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Philppe Soupault
oder
Der junge Franco-Europäer

Philppe Soupault
Quelle: de.wikipedia.org

I

Ein Geist, der sich nur genügen kann durch sein endgültiges Verderben, denn dieses nähert ihn endlich dem Unendlichen.«

Was alles liegt hierin?

Neugier sicher, unersättliche Neugier, zusammen mit Genußsucht wahrscheinlich, selten gestillter Genußsucht. Furcht überdies, zumindest Furcht vor Müdigkeit, vor dem Alter und der Mäßigung, denen man die Katastrophe und den Sturz in die Ewigkeit vorzieht.

Liegt auch Liebe zum Leben darin? Wer weiß es? Ein Geist, der sich genügen will, liebt wenigstens seine Anstrengung. Sein Leben soll vollständig sein, soll so vollständig sein, daß es den Tod miteinbegreift: den Tod des Geistes. Der Tod des Körpers ist alltäglich und ohne Bedeutung. Demnach liegt Stolz in jenem Satz, furchtbarer Stolz auf eine so große Unabhängigkeit vom Leben selbst, daß man sie Reinheit nennen könnte. Auch Tapferkeit bezeugt er, gewiß, auch Tapferkeit.

Ob sein Schreiber glücklich ist? Um so draufgängerisch vom Verderben zu sprechen, kann man nicht unglücklich sein.

II

Der Satz vom Geist, der sich nur genügen kann durch endgültiges Verderben, ist von dem jetzt dreißigjährigen Philippe Soupault. Wie viele Sätze hat er schon geschrieben! Zusammen ergeben sie das genaue Erleben eines Zwanzig- bis Dreißigjährigen, begrenzt von der Jahreszahl 1927. Der Bericht davon ist vielleicht nicht absichtslos; jeder hat doch ein Wunschbild seiner selbst vor Augen und will ihm gleichen. Aber er ist gewissermaßen ungewollt. Der junge Soupault behauptet sogar, daß er aus Schwäche schreibt. Er hält die Literatur zur Not für ein Mittel zum Zweck. Der Zweck aber?

Soupault war bei seiner Jugend schon in der Lage, eine Flotte von zehn Petroleumdampfern zu leiten. Was man »Geschäfte« nennt, erfüllte ihn bald mit Leidenschaft, denn so lebte er schneller, erfuhr mehr, wagte mehr. Auf das Wagnis kommt es an. Das erste Wagnis, in das seinesgleichen hineingezogen worden ist, war der Krieg. Den haben sie nun einmal im Blut behalten und führen ihn eigentlich weiter, solange sie da sind. Ihre Neigung für das »endgültige Verderben« ist unbesiegbar.

So zu sein, macht ein Geschlecht junger Leute schon zur weltgeschichtlichen Kuriosität. Sie indessen wissen es überdies, wenigstens Soupault weiß alles. Daß er sich mit Handeln und Wagen berauscht hat, daß Rausch die Freude ist zu zerstören, alles springen zu lassen, weder Folgen noch Verantwortung ernstzunehmen.

Gegen diese Art des Handelns kommt bei ihm keine Literatur auf. Er achtet sie nicht und schämt sich oft, Schriftsteller zu heißen, – während richtige, unbefangene Geschäftsleute eher eine stille Liebe zur Poesie haben können und Tatmenschen oft empfindsam sind. Aber so ist der unsere nicht. Er braucht nur Ruhepausen der Besinnung. In solchen schrieb er seine Romane.

Darin ließ er vorbeiziehen seine Tage, seine Freunde, seine Wünsche. Keine Sendung, bewahre. Die Literatur verleiht keine Sendung, sie gewährt nicht einmal Zerstreuung. Er findet sie keineswegs notwendig um ihrer selbst willen.

Dennoch würde man sich später ganz vergebens fragen, was dies für ein erstaunliches Geschlecht gegen 1930 lebender Europäer gewesen sein mag, gäbe es nicht über sie einige Romane, darunter die von Soupault. Abgesehen hiervon, bestehen noch andere Gründe, weshalb es besser war, diese Romane zu schreiben, als statt dessen noch etwas mehr zu handeln.

III

Der Roman einer Familie, dreier Brüder, der Brüder Durandeau. Auch andere, schon damals in den Zeiten der Renten, der Bärte und des schrecklich langsamen Lebens begannen immerhin meistens damit, sich ihrer eigenen Familie literarisch zu bedienen. Nicht immer hielten selbst in jener noch feststehenden Bürgerwelt drei Brüder so zusammen wie diese hier. Man bedenke, daß der mittlere, der ein zum Spiel neigender Geschäftsmann ist, die Summe von sechshunderttausend mehr oder weniger vollwertigen Francs verliert. Der ältere, ein ehrgeiziger Anwalt, übernimmt ein Drittel der Schuld, ja, er überredet hierzu auch den Jüngsten, und dieser ist doch ein ganz unbürgerlicher Künstler. Aber es bleibt dabei trotz verschiedenen Lebenswegen, daß jeder der Brüder, ob er will oder nicht, auch die anderen vertritt, mitsamt Erfolgen und Mißerfolgen, mitsamt dem, was sie hassenswert oder liebenswert macht. Sie lieben sogar alle dasselbe. Zwei der Brüder haben, ohne daß mehr als einer es wüßte, dieselbe Freundin. Der dritte, es ist der Advokat, geht hin zu ihr, um die Peinlichkeit zu beenden, da wäre er auch hier beinahe der dritte geworden.

Wenn der Ältere ein starker Charakter, der Mittlere ein schwacher ist und von dem Jüngsten niemand weiß, was er vorstellt, es wäre denn einen Menschen, auf den kein Verlaß ist, so sind sie doch insgesamt voneinander überzeugt. Sie sind jeder nicht nur von dem einen, sondern von allen drei überzeugt, jeder von den Durandeau. Sie waren von jeher Burschen, die sich nicht zu nahe treten ließen, überhaupt zur Heftigkeit geneigt und niemals zart. Aber ein Lehrer nannte sie einst »rein«, was wohl heißen sollte »ohne Falsch« oder »zu stolz, um zu lügen«. Sie sind nicht verdorben. Als die beiden Ältesten sich schon austobten, sah der Jüngste es gelassen und frei von ungesunden Träumereien mit an, denn auch ihm waren diese kostspieligen Freuden nächstens gewiß. Woraus man die Segnungen des Geldes ersieht. Die Armen träumen zuviel und bleiben schon darum nicht »rein«.

Es ist eine wohlhabende Bürgerfamilie älteren Stils, der Zustand der Starrheit geht für sie gerade dem Ende entgegen. Die Zumutung der älteren Verwandten, einen »Familienrat« abzuhalten, wird von den jüngeren schon als unzeitgemäß empfunden. Sie sehen in ihren Verwandten eine Sammlung mehr oder weniger schädlicher Mißgeburten. Nur bei ihrer Mutter lebt noch das Gefühl der Familie. Sie hält sie zusammen. Wenn die Mutter Handarbeiten macht, scheint sie das Geschick ihrer Kinder zu weben. Sie liebt sogar die Sorgen, die sie ihr bereiten. Es ist eine echte Mutter, sie wirbt bei uns allen um Sympathien für ihre Kinder, die es auch wirklich verdienen. Vor allem vertreten sie gegen die übrige Familie die lebendige Menschlichkeit sogar in ihren Fehlern; denn man haßt sie besonders wegen ihrer Heftigkeit und ihrer Ironie. Außerdem haben sie mehr oder weniger persönlichen Zauber, am wenigsten der Älteste, am meisten der Jüngste.

Aber jeder von ihnen ist an den Vorzügen und Fehlern der anderen beteiligt. Mit dem Rest der Familie werden sie zerfallen, dies ahnt man. Die drei Brüder selbst kommen voneinander nie los. Darum genügt es auch, einen von ihnen im Leben weiter zu verfolgen. Er führt die Anlagen der beiden anderen mit sich, höchstens pflegt er eine ihm persönlich eigene Gabe besonders.

IV

Da ist Pierre, der dritte und Jüngste, ein Künstler wenn man will, aber hauptsächlich darin, daß er nichts wie andere Leute tut, so sagt seine Mutter. Er ist zerstreut, vergißt sich halbe Tage bei scheinbar unergiebigem Zeitvertreib, plötzlich aber arbeitet er Tag und Nacht. Gern hält er Leute zum besten. Dies soll ein tiefgehender Zug sein. Man kann nicht mit ihm verkehren, er hat auch nur absonderliche Freunde.

Lassen wir nun Pierre vermittels eines anderen Romans sich verwandeln in Jean, den Apostel der Anpassungsfähigkeit (Le Bon Apôtre). Dieser unterschiedslos überall am rechten Platz befindliche Herr hat von Pierre Durandeau mit bekommen Neugier, Zerstreutheit und den Zug, die Leute zum Narren zu halten, der hier allerdings tief geht, denn er bringt ihn auf fünf Jahre ins Gefängnis. Gleich nachher wird er Direktor einer Schiffahrtslinie, was eher Sache von Louis wäre. So hieß der älteste Durandeau, der ehrgeizige und tatkräftige. Der Mittlere, Emile, spielte im Leben hohes Spiel, das kann auch dieser Jean, denn er sucht die Gefahr. Wenn das Leiden ein stärkerer Anreiz als das Spiel wäre, er zöge das Leiden vor. Er hat es im Gefängnis ausprobiert. Aber »spielen ist gefährlich, leiden macht trotz allem nicht viel aus«.

Übrigens beunruhigt er seine Gegner lieber, als daß er sie wirklich täuscht oder hineinlegt. Er beobachtet sie lieber, als daß er an ihnen verdient. Das verrät seine psychologische Natur. Bei großen Erfolgen ist er doch kein sehr zielsicherer Geschäftsmann. Wie kommt es, daß diese Soupaultschen Geschäftsmänner den Eindruck von Amateuren machen? Eine endgültig gesicherte Stellung traut man ihnen nicht zu. Sie sind darin richtig und echt. Der Geschäftsmann dieser Zeit macht allgemein den Eindruck. Im Fall des sogenannten Jean, Direktors einer Schiffahrtslinie, ist der Grund nicht erst darin zu suchen, daß er immer öfter verreist, besser gesagt: durchbrennt und in einem weitentfernten Palace, ohne auszugehen, sich der Lektüre ergibt. Auch die eintretende Müdigkeit entscheidet nicht, obwohl ein Mann der Tat sich etwas vergibt, wenn er zwischen mehreren unbegründeten Begierden oder Neugierden nicht mehr wählen kann. Schlimmer ist aber, daß er das Befehlen nicht liebt

Er gewinnt dem Leben in der menschlichen Gesellschaft ausgezeichnete Lehren ab. »Ich liebe es, wenn jemand so ist, daß er einfach und wie von selbst seinen Namen und seine Meinung durchsetzt, denn das bedeutet Genie und Glück zugleich. Die Männer und die Frauen, die ›Erfolg haben‹, eignen sich eben dabei, ob absichtlich oder nicht, unverfälscht oder nicht, alle die Vorzüge an, von denen er abhängt.« Gleichzeitig gesteht Jean aber, daß er daraus für sich kein Kapital schlägt. »Ich ziehe zu spielen vor. Spielen heißt: nicht wählen.« Es bedeutet daher: Unentschiedenheit und Gewährenlassen der höheren Mächte – so klug man auch ist, ja, gerade aus zuviel Klugheit. Erklärt Direktor Jean nicht hier die Schwäche seiner Zeit und seiner Generation? Weshalb dies Geschlecht, von eigenen Kühnheiten berauscht, sich gleichzeitig doch den Mächten der Wirtschaft blind unterwirft, ja, sich politische Diktatoren gibt?

V

Die Energie von 1920 bis 1930 und eines Menschen wie Jean! Er ist zu klug, sie selbst ganz ernst zu nehmen. Es gelingt ihm nicht mehr zu glauben, daß wirklich viel geschieht, wenn er viel handelt. Infolge seiner einsamen Telefongespräche erheben sich in der Ferne Häuser, die Schiffe fahren, und Existenzen werden umgewälzt. Manchmal schwelgt er dann auch im Machtgefühl. In anderen Tagen fühlt er sich höchstens als Boxer, der mit seinem Schatten kämpft – nur mit seinem eigenen Schatten. Dennoch ist es eine sportliche Leistung. Das Handeln, die Energie haben einen einzigen sicheren Wert: den sportlichen. Der Sport wieder hat den geheimen Zweck, uns selbst dahinter zu verbergen.

VI

Die Väter dieses sonderbaren Sportsmannes, unser aller Väter, nahmen die Tätigkeit sowohl sozial als persönlich ernst. Sie arbeiteten geduldig durch Jahrzehnte an ihrem Wohlstand, indes sie zugleich am öffentlichen Wohl zu arbeiten glaubten. Sie waren überzeugt, daß ihre Tatkraft in der Welt etwas bewege. Sie hatten niemals das Bedürfnis, sich über ihr Handeln lustig zu machen, um außer den Vorteilen des Handelns auch noch vom Witz den Genuß zu haben. Sie ackerten nicht mit allen Pferden und waren nicht mit allen Hunden gehetzt. Bedachtsamkeit und Verantwortung galten ihnen als Gebote jedes erlaubten Tuns. Schnelligkeit und Rausch wären ihnen tief verdächtig erschienen, sie hätten nicht an die Dauer dieser Haltung geglaubt. Sie hätten auch recht gehabt. Die Energie als Genußmittel erschöpft sich bald. Diesen Jean befriedigen, wie viele andere seiner Zeitgenossen, noch nicht einmal die größten der geschäftlichen Wagnisse. »War er Sammler? War er Snob?« Der vielzerstreute Weltmann, immer »anderswo«, wie einst in der Schule, als man nicht aufpaßte, er erhält sich nur in Betrieb, aber er wünscht nichts, ihm schmeckt nichts.

Allmählich gewöhnt er sich an die Literatur als an ein Mittel, allenfalls noch zu genießen, wenn die Energie nichts mehr bietet. Genug, das kann nicht dauern. Nach so vieler Unrast, so vielen vorübergehenden Fluchtversuchen verschwindet er endgültig. Sein Freund Philippe Soupault bekommt von ihm eine Karte aus Kanada, ein großer starker Mann steht einfach gekleidet vor einem Blockhaus, lächelt und raucht. Das war er, einst Geschäftsmann, Weltmann, Literat, aber auch jetzt erst 30 Jahre alt. Sein gleichaltriger Freund Soupault schreibt ihm einen Brief, auf den keine Antwort erfolgt. Wir bekommen keine Antwort, wenn wir an unsere eigene Vergangenheit, die doch nie aufhört, auch Gegenwart in uns zu sein, Fragen und Rufen richten. Philippe Soupault war ein Freund des Direktors Jean, sie beurteilten einander streng oder spöttisch. Jean machte sich zum Beispiel darüber lustig, daß sein eitler Freund behauptete, in seinem Geburtsort, nahe bei Paris, gebe es eine Place Soupault.

VII

Dies war einer. Es war der Energiemensch. Es war unter dem Namen Jean ein Gemisch aus Louis, Emile und Pierre, die ihrerseits die Auflösung ihres Freundes Soupault waren. Jetzt wird er sich und sie alle mit Jean vereinen, um einen gewissen Julien hervorzubringen. So heißt der Held des Romans »Zielen!« Der Held des Romans »Das goldene Herz« dagegen hat kaum einen Namen, ist aber das Ergebnis aller vorigen Personen samt genanntem Julien. Kaleidoskop der durch einander Verwandelten! Es kommt immer nur darauf an, welche der vielen, in allen diesen Personen wirksamen Eigenschaften bei der neuen Person überwiegen und wohin sie aufbricht. Sie kann dann weit kommen. Jean hielt es mit der Energie. Julien wird darin trotz gutem Willen kein Champion. Ihn wandelt noch dunkel an, als sei auch er zum Handeln bestimmt gewesen. Jung beginnt er mit Sportfreudigkeit und in »moralischer Gesundheit«, er muß unausgesetzt tätig sein, daher auch viel denken. Aber wohin denkt er gar zu leicht? An den Tod. Er erlebt bezaubernde Jugendschmerzen, daraus aber geht hervor ein früher Greis voll Wunderlichkeiten. Wie er leicht und anmutig war, als er des Morgens 78 Übungen machte, nur um vor sich selbst Ruhe zu haben. Aber was Scherz und Leichtigkeit schien, nichts halten können, nichts im Leben fest wissen, nicht einmal, ob er selbst früher absichtslos jemand getötet hatte: ach, wenn sogar noch dies viel Anmut hatte, zuletzt wird alles bitter schlimm! Zuletzt tröstet einzig ein völlig unnützer Tag und ein unzweifelhaft zielloses Leben ihn über seine Mißgeschicke. Zu allerletzt, wenn es denn gesagt sein soll, bleibt dem Ziellosen als Zuflucht nur noch der Wahnsinn. Es wird nicht laut gesagt.

Dies ist der Ziellose. Hat auch ein Träumender kein Ziel? Er hat wohl kaum eins, hat aber auch wieder dies nicht, daß er keins hat. So kann er nicht einmal den Verstand verlieren. »Das Goldene Herz« atmet von allem den größten Reiz des Ungewissen, man könnte sagen, ein traurig-süßer »Taugenichts« von 1928. Der Held erinnert sich in einer Umgebung, die ihn nur als tote Dekoration umgibt, an einstige Träume, eine erträumte Frau, die leider dann wirklich wurde, worauf es mit ihr vorbei war. Genug, es ist vorbei, man landet in einer Villa, wo alle Träume der Gescheiterten zu Ende gehen. Man hatte sogar einen Namen. Einmal im Buch ist er, wenn die Erinnerung nicht trügt, genannt.

VIII

Der Träumende liebte eine Frau. Man wird es so nennen müssen, obwohl von allen diesen Personen sonst zwar jede Neugier, auch die erotische, sofort befriedigt, die Langeweile mit allen Mitteln, auch denen des Lasters, bekämpft – aber verzweifelt wenig geliebt wird. Die Brüder Durandeau, zwei von ihnen hatten denselben »Geschmack«. Ihre Herzen glichen sich darin, daß sie unbeteiligt blieben. Es waren die vernünftigen, aufgeklärten Herzen unserer Zeitgenossen. Der Energiemensch Jean fand ohnedies keine Zeit zu lieben. Dieser hatte sogar das Wort verlernt, das doch überall länger dauert als die Sache. Hingegen versuchte sich Julien, wie in Sport und Hygiene, auch bei den Damen. Man behält den Eindruck, daß es mehr darum geschehen ist, weil doch der Jugend die Welt gehört. Tatsächlich war er bei seiner kleinen Freundin nur zerstreut, und als er eine verheiratete Frau haben und behalten konnte, verließ er sie, – es heißt, aus Anständigkeit. Man begreift nur, daß ihm auch hier nichts in Händen bleibt. Hingegen liebt der Träumende: gerade er. »Goldenes Herz, einsames Herz«, dies vorgebliche Sprichwort steht doch über seiner Geschichte! Der Träumende liebt selbstvergessen. Er reist in das Ungewisse, voll des Traumes von einer Frau, die vor ihm herfährt. Nicht erwachen! Sie in Wirklichkeit nie einholen! So ließe sich neben den anderen zahllosen Arbeiten des universellen Sports, der Leben heißt, auch noch lieben. Nur nicht erwachen!

Das Wachen erlaubt dieser Schar mitlebender Personen keine volle Liebe, weil es ihnen nur wenig Illusion läßt. Sie täuschen sich nicht über ihre Energie, nicht über die Wirklichkeit, und die Spur, die sie auf ihr hinterlassen werden. Wären sie ihrer eigenen Einheitlichkeit und der Einheitlichkeit auch nur einer einzigen Lebensstunde gewiß, sie könnten vielleicht glauben, daß gerade diese Eine ihre Geliebte ist. Aber ach, sie bestehen aus vielen Personen, jede aus vielen, und welche von den vielfältigen anderen könnten sie lieben auf ihrer ewigen Flucht. Immer nur fliehen, und alles flieht durcheinander, was wird dabei aus der Liebe!

Ein Dichter ist immer noch etwas reicher als alle seine Personen zusammengenommen. Er ist auch glücklicher als sie; sein Vorzug vor ihnen ist, daß er sie erschafft, und daß er sich nicht vergrößern, sondern verkleinern muß, um seine Zeitgenossen Pierre und Jean zu gestalten. Von ihnen freilich hinterläßt der Dichter das Bild, daß sie zwar keine Liebenden sind, sich aber in geradezu verdienstvoller Weise manchmal als Liebende versuchen. Ohne Gelassenheit, ohne Freude und frei von Illusionen, sich dennoch mit allem, was es gibt, zu beschäftigen, ist entschieden tapfer. Es wird heißen, daß jetzt tapfere Leute gelebt haben. Vor hundert Jahren die Weltschmerzler, die gleichfalls nach gesellschaftlichen Katastrophen auftraten, gingen weichmütig mit sich um: diese nicht. Auch den Verzicht auf Liebe wollen sie nicht als Opfer bewertet wissen, nur als gegebene Tatsache ihrer Natur. Sie kennen, was sonst eher weiblich wäre, von sich selbst nur das Gegebene, nicht, was zu fordern wäre. Daher kommt auch ihr weiblicher Reiz: die kindliche Unmoral, Beschränkung auf die Gegenwart und dieser Zauber für andere, nicht für sich selbst. Sie selbst mögen sich nicht – je mehr sie sich im Spiegel sehen. Sonst möchten sie auch das Leben und auch die Frauen.

IX

Sie wissen sich, wie sie sind, berechtigt, nur fühlen sie sich nicht am Platze – hier in diesem Europa, das ihresgleichen nicht verdient. Sie stellen zu dem herkömmlichen Menschen dieser Zone den Gegensatz auf. Sie suchen in der Art, sich zu bewegen, zu fühlen, zu handeln, ja, an Hautfarbe und Haar zu dieser Zone den genauen Gegensatz. Das wäre ein Neger. Ihre Freundschaft gehört daher dem Neger. Die entschlossene Durchführung gewisser Neigungen, denen sie sich nicht fremd glauben, würde sie vorteilhaft unterscheiden von ihren europäischen Vorgängern und sie dem Neger näher bringen. Verachtung der Moral; ungehemmter Mut; nichts wissen und verstehen wollen, aber die Gewalt nicht hassen. Sei ohne Erinnerungen, ja, eigentlich ohne Willen, denn der Wille ist nur ein Motor, – aber sei im Aufstand gegen Europa, das sittigende, hemmende Europa, und bediene dich seiner Zivilisation nur, um es umzubringen! Genau so handelt der schwarze Herr Edgar Manning in dem Roman »Der Neger«. Er tötet sogar wörtlich Europa, denn eine weiße Frau heißt so, und er tötet sie.

Erstaunliche Sympathien bekommen hier Gelegenheit, sich zu erklären. Besorgnis ist hier Genuß, wohl, weil in Wäldern voll Schlangen die Sicherheit unvorstellbar langweilig wäre. »Nichts hielt ihn, nichts zog ihn an«: so soll es sein. »Zentrum seines Lebens war die Gegenwart, die augenblickliche Minute.« So ist es fast schon geworden. Grausamkeit, o Freude! Hauptsächlich aber verachten, denn das gibt Mut. Das Wort Verachtung schon allein macht tapfer …; Wie schwer muß es einer Generation werden, das Leben zu bestehen, das die vorigen ihnen bereitet haben, wenn sie es nötig hat, sich Mut bei den Negern zu holen, nach Zügen, die den Negern verwandt wären, in sich zu suchen! »Nicht umsonst sind meine Haare kraus«, schrieb einer der Schriftsteller Westeuropas 1927, vergessen wir diese Mahnung nie.

X

Der Neger ist ihnen im Grunde gleichgültig, und kurz gesagt, sie flöhen nur gern die Welt, die der Krieg ihnen zurückließ, und damit sich selbst. Wenigstens haben sie solche Regungen der Ungeduld. Ein anderer Neger macht bei Soupault eine Forschungsreise nach Grönland. Der Neger in der Eiswüste, dies soll das Bild des jetzigen Menschen sein. Wie jetzt gelebt wird, ist negerhaft, und Herz und Leben sind Eiswüsten. So sieht man es an, obwohl man sachlich bleibt. Der Neger in der »Reise des Horace Pirouelle« findet dort oben zum Überfluß einen weißen »Greis« von vielleicht 40 Jahren, der sich nach begangenen Kriegsgreueln gegen Norden an den Rand der Welt zurückgezogen hat. Dies ist das furchtbare Schicksal: die Jugend verloren, Schandtaten hinter sich, und vor sich nur das Verzehren vieler Konserven zu haben, sonst nichts. Auch die Flucht war umsonst, das Alter folgt uns auf dem Fuß.

XI

Philippe Soupault spricht vom Alter und dem Altern, wie man heute davon spricht. Schon von den Durandeau sagte er zuletzt: »Das Alter naht sich ihnen. Seinen leisen, regelmäßigen Schritt, sie hören ihn kaum. In kindlicher Art trauern sie vielleicht über ein weißes Haar, über Rheumatismus. Ihnen wird wohl nie bewußt werden, daß der Tod hinter ihrem Kopfkissen steht.« Das ist sehr ernst, viel zu ernst für einen noch nicht Dreißigjährigen. Wer dachte in anderen Generationen so früh an den Tod und die anderen Übel, die ihm vorausgehen sollen? Diese jungen Leute sind imstande, bei gesundem Leibe ihr Testament zu machen. Sie sind schreckhaft, – nicht Wagnisse noch Gefahren können sie erschrecken, aber der Anblick von Greisen. Der Soupaultsche Jüngling versenkt sich in die Betrachtung eines der alten Menschen mit solchen Wonnen der Angst und des Hasses, daß er endlich eine Verwandtschaft zwischen sich selbst und dem Opfer der Jahre fühlt. »Sogar den so besonderen Geruch, der mit ihnen zieht, wage ich zu lieben …; Ihr Bart (alle tragen Bärte) ist ein Trauergewächs. Jeden Morgen (wie viele Morgen?) bürsten sie ihn und bringen dann zwecklos die Zeit hin, bis der Tod ihnen Kehle und Herz zuschnürt, sie erstickt und lähmt.«

Welch eine Sprache! Wie viele Aufschlüsse! Die Abneigung gegen den immer wieder genannten Bart, der scheinbar noch nicht fort ist, weil man ihn rasiert, hängt zusammen mit ihrer Todesfurcht. Jung und glatt aussehen! Denn die vorzeitige Verblödung könnte drohen. Wenn sie prahlen mit ihrer armen, kurzen Jugend, was besagt es hiernach? Das war nie zu hören in Zeiten des gesicherten Genusses von Leben und Jugend. Wäre es wieder nur Ausdruck derselben Unsicherheit, Unrast und geheimen Müdigkeit? Überlegen wir noch dazu die ausschließliche Gegenwärtigkeit dieser Jugend. Energieerfüllte Gegenwärtigkeit, wie sich versteht; aber überlegen wir sie – samt diesem merkwürdigen Widerwillen zurückzudenken, zu wissen, was vor wenigen Jahren war, und vergleichen zu lernen. Hinzu gehört ihre Unbekümmertheit um die Zukunft, die eigene und die des Ganzen, die sie am liebsten ihren Diktatoren überlassen möchten …; Es scheint, daß sie die Vergangenheit nicht einmal im Bilde mehr dulden wollen. Die Toten der historischen Theaterstücke mußten eine Zeitlang ihre Trachten ablegen und modern kommen. Nur keine alten Toten! Nur nicht erinnert werden! So ist es auch besser. Wozu in allem Unbehagen, aller schlecht unterdrückten Angst des eigenen Daseins auch noch erfahren wollen, daß Väter und Ahnen breit lachen und wahrhaft tief schluchzen konnten.

Der Ursprung so vieler Energie, so vieler Tapferkeit, wo liegt er eigentlich? Das junge Geschlecht eines Zeitalters setzt scharenweise sein Leben an technische Wagnisse ohne inneren Belang; bedenkenlos geben sie sich der Welt hin, sich selbst sind sie nichts. Sie wollen lieber mit ihrem Flugzeug aus der Höhe und der leeren Luft unmittelbar in den Tod stürzen, viel lieber das, als alt werden. An ihrer Energie hoffen sie nicht zu wachsen, sondern sich schnell zu verbrauchen, wie durch Rauschgifte. Es wird nicht allen gelingen, die meisten werden vernünftig werden und lange leben. Dann werden sie mehr als heute am Leben hängen, werden trotzdem den Tod unvergleichlich weniger fürchten als in ihrer Jugend, und an die vielgerühmte Energie, die einst die Todesfurcht verdrängen sollte, werden sie zurückdenken wie an Sturm und Drang. Dies wird das wohltätige Mißverständnis ihrer letzten Jahre sein.

XII

Was aber haben sie vollbracht? Wie planlos, bedingt und ungreifbar sie sich selbst erscheinen mögen, jeder Lebende hat zum Schluß doch etwas vollbracht. Er vertrat und hieß etwas, war mehr als Durch- und Übergang; und liebte er auch seine Persönlichkeit aufzulösen, weil sie ihn schmerzte, sie war doch einzig die seine.

Ein junger Mann dieser Tage, der 30 Jahre alt ist und schon 8 oder 9 Romane schrieb außer allem, was er noch sonst tat, bleibt dennoch unentschieden. Er weiß nicht, wofür er geschaffen ist und nicht einmal, als was. Mann der Tat? Lebensspieler? Weltflüchtig? Direktor? Dichter? Elegant? Neger? Revolutionär? Jedes könnte sein. Jedes war auch schon. Der Greis war, so gut wie das Kind. Nur Reife und Endgültigkeit bleiben außerhalb der Bahn. Er findet in sich zuviel Auswahl, in der Welt zu wenig Grenzen, nicht mehr die frühere Abgegrenztheit der Persönlichkeiten, Berufe, Nationen. Alle sind wie er, in Auflösung und unterwegs. Auch fehlt noch das Vertrauen in den Bestand einer Gesellschaft, deren vorige Erschütterung nachzittert bis in den Beginn der nächsten.

Es ist das erste Geschlecht von Europäern, die ersten, die es nicht nur sein wollen, nicht nur edle Wünsche und wohltuende Ansichten hegen über den bevorstehenden Weltbürger der Zeiten, die noch nicht da sind. Das war bequem. Nein, diese sind es wirklich, sind wirklich die viel beredeten Europäer. Sie in eigener Person haben unsere Sehnsucht zu büßen, denn wer eine Sehnsucht verwirklicht, büßt sie auch. Sie haben den von früheren herbeigerufenen Typ zu erleben, und die ersten vom neuen Typ leben schmerzensvoll. Sie sind die unsteten Träger von Versuchen, noch bleiben sie vereinsamte Vorläufer einer Welt, die ihnen schwerfällig nachzieht. Sie leben an den Rändern, und immer drängt es sie, noch weiter zu flüchten, nach Grönland, in den Wahnsinn, zum Geist einer anderen Rasse. Sie stehen viel aus, von ihnen darf die Menschheit nicht verlangen, daß sie ihr besonders geneigt seien. Sie lieben niemand, nicht einmal das Leben jeden Tag und nicht in der Frau sich selbst.

Was lieben sie? Die Bewegung offenbar, und in der Bewegung als Zweck allerdings sich selbst. Ihren Willen sogar kennen sie nur als Motor, einmal im Gang ist er schwer aufzuhalten. Man gleitet, das ganze Leben eine Fahrt im Tempo der Maschinen. Die Spannung bleibt übrig, wenn alles andere versagt. »Anderswo« sein; und da sie an jedem Ziel wieder nur sich selbst vorfinden können, lieben einige vom Reisen am meisten den Schlafwagen, den bequem eingerichteten Kasten, der schnell ist und in dem man anders schläft, beinahe ein anderer zu sein hofft. Der ungenannte größte Vorzug des Schlafwagens ist aber, daß er kaum länger als eine Nacht mit ihnen dahinrollt. Er veraltet daher nicht, und auch sie – ach, der Schlafwagen ist der Ort auf Erden, der einzige, wo sie nicht fühlbar altern.

Was lieben sie? Sie finden nicht viel zu lieben. Die Stelle der Liebe hat bei ihnen der Mut eingenommen. Sie kennen nicht nur den Mut des Rekordmannes; immerhin findet sich bei ihnen auch die Art des Mutes, der uns zu befreien wagt – von der ganzen Vergangenheit, Klasse, Familie, Geschichte, Herkunft. Wie sollten sie Vergangenheit und Alter nicht hassen und fürchten. Sie wären sonst niemals so mutig. Diese Pioniere setzen den Fuß an, überschreiten eine gedachte Grenze, und gehören schon einem Zeitalter ohne Erinnerungen, einer Zukunft, die noch Urwald ist. Sie übernehmen die ungeheuersten Pflichten und Verantwortungen, denn ihr Entschluß, der Entschluß einer geistigen Generation, besiegelt das Schicksal des Erdteiles. Aber sie sind leicht wie Springer. Sie fühlen sich sogar selbstherrlich; keine Ahnung berührt sie, daß sie einen folgenschweren, herrlichen Auftrag ausführen, mit dem Ziel des geeinten Europa, einer überaus straffen Zwangsorganisation. Keine Ahnung. Ihr Lied gilt der Freiheit.

Diesen jungen Europäern gebührt großer Dank, und man muß sie lieben, ohne daß sie es erwidern. Sie sind nicht nur, wie sonst die neuen Geschlechter, eine beliebige Zukunft; in ihnen wird erlitten die ganze noch erhoffenswerte, noch glaubhafte Zukunft dieses Kontinentes, der fast schon keine mehr hatte. Nach ihnen die europäische Gesundheit, die angepaßten, beruhigten Geschlechter und ein Europa, das vielleicht glücklich zu sein gelernt hat! Sie sind auch Brüder im Erleiden, ihrem frischgemuten, knabenhaften Erleiden – kennen einander über den ganzen Kontinent hin, verstehen einander auf den ersten Blick, auch ohne gemeinsame Sprache. Ihre Bücher, die Lebensschreie sind, zu übersetzen und denen mitzuteilen, die in ihnen sich selbst ermutigt finden können, ist nicht literarische Liebhaberei mehr allein, es ist Dienst an den Geistern und am Leben. Wie alles über die Landesgrenzen zum andern drängt! Welch eine Neugier, Aufgeschlossenheit, unbedingte Not des Gemütes nach dem andern Gemüt! …; Natürlich muß es Feinde geben, die das Übersetzen unserer europäischen Literatur in ihre einzelnen Sprachen verbieten möchten, gerade jetzt, da sie im Grunde dieselbe Sprache schreibt. Da es endlich anfängt, wieder ein gemeinsames europäisches Fühlen, wieder allgemein gültige Zeichen und Gesten zu geben! Die übersetzte Literatur handelt. Sie ist ein Mittel dieses um sein Leben kämpfenden Erdteils.

XIII

Wer sind Sie, Philippe Soupault, Sie selbst zum Unterschied von Ihren europäischen Freunden und im Vergleich mit Ihren Personen. Wollen Sie lieber handeln, lieber fühlen? Ganz fremd sein, oder spielen, oder fliehen? Nur Ihre Personen haben sich entschieden, nicht Sie. Von Ihren Durandeau sagten Sie, es seien »die Menschen«, daher Brüder. Sie hielten es demnach nicht für entscheidend, daß jemand in der Umgegend von Paris geboren ist, wo auch Sie selbst geboren sind. Dies schneidet für Sie nicht alle Fragen ab. Gewiß hat man dann Erinnerungen an einen geliebten Garten der Kindheit, an eine bestimmte Schule, an Freunde, die es für uns, für uns nur einmal gab. Gleichwohl ist Ihnen klar, daß Rechtsanwalt Louis Durandeau ausgezeichnet auch in Berlin seinen Weg machen würde. Sein spekulierender Bruder Emile schiebt, liebt und schwimmt im Leben dieser Tage, wie jeder seinesgleichen im Westen unserer Hauptstadt. Der dritte, ein Künstler, ist nicht gewöhnlich hier – vor allem, weil er noch Geld hat. Pierre erscheint aber auch in seinem Lande außerordentlich durch seine Gegensätze, heiß und kalt, jetzt Passivität und Einsiedelei, jetzt höchste Kraftentfaltung. Dagegen seine Fehler, die seiner Familie: Heftigkeit und Ironie? damit wissen auch wir Bescheid. Vielleicht war das einst nur französisch.

Sich selbst persönlich legen Sie in Ihrer Autobiographie, die Sie »Geschichte eines Weißen« nennen, andere Schwächen bei: kein Ernst, kein Sinn für Respekt, eher Leichtsinn. Wenn alles wahr wäre, sind dies nur Anzeichen, daß Sie trotz allem zu den Glücklichen gehören. Werden Sie nicht gerettet durch Ihren Enthusiasmus? Sie bekennen sich zu der höchsten und der zärtlichsten Geistesfreundschaft für einen längst Verstorbenen. Das gibt immer den Ausschlag, sich begeistern zu können, Freundschaft fühlen zu können, ja, Treue zu bewahren. Wo das ist, sind wir alle zu Hause. Die deutsche Treue kommt in Gestalt der französischen Loyalität wirklich vor, müssen Sie wissen, und diese vielleicht wirklich in jener. Was die sogenannten Fehler betrifft, sind es genau die Eigenschaften unserer beiden großen Städte. Ihre Bewohner haben sie zum Leben nötig: den Leichtsinn, weil der Schwere dort untergeht, die Heftigkeit, damit in den zahlreichen entscheidenden Augenblicken des Lebens kein Rest an Kraft ungenutzt bleibt, und die Ironie als den kürzesten Ausweg, Eindrücke zu überwinden.

XIV

Sie haben das Temperament des europäischen Großstädters, sind persönlich treu mit Freiwilligkeit und Anmut; und das eigentlich Französische an Ihnen ist das Klima Ihrer Geistigkeit, tue Leidenschaftlichkeit, mit der Sie geistig sind.

Ihre zu genauen Erinnerungen sind Ihnen oft lästig. Sie möchten sie abstreifen. Dennoch erhielten Sie sich immer, so verschiedene Gesichter Ihr Leben schon annahm, den zuerst empfangenen Begriff der Reinheit, jener Unabhängigkeit vom Leben selbst, jener tapferen Unerbittlichkeit im Innern bei allem äußeren Verzicht, aller Anpassung. Sie handeln nach Ihrem Kopf, und wenn Sie sich bezichtigen, Versprechen nicht durchaus einzuhalten, so unterlassen Sie es nur, weil es zu leicht wäre. Statt dessen wagen Sie für einen anderen, gerade wenn Sie ihm nichts schulden, den kühnsten Versuch, an den er selbst nie gedacht hätte. Sie glauben statt seiner an den Erfolg und bleiben dabei, bleiben treu. Es ist, als hätten sie gewettet. Bei gewöhnlichen Unterredungen über Geschäfte können sie ausnahmsweise einen Eindruck machen wie nicht dazugehörig, sogar wie bestraft. Am Abend aber nach Ihren vielen schnellen, schlanken Bewegungen durch die Stadt und Ihre Angelegenheiten schreiben Sie. Wohl sagen Sie, das sei Ihre Schwäche. Sie sagen, nur die Poesie achteten Sie. Ist es so, weil ein Gedicht Sie in einem Augenblick der Unendlichkeit annähert, der Roman erst in langen Tagen? Ihr Geist soll sich an die Unendlichkeit verlieren, aber im Augenblick. Sie wollen nur im Augenblick leben, aber unendlich. Ihren Romanen geht zuweilen sichtlich die Geduld aus, nur Prosa zu sein, sie möchten schimmern als Inseln, wie Gedichte es vermögen. Vergessen Sie nicht, daß Ihr Gedicht an die Freiheit in Prosa ist! Es beginnt: »Freiheit, die ich will, Freiheit, nach der ich krank bin und die mich quält und mich tötet, wie der Durst, wenigstens einmal im Leben möchte ich dein Gesicht erblicken. Einmal, und ich wäre zufrieden.« Aber es schließt mit der Anrufung des Todes, denn Tod und Freiheit seien Geschwister.

Sie behaupten, Ihr Drang, frei zu sein im Handeln und im Denken, gehe bis zur Tyrannei und bis zur Zerstörung. Sie wissen dies klarer als viele junge Zeitgenossen, – die auch hauptsächlich frei sein möchten von sich selbst, dieser überkommenen Beschränkung ihrer Persönlichkeit, Nationalität und Erde. Hinaus und hinan! Nur dafür stürzen alle sich ins Gedränge. So, Soupault, sehe ich Sie schnell, leicht und mit erhobener Hand über einen Platz in Paris gehen. Die Autos stürmen von allen Seiten auf Sie ein. Sie erheben die Hand und kommen ohne Aufenthalt hindurch.


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