecke, wenn er dahinflieht in der Scham des Entblößten, im Zorn des Ohnmächtigen. Das Mitleid der Kleinsten selbst verwandelt sich in Gelächter. Und der nicht sterben kann, wird umgebracht, in einem wüsten Entsetzen, von seinen Kindern. Seht ihn an, die ewige Menschengestalt, und sagt, was euch zu hoffen bleibt. Welche Auflehnung, welche Umwälzung könnte euch erlösen von der Erdgier, eurer irdischen Gier! Die Bauern sitzen beisammen des Abends, alle bei derselben Kerze, und lesen sich aus dem Kalender ihre Geschichte vor, die Geschichte ihrer vergangenen Leiden und ihres langen Ringens. Alle Tatsachen, die sie hören, rechtfertigen die Revolution, die dann kam, aber das tiefe Gefühl ihres unheilbaren Elends entwertet sie ihnen. Notwendig und vergeblich ist unser Kampf. Der Kalender, den die Bauern lesen, ist eine Propagandaschrift für das Kaiserreich. Das Kaiserreich soll das Glück bringen. Aber kein Reich bringt das Glück, und jedes Reich und jeder neue Auftrieb der Geschlechter hat nur gerade den Wert eines Erdkrumens, den du in die Hand nimmst, zerreibst und fallen läßt. Die Erde ist zu groß für euch, ihre Unempfindlichkeit widersteht eurem Eifer, euer Hasten bricht sich an ihrer Langsamkeit. Tausend eurer Geschlechter verschlingt sie, und nichts ist geschehen. Dennoch müßt ihr weinen und bluten für sie, wie Hagel und Reif auf ihre Ernten niedergehen. Dennoch müßt ihr arbeiten und hervorbringen wie sie. Einmal, wer weiß, wird die Unsterbliche, die noch aus unseren Verbrechen und Erbärmlichkeiten Leben schafft, ihr unbekanntes Ziel enthüllen.

So ist es, der Weg ist dieser, für Geister wie diesen. Der werdende Mann faßt Fuß, bewältigt Bruchstücke der Wirklichkeit, nimmt Richtung im Leben, haßt, fordert und kämpft zweckhaft. Dann werden die Gebiete größer, die er sinnvoll beherrscht, Vergeistigung durchhellt seine Welt. Der Stoff scheint, erreicht man einen Punkt, nur Vergleich noch für Dinge, die hinauslangen über Stoff und Zeit, hinaus über unsern Willen; man bildet, als ob man spielte. Der Geist, der Menschenglück plante, lebt nun so sehr ins ungemessen Weite, daß Glück und Elend der Menschen, wechselnd und sich ergänzend, ihm zu Einem werden. Stunden kommen, da ist er bloß noch schauend da, nicht mehr wollend, es sei denn das All, und den Tod nicht weniger als das Leben. Dann hat er vollbracht.

Dann hätte er vollbracht, – wenn es nicht Ereignisse und Gesichter des Lebens gäbe, in die auch ein so erhöhter Geist nicht mehr von oben herab, gelassen hineinsieht; sie greifen ihm bis an das Herz, und seiner Hand, die nachformen möchte, graut es. Eine Katastrophe kann das eigene Land treffen, von dem auch ich lebe, und mit dem ich untergehen würde. La Débâcle war für Zola, bevor er daranging, kaum ein Roman; zu furchtbar quälte ihn der Drang, alles zu sagen, alles zu bewältigen; es sollte nur »ein Gang« – welch ein Gang! – durch den Krieg und den Bürgerkrieg sein. Die Gewohnheit der Meisterschaft hat dennoch gesiegt, die tausend übermenschlichen Abenteurer scheinen endlich nur da, damit Menschentum durch sie erhärtet werde. Schlachten des Lebens, er hatte niemals anderes dargestellt; dies aber ist der Kampf um das Dasein, ohne Maske, mehr, ohne Haut; nur ein Herz, das gefaßt und ernst ist, soll diesen auf sich nehmen. Er hat es auf sich genommen, ihn durchzuleben, tiefer und bewußter als zwanzig Jahre früher jene Menschen, denen er auferlegt ward. Horch! Hier ist der ungeheuerste Zusammenklang, den Schicksale geben können; und mitten hinein! – da hat jedes eine Stimme, wie ein verirrtes Kind.

Das Land ist weit, wie je, wenn Insurgenten oder Bauern in den Erdfalten wimmelten; auch hier trifft das Licht, aus großen heroischen Wolken schräg hinschießend, einen langen Zug von Wesen, ein wanderndes Volk: die Armee, eine der Armeen, die durch das Land ziehen, das sie verteidigen sollen. Die Armee zieht Wälder entlang, durch die Täler von Flüssen, zwischen Äckern, die in der Weite Samtstücken gleichen, zieht dahin, macht halt und geht den gleichen Weg wieder zurück. Offiziere sprengen durcheinander, die Generale halten auf Hügeln und suchen vergebens zu begreifen. Aus der Truppe steigen muntere Prahlereien auf, und nicht lange, so sind es Verwünschungen. Die Soldaten fiebern danach, dem Feind zu begegnen, fiebern nur, nichts geschieht, und nicht lange, so verwandeln sich die heroischen Wolken, wie von selbst, in den schweren und angstvollen Himmel der Niederlage, der vorbestimmten Niederlage. Sie fühlen sie kommen, unsichtbar, wie der Feind selbst, – und können sich nicht wehren, können nur hungern, wenn man sie hungern läßt, sich erschöpfen in Hitze und Entmutigung, können nur Flüche mitnehmen aus Dörfern, die sie sinnlos aufgeben, und den verstörten Gebärden der Flüchtlinge nachsehen. Mißtrauen in die Führer, Auflehnung, Angst, Entsetzen sogar, und kein Feind war da. Aber sie ahnen sich umgangen von ihm, eingefangen und ihm ausgeliefert. Warum sehen nur die Führer es nicht, wenn zuletzt alle es sehen? Und sie marschieren, marschieren wie gebannt, ohne Glauben, ohne Hoffnung, sie sagen: zur Abschlachtung. Gerüchte unerkennbaren Ursprungs greifen um sich, von verlorenen Schlachten, einem Hinterhalt, einer Übermacht, gegen die kein Heldenmut aufkommt. Was geht denn vor? Es stand doch fest, daß Preußen überrumpelt, von allen Seiten angefallen und in wenigen Wochen erdrückt sein würde? Statt dessen rühren sich weder Österreich noch Italien; der Kaiser soll leidend sein und unentschlossen. Keine Vorräte in Belfort; von den vierhunderttausend Mann, die wir vorgeblich haben, fehlt fast die Hälfte, und der Feind hat das Fünffache. Ihm hilft ganz Deutschland, uns nicht einmal die eigenen Armeen, die nie zur Stelle sind. Wir können nach jedem neuen Schlag nur sagen: hätten auch wir hundertzwanzigtausend Soldaten gehabt, und genug Geschütze, und Führer, die nicht solche Pinsel wären! Sie meinen es wohl nicht bös, aber war es nicht einfach und logisch, gleich im Tal der Marne die festesten Stellungen einzunehmen? Sie haben keinen Plan, keine Einfälle, ja, nicht einmal Glück. Wir machen uns etwas vor, aber Frankreich wird umgeschmissen von einem kleinen Volk, das man verachtet hatte …; Und während ein Gesetz und ein geheimer Wille sie immer enger zusammentreibt in dem Kessel, worin Sedan liegt, geht ihr Marsch nicht nur durch ein gekrampft harrendes Land, er geht durch das Reich, das Reich der Machthaber, Verdiener, Genießer, das so lange geprunkt und gelärmt hat, und über das jetzt endgültig gerichtet wird. Der Marsch des bewaffneten Volkes führt in es selbst hinein; es geht in sich, sein Innerstes soll nun herausgewendet werden in den Krisen, die es erschüttern werden. Aus allen Winkeln kommen Menschen herbei, bekannt und ähnlich wie eine Familie, Bauern aus La Terre, Großbürger aus l'Argent, Frauen aus La Curée. Sie leben alle noch einmal auf, sie, deren Wesen und Zusammenwirken das »Reich« war, und begleiten seinen Abtanz mit ihren letzten Bewegungen, gesehen durch Pulverdampf und Blutdunst. Der Bauer ist noch einmal hart und geizig, patriotisch auch, wenn er es dadurch werden kann, daß er dem Feind verreckte Tiere verkauft. Der Großbürger, eine Stütze des Kaisertums, solange es die Geschäfte beförderte, verleugnet es, da es zusammenbricht. Der Hofgeneral, über dessen Karriere es zusammenbricht, sprengt nur wütend davon. Aber ein Oberst ist da, er bittet seine Leute wie ein Vater, sich gut zu halten; steht weithin sichtbar mit seinem großen Pferd im Feuerregen der zum voraus verlorenen Schlacht; und dann stirbt er aus Gram, nicht über das Reich, nur über Ehre und Vaterland. Unter den Frauen findet sich im Licht der Katastrophe nicht nur die, deren leichte Liebe noch schnell den eleganten Offizier beglückt in der Nacht, bevor er fällt; hervor tritt jene, die ihre ganze Seele gibt. Sie ist sanft, und sie hat die Klugheit und den Mut der Liebe. Ihr Kapitel, ihr wunderbarer Lauf durch das unsichtbare Gitter fliegender Geschosse, ihren Mann zu suchen, den sie dann wiedersieht an der Mauer, im Augenblick, da er füsiliert wird: ihr Kapitel steht jenem anderen gegenüber in La Terre, als der alte Bauer über die liebeleere Erde wankt. Auch hier Untergang, aber was weiterlebt, ist nicht nur dunkle Erde, es ist Liebe, und sie wird aufbauen. Das Heer enthält gieriges, idealloses Volk, Geschöpfe des sterbenden Reiches, es enthält den Offizier, der für wenig mehr ins Feuer geht, als für die Vorrechte seines Standes; aber auch die Helden der Arbeit und der Vaterlandsliebe sind schon darin, die hinüberleben sollen in die Republik. Auch zeigt sich, hager und hakennäsig wie Don Quichotte, der Ritter der alten napoleonischen Siegeslegende. Nie wird er sie zerrissen sehen von der neuen, so furchtbaren Wirklichkeit, wie er selbst am Ende die Fahne zerreißt, damit sie gerettet werde. Für ihn ist immer noch und bis in die tiefste Niederlage, »dort drüben der Sieg«, er bleibt kindisch tapfer, erhaben beschränkt, und muß sterben, um zu ahnen, was vorgeht: kein forsches Abenteuer, wie er immer geglaubt hatte, sondern grauenhafter Daseinskampf, nur Herzen angemessen, die gefaßt und ernst sind.

Herzen wie Jean Macquart, der die Heimaterde bearbeitet hat, bis sie ihn entmutigte, und sie nun verteidigt. Herzen wie Maurice, der verlorene Bürgerssohn, der sich darbringend alles sühnen will, seine eigenen Vergehen und die des Reiches; denn er ist das nervenerschöpfte Erzeugnis des Reiches. Ihm steigen nach der ersten Begeisterung des Kriegsausbruches Zweifel auf, wer recht habe; aufrecht bleibt ihm nur das Gesetz, das zu gegebener Stunde ein Volk gegen ein anderes wirft. Sie stehen beieinander, ganz vorn, in allem was geschieht und erlitten wird, der Bauer und das Stadtkind, der Einfache und der Feine, jener, der kämpft, weil er stark ist, und der andere, der im Krieg das Leben der Völker und seine eigene Heilung sieht. Dieser haßt zuerst den; das gleiche Gewissen führt sie zueinander; am Ende scheinen sie ein einziges Wesen aus Qual und Mitleid. Indes sie aber um ihren Kalvarienberg ringen, besteigt dort hinten ein anderer den seinen. Es ist der Kaiser. Er war schon immer, geheim und hinter Schleiern, der zusammengefaßte Sinn seines Reiches, wie es glänzte, wie es sich zersetzte; und auf Höhepunkten, selten und kurz, erschien er. Hier nun erscheint er oft. Hier geht das Reich unter, da ruft es seinen Meister, es wird ihm erst recht ähnlich und verwandt, nun es untergeht. Er besteigt seinen Leidensberg. In Durchblicken ist er zu sehen, wie er, jedesmal ein Stück höher, ganz allein dahinwankt, um endlich den Gipfel des Leidens zu erreichen. Er wird mitgeführt von der Armee wie ein unnütz kostbares Gepäckstück, er und seine silbernen Küchengeräte. Er ist noch immer der Verschwörer von einst, der Träumer, dem die Kraft ausgeht im Augenblick des Handelns. Er ist krank; ein Kiesel im Fleisch eines Mannes, und Reiche stürzen ein. Er soll als Held sterben, damit das Reich vielleicht nicht stürze. Die Armee wird in das Verderben geschickt, zur Rettung einer Dynastie; und auch ihn treibt man hinein. Er weiß es, er hört hinter sich, von Paris her, eine Stimme: »Vorwärts, ohne dich umzusehen, unter dem Regen, im Schmutz, der Vernichtung entgegen, und spiele die letzte Karte aus für das Reich! Vorwärts, und auf den gehäuften Leichen deines Volkes stirb als Held, denn bewundern muß die Welt und ergriffen sein, soll sie den Deinen verzeihn!« Er hört die Stimme und gehorcht, er hat diese fatalistische Größe. Geschminkt sitzt er zu Pferd, reitet hinaus in das Feuer der Schlacht, und hält. Er hält und wartet, trüb und gleichgültig. Die Kugel kommt nicht, der Kaiser kehrt um, ergeben in sein Schicksal. Wie ein Gespenst sehen die Truppen ihn vorbeireiten. Gegenüber, auf einem Hügel in der Ferne, wohnt der König Wilhelm der Schlacht bei, aller Gefahr entrückt und wie auf dem Thronsessel einer Galaloge. Für ihn arbeiten Menschen und Dinge; Napoleon handelt einsam, er will sterben. Er ist ein Mensch und steht für sich; wenn er ausgekämpft hat, tritt Schweigen ein. Der andere rechnet mit Generationen, er glaubt sich wohlaufgehoben im Plan der Jahrhunderte. Den Kaiser kennt nur noch dies Schlachtfeld. Dem Gang des allgemeinen Unheils folgt auch seins; Wegmale sind sein inneres Leiden, die unterdrückten Schmerzen, die Schminke auf seiner Leichenblässe, und seine Tapferkeit trotz allem, unnütz wie die Tapferkeit seines Heeres. Die volle Auflösung ist da, die Verzweiflung und Übergabe. Da hat auch er sich aufgegeben, verhehlt nichts mehr und schreit. Er schreit vor Schmerzen, – aber ihrer der größte ist, daß weiter die Kanonen donnern, daß immer noch zwecklos Menschen sterben. Der König Wilhelm sieht reuelos zu, bis er müde wird; denn dies heißt Sieg. Napoleon fährt hin zum König, er hat ihm seine Person angeboten, in dem einzigen Gedanken, seinen Truppen bessere Bedingungen zu verschaffen; und nach der Unterredung weint er. Er nimmt in das Elend und in die Gefangenschaft sein armes Herz mit, das niemals ganz einem Imperator gehörte, und das heute im Leiden wohl mehr als jemals das Herz des Träumers ist, des Menschenbeglückers und Sohnes der Revolution. Er war nicht fest und fühllos genug für das vollkommen unmenschliche Militärreich, zu dem er verpflichtet war. Vielleicht war auch das Reich nicht sich selbst gewachsen, nicht seinem eigenen Ideal? Zu viele Keime von Menschlichkeit durchbohrten, aufsprießend, seinen Panzer. Es war recht, daß es stürzte; aber in La Débâcle, zwanzig Jahre nach den Ereignissen, herrscht nur Schicksal, und kaum noch Haß. Was ist denn gestorben? Reiche, die Schranken aufrichten vor dem Glück ihrer Völker, Reiche, die unter Panzern das Gewissen ersticken, verderbte und gewalttätige Reiche, sie mögen hinsinken, sie geben den besten Dünger für die Saat einer verjüngten Menschheit. Jean und Maurice bleiben, als der Kaiser entschwindet. Sie bleiben umarmt, überwunden ist Fremdheit und Feindschaft; sie tragen, jeder der Retter des andern, den Freund durch den Wirbelsturm der Gefahren bis an die Schwelle eines erneuten Vaterlandes. Wohl ist, als sie es erreichen, der eine gestorben, grausam gestorben von der Hand des andern in dem Bruderkrieg, der letzten Wendung der Katastrophe. Gleichwohl bleibt, daß sie die Lager der Not und ihr teures Brot geteilt haben miteinander und vermischt sind ineinander, Bürgerssohn und Volkskind, bis über den Tod. Über den Tod hinweg gehen diese beiden in das verjüngte Leben hinein, das Demokratie heißt.

Geist

Demokratie aber ist hier ein Geschenk der Niederlage. Das Mehr an allgemeinem Glück, die Zunahme der menschlichen Würde, Ernst und Kraft, die wiederkehren, und eine Geistigkeit, bereit zur Tat: Geschenke der Niederlage. Was besagt das, Niederlage? Wie der König Wilhelm auf seinem Hügel das unausbleibliche Ergebnis der Schlacht erwartet, die Augen auf dem ungeheuren Schachbrett und dem Menschenstaub, den er zu lenken meint, da steigt aus dem Acker vor ihm ein Schwarm Lerchen, steigt in den Himmel, wie Seelen steigen. Sie hat er nicht gelenkt, die Seelen lenkt er nicht; wehe denen, die sich lenken ließen. Was besagt das, Sieg? Dem unbekannten Ziel der ewigen Erde nähern wir uns vielleicht ebensosehr durch unser Leiden, wie durch unseren Kampf. Gleichwohl müssen wir kämpfen. Wir dürfen nicht zugeben, daß in Weite und Ewigkeit zuletzt alles sich aufhebe, dürfen nicht im Schauen verharren, und müssen kämpfen. Die Wahrheit ist da, wir tragen ihren Keim in uns, wir entwickeln ihn durch Arbeit. Wer die Wahrheit hat, erwirbt den Sieg. Niederlage ist eine Bestätigung, daß ihr in Lüge lebtet. Was entscheidet in La Débâcle? Daß dem Heer der Glaube fehlt. Niemand im Grunde glaubt an das Kaiserreich, für das man doch siegen soll. Man glaubt zuerst noch an seine Macht, man hält es für fast unüberwindlich. Aber was ist Macht, wenn sie nicht Recht ist, das tiefste Recht, wurzelnd in dem Bewußtsein erfüllter Pflicht, erkämpfter Ideale, erhöhten Menschentumes. Ein Reich, das einzig auf Gewalt bestanden hat und nicht auf Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit, ein Reich, in dem nur befohlen und gehorcht, verdient und ausgebeutet, des Menschen aber nie geachtet ward, kann nicht siegen, und zöge es aus mit übermenschlicher Macht. Nicht so verteilt die Geschichte ihre Preise. Die Macht ist unnütz und hinfällig, wenn nur für sie gelebt worden ist und nicht für den Geist, der über ihr ist. Wo nur noch an die Macht geglaubt wird, eben dort hat sie aufgehört, zu sein …; Und seht, wohin sie euch bringt! Viele hatten ihr im Frieden widerstanden, hatten gehöhnt, gehaßt und sich zurückgezogen; die Herren des Reiches waren weithin verachtet. Jetzt, da die Feinde dastehen, die eure Herren euch gemacht haben, müssen noch die Letzten sich unterwerfen. Denn jetzt sind die Unterdrücker wirklich, was zu sein sie so lange frech behaupteten: das Vaterland! Nicht nur mit kämpfen müßt ihr für sie, die das Vaterland sind, ihr müßt mit fälschen, mit Unrecht tun, müßt euch mit beschmutzen. Ihr werdet verächtlich wie sie. Was unterscheidet euch noch von ihnen? Ihr seid besiegt, schon vor der Niederlage.

Aber das hätte nicht kommen müssen, und darf nicht wiederkommen! Zola verlangt: »Die Lüge soll abgetan sein, zusammen mit dem falschen Glanz des abgetanen Reiches. Seit unseren Niederlagen sind wir gewachsen und wachsen täglich durch die Pflege der Wahrheit. Besiegt wurden wir damals von dem wissenschaftlichen Geist. Jetzt, zwanzig Jahre später, besitzen wir ihn, wir, es ist ein großer Sieg über uns selbst, niemand taste ihn an! Wir haben die Republik, – und sie ist nicht nur eine Form, sie ist das Wesen der politischen Wahrheit selbst, die voraussetzungslose Anerkennung alles dessen, was werden will, des wirklichen Lebens. Sie ist offener Kampfplatz für das Bedürfnis nach Gleichheit, das herandrängt mit der siegreichen Demokratie. Sie erlaubt endlich, den Prozeß einzuleiten, der über die Zukunft jener Schicksalsmenschen und Genies entscheiden soll, der großen Männer. Sind sie denn notwendig zum Glück aller? Sogar in der Kunst war der Schöpfer zuweilen ein Volk. Jähe Antriebe von oben her bewirken um so tiefere Rückfälle; die Aufwärtsbewegung sollte von unten kommen, der geistige Fortschritt sollte in breiterer Front geschehen, die mittlere Fläche höher liegen. Das Glück sei ein Ergebnis des Gleichgewichts! Keine zu geistige Auslese, kein zu unwissendes Volk! Keine großen Männer! Sie sind eine soziale Gefahr, sind ein Ungeheuer, das Entsetzen der Kleinen, deren Anteil es frißt. Die Natur muß alles tun, es auszurotten, es auf das gemeine Maß zurückzubringen, Bruder unter Brüdern. Und eben an dieser Einheit arbeiten vielleicht, ohne es zu wissen, die Demokratien. Sie arbeiten, anstatt für große Männer, an menschlicher Größe. Sie sind ergreifend, durchwühlt wie sie sind von den Problemen der Arbeit und ihrer Gesetze, und so überströmend von menschlichem Leiden und Mut, von Mitgefühl und Liebe, daß ein großer Künstler, der sie schildern würde, nie leer werden könnte in Hirn und Herz …; Und sie arbeiten an der Versittlichung. Die Republik beweist es noch durch ihre Skandale. Die schroffe Öffentlichkeit eines Panamaskandals straft das schöne Ideal der Massen vom Staat weit weniger Lügen, als die Monarchie es tut mit ihrer Fassade aus Anständigkeit, Ordnung und würdigem Gedeihen. Eine Monarchie wird freilich kein Panama haben, sie unterdrückt den Skandal, schafft die Leichen beiseite, und die Fassade strahlt weiter in der Sonne. Laßt sie aber einstürzen, und dahinter klafft Fäulnis. Die Lügen der Monarchien werden beendet durch Revolutionen, wie keine Republik sie gekannt hat …; Der Volksstaat ist das Leben und die Gesundheit. Wollet doch nicht hören auf die leidigen Propheten des Niederganges, die meinen, daß ohne Lüge und Unterdrückung nichts Menschliches Bestand habe. Es sind Menschen, die an das Leben nicht glauben. Sie wissen nicht, daß es weiterblüht und Recht behält gegen alle Gewalt. Die Anschläge der Gewalt gegen das Recht des Lebens sollen immer unzulänglicher werden, das verdient die Menschheit, die so viel gelitten hat. Manches ist erreicht zum Sieg der Wahrheit. Es darf nicht wieder verlorengehn!«

Manches ist erreicht, denn wir haben gearbeitet, haben zwanzig Bände geschrieben und wenigstens Teilsiege erkämpft für die Wahrheit. Der Anfänger Zola sagte einst zweifelnd: »Ich leugne nicht die Größe der Anstrengung, die heute gemacht wird, ich leugne nicht, daß wir der Freiheit, der Gerechtigkeit mehr oder weniger nahekommen können. Nur ist mein Glaube, daß die Menschen immer Menschen bleiben werden, Erdengeschöpfe, bald gut, bald böse, je nach den Umständen. Wenn meine Personen zum Guten nicht durchdringen, liegt es daran, daß wir erst am Anfang unserer Vervollkommnungsfähigkeit stehen.« Denn er selbst stand damals am Anfang, und die Anstrengung, die er vorhatte, konnte lange währen. Freiheit, Gerechtigkeit? »Ich glaube eher an einen stetigen Marsch, der Wahrheit entgegen. Aus der Kenntnis der Wahrheit allein können bessere soziale Zustände entstehen.« Denn dies war sein eigener Weg. Im Beginn schien er düster. Der frühe Naturalismus wirkte so packend, weil er an der undurchdringlichen Stofflichkeit des Lebens zu verzweifeln schien. Er machte leiden in agitatorischer Absicht – und wurde tröstlicher in dem Maße, wie er geistiger ward. Vergeistigt aber wurden Zola und sein Werk durch Arbeit, Arbeit am Wirklichen, den Willen zum wirklich Wahren. Sein Werk wiederholt, indem es wird, das Werden der Welt selbst: zuerst die Materie, und aus ihr, durch Arbeit, durch Bewegung, erwächst der Geist und die Herrlichkeit des Menschen. Wir kämpfen, nichts ist also unmöglich. Rührend und groß: im Augenblick, da er selbst beginnt, beginnt die Vervollkommnungsfähigkeit. Und die Menschheit kann nicht zurückgeblieben sein, als er selbst auf seinem Gipfel steht. L'Assommoir ist noch nichts als eine Predigt der Tatsachen. In Germinal klingt überall das Evangelium der künftigen Menschheit an, es wird hörbar im Erdboden selbst, aus dieser doch so langsamen und gleichgültigen Erde ertönt es von den Hammerschlägen der Bergarbeiter, und am Ende will es ausbrechen und Wirklichkeit werden. »Menschenkeime trieben dort unten, ein schwarzes Heer von Rächern keimte langsam in den Furchen, wuchs herauf für die Ernte des kommenden Jahrhunderts; sein Keimtrieb war daran, die Erde zu sprengen.« – Auch in L'Argent will es sie sprengen. Hier arbeitet nicht mehr nur der dumpfe Drang der Proletarier und nicht mehr nur die Rache eines Nihilisten; jemand ist da, der das bevorstehende Menschenglück in ein System bringt. Es könnte bevorstehen; das System scheint lückenlos, ein Traumbild steigt daraus auf, die glückselige Stadt, der entgegen die Menschen wandern seit so vielen Jahrhunderten. Dabei ist dies der Roman des Geldes, die kurze Herrlichkeit eines Börsenpiraten, heftig aufflammend in der schrankenlosen Apotheose des Kaiserreichs als seine treffendste Erfüllung. Aber »jedesmal, wenn ich mich jetzt in einen Stoff vertiefe, stoße ich auf den Sozialismus«. Auf die Möglichkeit des Glückes trotz allem, des Glückes jenseits der Katastrophen. Die Menschheit ist für Katastrophen gemacht, so sehr liebt sie das Leben. Mut! Das Geld bewirkt Zusammenbrüche wie diesen, Schande und Elend wie diese hier, – und schafft doch Leben. Seht die Liebe: viel unnützer Schmutz, aber ohne sie wäre es mit der Welt aus. Das Leben will geliebt werden, obwohl es böse und gewalttätig ist. Der Weg der Menschheit führt zu etwas sehr Schönem, durchaus Heiterem – aber durch Katastrophen. Hier angelangt, ruft Zola aus: »Optimist, oh! mit all meinem Wesen, gegen den dumpfen Pessimismus, die schimpfliche Ohnmacht zu wollen und zu lieben.« – Selbst La Bête humaine ist keine Unterbrechung der anschwellenden Kraft des Hoffens. Dort waltet das Urböse; aber sein Dasein scheint Wahnsinn. Fühlbar wird, daß alle jene Verzerrung, jener Sklavenaufstand des Untermenschlichen etwas Vorläufiges ist, ein düsterer Zwischenfall auf dem glänzenden Weg zur Höhe, den der Mensch geht. Wohl sind wir umdroht von Wahnsinn, Verderbnis und den tödlichen Gefahren unseres Zusammenlebens. »Wenn ich mich auf die enge Regel des Positivismus versteife, so darum, weil sie die Brustwehr ist gegen das irre Schweifen der Geister.« Der wissenschaftliche Geist ist der große Erneuerer, der Zukunftbringer und Vorbote eines gesunden Menschentumes. Seid wahr, ihr werdet leben! verheißt noch La Débâcle. Und den Kreis des großen Werkes beschließt Le Docteur Pascal, Arzt und Glaubensheld der Wissenschaft. Der ewige Wiederbeginn des Lebens, dem er dient, die Hoffnung auf die Zukunft, auf das stetige Bemühen der arbeitenden Menschheit, dies steht am Ende. Es ist kein Ende. »Mir schien es tapfer, wenn ich aus der entsetzlichen Familie Rougon-Macquart am Schluß ihrer Geschichte ein letztes Kind geboren werden ließ, das unbekannte Kind, vielleicht den Messias von morgen. Eine Mutter, die ihr Kind stillt, ist sie nicht das Bild der Welt, die gerettet weitergeht?«

Die Welt geht weiter, das Werk aber ist beendet. Was nun? Das Werk von dreiundzwanzig Jahren, empfangen in der Jugend, hinausgewachsen wohl über den ersten Plan, aber doch immer noch dies Werk, in dem man wurzelte, jetzt hat es sich losgelöst, der Zweiundfünfzigjährige muß allein weiterziehen. Wohin? Er ist gefeiert worden. Die Tatsache des Vollendeten, das so ungeheuer ist, hat ihren Eindruck gemacht. Bei dem Bankett, nach dem Erscheinen des letzten Bandes, hat ein Freund gesprochen: »Freuen Sie sich, lieber, illustrer Freund, denn voll der Geniekraft, Neues zu verwirklichen, haben Sie schon ein riesenhaftes Denkmal errichtet. Die Männer meines Alters hat es zuerst zum Staunen genötigt, dann mußten wir uns neigen in Bewunderung. Und wieder Staunen, aber mehr noch Geistesfreude, wird es für Menschen aller Zeiten bedeuten.« Aber Vollendung und Feier entsprechen so wenig als jemals seinem inneren Gefühl. Vor dem Abschluß des Werkes dachte er manchmal, daß es dann weiser sein werde, nichts mehr zu schreiben, auszuscheiden aus der Literatur, zu einem anderen Leben überzugehen und das bisherige als beendet anzusehen. Die Ermüdungen der Arbeit waren schwer, zuletzt wurden sie zu schwer. Beim Herannahen der Fünfzig kamen dem alten Arbeiter Zweifel, ob er sein Leben gut angewendet habe. War es nicht ein Martyrium gewesen, das viele nicht wert, das um seinetwillen versäumt war? »Ja«, gestand er damals, »ich kann kein junges Mädchen vorbeigehen sehen wie das dort, ohne mir zu sagen: ist dies nicht besser als ein Buch?« Tiefe Unruhe; und in dieser Umwälzung, der Gefahr seines Lebensalters, kehren, jetzt zu Ende des Werkes, die Schrecken der Nerven wieder, die den Anfang bezeichneten. Neues erleben! Früher hätte er frei sein wollen, um für das Theater zu schreiben. Jetzt ist er frei, und so oft er ein Theater betritt, kommt ihm Überdruß an der Körperlichkeit des Dargestellten, an den fortwährenden Vergewaltigungen des Geistes. Er möchte über Ideen schreiben; schon an seinem Doktor Pascal reizt ihn fast nur, daß er die Leidenschaft des Geistes befriedigen darf. In dem Nebelstern aber, woraus ein neuer Plan werden soll, bilden sich die ersten festen Punkte, als er nach Lourdes kommt. Die Umstände waren schlecht, er wollte abreisen, aber »der Anblick dieser Kranken, dieser Bresthaften, dieser sterbenden Kinder, die man vor das steinerne Bild trug, dieser flach zu Boden geworfenen Beter! Der Anblick dieser Stadt des Glaubens, erstanden aus der Halluzination dieses vierzehnjährigen kleinen Mädchens! Der Anblick dieser mystischen Stadt im Jahrhundert des Unglaubens!« – »Ja«, sagte Frau Zola, »es hatte Farbe.« Und er, mit Schroffheit: »Auf Farbe kommt es nicht an. Was hier zu schildern ist, sind aufgewühlte Seelen.« Dies war das erste. Vormals begann er mit dem Anpacken eines Stoffes; heute ergreift ihn das Ungreifbare. »Romane! Immer dasselbe!« Auch die Massenregie der kranken, irren und verlorenen Menschheit hat er in seinem Roman von Lourdes geübt, und mit der alten Meisterschaft. Dennoch ist dies nur der Beginn einer Untersuchung über den Geist. Les Trois Villes sind die Untersuchung über den Geist, wie Les Rougon-Macquart die Untersuchung über das Leben waren.

Der wissenschaftliche Geist – wie wirkt er auf die Welt? Wo findet er die günstigsten Bedingungen? Welche Mächte stehen ihm entgegen? Wie verhält es sich mit dem Wiederaufleben des Glaubens, das jetzt, 1892, den Mystizismus herbeiführt, in der Literatur und anderswo? …; Hier ist Lourdes, dumpfer Zauber des alten Glaubens, modernisiert und herabgesunken bis zur Spekulation auf Krankheit, Schmutz, Elend, die alle in Geld umgesetzt werden von dieser Bank der Unwissenheit und der Hoffnung. Welche Hoffnung bliebe hier dem, der die Wahrheit will? Tiefes Mitleid scheint die einzige Brücke. Lassen wir alles sich abwickeln wie in einer Oper, die Verstiegenheiten des malerischen Massenleidens, diese Prozessionen, die um Wunder beten, dies Bad der gequälten Seelen in schlechtem Schmutzwasser. Hoher Lyrismus des Mitleidens ist Lourdes. – Rom ist weniger. Dorthin entrichtet das Elend den Tribut; der Vatikan braucht allzusehr ein Lourdes. Er aber steht entfernt und unbeteiligt, er hat ein kaltes Amt. Die Hemmnisse der Wahrheit sind hier nicht Leiden und Verzückung: es ist die Macht. Dem wahrheitsuchenden Priester antwortet der Papst: »Die Wissenschaft muß die Magd der Religion sein.« Die Wahrheit und die Macht sind Feinde. Die Wahrheit hat auf Erden nur eine befreundete Stätte, die neue Demokratie, öffne dich, Paris! Zeig schnell, denn wir haben nicht nochmals Zeit für zwanzig Bände, das Brodeln her in deinem Kessel, diese bewegte Menschheit, unweise, leidenschaftlich, grauenhaft, aber bewegt und darum Gebärerin des Geistes. Zerstörung schafft! Die Hand, die Bomben formen wollte, schafft ein wissenschaftliches Instrument. So vielen wütenden Kämpfen der Selbstsucht entsteigt dennoch die Liebe, das Ideal der künftigen Menschenwelt, das gelobte Land, das nicht wir, aber unsere Kinder erreichen werden. »Mein Kind«, dachte Zola, denn er hatte mit fünfzig Jahren nochmals geliebt und war endlich fruchtbar geworden. Er sollte also hinausleben über sich selbst: nicht nur in den Geschöpfen seiner Kunst; mag sein, sie sind stärker, flammender, folgerichtiger, und sie dauern länger; – aber fortleben in einem Wesen, das um ihn weiß, und das lieben kann! Das Bewußtsein des Fortlebens hat ihn damals erfüllt bis zu reiner Gläubigkeit. In seinem Roman von Paris ist er sozialistischer Apostel und Verkünder des demokratischen Glaubens. Er selbst, der Kenner und Eroberer des machtvollsten Lebens, und nicht mehr, wie in L'Argent, irgendein unwirksamer Träumer, setzt sich ein. Er singt sein Hoheslied zum erstenmal aus ganz befreiter Brust. Seine Lyrik ist nicht länger beschwert und verdunkelt durch Mitleid und durch Wissen. Er ergibt sich einem inneren Wissen, das über die Erfahrung hinausgeht Er hat vor Augen die Gewißheit, vom Himmel, wo sie so lange versteckt gehalten waren, die Wahrheit und die Gerechtigkeit herabzureißen auf die Erde. Der wissenschaftliche Geist, der jenen Himmel zerstört hat, wird ihn wieder aufbauen auf Erden. Hierfür haben wir zu leben, hierfür zu kämpfen.

Da steht nun Zola! Er hatte doch nur geformt und gemacht, und ist nun dahin gelangt, daß er aufruft und prophezeit. Der »Sinn für das Leben« war sein fester Boden gewesen, von ihm aus gewann er sein Reich; jetzt aber erstreckt sich sein Sinn für das Leben auf Dinge, die noch ungeboren hinter dem Leben sind, in der Zukunft, im Geist. Er ist so geworden im Schaffen. Er ist so geworden durch Schaffen. Die Erfahrungen der Weltbeherrschung vermittelst Kunst haben ihn die Weltüberwindung gelehrt, die Geist heißt. Die größte Kunst war doch nur der Weg des Geistes. Geistige Liebe war, unerklärt, schon in der ersten Menschendarstellung dieses Künstlers. Sie erklärt sich, und es ist Wille zur Vergeistigung. Wer auf so großen Vorgängen fußt, wer den Geist erlebt und erfahren und in langer Arbeit den Willen erworben hat, aufzustehen für ihn, ist von einem Geschlecht, das Zola nachfolgte und ihn ansah, ein geistiger Mensch genannt worden. Keineswegs die selbstgenügsame Erkenntnis macht den geistigen Menschen aus, sondern die Leidenschaft des Geistes, die das Leben rein und den Menschen ganz menschlich will. Er erkennt Vergeistigung nur an, wo Versittlichung erreicht ward. Er wäre nicht, der er ist, wenn er Geist sagte, ohne Kampf für ihn zu meinen. Er ist gewillt, Vernunft und Menschlichkeit auf den Thron der Welt zu setzen, und ist so beschaffen, daß sie ihm schon jetzt als die wahren Mächte erscheinen, als jene, die, Zwischenfällen zum Trotz, zuletzt doch jedesmal allein aufrecht bleiben. Die Geschichte gehört in immer steigendem Maße ihnen; schon haben sie für sich den stärkeren Teil der Wirklichkeit; wer ihnen entgegentritt, erleidet Niederlagen, die immer schimpflicher werden. Selbst die äußersten Entscheidungen können nur in ihrem Namen getroffen werden. Ein Krieg könnte notwendig und sittlich sein; aber er sei die Krönung eines langen Ringens nach Wahrheit. Besiegt wird der Ungeistige …; Dies war der gemeinsame Glaube des höchsten Europas in dem Augenblick, bevor es imperialistisch ward. Kurzer Höhepunkt; aber Ibsen und Nietzsche stehen auf ihm, mit Zola. »Freiheit und Wahrheit sind die Stützen der Gesellschaft«, sagt der eine, und der andere ruft Voltaire an, um über das Menschliche, Allzumenschliche zu philosophieren. Jene haben dann wohl zweifeln gelernt, und haben sich abgewendet. Der Geist, für den sie einstanden, war zuletzt nur ihrer, sie hatten nur sich, dem Menschen mißtrauten sie. Zola war er selbst, wenn er ihm eine Zukunft zutraute, die erhaben zugleich und rein wäre. Er war in Übereinstimmung mit der Geistesart seines Volkes, wenn er sowohl gütig für den Menschen wie Dämon der Vernunft war. Er war gütig; jemand, der ihn gehaßt hatte, hat es ihm in das Grab nachgesagt; war tief sittlich, Erzieher zur Arbeit, Erzieher zum Glück; und hat uns Menschen eine der beiden idealen Städte erbaut, die an den äußersten Enden des europäischen Gedankens stehen. »Alle beide sind hochherzig und voll Frieden. Aber die Stadt Tolstois ist die Stadt der Entsagung. Die von Zola erbaute ist die Stadt der Arbeit.« Und er war Dämon der Vernunft, reizbar überaus gegen die Lüge, und am reizbarsten, wollte sie ihn selbst und die Seinen beschleichen. Groß geworden von innen heraus, durch das Bemühen um die Wahrheit, verstand er auch die Größe und Vollendung seines Volkes nur so, daß sie vom Innern her geschähe. Es sollte in der Wahrheit leben und nur für die Wahrheit kämpfen. Kampf nach außen hat selten gereinigt, er ist die Gelegenheit der Oberflächlichen und der Vorwand niedriger Leidenschaften und Gelüste. Gereinigt und erhöht werdet ihr durch inneren Kampf! Der Krieg, der euch, gilt es das Äußerste, helfen mag, ist der Bürgerkrieg! …; So hat er empfunden, denn er hat danach gehandelt. Der geistige Mensch empfindet so. Er lebt für keine schwachblütige Mittelmäßigkeit. Der Geist ist kein Wiesenbach, entschlossene Menschenliebe geht nicht friedlich in Gartenwegen. Ereignisse können machen, daß er Klüfte aufreißt und daß sie tötet. Durch die Leidenschaft des Geistes war der Großbürger Voltaire eine Naturkraft; – und Zola, bürgerlicher Arbeiter, Verächter politischer Schaukämpfe, sieht sich eines Tages dämonisch getrieben, einzugreifen in das Gefüge der Wirklichkeit, zu sprengen, Haß zu peitschen, Handlungen zu begehen, deren Folgen er nicht zügeln könnte, und Menschen vor starrende Abgründe zu führen: die nächsten Menschen, sein Volk, seine Freunde, sich selbst …;

Tat

Er war soeben reif geworden, vorzutreten aus seinem Werk und zu handeln, da gelangten die um den Hauptmann Dreyfus treibenden Dinge auf den Punkt, wo sie eines handelnden Geistes bedurften. Niemanden hätte es überraschen dürfen, daß Zola handelte, es war bedingt durch alles, was man über ihn hätte wissen müssen; der zusammenfassende Abschluß seines Werkes war diese Tat. Und das Glück dessen, der von der Zeit einen Auftrag hat, wollte es, daß er und die Dinge sich fanden. Er ging ihnen entgegen, schon lange bevor sie sichtbar wurden. 1891, er schrieb an La Débâcle, wunderte ein Beobachter sich, wie er in Schritt und Sprache etwas rücksichtslos Tatkräftiges mitbringe, als sei er vor einer Schlacht. Das Jahr darauf gesteht er, daß er sprechen möchte und sich übe. Ein Schweigen, und dann die Klage, daß ihm die Gabe fehle; er müsse sich vorbereiten, und er scheue sich, plattes Zeug zu reden. Man will ihm den leidenschaftlichen Wunsch anmerken, es wäre anders, er könnte das Glück seiner Laufbahn vervollständigen und zu seinem Dichterruhm noch die Volkstümlichkeit des Politikers fügen. Ohnmächtiger Ehrgeiz also! – denn wann hätten Zeitgenossen sich um eine Erklärung bemüht, die nicht die billigste wäre. Eben damals hatte er es abgelehnt, sich in die Kammer wählen zu lassen. Das Mandat sei eine zu schwere Pflicht für ihn, er müsse sein Werk beenden. Um leichten Erfolg war es ihm niemals zu tun gewesen; wie hätten rednerischer Glanz oder Siege, die nur äußerlich waren, ihm genügen sollen. Sprang er in die Politik ein, dann mußte schwerer Sinn und Ideenkampf werden, was zu lange nur das Getriebe der Mittelmäßigkeiten gewesen war. Der Zweifel aber war für ihn eben, ob der Mittelmäßigkeit hier beizukommen sei. In der Politik war sie vielleicht sogar geboten? Die Erfahrung sprach dafür; Männer von geistigem Rang, berühmt durch Leistungen anderer Art, waren in ihr erfolglos geblieben. Man wollte sie nicht, man hatte ihnen nicht Zeit gelassen, irgendeinem Unternehmen die Spur ihres Geistes aufzudrücken. Wahrscheinlich konnten sie es gar nicht, – weil sie nicht hatten, was der Politiker braucht: die Unbesorgtheit um das Ganze und Endgültige, die Anbequemung an ein mißliches Hinleben von einem Tag zum andern, in der Hoffnung auf ein Ergebnis, das nie erreicht wird. Wir andern waren gewohnt, abzuschließen und unsern Namen darunter zu setzen. Die Tat, für die wir geschaffen wären, mußte komponierbar sein wie ein Werk, und mußte den symbolischen Wert eines Werkes haben. Wo war diese Tat? Zola fragte sich umsonst, wie der Graben auszufüllen wäre, der verhängnisvolle Graben, der immer breiter ward zwischen der geistigen Auslese der Nation und denen, die sie regierten. In seinen Anfängen hatte er das politische Handwerk verachtet, wie nur je ein Literat. Jetzt sah er wohl, was die Politik in Wirklichkeit war: »das leidenschaftlich bewegte Feld, auf dem das Leben der Völker ringt, und wo Geschichte gesät wird für künftige Ernten von Wahrheit und Gerechtigkeit.« Literatur und Politik hatten denselben Gegenstand, dasselbe Ziel und mußten einander durchdringen, um nicht beide zu entarten. Geist ist Tat, die für den Menschen geschieht; – und so sei der Politiker Geist, und der Geistige handle!

Aber eines Herbsttages im Jahr 1897 erfuhr Zola, es sei so weit gekommen, daß die Politik ihre Handlungen gegen den Menschen richte, und der Geist bleibe fern und unbeteiligt. Der Mensch trug einen Einzelnamen, was der Greifbarkeit des Vorganges nützte; es war der Hauptmann Dreyfus, deportiert seit drei Jahren nach der Teufelsinsel für einen Verrat militärischer Geheimnisse, den mit höchster Wahrscheinlichkeit ein anderer begangen hatte. Lange hatte man zweifeln können; Zola war zu Beginn der Sache in Rom und gab nicht acht; und auch dann noch blieb ein einfacher Irrtum des verurteilenden Kriegsgerichtes zu vermuten. An jenem Herbsttag 1897 sah er in Schriftstücke, die seine Überzeugung, hier geschehe ein großes Verbrechen, sofort unerschütterlich machten. Dennoch wurde damals, er bemerkte dies später selbst, vor allem der Fachmann des Romans »verführt, ja begeistert« durch eine Fabel von solcher Stärke. »Und Mitleid, Glaube, Wahrheits- und Gerechtigkeitsdrang sind hinterher gekommen.« Er bemerkt dies, und ohne Scham spricht er es aus. Wir sind von einer Art, daß das Leiden des Menschen uns zuerst nur die Erregung beibringt, als sollten wir schaffen. Aber es ist dieselbe fruchtbare Erregung, die hilft …; Er sieht einen Greis, und fast nur ihn, für die Wahrheit einstehen. Scheurer-Kestner, Elsässer und Senator, arbeits- und ehrengesättigt, wagt alles, nimmt auf sich, was kommen will, lieber als daß er das Grauen trüge, zu wissen und nicht gesprochen zu haben. »Ihm war nicht unbekannt, welche Stürme er aufregen würde, aber Wahrheit und Gerechtigkeit gehen über alles, denn sie allein sichern die Größe der Nationen. Es kann geschehen, daß politische Interessen sie für Augenblicke verdunkeln, aber jedes Volk, das nicht sein einziges Daseinsrecht gründen würde auf sie, wäre heute ein verurteiltes Volk.« Der Leitsatz ist gesprochen, die Dinge können ihn nur steigern. Zehn Tage später ruft Zola schon aus: »Ich habe in Erbitterung gelebt und im Haß auf Dummheit und Unehrlichkeit, ja in einem solchen Durst nach Wahrheit und Gerechtigkeit, daß ich eine Vorstellung bekommen habe von dem großen Seelenschwung, der einen friedlichen Bürgersmann mitten in das Märtyrertum schleudern kann.« Das Unerträglichste an diesen Zeitpunkt ist, daß man nicht herausfahren darf mit der Wahrheit, solange noch die Untersuchung schwebt gegen den wahren Verräter Esterhazy. Man muß zusehen, wie die Schmutzpresse und der Antisemitismus das Hirn der Öffentlichkeit zerrütten, wie die Vaterlandsliebe ausgebeutet wird, um das am Falschspruch schuldige Kriegsgericht zu decken, und wie in der öffentlichen Schande und dem allgemeinen Überdruß die Regierenden doch nichts zu tun wagen. Und allem würde man vielleicht zusehen, nicht aber der neuen Jugend, die alles dies mitmacht. Zola hatte schon auf ihr Kommen ein Auge gehabt. Es hatte angefangen mit zu viel Lilien und weißen Jungfrauen in den Gedichten und zu wenig Sinn für das moderne Leben, die arbeitende Demokratie. Literarischer Ästhetizismus war auch hier der Vorbote politischer Laster. Vergebens hatte er sie beschworen, hatte mit aller Leidenschaft und der bittersten Ironie geworben bei seinen jungen Verächtern für seine Sache, die Wahrheit: jetzt gingen sie hin und huldigten einem Lehrer, der den Bankrott der Wissenschaft ankündigte, gingen hin und pfiffen auf Scheurer-Kestner. Es war traurig, die hochherzige Jugend, die ihren Überschwang an Herzenskraft zu Betrügern trägt. Gleichwohl bleibt sie die Hoffnung, denn in der Jugend, wenn überhaupt, soll doch sein absterbendes Geschlecht über sich hinaus leben, freieren Geistes noch und mit noch mehr Liebe zum Leben, zur Arbeit, zur Fruchtbarkeit des Erkannten.

Inzwischen aber standen die Dinge so, daß schon der Aufruf an die Jugend einzeln erscheinen mußte; die Zeitungen hatten sich ihm verschlossen. Der Ruhm seines Verfassers war nicht mehr Entschuldigung genug für den Kampf, den er der Welt aufzwang. Der Ausgang der Untersuchung gegen den wirklichen Verräter war klar vorauszusehen. Das Kriegsgericht sprach ihn denn auch frei. Zola hatte sogleich gesagt: »Der erste Akt ist aus, der Vorhang ist gefallen über dem grauenhaften Schauspiel. Hoffen wir, daß das morgige uns den Mut zurückgibt und uns tröstet.« Er hatte dies nicht nur gehofft. Er war sicher, dem ersten Akt folge ein anderer, worin das Maß der Leiden voll ward und die Wendung kam. Denn hier war nicht nur eine notwendige Tat des Gewissens, hier war die komponierbare Tat, ersehnt von dem Künstler, der sie eines Tages fertig sehen wird wie ein Werk. Und die Wahrheit, die aus diesen begrenzten Tatsachen hervordrängte, war ein Gleichnis der ewigen Wahrheit selbst. »Die Wahrheit ist unterwegs, nichts hält sie auf. Ein erster Schritt ist getan, ein weiterer wird getan werden, und noch einer, und dann der entscheidende – mit mathematischer Sicherheit.« So tat er den nächsten, – und der war revolutionär, das Aussprechen der Wahrheit, die viele kannten und die niemand zu nennen wagte, das Aussprechen mit aller Gefahr für ihn selbst und für das Land. Das Blatt hieß L'Aurore, und es war der 13. Januar 1898, als man die Wahrheit las, dreihunderttausendmal: die selten vernommene Wahrheit des Geistes über den Staat, des Menschen über die, die es nicht sein wollen. Zola schrieb an den Präsidenten der Republik, Felix Faure, den gewesenen Gerber, der für seine Person den Vorreiter eingeführt hatte. Er schrieb ihm, nicht um die Ehre des Heeres handele es sich, denn das Heer ist das ganze Volk. »Wir wollen seine Würde, wenn wir die Gerechtigkeit wollen.« Es handelt sich um Generale und Obersten, die ungesetzlich geurteilt und ihr falsches Urteil gegen einen Unschuldigen aufrechterhalten haben mit Lügen und Fälschungen; die es verstärkt haben durch den Befehl an ein zweites Kriegsgericht, den Schuldigen freizusprechen. Und Zola nannte alle Namen, klagte jeden an, nach dem Maß seiner Teilnahme an dem Verbrechen. Ihm sei nicht unbekannt, welchen strafrechtlichen Folgen er sich aussetze. Aber er greife ein, um den Ausbruch der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu beschleunigen. Eile sei geboten. »Wenn man die Wahrheit eingräbt, ballt sie sich zusammen unter der Erde, und ihre Sprengkraft wird so groß, daß an dem Tag, da sie ausbricht, alles mit ihr auffliegt.« Er sagte noch: »In meinen Nächten würde das Gespenst des Unschuldigen umgehen, der dort drüben in grausamster Marter büßt für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat.« Und: »Ich habe nur eine Leidenschaft, die des Lichts, und handle im Namen der Menschheit, die so viel gelitten und ein Recht auf das Glück hat.«

Dies waren seine Gründe, aber wessen noch? Ein Mensch leidet. Wenn er der einzige wäre! Sein Leiden vollzieht sich eindrucksvoll und malerisch auf jener Teufelsinsel, fern in einem violetten Meer, wo eine gewisse Anzahl Wächter Tag und Nacht um ihn herumsteht. Andere leiden mit weniger äußerem Aufwand, aber ebenso empfindlich – und können vielleicht auch nichts dafür. Unschuldig! Das ist ein sozialer Begriff, er hat der Verteidigung der Gesellschaft zu dienen. Man wird niemanden für unschuldig erklären, dessen Unschuld die Gesellschaft bedrohen würde. Dieser Unschuldige müßte, da zwischen ihm und der obersten Leitung des Heeres zu entscheiden wäre, höchst gefährlich werden: das ist offenbar das einzige, was gesunder Sinn zu sehen hat in der Sache. Gesunder Sinn läßt sich nicht irreführen von dem Übereifer eines literarischen Geistes, Systemmachers und Auf-die-Spitze-Treibers. Dem Ideologen folgt doch niemand? Man hat doch von der Gabe der Selbsterhaltung genug, um ihn allein zu lassen? Unmenschlich muß niemand sein, auch der Staat nicht; wenn die schädliche Agitation für den Gefangenen nachläßt, wird auch die Strenge seiner Behandlung nachlassen. Und der Wiederholung seines Falles wäre vorzubeugen durch die Abschwächung der Mißstände, die möglicherweise zu seiner falschen Verurteilung geführt haben. Es geschehe sachlich und ohne Berufung auf seine ungelegene Unschuld. So wäre es überall, kein lebenskräftiger Staat läßt sich ins Unrecht setzen. Mitgefühl und Wahrheitsdrang in Ehren, aber auch der Wortführer der Unschuld hat nicht das Recht, die Gesellschaft aufzustören und ihre Wehrkraft zu schwächen, er darf den Bürger nicht in Zwietracht stürzen und in seinen Geschäften beunruhigen. Dies wäre unvermeidlich, wenn jeder, dem es einfiele, gewissen Verantwortlichkeiten nachgehen könnte, bis sie zu Höhen führen, die um der Staatsvernunft willen über der Gerechtigkeit und über der Wahrheit bleiben müssen. Moral hat nichts mit Macht zu tun. Möchte es selbst zu erweisen sein, daß Generale gelogen und gefälscht haben, so können bekanntlich Schurken ein Volk zu Siegen führen. Die Vernunft des Staates ist höherer Art als eine Einzelvernunft, die sich wichtig machen will und schreit. Man lasse sie schreien! Zola wurde gewiß allgemein durchschaut als ein unruhiger Streber und Reklamesucher auf Kosten des öffentlichen Wohles? Außer den selbst Beteiligten nahm doch wohl niemand ihn ernst? Zweifellos schwieg man ihn tot? Grub um so tiefer die Wahrheit ein, nach der er schrie, und ihn mit? …; Nein! Nicht hier, nicht diesmal. Menschen waren da, denen die Macht nicht über ihr Gewissen ging, und ihre eigene Ruhe nicht über Herz und Gesinnung. Menschen waren da, Parteien fanden sich, ein Volk stand auf. Viele prüften sich, wie Zola es verlangte in seinem Brief an Frankreich. »Prüfe dein Gewissen: war es wirklich dein Heer, das du verteidigen wolltest, da doch niemand es angriff? Hattest du nicht vielmehr das jähe Bedürfnis, dem Säbel zuzujubeln? Nimm dich in acht, du gehst auf die Diktatur zu. Und weißt du, wohin noch? Zur Kirche.« Die innere Knechtschaft mit der äußeren, dies verbarg sich unter dem Vorwand der Staatsvernunft und des Patriotismus; viele sahen es, die ihr Volksheer liebten. Sie glaubten nicht, daß man lügen und Knecht sein müsse, um stark zu sein. Sie glaubten vielmehr, das Stärkste sei die Wahrheit. Sie hatten Beweglichkeit, Wohlwollen und heiteres Vertrauen in das Leben genug, um die Wahrheit für heilsam und schöpferisch zu halten, sollte sie auch Krisen bewirken. Manche waren ohnehin so gesinnt, daß weder Heer noch Staat ihnen erlaubt schienen, wenn es denn ihr inneres Gesetz war, daß sie uns erbärmlich machten. Die meisten aber wurden sich durch dieses eindringliche Beispiel der Natur ihres eigenen, besonderen Staates bewußt. Wenigstens er stand also auf der Wahrheit, – da der Versuch, zu fälschen, ihn so sehr erschütterte. Königreiche konnten nach ihrer Meinung mit der Lüge auskommen, ihre Republik nicht. Dies wurde ihnen zum Anlaß, sich klar und grundsätzlich von denen zu trennen, die auch in Königreichen hätten leben können. Zola stellte fest, was vor allem sein Werk war: »Derart sind nach und nach zwei Parteien aneinander geraten: einerseits die ganze Reaktion, alle Widersacher der wahrhaften Republik, die wir haben sollten, alle Geister, die, ihnen selbst vielleicht unbewußt, für die Autorität sind, sei sie religiös, militärisch, politisch. Drüben aber sammelt sich der ganze Zukunftsdrang, alle durch die Wissenschaft befreiten Gehirne, alle, die nach Wahrheit und Gerechtigkeit streben, die glauben an den immerwährenden Fortschritt und gewiß sind, daß seine Eroberungen eines Tages endlich verwirklichen werden, was irgend möglich ist an Glück.« Die meisten von diesen waren durchaus alltäglich, Bürger oder Arbeiter, durch ihre Lage auf die nächstliegenden Sorgen verwiesen und ihretwegen vielfach geschieden. Diesmal waren sie einig. Die Bürger und das Volk dieser Klassenrepublik waren einig in einer Sache der Sittlichkeit. Arme und auch Reiche glaubten nicht, daß es genug sei, wenn sie verdienten und sogar selbst die Steuergesetze machten: höchst merkwürdig, sie bestanden auf Werten, die man nicht sieht. Die wichtigsten Interessen des auch hier regierenden Kapitalismus konnten es doch in dieser Bourgeoisrepublik nicht hindern, daß alles, Geschäft, Politik und die Sicherheit des Landes selbst, überrannt wurde von einem erbitterten Idealismus. Von nun an stürzte jedes Ministerium, das Ruhe herzustellen dachte, wenn es die Wahrheit tiefer eingrub. Das Heer zerrüttete sich durch Widerspruch von innen. Die Familien spürten in sich die öffentliche Erschütterung, den Geschäften drohte sie mit einer Katastrophe. Überall Mißtrauen, Unsicherheit, Wühlerei und Aufbegehren: eben der Zustand der Geister, der hundert Jahre früher Blut gefordert hatte, gedämpft nur durch die Erfahrungen der hundert Jahre und weil die Vernunft fortgeschritten war, sogar bis in das geheime Herz ihrer Feinde. Die Revolution schien auferstanden, vielmehr, man sah, sie war nie tot gewesen, und sie war aus einem Stück; heute wie je waren ihre Menschen zur Stelle und erkannten einander. Erkannte man Zola nicht wieder? Er hatte, sein eigener Rousseau, sein eigener Condorcet, den Vernunftrausch erlebt von Gleichheit und unbegrenzter Vervollkommnung und ging nun jenen bitter ekstatischen Weg, auf dem man begreifen lernt, warum Danton fallen mußte, und wie Robespierre ward. Niemand vertrat auf so festem Lebensgrund wie er den Inhalt dieses Zeitpunktes; die Leidenschaft seines Geistes war genährt wie keine; das Weithingültige des Kampfes war in ihm. Ihn vor allen sahen die Völker an, die den sittlichen Kämpfen Frankreichs so ergriffen zusehen, als seien es ihre eigenen und sie hätten sie nur nicht gewagt. Er hatte wie je die Gabe der großen Wirkung. Seine Tat, wie ein Werk mit seinem Namen darauf, war millionenfach in den Händen der Welt.

Dafür trug er die größte Verantwortung und opferte am meisten. Denselben 13. Januar, als sein Brief an den Präsidenten erschien, beschloß die Kammer seine gerichtliche Verfolgung. Der Kriegsminister, einer der von ihm angeschuldigten Generale, mußte die Klage einreichen, beschränkte sie aber vorsichtig auf fünfzehn ausgesuchte Zeilen. Während fünfzehn Gerichtssitzungen stand Zola vor den Geschworenen, und als er am Schluß der Verhandlung das Wort an sie richtete, wußte er längst, sie würden ihn verurteilen. Der Vorsitzende des Ministerrates selbst hatte in öffentlicher Parlamentsrede es ihnen zur nationalen Pflicht gemacht. Zu diesem Druck auf ihr Gewissen kam ein anderer, die Kundgebungen vor dem Gericht, auf der Straße, wo der Angeklagte und seine Freunde bei seinem Erscheinen umlärmt, beleidigt, bedroht wurden. Von der Reaktion bezahlte Lumpe in Gemeinschaft mit den Mitgliedern klerikaler Vereinigungen täuschten eine Volksbewegung vor, und die Polizei griff jedesmal erst dann ernstlich ein, wenn es erwiesen schien, daß nur eine Art Schlacht den Angeklagten schützen konnte vor der gerechten Entrüstung des Volkes. Die Geschworenen sahen dem zu mit Gefühlen, die zweifellos bestimmt wurden durch ihre eigenen Interessen. Zola sagte es ihnen in das Gesicht. Er hielt sich nicht lange auf bei dem Vorwurf, er sei ein Verräter am Heer. Einst hatte er geschrieben: »Der Krieg ist nachgerade eine zu ernste, zu furchtbare Angelegenheit, als daß er noch Lügen vertrüge. Ich bin tief überzeugt, wenn das Gelüge des falschen Patriotismus wieder anginge, würden wir wieder geschlagen werden.« Die Volksrichter nun dort vor ihm dampften von falschem Patriotismus. Idee und Wahrheit wären nie zu ihnen eingedrungen durch all den Dampf, es galt, sie selbst anzupacken. Er sagte ihnen zuerst, daß sie das Herz und die Vernunft von Paris seien und natürlich kein Wort glaubten von den erbärmlichen Fabeln, die über ihn und seine Sache im Umlauf seien. Sie seien gewillt zu der Wahrung ihrer durchaus berechtigten Interessen, die sie begreiflicherweise für die Interessen der ganzen Nation hielten. Die Einnahmen sänken, gab er ihnen zu, Geschäfte würden immer schwieriger, eine Katastrophe drohe; und so lese er in ihren Gesichtern den Entschluß, den sie fertig mitgebracht hätten: der Sache ein Ende zu machen. Denn was bedeute ein Unschuldiger auf der Teufelsinsel gegen die Interessen eines großen Landes. »Wenn Sie mich verurteilen, liegt Ihrem Wahrspruch der Wunsch zugrunde, die Geschäfte möchten sich wieder heben.« Er sprach zu diesen Richtern aus der Demokratie mit leidenschaftlicher Schonungslosigkeit, wie niemals, weder zu einem Volk noch zu seinen Chorführern, gesprochen ward. Sie sollten nicht glauben, ihm und seiner Sache könnten sie etwas anhaben! Möchten sie ihn treffen, sie würden ihn nur größer machen! »Sehe ich aus wie ein Verkaufter, Lügner oder Verräter?« Und er scheute sich nicht, ihrer mittelmäßigen Denkart seine Leistung vorzuhalten, seine vierzig Bände, werbend mit Millionen Zungen für den Ruhm Frankreichs. Ihr Werk dagegen, was sei ihr Werk? Seine bei ihnen schon beschlossene Verurteilung vertiefe noch die Erschütterung und stelle alles in Frage, was Frankreich bedeute an Rechtlichkeit und menschlicher Gesinnung. Die Wahrheit aber schreite fort unaufhaltsam. Die sogar, die ihn anklagten, wüßten um sie. Er aber beschwöre sie. »Dreyfus ist unschuldig, ich schwöre es. Zum Pfand setze ich mein Leben und meine Ehre.« Er wiederholte den Schwur und gab jedesmal mehr hin. »Bei allem, was ich erobert habe.« Bei seinem Namen, bei seinem Werk. »Alles das soll stürzen und vergehen, wenn Dreyfus nicht unschuldig ist! Er ist unschuldig.« Zu diesem äußersten Bekenntnis sah er auf von dem Papier, woraus er las, und sah wohl in betroffene Gesichter. Seine Stimme, gewohnt zu schweigen, während das von ihm geschaffene Leben sich laut abspielte um ihn her, seine Stimme trug nicht genug, um die ganze Leidenschaft seines Geistes zu tragen; man hörte nur das abgeschwächte Echo. Hinter seinen kurzsichtigen Augen, dieser turmartigen, gefurchten Stirn erschien ihnen von der Macht und Ewigkeit der Idee nur ein fernes, blasses Spiegelbild, und nur einen Augenblick lang. Kaum daß sie, während er alles, alles hingab, von einer Ahnung berührt wurden und erschraken, als zeigte sich ein Geist. So kommt zu den Menschen der Geist. Aber die Lichter brennen, gleich sehen sie wieder die Wirklichkeit, ihre sogenannte Wirklichkeit, und haben sich zurück …; Zola war verurteilt.

Er geht zum Kassationshof, der das Urteil aufhebt; wird von neuem angeklagt, diesmal nur noch auf Grund von drei Zeilen seines Briefes, und wieder verurteilt. Am selben Abend fuhr er, damit das Urteil ihm nicht zugestellt und nicht rechtskräftig werden konnte, nach London. Es war die notwendige Taktik, er und die Seinen mußten Herren der Sache bleiben und sie hinziehen, bis sie neue Ereignisse zum Ausbruch brachte. Aber es war das Schwerste, was er auf sich nahm: die Verbannung, und den Verdacht, er fliehe das Gefängnis. Er ging in einer dunkeln Nacht, sah die Lichter seines Vaterlandes verlöschen, und erwog, daß er es nun fliehen mußte, weil er es ehrenhaft und gerecht gewollt hatte. Sich verstecken müssen in fremdem Land, lächerliche Abenteuer bestehen aus Unkenntnis der Sprache, der Neugier ausweichen und nur bestehen durch die Verschwiegenheit: dies war nun der Hintergrund für seine einsamen Gedanken, den tiefen Schmerz des Ausgestoßenen, der die Nachrichten der Heimat nur noch vernimmt wie den Widerhall von Wahnsinn und Entsetzen. Er wartet auf das unbekannte Ereignis, das ihn zurückruft; glaubt es gekommen, als einer der Verbrecher, die unter seinen Gegnern sind, Selbstmord begeht; wartet weiter, aber wartet fruchtbar. Er arbeitet. Da er nicht handeln darf, keine Stimme mehr hat und verschollen sein muß, bekämpft er schaffend das Nichts, das herandrängt und ihn verschlingen möchte, ihn, die Wahrheit, den Menschen, – kämpft mit aller Leidenschaft seines Herzens für die Rechte des Lebens. Gleichnishaft und überwirklich malt er Fécondité hin, das Traumbild schrankenloser Lebensfülle, die Forderung nach all dem Leben, das abfällt, das die Menschen verschwenden und im Keim töten. Sie sind geizig, sind ungläubig und meinen ihren Leiden vorzubeugen, wenn sie es sich versagen, fruchtbar zu sein. Sie sollen wissen, daß Ungläubigkeit schon Ohnmacht ist. Habet die Kraft, die Erdteile zu bevölkern, die noch leer liegen! Kein menschlicher Fortschritt, der nicht durch Übervölkerung erzwungen wäre! Das Gewimmel der Elenden hat die Völker aufgerüttelt bis zur Eroberung von Wahrheit und Gerechtigkeit. Aus Fruchtbarkeit Zivilisation. Aus ihr in Zukunft auch die Gleichheit; denn unter einer demokratischen Verfassung kann ein Volk nur glücklich sein, wenn die Sitten einfach und die Lebenslagen fast gleich sind. Die möglichste Lebensfülle bringt die möglichste Menge Glück. Wir sind nur da, das Leben zu verbreiten; jede eurer Empfängnisse ist erhaben, heilig, und vielleicht die entscheidende …; Einige Jahre früher hatte am andern Ende Europas eine nicht weniger große Leidenschaft die Tötung alles Lebens gepredigt: aus Liebe, und um des Geistes willen, wie diese hier das Evangelium der Fruchtbarkeit. Zola war sehr allein damals, doch lebte sein ferner Bruder Tolstoi.

Aber wenn er dann aufsah von seinem Werk der Menschenverklärung und um sich her ein englisches Dorf sah und nun, wandernd und immer allein, von fern noch einmal die Krise durchlebte, die sein Land niederwarf: wie überwältigend der Abstand zwischen dieser Wirklichkeit und seinem Traum! Wann kam wohl sein Buch zu dem Volk, für das er es schrieb. Welche noch furchtbarere Katastrophe mußte vielleicht eintreten, bevor sie das tiefste aller Übel erkennen konnten in der Unterdrückung der Fruchtbarkeit? Wirkungen ohnegleichen waren sein gewesen, und doch hatte Vergeistigung ihn nun so weit über die Volksgenossen hinausgeführt, daß gewisse nationale Ereignisse ihn abgesondert erscheinen ließen wie einen Feind. In Zeiten, die aufgeregt sind und sich darum groß fühlen, gilt es, um seinem Volk vertrauenswürdig zu scheinen, nichts mehr, daß man ihm Meisterwerke geschenkt hat. Man schreie Hoch! Man lasse ein Stück aufführen, worin Fahnen geschwenkt werden. Zola erinnerte sich wohl, einst kritisch aufgestanden zu sein gegen die Tyrannei der vaterlandsseligen Nichtskönner, die auch in ruhigen Zeiten auf gewissen Bühnen sich austoben durften. Jetzt, in den aufgeregten, war das gesamte Land eine patriotische Schmiere. Kein Raum mehr für den, der nicht die ganze nationale Größe auf die Anbetung des Säbels beschränkt. Man sucht nach dem Wurm in seinem dastehenden Werk, es muß von je schon brüchig und eine Gefahr gewesen sein. Man untergräbt den Boden ihm selbst: ist er auch nur ein echter Volksgenosse? – und noch in dem längst vergangenen Leben seines Vaters müssen Flecken entblößt werden, die man hineinfälscht. Zola hat alles Leiden durchgemacht dessen, der, zur Achtung vor den Erscheinungen geboren, sie eines Tages verachten lernen muß, verachten von Grund aus, verachten, was gegenwärtig ist, alles was nicht unter den wohltätigen Schleiern der Vergangenheit oder Zukunft liegt und nicht zu träumen erlaubt oder zu hoffen. Oh! sein Volk verachtet niemand, es ist ewig, es hat Zeiten gehabt, für die wir ihm danken, und wird groß sein, wenn das kleine Geschlecht, dem wir durch Zufall beiwohnen, lange vorbei ist. Aber dies kleine Geschlecht unserer zufälligen Zeitgenossen stellt uns nun einmal die nächsten, erkennbarsten Vertreter des menschlichen Geschlechtes. An seine Geistesform sind wir hundertfach gebunden. Seine Geistesform zu entwickeln und zu erhöhen, sind wir hundertfach verbunden. Sie wollten ihn ausschließen! Die Unglücklichen, sie vermaßen sich, ihn zu einem Abtrünnigen zu stempeln, – und waren selbst bestimmt, seinen Stempel zu tragen. Wenn anders seinem Volk eine Zukunft gehörte, bestimmte auch er sie. Mehr, als es ihm mitgegeben hatte, sollte er diesem Volk hinterlassen. Lange nach ihm mochten Züge von ihm national heißen, die es ohne ihn nicht geworden wären. So durfte er empfinden: Euer Volkstum wird mehr als heute es selbst sein durch mich, ich lebe euch vor, was ihr werden sollt. Ich, ein Abtrünniger? Ob ich das Vaterland liebe oder nicht: ich bin es selbst. Daß ich mich jetzt ausschließe, verbannt bin und schweige, ist ein großes Zeichen, und mein Land selbst richtet es sich auf. Nicht ohne den Widerstand seiner besten Kräfte überläßt es sich diesem verwickelten Rückfall in untermenschliche Zustände, der ihm heute bereitet wird. Die Wortführer und Anwälte des Rückfalls, seine Logiker, Propagandisten, Drauf- und Durchgänger mögen sich später verantworten, wenn sie es können; jetzt haben sie es leichter. Ihre Gesinnung verlangt nicht, daß sie Verbannung und Schweigen ertragen. Im Gegenteil ziehen sie Nutzen daraus, daß wir andern schweigen und verbannt sind; man hört nur sie, es ist ihr günstigster Augenblick. Man müßte sie sich ansehen, ob es nicht auch sonst schon die waren, die das Profitieren verstanden. Waren solche Schriftsteller etwa Kämpfer? Oder lag es vielmehr in ihrer Art, was die Macht – die Macht der Menschen und der Dinge – herbeiführte, zum Besten zu wenden, und auch zu ihrem eigenen Besten? Wie, wenn man ihnen sagte, daß sie das Ungeheure, das jetzt Wirklichkeit ist, daß sie das Äußerste von Lüge und Schändlichkeit eigenhändig mit herbeigeführt haben, – da sie sich ja immer in feiner Weise zweifelnd verhielten gegen so grobe Begriffe wie Wahrheit und Gerechtigkeit. Wir waren zu duldsam. Im äußersten Fall, nein, dies glaubten wir nicht, daß sie im äußersten Fall Verräter werden könnten am Geist, am Menschen. Jetzt sind sie es. Lieber als umzukehren und, es zurückbannend, hinzutreten vor ihr Volk, laufen sie neben ihm her und machen ihm Mut zu dem Unrecht, das es tut. Sie, die geistigen Mitläufer, sind schuldiger als selbst die Machthaber, die fälschen und das Recht brechen. Für die Machthaber bleibt das Unrecht, das sie tun, ein Unrecht, sie wenden nichts ein als ihr Interesse, das sie für das des Landes setzen. Ihr falschen Geistigen dreht Unrecht in Recht um, wenn es durch eben das Volk geschieht, dessen Gewissen ihr sein solltet …; Mit Zorn und mit Schmerz nahm Zola damals die Trennung vor von denen, die er trotz allem für seinesgleichen gehalten hatte. Dulden und Hinfristen war nicht länger erlaubt, die äußersten Prüfungen waren angebrochen und verpflichteten die Geister, streng und endgültig gesondert hinzutreten, die einen zu den Siegern das Tages, die anderen zu den Kämpfern für die ewigen Dinge. Kameraden bislang, gleich auserlesen, wie es schien: plötzlich aber vertiefen alle Züge sich, und auf jenen steht Untergang, auf diesen Leben. Die rechtlichen Geister, die ihre Zeit nicht belügen wollen, weil sie an die Ewigkeit glauben, sie sind nun bei uns als Trost und Gemeinschaft, auch wenn sie früher nicht unsere Freunde waren. Anatole France schien unversöhnlich in seiner Gegnerschaft gegen Zola, er verfolgte sein Talent, mißdeutete seine innerste Natur. Die unfehlbare Prüfung kommt, und sieh, die Geister erkennen einander, die reinen Geister, die immer noch lieber in keiner guten Zukunft je wirken wollen als in einer schlechten Gegenwart; die Geister der Wahrheit; die menschlichen Geister.

Zola, verbannt und schweigend, trennte, was weltlich war, von dem Ewigen: trennte es vor allem in sich selbst. Er gestand sich ein, daß das Unglück des Hauptmanns Dreyfus ihm vielleicht allzu gelegen gekommen sei. Als die Sache um sich griff und in Schwung kam, hatte er glauben können, er werde siegen, bald, ohne große Rückschläge und zu schwere Opfer. So hatte Voltaire gesiegt, als er das Gedächtnis Calas' verteidigte. Auch sein eigener Ruhm, so lange doch nur aus Bewunderung gemacht, sollte in Zukunft Begeisterung zeugen. Die tiefen Volksschichten sollten von ihm wissen mit ihren einfachen Herzen; seines, das sich von den Büchern loszulösen begann, verlangte so sehr nach ihnen. Sie konnten ihn emportragen, wer weiß wie hoch. Die letzten Ziele seines politischen Ehrgeizes waren ihm wohl mit Namen genannt worden von seiner mittelländischen Phantasie …; Dank dem Jahr der Verbannung und des Schweigens hatte er sich nun zurück und war sich wieder bewußt, daß der Geist dem, der für ihn arbeitet, als Preis eben nur seine Arbeit zuteilt, und daß dies genug ist. Am Ende aller inneren Erfahrungen dieses schweren Jahres sah er unter den Zügen des kommenden Triumphators nicht einmal mehr in geheimen Augenblicken seine eigenen Züge, nur die der Wahrheit. Sie mußte siegen mit Glanz, ohne einen Schatten oder Vorbehalt, er glaubte es fest wie je. Ihr Vormarsch ging weiter unaufhaltsam, alle Ereignisse bereiteten nur noch ihren Einzug vor; und endlich hörte man ihren Schritt, an dem Tage, als der Kassationshof die Revision des Prozesses Dreyfus beschloß. Zola, den fertigen Roman des schweren Jahres unter dem Arm, fuhr sofort heim. »Nun die Wahrheit gesiegt hat und Gerechtigkeit herrscht, kehre ich heim«, sagte er. Er sagte noch von der Wahrheit, die ihm anvertraut gewesen war: »Sie war wie die kleine heilige Lampe, die man im Sturm dahinträgt und schützen muß gegen die Wut einer mit Lügen sinnlos gemachten Menge.« Er stellte fest, es war wirklich die Wahrheit gewesen, die er in Händen gehalten hatte. Alle Anklagen in seinem Brief an den Präsidenten der Republik, die kühnsten und die am höchsten hinaufgreifenden, waren jetzt nicht nur bestätigt: sie sahen aus wie Erfindungen eines zahmen Romandichters neben der trotzig ragenden Wahrheit. Und anders hatte es gar nicht kommen können, die Wahrheit siegt immer. »Von der ersten Stunde an hatte ich die Gewißheit; ich ging einen unfehlbaren Weg, mein Mut war also nicht so groß.« Er verkleinert schon sein Wagnis, er glaubt schon edelmütig sein zu können, weil alles gewonnen ist. Sind die Dinge nicht von jeher so verlaufen? Kein Buch hat er schreiben, keine Überzeugung vertreten können, ohne überhäuft zu werden mit Lügen und Beleidigungen; und oft schon tags darauf mußte man ihm recht geben. Auch seine Tat kann nicht anders ausgehen. Nach den ersten qualvollen, niederschmetternden Akten muß der letzte die Wirrsal in Frieden und Eintracht auflösen zum Ruhm der Unschuld, noch mehr, zum Ruhm des Vaterlandes. Dann wird es gerüstet sein, seine geschichtliche Sendung zu beenden und der Welt die Gerechtigkeit zu bringen, wie es ihr die Freiheit gebracht hat.

Aus solcher Höhe der Fall. Ein zweites Kriegsgericht verurteilt Dreyfus zum zweitenmal. Der letzte Akt war nicht der letzte, die Grenzen der Lüge und der Ungerechtigkeit sind hinausgeschoben, man erkennt nicht mehr, bis wohin. Und Zola, der das Unmögliche wirklich werden sieht, fühlt nur noch Grauen. Der Wille zum Bösen, dem die Welt erlegen scheint, und ihre vollkommene Widerstandslosigkeit gegen seine Anschläge können einem Geist der Güte zuletzt nur noch Grauen machen. Er fühlt einzig, wie sollen wir, nach dem was geschehen ist, bestehen vor unseren Söhnen? Das Andenken an Grausamkeit und Irrsinn, das wir ihnen hinterlassen, wie sollen sie es noch gutmachen? Bedeutet dies den Tod der Nation und unserer Welt? »Welches Bad von Güte, Reinheit, Rechtlichkeit wird uns erretten aus dem Giftschlamm, worin wir verenden?« Unter Schuften wie diese, unter knechtischen Dummköpfen wie diese haben wir gelebt; dieses unser Land, in dessen Lauten wir unsere menschlichsten Gedanken formten, hat sie hervorgebracht! Alle Grade der sozialen Gewalt haben sich verschworen zum Untergang des armen Jammerbildes, dieses angeklagten Opfers, das der Mensch selbst scheint. Sie haben ihn hergeschleppt von seiner Teufelsinsel, jenem Kerker des Menschengeistes, und wollen ihn endgültig stumm machen mit Aufbietung aller ihrer bewaffneten Übermacht. Der öffentliche Ankläger lügt störrisch, schamlos liefert das Gericht sich den falschen Zeugen aus, die doch die Schuldigen selbst sind. Diese Generale, die gefälscht und das Recht gebrochen haben, halten jetzt unter ihrer Schreckensherrschaft das Gericht, die Öffentlichkeit, das Land. Einer muß untergehen, sie oder der Mensch. Es ist am äußersten, nur seine Ermordung rettet sie selbst vor dem Zuchthaus. Aber sie sagen: sie rettet das Land. Denn es sind Menschen, deren Deckmantel und schmutziges Geschäft das Vaterland ist. Das Volk meint mit dem Namen des Vaterlandes irgendeinen uneigennützigen Traum. Sie aber berechnen den Gewinn aus seiner Begeisterung für ihren Ehrgeiz, ihre Habsucht, ihren Machthunger. Hinter dem Nebel seiner Begeisterung begehen sie ihre Verbrechen. Da stehen sie, sie sind nicht die Soldaten der Demokratie; und da sie nicht ihre Soldaten sind, sind sie ihre Henker.

Wäre es uns bestimmt, aus solcher Tiefe noch wieder an das Licht zu gelangen? Vielleicht sind wir nur darum bis auf den Grund des Grauens gesunken, weil das Geschick tragische Größe wollte, eine über alles erhabene Schönheit, Buße wohl auch, und dank ihr die Verklärung? Ungeheures müßte freilich geschehen, die Reinigung der obersten Stellen der Heeresverwaltung, die Ausräucherung der Jesuitenschule, die der Generalstab ist; besonders aber muß beseitigt werden die Unwissenheit, die dies alles erst ermöglicht hat. Nicht mehr und nicht weniger als eine Erneuerung Frankreichs! – aber ist dies wirklich der Sinn und Ausgang des lebenden, vom Schicksal geschaffenen Werkes, das sich hier abwickelt? Zola konnte damals nichts sehen, als daß zum Anfang der Buße eine neue Schändlichkeit geschah und daß wieder gelogen ward, aber jetzt im Namen des Mitleids. Der Unschuldige ward begnadigt. Er bekam nicht sein Recht und seine Ehre, man ließ ihn nur laufen. Seine Mörder gingen weiter mit allen ihren hohen Würden in der Sonne umher. Dazu also die übermenschliche Anstrengung, deren es bedurft hatte, um seinen Grabstein zu heben, beschwert wie er war mit allem aufgehäuften Unrecht. Sei es! Der Unschuldige hat Zeit, zu warten, bis ihr ihn wieder einsetzt und hoch ehrt vor aller Welt. Eure Schuld werdet ihr ihm niemals ganz bezahlen können. Denn eure Schuld besteht nicht nur in seinem Leiden, das ihn heiligt, sie ist angewachsen um den vollen Schatz von Empfindung und Gedanken, den er euch geöffnet hat. »Der zweimal verurteilte Unschuldige hat mehr getan für die Verbrüderung der Völker als hundert Jahre philosophischer Redekämpfe und theoretischer Menschlichkeit. Zum erstenmal, seit die Welt steht, hat die gesamte Menschheit den Schrei nach Befreiung ausgestoßen und ist aufgestanden für Rechtlichkeit und Großmut, nicht anders, als bildete sie nur noch ein Volk, das eine Volk von Brüdern, das Dichter erträumen.« Dies darf kein Spiel gewesen sein. Wenn es gelänge, durch den Kunstgriff der Begnadigung das Bild des Unschuldigen zu verwischen, auch die großen Begriffe, für die es dasteht, wären getrübt. Zola ist entschlossen, weiter zu arbeiten für den Unschuldigen, rastlos und ohne Furcht, daß er die Welt ermüde oder erbittere. Das Entgleiten des erhofften Sieges steigert seine Inbrunst, in ihm erschließt sich eine mystische Liebe zu dem Auserwählten des Leidens, in dessen Nachfolge auch er selbst Verfolgung erlitten hat um der Gerechtigkeit willen. Er scheint nun in seinem Gefühl so einfach wie irgendeine einfache Gestalt von einst, die ein Wunder gewirkt hat nur mit der Kraft ihres Herzens. Mehr als hundert Jahre zuvor war durch dasselbe Paris eine Frau gegangen, eine Frau aus dem unteren Bürgerstand, war von einem Menschen zum anderen gegangen, großen Herren, Leuten von der Straße, der Königin selbst, und zu jedem, trotz Spott, Müdigkeit und Gefahr, sprach sie nur eins: in der Bastille sitze ein Unschuldiger, der Unschuldige müsse befreit werden, keinen Tag länger könne die Welt sonst leben. Sie erreichte es auch; es schien merkwürdig und ergriff. Aber erst lange danach ward klar, es sei ein seelisches Vorspiel der Revolution gewesen. Zola ist, auch wenn er an seinem Schreibtisch sitzen blieb, unter den Volksgenossen umgegangen als ihr Gewissen, wie vormals Madame Legros. Sie eine Handwerkersfrau, er der weiteste Geist; aber beide sind hervorgetreten aus dem tiefsten Herzen einer Menschenart, die glaubt an den Menschen, die schwärmt für ihn, und die ihre Höhepunkte immer dann erreicht, wenn sie für seine Unschuld kämpft.

Aber schon damals hatte die Königin befohlen, die Akademie solle Madame Legros mit dem Tugendpreis krönen, nur sagen dürfe man nicht, wofür. So verläuft es auch diesmal. Die Wahrheit und die Gerechtigkeit siegen trotz allem, nur darf es nicht verlauten. Der Sieg muß zweifelhaft bleiben. Nicht nur Königinnen, auch das Geschick bestimmt es so. Nach der Begnadigung des Unschuldigen werden die Parteien weiter streiten, ein Jahr noch, und das Ende ist die Amnestie aller, Kehraus, Straflosigkeit und Vergessen für Gerechte wie Ungerechte, Verbrecher wie Rächer. Und dies scheint aller Welt ein annehmbares Ergebnis, der vernünftigste Ausweg. Es tut nichts, daß die Wahrheit entnervt wird durch einen Straferlaß, der keinen Unterschied macht zwischen dem General Mercier und Zola. Niemand weigert sich, es hinzunehmen, daß das Gefühl der Gerechtigkeit verdunkelt wird bei den Kleinen: auch Jaurès nicht, der Hochherzige. Und nie wird es dem Land einfallen, aufzustehen dagegen, daß das Gute verschleiert, das Böse nicht feierlich gezüchtigt wird. Denn dies ist nicht der Weg des Geistes unter den Menschen. Mit nichten tritt er aus einem einzigen Beispiel, einer weithin sichtbaren Begebenheit strahlend hervor, blitzt nieder die Mächte der Finsternis und überzeugt mit seiner jähen Apotheose auf einmal alles Volk. Auch diese Dinge lehren es wieder. Die Taten sind nicht ohne Rest komponierbar, kein fünfter Akt beendet hier die Irrungen und Zweifel. »Der Fall Dreyfus hat Frankreich sehr geschadet«, werden noch immer die Toren sagen, wenn sie schon längst umgeben sind von dem Nutzen, den er gewirkt hat. Als er begann, saßen in Regierung und Generalstab die Mörder des Unschuldigen und handelten unter dem Willen der Kirche. Der Kampf nahm die Herrschaft den schlechten Republikanern und gab sie besseren, die das Unrecht nicht wollten und nur zu schwach waren für das Rechte. Ihnen werden vielleicht andere folgen, die gut und nicht mehr schwach sein werden. Vieles könnte möglich werden: die Angriffskraft der Kirche gebrochen, das Heer der Demokratie geführt zu ihrer Ehre von ihren eigenen Söhnen; und die Gleichheit als Abschluß, die wirtschaftliche nach der politischen, und damit endlich die wahre Republik, die Republik der Gerechtigkeit und der Wahrheit. Aber auch dann kein Ende, der Kampf ist nie aus, der Sieg hat kein Gesicht, und erst die Söhne mögen feststellen, wieviel die Väter gewonnen haben. Die Wirklichkeit ist bitter und dunkel, wir können nichts tun, als unser Blut und unsere Tränen geben. Wir können nichts tun, als kämpfen für die Ziele, die nie erreicht werden, aber von denen abzusehen schimpflich wäre, – kämpfen, und dann dahingehn.

Verklärung

Reicher um diese Erkenntnisse, zog Zola sich in Stille und Arbeit zurück, 1900, nach drei Jahren politischen Kampfes. Nicht mehr zwei Jahre hatte er zu leben. Und zum Abschied von den Eintagsmenschen und bedenkenlosen Genießern des Augenblicks, mit denen er es die Zeit über zu tun gehabt hatte, den todgeweihten Verächtern der ewigen Ideen, verhieß er ihnen die Rache, die von jeher die Dichter genommen haben. »Verbrechernamen gibt es, die, mit Ehrlosigkeit gebrandmarkt von uns, nur noch fortgeschwemmt werden wie Unrat im Strom der Zeit.« Mehr: er wollte aus seinem erkämpften Wissen heraus bezeugen, was er nahen sah am Horizont, seine hartnäckige Hoffnung, viel Wahrheit, viel Gerechtigkeit werde eintreffen, bald, von den fernen Feldern, wo die Zukunft sprießt. Er war sechzig Jahre alt, aber nicht entmutigt. Die Kraft, in vierzig Bänden ausgegeben und erworben, er hatte sie handelnd noch einmal ausgegeben und noch einmal erworben. Er war, da er dem Leben glaubte und es liebte, gemacht für Katastrophen. Ihm konnten sie nicht an, er wußte: das Leben geht weiter, wenn ich liegen bleibe, geht weiter, wie ich es gekannt habe. Ich habe vorgelebt denen, die nun leben sollen. »Ein Hauch ist vorbeigeweht, und alle wollen schneller zur Gerechtigkeit kommen, wollen in Wahrheit leben und so viel Glück wirklich machen, wie immer möglich.« Handelt! Macht wirklich! Fangen sie nicht schon an? Er sieht mit seinen letzten Blicken den ersten Schimmer heraufsteigen des Tages, den er mit geschaffen hat. Die Bewegung wächst immer, die Kräfte von morgen schicken sich an, den verderblichen Mächten der Vergangenheit die entscheidende Schlacht zu liefern. Die Ausbreitung des Unterrichtes, die Kirche ausgeschlossen von ihm, die Reinigung des Heeres und des Staates, Fürsorge, Steuergesetze, und die Arbeit neu geehrt: die wahrhafte Republik kündet sich an; er sitzt dort draußen in der Abendsonne seines Gartens und läßt nur gedeihn. Sie wissen ihn nahe, das Leben weiß ihn sich immer nahe, und sie holen ihn herbei, damit er ihre Genossenschaften und Gründungen feiere und ihnen noch einmal den Kampf verherrliche und die Arbeit. Es scheint ihnen wohl, er sei der Vater ihrer Republik und habe wahr gemacht, was verheißen war über seinesgleichen. »Der einsame Denker bestimmt, schreibend und handelnd, das Schicksal der Menschen. Er nur zeugt in ihnen, vermittelst des Gefühls, die Ideen, von denen sie leben, und die sie mit aller ihrer Kraft festlegen in sozialen Wirklichkeiten. Er nur treibt sie zum Handeln an, zum Gutmachen durch Rechtlichkeit und Wahrheit.« Kein Jahrzehnt mehr, und von der Kammertribüne herab wird der Minister der Arbeit in Sätzen, die von Zola scheinen, das Recht des geistig befreiten Menschen verkünden auf irdische Gerechtigkeit statt der himmlischen, das Recht des arbeitenden Menschen, wirtschaftlich so unabhängig zu werden wie politisch. Zola selbst hat das letzte, das ihm gegönnt war, darangegeben, uns vorausschauen zu lassen, was uns versprochen ist. Les Quatre Evangiles, Entwurf des neuen Erdenbundes, begonnen mit dem Loblied der Fruchtbarkeit, erweiterten sich nun zum dargestellten Wunder der Arbeit, dem Heldengedicht ihrer Kraft und Herrlichkeit. Aber aus Arbeit die Idee, so hatte er es erfahren. Fécondité und Travail zogen nach sich Vérité und Justice. Durch Wahrheit zur Gerechtigkeit, dies war sein Weg, es mußte der Weg der Menschheit sein. Er konnte ihnen nicht mehr das heilige Bild ihrer erfüllten Gerechtigkeit enthüllen, ihm blieb nur noch Zeit für das dritte der Evangelien. Wahrheit war die Seele aller seiner Anstrengungen gewesen; er hatte begonnen in ihrem Namen und schloß nun mit ihr. Der Fall Simon in Vérité ist nochmals der Fall Dreyfus, vereinfacht durch Provinz und kleine Verhältnisse, mit dem Militär und den Patrioten in zweiter Linie, ganz vorn aber, wie es ihm gebührt, der Kampf der Kirche mit der Schule; Umklammerung der Jugend durch die Kirche, der Zukunft des Landes, seiner Verwaltung, Armee, seines Geistes und Gewissens; Verwirrung des Landes, Schändung, Wahnsinn und drohender Zusammenbruch, aber dann seine Befreiung durch den Sieg der Wahrheit. Auch hier eine Ungerechtigkeit, und »eine einzige Ungerechtigkeit genügt, damit ein Volk daran sterbe, in langsam überhandnehmendem Wahnsinn«. Der jüdische Laienschullehrer ist unschuldig an der Ermordung des Kindes, ein Frater hat es getan; warum euer abergläubisches Wüten, das nur euch selbst in die Fesseln liefert? »Die Herren der Welt haben nie jemand vergiftet, es sei denn die Unwissenden.« Ungeheure Geduld des andern armen, Verfolgung leidenden Lehrers, der an der Stelle des unschuldig Deportierten eure Kinder die euch noch unbekannte Wahrheit lehren will, die eigene Prüfung, die gefestete Vernunft. Nur seine gewappnete Liebe befähigt ihn, durchzuhalten. »Er bemühte sich zärtlich, die Kinder besser zu machen als die Väter, in die verruchte Gegenwart senkte er den Keim der glücklichen Zukunft, und das Verbrechen der anderen löste er ab um den Preis seines eigenen Glückes.« Sein Werk gelingt ihm, oh, nach wie vielen Rückschlägen; dennoch ist eines Tages die Nation keine am Boden lastende Bleimasse mehr, und ist herangezogen zum Glück. Der Unschuldige kehrt zurück im Triumph. Es triumphiert die Wahrheit, – aber da hat der Unschuldige schon weiße Haare …; Und auch so noch ist dies eine Utopie; den Sieg, wir wissen es, erlebt man nicht. Wir können ihm nur entgegenträumen, wenn wir endlich ruhen vom Kampf. Geduld und Liebe werden ihn, wie jener arme Lehrer, erwerben für die Späteren. In der Abendsonne seines Gartens träumt Zola ihm entgegen, mit beruhigter Miene. Ehemals las man darin, er sei unruhig und verwickelt; und dies ist jetzt ein Gesicht, fast einfach, fast ohne Qual und Hintergründe, geklärt durch Erleben, nicht verwirrt, und den Menschen befreundeter, nachdem er sie erkannt hat, als wie er anfing, sie zu kennen. Die Haare im Nacken halb lang, biederer Graubart, und das ideale Gesicht eines alten Lehrers, sanft, trotz seiner Weisheit voll Zuversicht, ein Lehrer der Demokratie.

Die Weisheit sagt: »Dein Werk ist getan, aber es ist umstritten und gefährdet.« Die Zuversicht sagt: »Es ist da.« Die Weisheit sagt: »Du glaubst doch nicht, es werde unbehelligt immer fortwirken und der Mensch sich nach deinem Beispiel auf geradem Weg hindurcharbeiten zum Geist. Das ist nicht seine Art. Seine Art ist es, den Geist zu hassen, wenn schon mit schlechtem Gewissen. Gesetzt auch, du zeitigest wenigstens nahe um dich her eine Annäherung des handelnden Menschen an die redliche Vernunft des denkenden Menschen: Schicksal der Vernunft ist es, zeitweilig zu ermüden, sich aufzugeben und das Feld zu räumen den Orgien einer komplizierten Naivität, den Ausbrüchen tiefer alter Widervernunft. Denke dir einen Taumel der Widervernunft, gegen den die Verurteilung eines Unschuldigen, und was dann folgte, belächelnswert wäre. Zeitwenden stehen vielleicht bevor, da eine Welt, die von dir nichts weiß, sich dahin bringen läßt, zu toben im Rausch von hundert Giften, wüstem Haß, stinkender Lüge, tauber Ungerechtigkeit; im Krampf, den sie Begeisterung nennt; in Geschäftsgier, die sie auch Begeisterung nennt; im tollwütigen Drang, zu vernichten, Drang rückwärts, Drang hinab, zum wiedergekehrten Chaos, so dunkel, daß auch dein Wort es nicht mehr aussprechen und erhellen könnte. Wo bleibt dann jene Demokratie, die du naturalistisch genannt hast, weil sie die angewandte Wissenschaft vom Menschen sei? Der verantwortungsloseste Lyrismus ist wieder da, Lyrismus des Abgrundes, die ewige Scham jedes Menschengläubigen. Damit rechne.« Die Zuversicht sagt: »Ich rechne damit, – und über den Abgrund hinweg grüße ich jene, die dann kommen, die um so fester in ihren Herzen die Liebe einer zu vervollkommnenden Erde tragen werden und eines Menschengeschlechtes, dessen Aufstieg kein Ziel kennt. Nach jedem Rückfall in den Abgrund werden die Herzen fester sein. Die besten Werber für den Geist sind seine Widersacher, Grausamkeit und Elend. Wo sind die Eroberungen des Schwertes? Welches Reich ist durch Blut fruchtbar geworden? Sie sind verdorrt, sie verdorren. Bestand hat einzig, was der Geist erobert. Über allem ist die Literatur, ihr Werk ist der Mensch« …; Die Weisheit sagt wieder: »Wenn es so wäre, wer wird durch so ungeheure Zeiträume dein Werk noch erkennen? Es ist wohl nicht ungeschehen, das kleinste Saatkorn kann fortzeugen. Aber darum dein Stolz? Dein Leiden? Dein Kampf? Sie kennen dich nicht einmal heute, da sie dich noch sehen und vernehmen. Dein ist der weitest reichende Ruhm der Zeit, wie sollte sie dich nicht mißverstehen? Die Zeit sieht einzelnes und keine Einheit. Die Parteigänger deiner letzten Bücher nennen die ersten unsittlich, die Bewunderer deiner ersten sehen ab von deinen letzten. Wer umfassend sein möchte, sagt, du habest zuerst gute Romane geschrieben, die keine gute Handlungen gewesen seien, und dann gute Handlungen vollführt, aber das seien keine guten Romane. Sie wissen noch nicht einmal wirklich, daß ein Schriftsteller ein Temperament feststehender Art ist, das man nur noch mit Unrecht verwirft, wenn man es je einmal hat gelten gelassen. Du warst in aller Zustimmung und allem Haß doch immer allein mit deinem unbeirrbaren Ich. Deine Art, zu sehen und zu leben, gehörte nur dir und wird mit dir sterben.« Die Zuversicht antwortet: »Nein. Gib nicht acht darauf. Deine Methode war die des Zeitalters selbst. Zukünftige Geschlechter werden dich weniger lesen, aber besser kennen und die Gestalt eines Vorfahren vor Augen haben bei Nennung deines Namens: eines der guten Männer, die schon damals das Glück für alle suchten in der Wahrheit. Auch dich wird die Liebe retten, der Atem des Alls, der durch deine Brust ging. Sieh, schon heute, aus einer dir mißgesinnten Jugend, tritt ein einzelner junger Mensch zu dir; hat eine der deinen fremde Art, das Schöne zu suchen, und will dir doch sagen, er wisse es wieder, du seiest groß. Zwanzig Jahre nach deinem Hinscheiden, vielleicht fünfzig, kommt die Entdeckung für alle« …; Hierauf nochmals die Weisheit, leiser und schmerzlich: »Ist es aber auch wahr, daß dein Werk dies eine Erdengedicht sei? Es ist vielgliedrig, in seinen früheren Teilen ist übergenug Erde, in seinen letzten fast nur noch Geist. Du warst vielleicht nur einmal vollkommen.« Die Zuversicht: »Genug für ein Leben.« Die Weisheit: »Sieh hin, als wärest nicht du es. Hier ist ein Künstlerwille, vom Süden ausgezogen wie ein Eroberer, sein Stärkstes die sinnliche Kraft, aufzurichten und zu bewegen. Aus seiner Fülle selbst und Blutwärme erblüht ihm Geist, wird stark, wird herrisch und erstickt die Leiblichkeit des Werkes. Wo ist fortan noch die Heftigkeit der Szenen, das Reißende im Fluß des Dargestellten, all das lodernde Leben? Der Gealterte, hoch gestiegen in armes Land und ermüdet, sieht sich um. Zweifel rührt ihn an, ob nicht sein wahres Werk nur jenes war, das seinem jungen Blut entsprang. Aber er ist doch gestiegen! Hat er denn die sinnliche Beherrschung des Lebens nicht mitgebracht bis in das Land des Geistes? Nur durch sie wird der Gedanke vollkommen, die unsinnlichen Denker wissen dies nicht. Aber der Künstler, der es erst weiß, kann es nicht mehr beweisen. Sieh hin, da stehst du.« Hier aber die Zuversicht: »Dann sei getrost, dein Schicksal ist ein Zeichen für Größeres. In deinem kleinen Dasein war also Raum für die ganze Tragödie des Menschen. Er muß das Leben wollen, und doch auch etwas, das mehr ist und sich kaum jemals bindet mit ihm: den Geist. Kurzer Zielpunkt, wo beide sich binden, sich ganz durchdringen. Schon löst sich der eine, und das andere entgleitet. Liebe es so, denn so soll es sein.«

Zola, in der Abendsonne seines Gartens, fühlt: »Es geht dahin, und ich liebe es nur mit noch mehr Leidenschaft. Und was ich liebe, ist der Kampf, und selbst die Erkenntnis nur um seinetwillen, die tägliche Arbeit unter Schmerzen, die Arbeit, unser Gesetz. Nicht schauen: – kämpfen, und dann verschwinden!« Wenn nun der Tod kam, heftig und ungesehen, in einem Unglücksfall, der Vorgriff und rasch abbrach: was brach er ab, was konnte der Tod dem hier noch vorenthalten? Kein Greisentum; sein Herz war, als man ihn sezierte, stark wie Jünglingsherzen, nie würde es haben alt sein wollen. Nicht Geweihtheit und Frieden; Greise, denen sie zu gut anstehen, haben wohl vordem manches versäumt. Hier ist die kurze Verklärung des guten Arbeiters, der anhält und atmend auf seiner erhobenen Stirn den letzten Strahl empfängt. Schon stürzt er hin, nicht unter der gehabten Mühsal, sondern weil sie beendet ist. Wir wollen ihn aufheben, das Pantheon steht offen.


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