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Es gibt Augenblicke, in denen das Gemüt, besonders junger Leute, so gestimmt ist, daß ein klein wenig Bitten hinreicht, alles von ihm zu erlangen, was einen Anschein von Gutem und von Aufopferung hat; so wie eine kaum aufgebrochene Blume auf ihrem schwachen Stengel linde schwankt und ihre Wohlgerüche willig dem ersten Lüftchen hingibt, das sie leicht umweht. Diese Augenblicke, die andere mit scheuer Ehrfurcht bewundern sollten, sind gerade diejenigen, die die eigennützige Verschlagenheit sorgfältig erspäht und im Fluge wahrnimmt, um einen unbewachten Willen zu fesseln.
Sowie der Fürst *** diesen Brief las, sah er sich alsbald den Weg zu seinen alten und unausgesetzten Absichten eröffnet. Er ließ Gertrude sagen, sie solle zu ihm kommen; und derweil er sie erwartete, schickte er sich an, das Eisen zu schmieden, so lange es heiß war. Gertrude erschien, warf sich ihrem Vater zu Füßen, ohne die Augen zu seinem Angesicht zu erheben und war kaum imstand zu sagen: »Verzeihung!«
Er bedeutete sie, sich zu erheben; aber mit einer Stimme, die wenig geeignet war, zu ermutigen, versetzte er, daß es nicht genüge, Verzeihung zu wünschen und zu begehren, denn dies sei bei jedem, der für schuldig gefunden worden und die Strafe fürchte, etwas nur allzu Leichtes und Natürliches; man müsse sie, mit einem Worte, auch verdienen. Gertrude fragte unterwürfig und zitternd, was sie zu tun habe? Hierauf antwortete der Fürst, das Herz erlaubt uns nicht, ihm in diesem Augenblick den Namen Vater beizulegen, nicht geradezu, sondern hob an, sich über Gertrudens Vergehen zu verbreiten; und diese Worte brannten in die Seele der Ärmsten, wie wenn eine rauhe Hand über eine Wunde hinstreift. Er sprach ferner, daß, wenn er auch ... gesetzt, daß er irgend je zuvor ... die Absicht gehabt hätte, sie für den weltlichen Stand zu bestimmen, sie dem jetzt selbst ein unübersteigliches Hindernis entgegengestellt habe; denn ein Edelmann, der wie er auf Ehre halte, werde nimmermehr das Herz haben, einem Ehrenmanne ein Fräulein zuzusagen, das sich also aufgeführt. Die Unglückselige Zuhörerin war vernichtet; nunmehr milderte der Fürst nach und nach Ton und Rede, fuhr fort zu sagen, daß jedoch für jeden Fehltritt ein Hilfsmittel und Erbarmen da sei, daß der ihrige derart, wofür das Mittel deutlicher angegeben, daß sie in diesem traurigen Falle gleichsam eine Mahnung sehen müsse, wie das weltliche Leben für sie allzu gefahrvoll ...
»Ach ja!« rief Gertrude, von Furcht durchbebt, von Scham vorbereitet und in dem Augenblick von einem Anfall von Zärtlichkeit bewegt.
»Ah! du siehst es selbst ein,« begann der Fürst gleich wieder. »Nun denn, so sei vom Vergangenen nicht mehr die Rede; alles ist vergessen. Du hast den einzigen, ehrenvollen, schicklichen Entschluß ergriffen, der dir übrigblieb; aber da du ihn aus freiem Willen und mit Anstand ergriffen hast, so kommt es mir zu, es so einzurichten, daß er durchaus günstig für dich ausschlage; es kommt mir zu, alle Vorteile und alles Verdienst desselben dir zuzuwenden. Ich nehme die Sorge dafür auf mich.«
Indem er dies sagte, schellte er mit einer Klingel, die auf dem Tische stand, und $u dem Diener, der eintrat, sprach er: »Die Fürstin und der junge Prinz sollen kommen«, worauf er zu Gertrude fortfuhr: »Ich will sie auf der Stelle des Trostes teilhaft machen; ich will, daß alle ungesäumt anfangen, dich zu behandeln, wie es sich gebührt. Du hast den gestrengen Vater ein wenig kennen gelernt; aber hinfort sollst du den ganzen liebenden Vater vor dir haben.«
Bei diesen Worten stand Gertrude wie betäubt da. Bald bedachte sie, wie doch nur dies Ja, das ihr entschlüpft war, so viel habe bedeuten können; bald forschte sie nach, ob es irgendwie zurückzunehmen, dem Sinne nach zu beschränken sei; aber die Überzeugung des Fürsten war so vollkommen, seine Freude so eifrig, seine Güte so bedingt, daß Gertrude nicht ein Wort zu äußern wagte, das sie im mindesten hätte stören können.
Die beiden Gerufenen kamen alsbald dazu und blickten sie, wie sie Gertrude hier sahen, zweifelhaft und staunend an. Aber der Fürst sagte mit heiterem, liebreichem Wesen, das ihnen ein gleiches vorschrieb: »Hier ist das verirrte Schaf; und dies sei das letzte Wort, das eine traurige Erinnerung zurückrufe. Hier ist der Trost der Familie. Gertrude braucht keinen Rat mehr. Was wir zu ihrem Besten wünschten, hat sie aus freien Stücken gewollt. Sie ist entschlossen, sie hat mir zu verstehen gegeben, daß sie entschlossen ist ...«
Bei diesem Schritte schlug sie einen halb erschrockenen, halb flehentlichen Blick zum Vater empor, wie um ihn zu bitten, einzuhalten; aber er fuhr unbedenklich fort: »daß sie entschlossen ist, den Schleier zu nehmen.«
»Brav! Schön!« riefen Mutter und Sohn einstimmig und eins nach dem anderen umarmte Gertruds, die diese Bewillkommnungen mit Tränen annahm, die für Tränen der Zufriedenheit ausgelegt wurden.
Nun ließ sich der Fürst weitläufig darüber aus, was er tun werde, um das Schicksal der Tochter froh und glänzend zu gestalten. Er sprach von den Auszeichnungen, die ihr im Kloster und im Orte widerfahren würden, wie eine Fürstin, die Stellvertreterin der Familie, würde sie daselbst leben; sobald ihr Alter es nur gestatte, werde sie zur ersten Würde erhoben werden; und inzwischen werde sie nur dem Namen nach untergeben sein. Die Fürstin und der junge Prinz wiederholten Glückwünsche und Lobsprüche einmal über das andere; Gertrude war wie in einem Traum befangen.
»Man wird nun auch den Tag bestimmen müssen, um nach Monza zu gehen und das Gesuch bei der Äbtissin anzubringen,« sagte der Fürst. »Wie sie sich freuen wird! Ich sage euch, das ganze Kloster wird die Ehre zu schätzen wissen, die Gertrude ihm erzeigt. I, warum gehen wir nicht noch heute hin? Gertrude wird gern ein wenig Luft schöpfen.«
»So laßt uns aufbrechen«, sagte die Fürstin.
»Ich will gleich Befehl geben«, sprach der junge Prinz.
»Aber ...« ließ sich Gertrude halblaut vernehmen.
»Still, still!« hob der Fürst wieder an. »Lassen wir sie entscheiden; vielleicht fühlt sie sich heute nicht aufgelegt genug dazu und möchte lieber bis morgen warten. Sprich, willst du, daß wir uns heute oder morgen hinbegeben?«
»Morgen«, versetzte mit schwacher Stimme Gertrude, der es vorkam, als tue sie schon etwas, wenn sie ein wenig Zeit gewinne.
»Morgen,« sagte der Fürst feierlich; »sie hat bestimmt, daß es morgen geschehe. Indessen gehe ich zum Nonnenvikar und ersuche ihn, daß er mir einen Tag zur Prüfung ansetze.«
Gesagt, getan. Der Fürst entfernte sich und begab sich wirklich, was keine geringe Herablassung war, zu dem genannten Vikar, der ihm auf übermorgen zusagte.
Den ganzen übrigen Tag lang hatte Gertrude nicht zwei Minuten Ruhe. Sie hätte ihr Gemüt gern von so großen Bewegungen sich erholen, ihre Gedanken sozusagen sich läutern lassen, hätte von dem, was sie getan, von dem, was sie zu tun, sich selbst gern Rechenschaft abgelegt, hätte gern gewußt, was sie wollte, einen Moment die Maschine ausgehalten, die, nicht sobald in Gang gebracht, sich in solcher Hast fortbewegte: aber es war in keiner Weise tunlich. Die Beschäftigungen folgten ununterbrochen aufeinander, griffen eine in die andere ein.
Nach jener feierlichen Unterredung wurde sie in das Kabinett der Fürstin geführt, um daselbst, unter ihrer Leitung, von der Hand ihrer eigenen Kammerfrau umgekleidet, geschmückt zu werden. Noch hatte man nicht völlig die letzte Hand daran gelegt, so kam die Meldung, daß angerichtet sei. Gertrude schritt durch die Verbeugungen der Diener hin, die sich der Heilung wegen Glückwünsche zuwinkten, und traf einige der nächsten Verwandten an, die man in der Eile eingeladen hatte, um ihr Ehre anzutun und sich mit ihr der zwiefachen guten Nachricht von der wiederhergestellten Gesundheit und dem erklärten Berufe zu erfreuen.
Die junge Braut, so nannte man die angehenden Nonnen, und Gertrude ward bei ihrem Erscheinen von allen mit diesem Namen begrüßt, die junge Braut hatte genug mit Beantwortung der Höflichkeiten zu tun, die ihr erzeigt wurden. Sie fühlte recht wohl, daß jede dieser Antworten gewissermaßen eine Annahme, eine Bestätigung war; aber wie hätte sie eben anders antworten sollen? Nach aufgehobener Tafel währte es nicht lange, da kam die Stunde der Spazierfahrt. Gertrude stieg in einen Wagen mit der Mutter und zwei Oheimen, die mitgespeist hatten. Nachdem man eine gewöhnliche Tour gemacht, gelangte man auf die Marinastraße, die damals den Raum durchschnitt, den jetzt die öffentlichen Gärten einnehmen, und der Versammlungsort war, wohin die Vornehmen zu Wagen kamen, um sich von den Beschwerden des Tages zu erholen.
Die Oheime sprachen viel mit Gertrude, wie es an diesem Tage herkömmlich war, und einer von ihnen, der mehr als der andere jedermann, jeden Wagen, jede Dienertracht kannte, und aller Augenblicke bald von diesem Herrn, bald von jener Dame etwas zu sagen wußte, unterbrach sich mit einmal und sprach zu der Nichte gewendet: »Ach, kleine Schelmin! du stößt alle diese Nichtigkeiten mit den Füßen von dir; du bist mir die Rechte; läßt uns arme Weltleute in der Verwirrung sitzen, beginnst ein gottseliges Leben zu führen und fährst in der Kutsche zum Paradies ein.«
Mit der Dämmerung fuhr man nach Hause zurück, und die Diener, welche mit Doppelfackeln herabeilten, meldeten, daß viele Besuche zugegen wären. Das Gerücht hatte sich verbreitet und Verwandte und Freunde kamen, ihre Schuldigkeit zu erfüllen. Man trat in den Saal zu der Gesellschaft. Die junge Braut wurde deren Abgott, deren Spielwerk, deren Opfer. Ein jedes nahm sie für sich in Anspruch; das ließ sich Zuckerwerk versprechen, jenes sagte Besuche zu, eines sprach von der Mutter so und so, seiner Verwandten, eines von einer anderen, seiner Bekannten, der lobte das Klima von Monza, der unterhielt sie mit großem Wohlgefallen von der ersten Würde, die sie daselbst zu bekleiden haben sollte. Andere, die der also belagerten Gertrude noch nicht hatten nahen können, lauerten auf die Gelegenheit, sich vorzudrängen und empfanden ordentliche Gewissensbisse, bis daß sie ihrer Obliegenheit Genüge geleistet. Nach und nach ging die Versammlung wieder auseinander: alle schieden ohne Leidwesen, und Gertrude blieb mit den Ihrigen allein.
»Endlich,« sagte der Fürst, »habe ich die Genugtuung gehabt, meine Tochter ihrem Stande gemäß behandelt zu sehen. Das muß man aber gestehen, daß auch sie sich vortrefflich aufgeführt und gezeigt hat, daß sie nicht verlegen sein wird, die erste Rolle zu spielen und das Ansehen der Familie zu behaupten.«
Man aß geschwind zu Abend, um sich bald niederzulegen und morgen bei guter Zeit fertig zu sein.
Der betrübten, erbitterten und zugleich über die vielen Huldigungen des Tages ein wenig eitel gewordenen Gertrude fiel in diesem Moment ein, was sie von ihrer Kerkermeisterin gelitten hatte, und da sie den Vater so geneigt sah, ihr in allem, außer in einer Sache, zu Willen zu sein, so wollte sie das gute Glück, dem sie im Schoße ruhte, dazu benutzen, zum wenigsten eine der Leidenschaften zu befriedigen, die sie quälten. Sie äußerte darum eine große Abneigung, mit jener zusammen zu sein, und klagte höchlich über ihr Betragen.
»Wie!« sagte der Fürst; »hat sie es an Ehrerbietung gegen dich fehlen lassen? Morgen, morgen will ich ihr auf eine Art den Kopf waschen, daß sie daran denken soll. Laß mich nur machen, du sollst eine vollständige Genugtuung erhalten. Mittlerweile soll eine Tochter, mit der ich zufrieden bin, eine Person nicht um sich haben, die ihr mißfällt.«
Dies gesagt, ließ er eine andere Zofe holen, der er gebot, Gertrude zu bedienen, und indem nun diese von der empfangenen Genugtuung zehrte und sie kostete, verwunderte sie sich doch, daran im Vergleich mit der Sehnsucht, die sie danach getragen, so wenig Vergnügen zu finden.
Was, auch wider ihren Willen, sich ihres ganzen Nachdenkens bemächtigte, war das Gefühl der großen Fortschritte, die sie an diesem Tage auf dem Wege zum Kloster gemacht hatte, und der Gedanke, daß, um gegenwärtig noch zurückzutreten, bei weitem mehr Kraft und Entschlossenheit vonnöten sei, als wenige Tage früher hingereicht haben würde und sie dennoch nicht in sich gefühlt hatte.
Die Dienerin, die sie nach ihrem Zimmer begleitete, war eine alte Angehörige des Hauses, die schon Hofmeisterin des jungen Prinzen gewesen, den sie aus den Händen der Amme empfangen und bis zum Jünglingsalter aufgezogen hatte, setzte auf ihn ihre Hoffnungen und in ihn ihren Stolz. Sie freute sich der an diesem Tage gefällten Entscheidung, wie eines eigenen Glückes und so mußte Gertruds zum Beschlusse dieses Tagewerks noch die Glückwünsche, Lobsprüche und Ratschläge der Alten anhören. Sie redete ihr von gewissen ihrer Tanten und Großtanten vor, die sich überglücklich gefühlt, Nonnen zu sein, denn sie hatten sich, als aus diesem Hause, immer der höchsten Ehren erfreut und immer verstanden, eine Hand nach außen im Spiele zu behalten, so daß sie von ihrem Sprachzimmer aus in Unternehmungen Siegerinnen geworden, bei denen die größten Damen unterlegen waren. Sie erzählte ihr von den Besuchen, die sie zu empfangen hätte: es würde alsdann eines Tages der junge Herr Prinz mit seiner Braut kommen, die sicherlich eine vornehme Dame sein müßte, und da würde nicht allein das Kloster, sondern die ganze Stadt in Bewegung geraten. Die Alte hatte geschwatzt, während sie Gertrude entkleidete und zu Bette brachte; sie schwatzte noch, als Gertrude schlief. Die Jugend und Ermüdung waren stärker als die Sorgen, der Schlaf war beängstigend, unruhig, voll schwerer Träume gewesen; aber er ward erst von der quiekenden Stimme der Alten unterbrochen, die sie am frühen Morgen wachrüttelte, damit sie sich zu der Fahrt nach Monza rüste.
»Auf, auf, Fräulein Braut; es ist heller Tag, und wenigstens eine Stunde erforderlich, um Sie anzukleiden und zu schmücken. Die Frau Fürstin steht eben auf, und man hat sie vier Stunden früher als gewöhnlich geweckt. Der junge Herr Prinz ist schon im Marstall unten gewesen und wieder heraufgekommen und bereit abzureisen, wann es sei. Munter wie ein Häschen, der kleine Kobold! so war er doch von klein aus; ich kann es ja wohl sagen, da ich ihn auf meinen Armen getragen habe. Aber wenn er einmal auf den Beinen ist, darf man ihn auch nicht warten lassen, denn, wenn er gleich das sanfteste Geschöpf auf Erden ist, so wird er dann doch gar ungeduldig und lärmt. Der Ärmste! Man muß Mitleid mit ihm haben, sein Temperament ist nun einmal so, und diesmal hätte er vollends ein wenig Recht, weil er sich für Sie bemüht. Wer ihm in solchen Augenblicken zu nahe kommt, der sehe sich vor! Er trägt vor niemand Scheu, außer vor dem Herrn Fürsten. Aber eines Tages wird er der Herr Fürst sein; wenn auch so spät als es irgend möglich sein kann. Geschwind, geschwind, Fräulein! Was sehen Sie mich denn so wie verhext an? Sie sollten nun schon aus dem Neste sein.«
Bei der Vorstellung von dem ungeduldigen jungen Prinzen fuhren alle anderen Gedanken, die sich in dem ermunterten Geiste Gertrudens drängten, auf wie eine Schar Sperlinge beim Erblicken einer Scheuche. Sie gehorchte, kleidete sich eilig an, ließ sich schmücken und erschien im Saale, wo die Eltern und der Bruder versammelt waren. Sie mußte sich auf einen bequemen Armstuhl niederlassen, und es wurde ihr eine Tasse Schokolade gereicht, was zu jener Zeit ebensoviel war, als dereinst bei den Römern die Übergabe des männlichen Gewandes.
Als gemeldet ward, daß vorgefahren sei, zog der Fürst die Tochter beiseite und sagte zu ihr: »Wohlan denn, Gertrude! gestern hast du dir Ehre gemacht, heute mußt du dich selbst übertreffen. Es handelt sich darum, in dem Kloster und dem Orte aufzutreten, wo du bestimmt bist, die erste Rolle zu spielen. Sie erwarten dich.« – Es ist unnötig zu sagen, daß der Fürst tags vorher der Äbtissin Nachricht gegeben hatte. – »Sie erwarten dich, und aller Augen werden auf dich gerichtet sein. Würdig und unbefangen! Die Äbtissin wird dich fragen, was du begehrst: es ist eine herkömmliche Sache. Du kannst erwidern, du bätest um Erlaubnis, in diesem Kloster, wo man dich so liebreich erzogen, dir so viele Freundlichkeit bezeigt habe, was doch die lautere Wahrheit ist, den Schleier zu nehmen. Trage diese wenigen Worte auf ungezwungene Weise vor, damit man nicht etwa sage, sie seien dir in den Mund gelegt worden und du verstündest nicht für dich selbst zu reden. Die guten Mütter wissen vom Vorgefallenen nichts; es ist ein Geheimnis, das in der Familie begraben bleiben soll. Darum mache kein zerknirschtes und zweideutiges Gesicht, das irgend Verdacht erregen könnte. Gib zu erkennen, aus welchem Geschlecht du bist; anständig, bescheiden; aber eingedenk dessen, daß an diesem Orte, außer der Familie, niemand über dir steht.«
Ohne Antwort abzuwarten, brach der Fürst auf, Gertrude, die Fürstin und der junge Prinz folgten ihm die Treppe hinab und in den Wagen. Die Beschwerden und Verdrießlichkeiten der Welt, und das gottselige Klosterleben, insonderheit für Jungfrauen aus erlauchtem Blute, machten während der Fahrt den Gegenstand der Unterhaltung aus. Gegen das Ende des Weges hin erneuerte der Fürst der Tochter seine Unterweisungen und wiederholte ihr mehreremal die Formel der Antwort. Als sie in die Stadt einfuhren, fühlte Gertrude, wie sich ihr das Herz zuschnürte; aber ihre Aufmerksamkeit ward augenblicklich durch eine Anzahl, ich weiß nicht von was für Personen in Anspruch genommen, die den Wagen anhielten und ich weiß nicht was für eine Bewillkommnung vorbrachten. Als man sich wieder in Bewegung gesetzt, fuhr man langsamer dem Kloster zu, an den Blicken der Neugierigen vorüber, die von allen Seiten auf die Straße herbeiliefen. Sobald der Wagen vor den Mauern, vor der Pforte stillhielt, schnürte es Gertruds das Herz noch weit enger zu. Man stieg zwischen zwei Volkshaufen aus, die die Dienerschaft zurückwies. Alle auf die Ärmste gerichteten Augen nötigten sie in jedem Moment über ihre Haltung zu wachen; aber noch mehr, als jene alle zusammen, legten ihr die beiden väterlichen Zwang auf, denen sie, wiewohl sie sich vor ihnen so sehr fürchtete, nicht umhin konnte, die ihrigen unablässig zuzuwenden.
Und eben diese Augen beherrschten ihre Gebärden und Mienen wie mittels unsichtbarer Zügel. Man gelangte durch den ersten Hof in den zweiten und hier zeigte sich die innere Klosterpforte weit offen und ganz mit Nonnen besetzt. In erster Reihe die Äbtissin von den ältesten umgeben; dahinter andere Nonnen durcheinander, einige auf den Fußspitzen, zuletzt die Laienschwestern auf Schemeln stehend. Auch sah man hin und wieder zwischendurch ein paar Äuglein leuchten, einige junge Gesichtchen unter den Kutten zum Vorschein kommen; es waren die behendesten und kecksten Kostgängerinnen, die, von Nonne zu Nonne sich vordrängend und schleichend, es so weit gebracht hatten, sich ein wenig Luft zu machen, um auch ihrerseits etwas zu sehen. Aus diesem Gedränge erscholl ein beifälliges Zurufen; man sah zum Zeichen der Bewillkommnung und des Frohlockens viele Arme ausgestreckt. Man erreichte die Pforte. Gertruds stand der Mutter Äbtissin gegenüber. Nach den ersten Begrüßungen fragte diese sie mit halb freudigem, halb feierlichem Tone, was ihr Begehren an diesem Orte sei, wo ihr niemand etwas abschlagen könne.
»Ich bin hier ...« hob Gertruds an, aber im Begriff, die Worte auszusprechen, die ihr Geschick fast unwiderruflich entscheiden sollten, zögerte sie einen Moment und heftete die Augen fest auf die Menge vor ihr. In diesem Augenblicke sah sie eine jener ihr bekannten Genossinnen, die sie mit halb mitleidsvoller, halb boshafter Miene betrachtete und zu sagen schien: »Ach! da ist sie doch in die Falle gegangen, die Großsprecherin!«
Dieser Anblick regte in ihrer Seele alle alten Gefühle lebhafter wieder auf, indem er ihr auch ein wenig von dem geringen alten Mut wiedergab, und schon suchte sie nach irgendeiner, von der ihr vorgeschriebenen abweichenden Antwort, als sie, wie um ihre Kräfte zu prüfen, den Blick zum Angesicht des Vaters erhebend, darin eine so düstere Unruhe, eine so drohende Ungeduld wahrnahm, daß sie mit derselben Schnelle, womit sie vor einem schreckbaren Gegenstande die Flucht genommen haben würde, fortfuhr: »Ich bin hier, um die Erlaubnis zu bitten, in diesem Kloster, wo ich so liebreich erzogen worden bin, den Schleier zu nehmen.«
Die Äbtissin versetzte sogleich, es sei ihr ungemein leid, daß in diesem Falle die vorgeschriebene Ordnung sie verhindere, eine unmittelbare Antwort zu erteilen, die von den gemeinsamen Wahlstimmen der Schwesterschaft abhänge und der die Bewilligung der Oberen vorangehen müsse. Jedoch kenne Gertrude zur Genüge die für sie an diesem Orte bestehenden Gefühle, um vorauszusehen, welcher Art die Antwort sein werde, und inzwischen sei dem keinerlei Vorschrift entgegen, daß Äbtissin und Schwesterschaft ihr das Vergnügen zu erkennen gäben, so sie über dies Begehren empfänden. Es erhob sich nun ein verworrenes Getöse von Glückwünschen und Beifallsbezeigungen. Es kamen alsbald große Becken voller Zuckerwerk, die zuerst der jungen Braut und dann den Eltern dargereicht wurden. Derweil einige der Nonnen sich um sie rissen, andere der Mutter, andere dem jungen Prinzen Artigkeiten sagten, ließ die Äbtissin den Fürsten ersuchen, an das Gitter des Sprechzimmers kommen zu wollen, wo sie ihn erwartete. Sie war von zwei älteren Schwestern begleitet und als sie ihn erscheinen sah, sagte sie: »Herr Fürst, um den Regeln zu gehorchen ... um einer unerläßlichen Förmlichkeit zu genügen, wie wohl in diesem Falle ... muß ich Ihnen doch sagen ... daß jedesmal, wenn eine Tochter darum ansucht, daß sie eingekleidet werde, ... die Superiorin, die ich unwürdigerweise bin ... verbunden ist, den Eltern zu wissen zu tun ... daß, wenn sie etwa ... dem Willen der Tochter Gewalt angetan hätten, sie in den Kirchenbann verfallen würden. Sie werden mich entschuldigen ...«
»Sehr wohl, sehr wohl, ehrwürdige Mutter. Ich lobe Ihre Genauigkeit; es ist nicht mehr als billig ... Aber Sie dürfen nicht zweifeln ...«
»O denken Sie, Herr Fürst ... ich habe der ausdrücklichen Pflicht gemäß gesprochen ... übrigens ...«
»Gewiß, gewiß, Mutter Äbtissin.«
Nachdem sie diese wenigen Worte gewechselt hatten, verneigten sich die zwei Sprechenden gegenseitig und trennten sich, als ob es beiden beschwerlich fiele, diese Unterredung fortzusetzen, indem ein jeder zu den Seinigen zurückkehrte, der eine nach außen hin, der andere von innen her an die Klosterschwelle.
»Nun denn,« sagte der Fürst, »so wird ja Gertrude bald Gelegenheit haben, der Gesellschaft dieser Mütter sich nach Gefallen zu erfreuen. Vorderhand dürfen wir ihnen nicht länger beschwerlich fallen.« Er gab also mit einer Verbeugung ein Zeichen, daß er aufbrechen wolle, die Familie setzte sich in Bewegung, die Höflichkeitsbezeigungen nahmen wieder ihren Lauf und man entfernte sich.
Auf dem Rückwege war Gertrude nicht sehr aufgelegt zu sprechen. Erschrocken über den Schritt, den sie getan hatte, beschämt über ihre Zaghaftigkeit, aufgebracht über die anderen und über sich, rechnete sie betrübt aus, was für Gelegenheiten ihr noch übrigblieben, nein zu sagen, und versprach matt und verworren sich selbst, bei dieser oder jener oder einer anderen gewandter und stärker zu sein. Aller dieser Gedanken ungeachtet, war sie jedoch keineswegs der Angst vor jener finsteren väterlichen Miene ledig, so daß wenn sie durch einen verstohlen auf sein Antlitz gerichteten Blick sich überzeugen konnte, daß keine Spur von Zorn mehr darin sei, wenn sie vielmehr sah, daß er sich äußerst zufrieden mit ihr bezeigte, sie sich schon glücklich pries und sich auf einen Augenblick ganz vergnügt fühlte.
Gleich nach der Ankunft lange Toilette, dann Mittagstafel, dann einige Besuche, dann Spazierfahrt, dann Gesellschaft, dann Abendtafel. Gegen das Ende derselben brachte der Fürst eine andere Angelegenheit aufs Tapet, die Wahl der Patin. So nannte man nämlich eine Dame, welche, von den Eltern dazu aufgefordert, die Hüterin und Begleiterin der jungen angehenden Nonne in der Zeit zwischen dem Gesuche und der Einkleidung ward, eine Zeit, die man mit Besuchen der Kirchen, öffentlichen Stätten, Gesellschaften, Landhäuser, Heiligtümer, kurz aller Merkwürdigkeiten der Stadt und Umgegend verbrachte, auf daß die jungen Personen, ehe sie ein unwiderrufliches Gelübde ablegten, wohl ansähen, was sie von sich stießen.
»Man muß auf eine Patin bedacht sein,« sprach der Fürst; »denn morgen wird der Nonnenvikar der hergebrachten Prüfung wegen kommen und gleich darauf im Kapitel Gertrude von den Müttern zur Aufnahme vorgeschlagen werden.«
Indem er diese Worte äußerte, hatte er sich der Fürstin zugewandt, und weil diese meinte, daß darin eine Aufforderung zu Vorschlägen liege, so begann sie: »Nun, da wäre ...« Aber der Fürst unterbrach sie: »Nein, nein, Frau Fürstin, die Patin muß vor allem der jungen Braut recht sein, und obwohl der allgemeine Gebrauch die Wahl den Eltern anheimstellt, so hat Gertrude doch so viel Einsicht, so vielen Takt, daß sie es schon verdient, wenn man mit ihr von der Regel abweicht.« Und hier fuhr er wieder mit der Gebärde eines, der eine absonderliche Gnade ankündigt, zu Gertrude fort: »Eine jede der Damen, die diesen Abend in der Gesellschaft anwesend waren, besitzt die erforderlichen Eigenschaften, um Patin einer Tochter unseres Hauses zu sein; eine jede, halte ich dafür, wird es sich zur Ehre anrechnen, die Auserlesene zu sein: wähle du.«
Gertrude fühlte wohl, daß die Wahl treffen eine neue Zustimmung sei; aber die Aufforderung erging so umständlich, daß alles Weigern wie Verschmähen und alles Entschuldigen als Undankbarkeit oder Verdrossenheit herausgekommen sein würde. Sie tat also auch diesen Schritt und nannte die Dame, die ihr diesen Abend zumeist gefallen, das heißt diejenige, die sie am meisten geliebkost, am meisten gelobt und auf jene trauliche, liebevolle, dringliche Weise behandelt hatte, die in den ersten Momenten einer Bekanntschaft eine alte Freundschaft vorstellen will.
»Die trefflichste Wahl!« rief der Fürst, der eben diese wünschte und erwartete. Ob nun durch List oder Zufall, es war so gekommen, wie wenn der Taschenspieler, indem er die Karten eines Kartenspiels an euren Augen vorübergleiten läßt, euch sagt, ihr sollt euch eine davon merken, und sie hernach errät; aber er hat sie eben dergestalt hingleiten lassen, daß ihr nur eine einzige gesehen habt. Jene Dame war den ganzen Abend über so viel um Gertrude bemüht gewesen, hatte sich so sehr mit ihr beschäftigt, daß diese ihrer Einbildungskraft hätte müssen Zwang antun, um an eine andere zu denken. Solche Zuvorkommenheit war denn auch nicht ohne Beweggrund: die Dame hatte seit langer Zeit die Augen auf den jungen Prinzen geworfen, um ihn zu ihrem Eidam zu machen: daher betrachtete sie die Angelegenheiten jenes Hauses wie ihre eigenen, und es war ganz natürlich, daß sie an der lieben Gertrude keinen geringeren Anteil als an ihren nächsten Verwandten nahm.
Am Morgen erwachte Gertrude mit dem Gedanken an den Prüfer, der da kommen sollte, und während sie noch darüber nachdachte, ob und wie sie diese so entscheidende Gelegenheit ergreifen könnte, um zurückzutreten, ließ der Fürst sie rufen. »Nun, Tochter,« sagte er zu ihr, »bis hierher hast du dich vortrefflich benommen: heute kommt es darauf an, das Werk zu krönen. Alles, was bis jetzt geschehen, ist mit deiner Einwilligung geschehen. Wenn unterdessen irgendein Zweifel, eine flüchtige Reue, jugendliche Grillen dir aufgestiegen wären, so hättest du dich erklären müssen; aber auf dem Punkte, wo die Sache gegenwärtig steht, ist es nicht mehr Zeit zu Kindereien. Der Ehrenmann, der diesen Morgen kommt, wird dir hunderterlei Fragen wegen deines Berufes vorlegen, und ob du ihn aus freiem Willen ergreifst, und warum, und was weiß ich? Wenn du mit Antworten zauderst, wird er dich wer weiß wie lange auf die Folter gespannt halten. Es würde eine Pein bis zur Ohnmacht für dich werden; aber es könnte auch ein anderer, weit ernsthafterer Schaden daraus entstehen. Nach all den öffentlichen Erklärungen, die geschehen sind, würde jedes auch noch so leise Zaudern, das man an dir wahrnähme, meine Ehre gefährden, könnte es glauben machen, ich hätte eine Leichtsinnigkeit deinerseits für eine feste Entschließung genommen, ich hätte ohne Kopf gehandelt, ich hätte ... was weiß ich? In diesem Falle würde ich mich in der Notwendigkeit befinden, zwischen zwei schmerzlichen Auswegen zu wählen; entweder zuzulassen, daß die Welt von meinem Betragen einen schlechten Begriff bekäme, ein Ausweg, der sich schlechterdings nicht mit dem verträgt, was ich mir selbst schuldig bin, oder den wahren Beweggrund deiner Entschließung zu enthüllen und ...«
Aber da er hier sah, daß Gertrude ganz Feuer und Flamme war, daß ihre Augen schwollen und das Antlitz wie die Blätter einer Blume in der einem Sturmwetter vorangehenden Schwüle sich zusammenzog, brach er von diesem Gegenstande ab und hob mit heiterer Miene wieder an:
»Nun, nun, es kommt alles auf dich, auf deine Einsicht an. Ich weiß, daß du deren viel besitzest und kein Kind bist, das eine gute Sache noch zuletzt verderben wird; aber ich mußte alle Fälle vorhersehen. Sprechen wir nicht mehr davon, und bleiben wir darin einverstanden, daß du mit Freimütigkeit auf eine Art und Weise antwortest, aus der dem Ehrenmanne keine Zweifel zu Kopfe steigen. So wirst du dich auch desto eher aus dem Handel ziehen.«
Und hier ging er, nachdem er ihr einige Antworten auf die mutmaßlichen Fragen eingegeben, auf die gewöhnlichen Redensarten von den Annehmlichkeiten und Genüssen ein, die Gertrude im Kloster bevorständen, und unterhielt sie damit so lange, bis ein Bedienter kam und den Prüfer anmeldete. Der Fürst wiederholte ihr in der Kürze die wichtigsten Ermahnungen und ließ, wie es vorgeschrieben war, die Tochter mit ihm allein.
Der Ehrenmann kam mit ein wenig schon vorgefaßter Meinung, daß Gertrude einen großen Beruf zum Kloster habe; denn so hatte ihm der Fürst gesagt, als er bei ihm gewesen war, um ihn einzuladen. Wohl ist es wahr, daß der gute Priester, der da wußte, daß das Mißtrauen eine der notwendigsten Tugenden in seinem Amte sei, den Grundsatz hatte, in dem Glauben an ähnliche Beteuerungen langsam vorzuschreiten und gegen Vorurteile sich zu hüten; aber sehr selten geschieht es, daß die zusichernden und bestimmten Worte einer irgendwie angesehenen Person nicht dem Gemüte dessen, der sie anhört, ihre Färbung mitteilen. Nach den gebührenden: »Mein junges Fräulein,« sprach er: »Ich komme, die Rolle des Teufels zu übernehmen, ich komme, in Zweifel zu ziehen, was Sie in Ihrem Gesuche für gewiß ausgegeben, ich komme, Ihnen die Schwierigkeiten vor Augen zu stellen und mich zu vergewissern, ob Sie dieselben auch wohl erwogen haben. Gestatten Sie, daß ich Ihnen einige Fragen vorlege.«
»Reden Sie,« versetzte Gertrude.
Der wackere Priester hub nunmehr an, sie in der gesetzlich vorgeschriebenen Form zu befragen. »Fühlen Sie in Ihrem Herzen einen freien, willigen Entschluß, Nonne zu werden? Sind nicht Drohungen oder Liebkosungen angewendet worden? Hat man von keinerlei Ansehen Gebrauch gemacht, um Sie dazu zu bewegen? Sprechen Sie ohne Rückhalt und mit Aufrichtigkeit mit einem Manne, dessen Pflicht es ist, Ihren wahrhaften Willen zu erkennen, um zu verhüten, daß Ihnen irgendwie Gewalt geschehe.«
Die wahre Antwort auf eine solche Frage stellte sich Gertrudens Geiste sogleich mit einer furchtbaren Augenfälligkeit dar. Um diese Antwort aber zu erteilen, mußte sie zu einer Erklärung schreiten, sagen, womit sie bedroht worden war, eine Geschichte erzählen ... Die Unglückliche floh erschrocken vor dem Gedanken zurück und beeilte sich, irgendeine andere Antwort aufzusuchen, die sie besser und schneller aus dieser Not erlöse.
»Ich werde Nonne,« sagte sie, ihre Verwirrung verbergend, »ich werde aus eigenem Antriebe freiwillig Nonne.«
»Wie lange ist es her, daß Sie diesen Gedanken hegen?« fragte der gute Priester wieder.
»Ich habe ihn immer gehabt,« erwiderte Gertrude, die nach diesem ersten Schritte dreister geworden war, gegen sich selbst zu lügen.
»Aber welches ist der Hauptbeweggrund, der Sie veranlaßt, Nonne zu werden?«
Der gute Priester wußte nicht, welch fürchterliche Saite er berührte, und Gertrude tat sich große Gewalt an, auf ihrem Antlitz nicht die Wirkung zu zeigen, die diese Worte in ihrer Seele hervorbrachten. »Der Beweggrund,« sprach sie, »ist, Gott zu dienen und die Gefahren der Welt zu meiden.«
»Sollte es nicht etwa ein Verdruß sein? Irgend ... verzeihen Sie mir ... eine Grille? Zuweilen kann eine vorübergehende Ursache einen Eindruck machen, der immer fortzubestehen scheint; doch wenn hernach die Ursache aufhört und der Sinn sich ändert, so ...«
»Nein, nein,« entgegnete Gertrude hastig, »die Ursache ist, die ich Ihnen gesagt habe.«
Mehr um seiner Schuldigkeit völlig Genüge zu leisten, als weil er es für nötig erachtete, beharrte der Vikar in seiner Nachforschung; Gertrude aber war entschlossen, ihn zu hintergehen. Abgesehen von dem Abscheu, den ihr der Gedanke erregte, jenen ernsten und würdigen Priester zum Mitwisser ihrer Schwäche zu machen, ihn, der so entfernt zu sein schien, so etwas von ihr zu argwöhnen, bedachte die Ärmste zwar, wie er wohl verhindern könne, daß sie Nonne würde; dies war aber auch die Grenze seiner Gewalt über sie und seines Schutzes. Sobald er gegangen war, mußte sie allein bei dem Fürsten verbleiben, und was sie dann in diesem Hause würde zu erdulden gehabt haben, davon hätte der wackere Priester nichts erfahren, oder dazu hätte er, wenn er es erfahren, mit all seinem guten Willen nichts weiter tun können als sie zu bemitleiden. Der Prüfer war früher müde zu fragen, als die Unglückliche zu lügen; und da er diese immer gleichförmigen Antworten hörte und keinen Grund hatte, an ihrer Aufrichtigkeit zu zweifeln, so änderte er endlich die Sprache und sagte, was er für das dienstlichste hielt, sie in dem guten Vorsatze zu bestärken. Er beglückwünschte sie darauf und empfahl sich.
Als er sich durch die Zimmer wieder entfernte, traf er den Fürsten, der zufällig an ihm vorbeizugehen schien, und wünschte ihm ebenfalls wegen der guten Stimmung Glück, in der er seine Tochter angetroffen habe. Der Fürst hatte bis dahin in sehr peinlicher Ungewißheit gestanden: bei dieser Äußerung atmete er auf, und, seine gewohnte ernste Haltung vergessend, lief er beinahe zu Gertrude, und strömte Lobsprüche, Liebkosungen und Versprechungen, mit einem herzlichen Frohlocken, mit einer großenteils aufrichtigen Zärtlichkeit über sie aus; also beschaffen ist es mit diesem Wirrsale des menschlichen Herzens.
Wir werden Gertrude in diesem ununterbrochenen Kreislaufe von Festen und Lustbarkeiten nicht nachfolgen; und ebensowenig die Gefühle ihres Herzens während dieser Zeit schildern: es würde eine allzu einförmige und dem schon Gesagten allzu gleiche Geschichte von Schmerzen und Unschlüssigkeit werden.
Die Anmut der Gegend, der Wechsel der Gegenstände, das Vergnügen des Herumschweifens im Freien, machten ihr den Gedanken an den Ort, wo sie endlich zum letztenmal für immer aussteigen sollte, um so verhaßter. Noch peinlicher waren die Eindrücke, die sie in den städtischen Gesellschaften und Festlichkeiten empfing. Der Anblick von Bräuten, denen man diesen Namen im alltäglichen, gebräuchlicheren Sinne gab, verursachte ihr unerträglichen Neid und Gram; und zuweilen ließ die Erscheinung irgendeiner anderen Person sie zu der Ansicht kommen, daß die allerhöchste Glückseligkeit darin liegen müsse, sich diese Benennung geben zu können. Zuweilen flößte ihr die Pracht der Paläste, der Glanz der Hausgeräte, das festliche Gewimmel und Geräusch der Gesellschaften eine solche Trunkenheit, eine solche Begierde, fröhlich zu leben, ein, daß sie sich selbst versprach, zu widerrufen, viel lieber alles zu leiden, als in die kalte, tödliche Nacht des Klosters wieder einzugehen. Aber alle diese Beschlüsse verrauchten bei ruhigerer Erwägung der Hindernisse, schon wenn sie die Augen auf das Antlitz des Fürsten heftete. Zuweilen machte ihr der Gedanke, daß sie auf diese Genüsse für immer verzichten solle, sogar den kleinen Vorgeschmack davon bitter und schmerzhaft, so wie der durstende Kranke den Löffel voll Wasser, den ihm der Arzt kaum zugesteht, mit Groll ansieht und fast mit Entrüstung von sich stößt.
Unterdessen hatte der Nonnenvikar das nötige Zeugnis ausgestellt, und es ging die Erlaubnis ein, wegen Gertrudens Aufnahme das Kapitel zu halten. Das Kapitel wurde gehalten; wie sich erwarten ließ, kamen die vorschriftsmäßig erforderlichen Zweidrittel der geheimen Wahlstimmen zusammen, und Gertrude ward aufgenommen. Müde der langen Mißhandlung, verlangte sie nun selbst, baldigst in das Kloster einzutreten.
Sicherlich war niemand da, der sich einem so dringenden Verlangen hätte widersetzen mögen. Ihr Wille geschah also, und sie nahm, prunkvoll nach dem Kloster geleitet, den Schleier. Nach einem zwölfmonatigen Noviziate voll von Reue und Leid war der Augenblick des Professes, das heißt der Augenblick da, in dem sie entweder ein sonderbareres, unerwarteteres, anstößigeres Nein denn je sagen oder ein so vielmal gesagtes Ja wiederholen mußte; sie wiederholte es und war Nonne auf immerdar.
Eine der seltenen und außerordentlichen Eigenschaften der christlichen Religion ist diese, daß sie einen jeden, der sich, bei was für einer Gelegenheit, in was für einer Lage er wolle, zu ihr wendet, zurechtzuweisen und zu beruhigen vermag. Wenn Geschehenem abzuhelfen, so schreibt sie das Mittel vor, gibt es an die Hand, verleiht Einsicht und Kraft, es um jedweden Preis ins Werk zu setzen; wenn dem nicht also ist, zeigt sie die Art und Weise an, wirklich und in der Tat, wie der Mensch sprichwörtlich sagt, aus der Not eine Tugend zu machen. Sie lehrt mit Weisheit fortführen, was aus Leichtsinn unternommen worden, sie bewegt die Seele, mit Neigung zu umfassen, was ihr die Übermacht auferlegt, und teilt einer Wahl, die frevelhaft war, aber unwiderruflich ist, alle Heiligkeit, allen Bedacht, sagen wir es nur frei heraus, alle Freuden des Berufes mit. Sie ist ein so beschaffener Weg, daß, aus welchem Irrgange, von welchem Abgrunde auch immer her der Mensch darauf gelangt, er ferner mit Sicherheit und Lust vorschreiten und heiteren Sinnes zu einem heiteren Ziele gelangen kann.
Durch dieses Hilfsmittel hätte Gertrude eine heilige und zufriedene Nonne sein können, wie immer sie es auch geworden war. Aber die Unglückliche sträubte sich statt dessen unter ihrem Joche und empfand also desto stärker seine Schwere und seinen Druck. Ein unablässiges Leidtragen um die verlorene Freiheit, die Verabscheuung des gegenwärtigen Standes, ein ermüdendes Jagen hinter Wünschen drein, die nimmer zu befriedigen, solcherlei waren die hauptsächlichen Beschäftigungen ihrer Seele. Sie sann jener bitteren Vergangenheit nach, rief sich alle diese Umstände ins Gedächtnis zurück, durch die sie dahin gelangt war, wo sie sich befand, und hob vergeblicherweise zu tausend Malen wieder in Gedanken auf, was sie getan hatte. Sie klagte sich der Verzagtheit, andere der Grausamkeit und Treulosigkeit an, und härmte sich heimlich ab. Sie vergötterte zugleich und beweinte ihre Schönheit, bejammerte eine Jugend, die dazu bestimmt sei, sich in einer langsamen Marter zu zerstören, und beneidete, in gewissen Momenten, ein jedes Weib, das, in welcher Lage, mit welchem Bewußtsein auch immer, sich in der Welt ungehindert jener Güter erfreuen könne.
Der Anblick der Nonnen, die mitgewirkt hatten, sie hier hereinzubringen, war ihr verhaßt. Sie erinnerte sich der Künste und Listen, die sie angewendet, und vergalt sie ihnen mit lauter Unhöflichkeit und Eigensinn, ja sogar mit unverhohlenen Vorwürfen. Diese mußten sie meistenteils hinunterschlucken und stillschweigen; denn der Fürst hatte wohl der Tochter so viel Gewalt antun wollen als nötig war, sie in das Kloster zu stoßen; aber nach einmal erreichter Absicht würde er nicht so leicht geduldet haben, daß ein anderer sich herausgenommen hätte, gegen sein Blut recht zu behalten; und der geringste Lärm, den sie etwa erhoben, hätte wohl veranlassen können, daß jener hohe Schutz für sie verloren gegangen, oder der Beschützer ihnen gar in einen Feind verwandelt worden wäre. Dem Anschein nach hätte sie allerdings eine gewisse Hinneigung zu den anderen Schwestern empfinden sollen, die sich mit dem unreinen Handel nicht befaßt hatten, und sie als Genossin liebten, ohne nach ihr als nach einer solchen verlangt zu haben, und da sie fromm, emsig und heiter ihr mit ihrem Beispiel dartaten, wie man auch hier nicht nur leben, sondern sogar genießen könne. Aber auch diese waren ihr in anderer Weise verhaßt. Ihr frommes und zufriedenes Aussehen ward ihr ein Vorwurf ihrer Unruhe und wunderlichen Aufführung, und sie ließ sich keine Gelegenheit entgehen, sie hinter ihrem Rücken als Betschwestern zu verspotten, oder ihnen als Heuchlerinnen zu nahe zu treten. Vielleicht würde sie ihnen nicht so abgeneigt gewesen sein, wenn sie gewußt oder geahnt hätte, daß die wenigen schwarzen Kugeln in der Büchse, die über ihre Aufnahme entschied, eben von ihnen hineingeworfen worden waren.
Einigen Trost schien sie zuweilen im Befehlen zu finden, darin, daß man ihr drinnen den Hof machte, von außen her jemand ihr aufwartete, um ihr seine Verehrung zu bezeigen, daß sie irgendein Unternehmen durchsetzte, daß sie ihren Schutz verlieh, daß sie sich die Domina nennen hörte: aber was waren das für Tröstungen! Deren Unzulänglichkeit fühlend, hätte die Seele dann und wann die Tröstungen der Religion hinzufügen und ihrer sich erfreuen mögen; aber diese kommen nur über den, der jene anderen hintansetzt, so wie der Schiffbrüchige, wenn er das Brett umklammern will, das ihn sicher ans Ufer tragen kann, auch die zugeballte Hand auftun und das Seegras und Röhricht fahren lassen muß, das er mit instinktartiger Hast erfaßt hatte.
Bald nach Ablegung des Gelübdes war Gertrude zur Oberin der Kostgängerinnen bestimmt worden; nun denke man, wie es den jungen Mädchen in einer solchen Zucht ergehen mußte! Ihre alten Gefährtinnen waren alle entlassen; aber sie hatte noch alle Leidenschaften jener Zeit an sich; und in einer oder der anderen Art sollten ihre Zöglinge deren Gewicht fühlen. Wenn es ihr in den Sinn kam, daß viele von ihnen zu der Lebensweise bestimmt waren, auf die sie alle Hoffnung verloren hatte, so fühlte sie gegen die Armen einen Groll, eine wahre Rachgier; und sie unterdrückte sie, behandelte sie mit Härte, ließ sie die Freuden, die sie eines Tages genießen würden, im voraus abbüßen. Wer mitunter vernommen hätte, mit welchem herrischen Jähzorn sie dieselben wegen jeder kleinen Übereilung ausschalt, würde sie für ein Weib von sehr wilder und unbilliger Frömmigkeit gehalten haben. In anderen Momenten brach der nämliche Abscheu vor dem Kloster, vor dessen Regel, vor dem Gehorsam, in Anfällen einer durchaus entgegengesetzten Laune hervor. Dann ertrug sie nicht nur die lärmenden Zerstreuungen ihrer Zöglinge, sondern erregte sie: sie mischte sich in ihre Spiele ein und machte sie noch ausgelassener; sie nahm an ihren Gesprächen teil und führte dieselben noch über die Meinung hinaus, womit sie sie begonnen hatten. Ließ eine etwa ein Wort von dem leeren Geschwätz der Mutter Äbtissin fallen, so ahmte die Oberin ihr umständlich nach und machte eine lustige Szene daraus, zog das Gesicht wie die eine Nonne, stellte sich an wie eine andere; sie brach dann wohl in unmäßiges Lachen aus, aber dies Gelächter kam nicht eben von Herzen.
So hatte sie einige Jahre hingebracht, ohne Zeit und Gelegenheit zu haben, mehr zu tun, als ihr Unglück es fügte, daß sich eine Gelegenheit dazu bot.
Unter den anderen Vorrechten und Auszeichnungen, die ihr waren zugestanden worden, um sie dafür zu entschädigen, daß sie nicht Äbtissin sein könnte, war auch die, daß sie eine abgesonderte Wohnung inne hatte. Diese Abteilung des Klosters stieß nun an das Haus, das ein Jüngling, von Gewerbe ein Bösewicht, bewohnte, einer der vielen, die zu jener Zeit sowohl mit ihren feilen Knechten als im Bündnisse mit anderen Bösewichtern bis zu einem gewissen Punkte die öffentliche Gewalt und die Gesetze verlachen konnten. Unsere Handschrift nennt ihn kurzhin Egidio. Derselbe, der durch ein Fensterchen seines Hauses, das einen kleinen Hof jener Wohnung beherrschte, Gertrude einigemal daselbst vorübergehen oder müßig herumstreichen gesehen hatte, erdreistete sich, von den Gefahren und der Gottlosigkeit des Unternehmens eher angereizt als abgeschreckt, sie eines Tages anzureden. Die Unselige antwortete.
In diesen ersten Augenblicken empfand sie ein allerdings nicht reines, aber lebhaftes Vergnügen. In die starre Leere ihres Gemüts hatte eine starke, anhaltende Beschäftigung wie ein reges Leben sich ergossen; jenes Vergnügen aber glich dem Stärkungstranke, den die erfinderische Grausamkeit der Alten dem Verurteilten einschenkte, um ihn zum Ertragen der Marter zu befähigen.
Es gab sich zu derselben Zeit eine große Veränderung in ihrem ganzen Betragen kund, sie wurde mit einemmal ordentlicher, ruhiger, ließ vom Verhöhnen und Geklage ab und bezeigte sich vielmehr einschmeichelnd und höflich, so daß die Schwestern sich über die heilsame Umwandlung gegenseitig Glück wünschten: weit entfernt, sich den wahren Beweggrund einzubilden und zu erkennen, daß diese neue Tugend nichts anderes als eine zu den alten Fehlern hinzukommende Heuchelei sei.
Diese Schaustellung jedoch, dies, um so zu sagen, äußere Weißbrennen dauerte wenigstens so ununterbrochen und gleichmäßig nicht lange Zeit fort; sehr bald meldete sich der gewohnte Hohn und Eigensinn wieder, ließen sich die Verwünschungen und Verspottungen des klösterlichen Gefängnisses wieder vernehmen, und mitunter wurden sie in einer Sprache ausgedrückt, die an diesem Orte und in diesem Munde ungewöhnlich waren. Nur folgte jedwedem Fehler ein Bereuen, ein ernstes Bestreben nach, ihn durch Gefälligkeiten vergessen zu machen. Die Schwestern ertrugen all diese Veränderlichkeit bestmöglichst und maßen sie der grillenhaften und leichtsinnigen Gemütsart der Domina bei.
Es hatte eine Zeitlang nicht den Anschein, als ob eine von ihnen weiter darüber nachdächte; eines Tages aber geriet die Domina mit einer Laienschwester wegen irgendeiner Klatscherei in Wortwechsel und ließ sich verleiten, sie ohne Maß und Ziel zu schmähen; die Laienschwester blieb eine Weile geduldig und verbiß ihren Ärger in sich; am Ende aber riß ihr die Geduld, und sie warf ein Wort davon hin, daß sie gar mancherlei wisse und zu seiner Zeit reden würde.
Von Stunde an hatte die Domina keine Ruhe mehr. Nicht lange nachher wurde die Laienschwester eines Morgens in ihren gewohnten Dienstverrichtungen vergeblich erwartet; man suchte sie in ihrer Zelle auf und fand sie nicht vor; sie wird laut gerufen und antwortet nicht, man sucht und sucht, stöbert hier und dort umher, oben und unten, vom Keller bis zum Dachboden; sie ist nirgends. Und wer weiß, auf was für Vermutungen man geraten sein würde, wenn man nicht eben im Nachsuchen ein großes Loch in der Gartenmauer entdeckt hätte, was eine jede glauben machte, sie müsse da hindurch entsprungen sein. Man schickte sofort in verschiedenen Richtungen Eilboten nach ihr aus, um sie einzuholen, es wurden draußen große Nachforschungen angestellt, man erlangte niemals die geringste Kenntnis von ihr. Vielleicht hätte man mehr erfahren können, hätte man, anstatt in der Ferne zu suchen, in der Nähe herumgestöbert. Nach vielseitigem Verwundern, weil niemand dem Frauenzimmer so etwas zugetraut hätte, und nach vielfältigem Erwägen nahm man an, daß sie sehr, sehr weit fortgegangen sein müsse. Und weil eine Schwester einmal gesagt, sie ist gewiß nach Holland entflohen, so sagte man und hielt nachmals immer im Kloster dafür, daß sie nach Holland geflohen sei. Es scheint indessen nicht, daß die Domina desselben Glaubens gewesen. Nicht etwa, daß sie Unglauben gezeigt oder die allgemeine Annahme mit ihren besonderen Gründen bekämpft hätte; wenn sie deren hatte, gewiß, so wurden Gründe niemals so gut verhehlt; auch gab es nichts, das sie lieber vermieden, als diese Geschichte in Anregung zu bringen, nichts, woran ihr so wenig gelegen gewesen wäre, als diesem Geheimnis auf den Grund zu kommen. Aber je weniger sie davon sprach, desto mehr dachte sie daran.
Wie vielmal des Tages drängte sich das Bild dieses Frauenzimmers unversehens ihrem Geiste auf, setzte sich darin fest und wollte nicht wanken und weichen! Wie vielmal hätte sie gewünscht, sie lebendig und wirklich vor sich zu sehen, soviel lieber, als daß sie sie unablässig in Gedanken haben und sich Tag und Nacht in der Gesellschaft dieses leeren, schreckbaren, unempfindlichen Gebildes befinden mußte! Wie vielmal hätte sie ausdrücklich die wahrhafte Stimme derselben, ihr Geplauder, was sie auch immer hätte drohen können, soviel lieber vernehmen, als immerfort vor ihrem innersten geistigen Ohr das eingebildete Gezischel der nämlichen Stimme zu hören und von ihr Worte, worauf sie nichts zu erwidern imstande war, mit einer Hartnäckigkeit und unermüdlichen Beharrlichkeit wiederholt anzuhören, die kein lebendes Wesen jemals besaß!
Es war etwa ein Jahr nach jenem Vorfalle, als Lucia der Domina vorgestellt wurde und mit ihr die Unterredung hatte, bei der wir in unserer Erzählung stehen geblieben sind. Die Domina wiederholte ihre Nachfragen wegen der Verfolgung Don Rodrigos und ging auf gewisse Einzelheiten mit einer Unerschrockenheit ein, die Lucia schlimmer als neu vorkam und vorkommen mußte, weil sie nimmer gemeint hatte, daß die Neugier der Nonnen sich mit derlei Gegenständen beschäftigen könnte. Die Urteile sodann, die sie mit unter die Erkundigungen mischte oder durchscheinen ließ, waren nicht minder seltsam. Es schien fast, als verlache sie die große Angst, die Lucia vor jenem Herrn empfunden hatte, und sie fragte, ob er denn mißgestaltet wäre, daß er so viel Furcht mache. Es schien fast, als würde sie deren Sprödigkeit unverständig und albern gefunden haben, wenn sie nicht in dem Renzo erteilten Vorzuge begründet gewesen wäre. Und auch über diesen verbreitete sie sich in Fragen, derethalben die Verhörte erstaunen und erröten mußte. Sobald sie sich dann versah, daß sie mit der Zunge den Ausschweifungen des Kopfes zu sehr nachgegeben hatte, suchte sie dieses ihr Geschwätz möglichst wieder zu verbessern und gut auszulegen; aber sie konnte nicht verhindern, daß in Lucia eine unangenehme Verwunderung und eine verworrene Angst zurückblieb. Als sie mit der Mutter allein war, zerstreute Agnes alle ihre Zweifel mit wenigen Worten und klärte das ganze Geheimnis ihr auf.
»Wundere dich darüber nicht,« sprach sie, »wenn du die Welt wirst kennengelernt haben wie ich, wirst du einsehen, daß dies keine bewundernswerten Dinge sind. Die Herrschaften, eines mehr, das andere weniger, eines auf dieser, das andere auf jene Art, sind alle ein wenig närrisch. Man muß sie reden lassen, besonders wenn man sie nötig hat; sich anstellen, ihnen ernsthast zuzuhören, als ob sie was Rechtes sagten. Hast du gehört, wie sie mir aufs Maul geschlagen hat, fast als hätte ich was recht Dummes gesagt? Ich habe mich darüber nicht im geringste» gewundert. Sie sind alle so. Und bei alledem sei dem Himmel Dank, daß sie dich liebgewonnen zu haben und uns wirklich beschützen zu wollen scheint. Wenn du übrigens durchkommst, meine Tochter, und wenn es sich noch einmal zuträgt, daß du mit Herrschaften zu tun hast, so wirst du schon daran glauben, wirst du daran glauben, wirst du daran glauben.«
Das Verlangen, sich den Pater Guardian zu verpflichten, das Vergnügen des Beschützens, der Gedanke des guten Eindruckes, den ein so wohl angebrachter Schutz machen werde, eine gewisse Neigung zu Lucia, und auch eine gewisse Lust daran, einer unschuldigen Kreatur wohlzutun, Unterdrückten beizustehen und sie zu trösten, hatten die Domina wirklich bewogen, sich das Schicksal der beiden armen Flüchtlinge zu Herzen zu nehmen. Aus Achtung vor den Befehlen, die sie gab, und vor dem Eifer, den sie zeigte, wurden sie in der an das Kloster stoßenden Wohnung der Schaffnerin untergebracht und so behandelt, als ob sie im Dienste des Klosters ständen. Die Mutter und die Tochter freuten sich miteinander, so bald eine sichere und ehrenvolle Zuflucht gefunden zu haben. Es würde ihnen auch lieb gewesen sein, wenn sie dort hätten von jedermann unbemerkt verweilen können; aber das war in einem Kloster nichts Leichtes, und zwar um so mehr, da es einen Menschen gab, der nur allzusehr entschlossen war, von der einen von ihnen Kunde zu erlangen, und in dessen Seele sich zu der anfänglichen Leidenschaft und zu dem gereizten Ehrgeize auch der Zorn gesellt, daß man ihm zuvorgekommen war und ihn getäuscht hatte. Doch wir lassen die Frauen in ihrer Freistätte und wenden uns nach dem festen Schlosse eben dessen in dem Augenblicke zurück, als er des Ausgangs seiner ruchlosen Sendung gewärtigte.