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Wer, der auf einem schlecht bestellten Felde ein Unkraut, zum Beispiel einen schönen Gartenampfer, sähe und genau wissen wollte, ob es von einem auf demselben Felde gereiften Körnchen oder von einem Körnchen, das der Wind dorthin getragen, oder ein Vogel fallen gelassen, herrühre, würde niemals zu einer Entscheidung kommen, wie lange er auch da stände und darüber nachdächte. Also dürften denn auch wir nicht anzugeben wissen, ob aus dem natürlichen Grunde seines Verstandes, oder auf Attilios Einflüsterung dem Grafen-Oheim der Entschluß beikam, sich des Paters Provinzial zu bedienen, um auf die bestmöglichste Art jenen verworrenen Knoten zu durchhauen. Gewiß ist, daß Attilio jenes Wort nicht zufällig hingeworfen hatte, und obgleich er wohl erwarten konnte, daß bei einem so offenbarem Winke der mißtrauische Hochmut des gräflichen Oheims sich stetig bezeigen werde, so wollte er doch in jedem Fall den Gedanken an diese Aushilfe vor ihm aufblitzen lassen und ihm die Straße andeuten, die er nach seinem Wunsche einschlagen sollte. Auf der anderen Seite war die Aushilfe dermaßen mit der Sinnesart des Oheims übereinstimmend, von den Umständen so sehr bezeichnet, daß man wetten kann, er würde, ohne irgend jemandes Eingebung, darauf gefallen sein und sie ergriffen haben.
Es kam darauf an, daß in einer schon allzu offenen Fehde einer seines Namens, ein Neffe von ihm, nicht unterliege; ein höchst wesentlicher Punkt für den Ruf der Macht, die er sich so sehr zu Herzen nahm. Die Genugtuung, die sich der Neffe selbst verschaffen könnte, würde ein Mittel schlimmer als das Übel, eine Aussaat von Ungemach geworden sein, und man mußte es durchaus und ohne Zeitverlust abwenden.
Hätte man ihm befehlen wollen, auf der Stelle seinen Landsitz zu verlassen, so würde er wahrscheinlich nicht gehorsamt haben, und hätte er es getan, so kam es wie ein Überlassen des Feldes, wie ein Rückzug der Familie vor einem Kloster heraus. Verordnungen, gesetzliche Macht, derartige Schreckschüsse halfen nichts gegen einen Widersacher dieses Standes; die weltliche und Ordensgeistlichkeit war von aller Gerichtsbarkeit des Laienstandes völlig frei, und zwar nicht allein die Personen, sondern auch die Orte, die er noch innehatte, wie sogar derjenige wissen muß, der etwa keine andere Geschichte als die gegenwärtige gelesen hätte, was freilich eine schöne Geschichte wäre! Alles, was man gegen einen solchen Gegner vermochte, war, daß man suchen mußte, ihn zu entfernen, und das Mittel dazu war der Pater Provinzial, von dessen Willkür es ab, hing, ob jener bleiben oder gehen sollte.
Nun bestand zwischen dem Pater Provinzial und dem Grafen-Oheim eine alte Bekanntschaft; sie hatten sich selten gesehen, aber jedesmal unter großen Freundschaftsbezeigungen und endlosen Dienstanerbietungen. Und mitunter ist es leichter mit einem fertig zu werden, der über viele einzelne gebietet, als mit einem einzigen von tiefen, der nichts sieht als sein Augenmerk, nichts hört als seine Leidenschaft, sich um nichts bekümmert als um seinen Vorteil, derweil der andere mit einemmal hundert Verhältnisse, hundert Beziehungen, hundert Anteilnahmen, hundert zu vermeidende, hundert zu berücksichtigende Dinge wahrnimmt und es also von hundert Seiten anfassen kann.
Alles wohl erwogen, lud der Graf-Oheim eines Tages den Pater Provinzial zu Mittag ein und ließ ihn mit überfeiner Absichtlichkeit einen Kreis von auserlesenen Tischgenossen antreffen. Eine Versammlung der Betiteltsten, derjenigen, deren Geschlechtsname allein ein hoher Titel war, und die schon durch die Haltung, durch eine gewisse angeborene Sicherheit, durch ein vornehm geringschätziges Wesen, indem sie von großen Dingen in vertraulichen Ausdrücken sprachen, auch ohne daß sie es eben geflissentlich getan, jedesmal die Vorstellung der Überlegenheit und Macht hervorzurufen und zu erneuern wußten, und einige Schützlinge des Hauses, die diesem durch eine Erbergebenheit und dem vornehmen Manne durch eine lebenslängliche Dienstbarkeit zugetan waren, und, indem sie bei der Suppe damit anfingen, mit dem Munde, mit den Augen, mit den Ohren, mit dem ganzen Kopfe, mit dem ganzen Leibe, von ganzer Seele Ja zu sagen, bei dem Nachtische einen so weit gebracht hatten, daß er sich nicht mehr erinnerte, wie man es anfangen müßte, um Nein zu sagen.
Bei Tafel ließ der gräfliche Wirt die Unterhaltung alsbald auf das Thema Madrid fallen. Nach Rom führen viele Wege, nach Madrid führten sie alle. Er sprach vom Hofe, vom Grafen-Herzoge, von den Ministern, von der Familie des Statthalters, von den Stiergefechten, die er vortrefflich beschreiben konnte, weil er sie von einem ausgezeichneten Platze aus genossen hatte, von dem Eskorial, worüber er die genaueste Auskunft geben konnte, weil ein Untergebener des Grafen-Herzogs ihn in allen Winkeln herumgeführt. Einige Zeit über hörte die ganze Gesellschaft wie ein Auditorium nur auf ihn allein, darauf verteilte sie sich in besondere Gespräche, und er fuhr nunmehr fort, andere schöne Sachen der Art wie im Vertrauen dem Pater Provinzial zu erzählen, der neben ihm saß und ihn nur immer reden und reden und reden ließ.
Aber an einem gewissen Punkte gab er dem Gespräche eine Wendung, brachte es von Madrid ab und lenkte es von Hof zu Hof, von Würde zu Würde, zuletzt auf den Kardinal Barberini, der Kapuziner und Bruder des damaligen Papstes Urban VIII. war. Der Graf-Oheim mußte auch seinerseits ein wenig reden lassen und zuhören, und sich erinnern, daß es denn doch am Ende in dieser Welt nicht nur Personen gäbe, die bloß für ihn da wären. Bald nachdem sie sich von der Tafel erhoben hatten, ersuchte er den Pater Provinzial, mit ihm in ein anderes Zimmer zu treten.
Zwei Mächte, zwei graue Scheitel, zwei vollständige Erfahrungen standen einander gegenüber. Der vornehme Herr ließ den ehrwürdigen Pater sich setzen, setzte sich ebenfalls und begann: »Bei der Freundschaft, die zwischen uns besteht, habe ich geglaubt, an Ew. Ehrwürden wegen einer Angelegenheit das Wort richten zu müssen, die uns gemeinschaftlich angeht und unter uns abgemacht werden will, ohne daß man anderweitige Wege dazu einschlägt, die vielleicht ... Und also werde ich Ihnen denn, das Herz auf der Zunge, ohne Rückhalt sagen, worauf es ankommt, und ich bin gewiß, daß wir mit zwei Worten einverstanden sind. Sagen Sie: in Ihrem Kloster in Pescarenico ist ein Pater Cristoforo aus ***?«
Der Provinzial nickte bejahend.
»Sagen Sie einmal, ehrwürdiger Herr, unverhohlen, als Freund ... dieser Mensch ... dieser Pater ... von Person kenne ich ihn nicht, freilich kenne ich mehrere Väter Kapuziner, recht gediegene, eifrige, kluge, schlichte Männer; auch bin ich von Kindesbeinen an ein Freund des Ordens gewesen ... Indessen in jeder etwas zahlreichen Familie ... ist immer irgendein Individuum, irgendein Kopf ... Und dieser Pater Cristoforo, weiß ich aus verschiedenen Begegnissen, ist ein Mann ... der ein wenig händelsüchtig ist ... dem nicht alle die Lebensklugheit zu eigen ist, der nicht alle die Rücksichten nimmt ... Ich wollte wetten, er müsse Ew. Ehrwürden mehr als einmal zu schaffen gemacht haben.«
»Ich habe es weg, es ist eine Ehrensache« – dachte inzwischen der Provinzial bei sich. – »Meine Schuld; ich wußte es doch, daß der verwünschte Cristoforo ein Mann sei, den man von Kanzel zu Kanzel herumschicken und nicht sechs Monate lang an einem Orte, besonders nicht in einem Kloster auf dem Lande lassen müsse.« –
»Oh!« sagte er darauf laut; »es tut mir in Wahrheit leid, zu hören, daß Ihre Magnifizenz eine solche Meinung vom Pater Cristoforo hegt; denn so viel ich von ihm weiß, ist er im Kloster ein ... musterhafter Mönch und nach außerhalb hochgeachtet.«
»Ich verstehe sehr wohl; Ihre Ehrwürden kann nicht ... jedoch will ich als wohlmeinender Freund Sie von einer Sache in Kenntnis setzen, die Sie erfahren müssen, und wenn Sie auch schon davon unterrichtet sein sollten, so kann ich Sie doch, ohne meine Pflichten zu verletzen, auf gewisse Folgen aufmerksam machen, die ... im Reiche der Möglichkeit liegen; ich sage nichts weiter. Dieser Pater Cristoforo, wissen wir nämlich, verleiht seinen Schutz einem Menschen jener Gegend, einem Menschen ... Ihre Ehrwürden wird von ihm haben sprechen hören; demselben, der sich mit solchem Aufsehen den Händen der Gerechtigkeit entzog, nachdem er an dem furchtbaren St.-Martins-Tage Dinge begangen hatte, Dinge ... Lorenzo Tramaglino!«
»O weh!« dachte der Provinzial, und sagte: »Dieser Umstand ist mir neu, aber Ihre Magnifizenz weiß wohl, daß eben ein Teil unseres Berufes darin besteht, Verirrte aufzusuchen, um sie zurückzuführen ...«
»Ganz recht; aber der Umgang mit Verirrten einer gewissen Art! ... Das sind mißliche Sachen, gefährliche Händel ...« Und hier, anstatt die Backen aufzublasen und zu pusten, preßte er die Lippen zusammen und sog ebensoviel Luft ein, als er, wenn er pustete, herauszustoßen pflegte. Und er hob wieder an: »Ich habe für ratsam gehalten, Ihnen diesen Wink zu geben, denn wenn Seine Exzellenz jemals ... Es könnte leicht wohl ein Bericht nach Rom abgestattet werden ... ich weiß von nichts ... und von Rom aus Ihnen ...«
»Ich bin Ihrer Magnifizenz für diese Warnung verbunden; indessen bin ich versichert, daß, wenn man in dieser Angelegenheit Erkundigungen einzieht, es sich finden wird, daß Pater Cristoforo keinen anderen Verkehr mit dem Menschen gehabt hat, von dem Sie reden, als zu dem Ende, ihm den Kopf zurechtzurücken. Den Pater Cristoforo kenne ich.«
»Nichtsdestoweniger wissen Sie besser als ich, was für eine Figur er in der Welt spielte, was für Streiche er in der Jugend gemacht hat.«
»Das eben ist der Ruhm des Klostergewandes, Herr Graf, daß ein Mann, der wohl in der Welt hat von sich reden machen können, so wie er es anlegt, ein anderer wird. Und seitdem der Pater Cristoforo dieses Gewand an hat ...«
»Ich möchte es gern glauben, ich spreche aufrichtig, ich möchte es gern zugeben; aber bisweilen ... wie das Sprichwort lautet ... macht die Kutte nicht den Mönch.«
Das Sprichwort paßte gerade nicht ganz hierher; aber der Graf hat es anstatt eines anderen angeführt, das ihm in den Sinn kam: »Die Katze läßt das Mausen nicht.«
»Ich habe Anzeigen,« fuhr er fort, »ich habe Beweise ...«
»Wenn es Ihnen tatsächlich bewußt ist,« sagte der Provinzial, »daß dieser Mensch sich irgendwie vergangen hat, wir können alle irren, so werden Sie mir eine Gunst erzeigen, mich davon zu unterrichten. Ich bin Vorgesetzter, unwürdigerweise zwar; aber ich bin es eben, um zu bessern, um zu vermitteln.«
»Lassen Sie sich sagen: zusammen mit diesem verdrießlichen Umstande, daß der Pater demjenigen seinen Schutz verliehen hat, den ich Ihnen genannt habe, kommt noch eine andere unangenehme Sache, die da leicht ... Aber unter uns läßt sie sich mit einemmal ausgleichen. Es kommt dazu, sage ich, daß der nämliche Pater Cristoforo mit meinem Neffen Don Rodrigo *** Händel angefangen hat.«
»Oh, das tut mir leid! Das mißfällt mir, das mißfällt mir in der Tat.«
»Mein Neffe ist ein junger Mann, hitzig, der sich fühlt und nicht gewohnt ist, sich reizen zu lassen ...«
»Es wird meine Schuldigkeit sein, über einen solchen Fall genaue Erkundigungen einzuziehen. Wie ich Ihrer Magnifizenz schon gesagt habe, und bei Ihrer großen Welterfahrung und bei Ihrer Billigkeit kennen Sie diese Sachen besser als ich, wir sind alle von Fleisch und Blut, gebrechlich ... bald auf diese Weise, bald auf jene; und wofern unser Pater Cristoforo gefehlt hat ...«
»Sehen Ihre Ehrwürden, das sind, wie ich Ihnen sage, Dinge, die, unter uns abgemacht, hier in Vergessenheit begraben werden müssen, Dinge, die, wenn man allzuviel darin herumstört ... nur schlimmer werden als sie sind. Sie wissen, wie es zugeht. Solche Händel, solche Zwistigkeiten entstehen zuweilen aus einer Kleinigkeit und können so weit ... so weit führen. Gesetzt, daß man ihnen auf den Grund gehen will, so kommt man damit entweder nicht zustande, oder es ergeben sich hunderterlei andere Häkeleien. Beschwichtigen, abbrechen, hochehrwürdiger Pater; abbrechen, beschwichtigen. Mein Neffe ist ein junger Mann; der Mönch, nach dem, was ich höre, ist noch bei aller Lebenskraft, hat noch die Neigungen eines jungen Mannes, und so ist es denn an uns, die wir bei Jahren sind – nur allzusehr, nicht? hochehrwürdiger Vater! – ist es an uns, für die jüngeren Leute besonnen zu sein und ihre Fehler wieder gutzumachen. Zum guten Glück ist es noch Zeit dazu, die Sache hat keinen Lärm gemacht, es läßt sich noch mit einem tüchtigen principiis obsta abtun. Man muß Feuer von Stroh sondern. Zuweilen gedeiht ein Mensch, der nicht gut tut oder an einem Ort irgend Angelegenheiten veranlassen kann, anderwärts derart, daß es zum Verwundern ist. Ihre Ehrwürden dürsten zuverlässig ausfindig machen, wo dieser Mönch an seinem Platze wäre. Man berücksichtigt auch so zugleich den anderen Umstand, daß er eben mit jemand in Mißhelligkeiten geraten, dem es wohl lieb wäre, wenn er entfernt würde, und sobald er an einen etwas entfernteren Ort gesendet wird, schlägt man mit einem Schlage zwei Fliegen tot, und gleicht sich alles von selbst aus, oder, besser zu sagen, wird kein Unheil angerichtet.«
Diesen Schluß hatte der Pater Provinzial vom Anbeginn der Unterredung an kommen sehen. – »Nun ja doch!« dachte er bei sich, »ich sehe, wohin du mich haben willst. Es ist die gewöhnliche Art und Weise, wenn ein armer Mönch mit euch oder einem von den Eurigen einmal zusammentrifft oder euch im Wege steht, flugs, ohne zu untersuchen, ob er recht oder unrecht habe, soll der Obere ihn wandern lassen.« –
Und als der Graf schwieg und wieder einmal, was wie ein Schlußpunkt herauskam, tüchtig geblasen hatte, sagte der Provinzial: »Ich verstehe sehr wohl, was der Herr Graf sagen will, aber ehe man einen Schritt tut ...«
»Es ist ein Schritt und ist auch kein Schritt, sehr ehrwürdiger Pater; es ist eine natürliche Sache, eine gewöhnliche Sache, und wenn man nicht dazu schreitet, und das gleich, so sehe ich einen Haufen von Verwirrung, eine Ilias voll Unheil voraus. Ein dummer Streich ... mein Neffe, will ich nicht glauben ... hier stehe ich dafür, was das anlangt ... Aber wenn wir die Sache auf dem Punkte, wohin sie gediehen ist, nicht, ohne Zeit zu verlieren, mit einmal unter uns abmachen, so ist es nicht möglich, daß sie hierbei stehen bleibt, daß sie geheim zu halten ... und alsdann ist es nicht allein mein Neffe ... Wir würden in ein Wespennest stören, ehrwürdigster Pater. Sie sehen ein, wir sind eine Familie, wir haben Verwandtschaften ...«
»Ausgezeichnete ...«
»Sie verstehen mich, alles Leute, denen Blut in den Adern rinnt, und die auf dieser Welt ... etwas vorstellen. Da kommt die Ehrfurcht dazu, es wird eine gemeinsame Angelegenheit, und hernach ... sogar wer friedfertig ist ... es würde wahrhaft herzbrechend für mich sein, wenn ich müßte ... wenn ich mich genötigt ... ich, der ich zu den Vätern Kapuzinern mich immer so hingezogen gefühlt habe! ... Um Gutes zu tun, wie sie denn zu so hoher Erbauung des Publikums tun, brauchen die Väter Ruhe, müssen sie Händel vermeiden, in gutem Einverständnisse mit denen stehen, die ... Und dann, haben sie auch in der Welt Verwandte ... und diese verwünschten Ehrensachen, wenn sie nur ein wenig anfangen, sich in die Länge zu ziehen, breiten sich aus, verzweigen sich, verwickeln ... die halbe Welt hinein. Ich befinde mich in diesem ehrenwerten Amte, das mir die Pflicht auferlegt, eine gewisse Würde zu beobachten ... Seine Exzellenz ... meine Herren Amtsgenossen ... es wird alles gleich eine Sache des Standes ... besonders wegen des anderen Umstandes ... Sie wissen, wie es mit solchen Sachen hergeht!«
»In der Tat,« sprach der Pater Provinzial, »Pater Cristoforo ist Prediger, und ich hatte gewissermaßen schon daran gedacht ... Ich werde soeben angegangen ... Aber in diesem Augenblicke, unter solchen Verhältnissen, könnte es eine Strafe scheinen, und eine Strafe vor reiflicher Untersuchung ...«
»I, nicht doch Strafe, ei bewahre! eine kluge Vorsichtsmaßregel, ein Ausweg in gemeinsamem Einverständnis, um die etwaigen Ungelegenheiten zu umgehen, die da ... ich habe mich darüber erklärt.« –
»Zwischen dem Herrn Grafen und mir dürfte die Sache allerdings so anzusehen sein, das begreife ich; aber wenn es damit so beschaffen, wie es Ihrer Magnifizenz vorgestellt worden ist, so ist es unmöglich, sage ich, daß nicht etwas davon in der Gegend verlautet wäre ... Allenthalben gibt es Aufhetzer, Störenfriede, oder wenigstens unverschämte Neugierige, die, wenn sie Herren und Geistliche miteinander können handgemein werden sehen, ihre törichte Freude daran haben, und aufstören, und klatschen und schreien ... Ein jeder hat seine Würde zu behaupten, und ich desgleichen, als ein – unwürdiger – Oberer, habe eine ausdrückliche Verpflichtung ... Die Ehre des Gewandes ... ist nicht meine Angelegenheit ... ist ein anvertrautes Gut, von dem ... Ihr Herr Neffe, da er so aufgeregt ist, wie Ihre Magnifizenz sagt, könnte die Sache für eine ihm zugestandene Genugtuung ansehen, und ... ich sage nicht damit prahlen, darob frohlocken, aber ...«
»Treiben Ehrwürden Ihren Scherz mit mir? Mein Neffe ist ein Edelmann, den die Welt schätzt ... je nach Würden und Verdienst; aber mir gegenüber ist er ein Kind, und wird eben nicht mehr und nicht weniger tun, als was ich ihm vorschreibe. Ich will Ihnen noch mehr sagen, daß mein Neffe sogar nichts davon erfahren soll. Was brauchen wir wohl Rechenschaft abzulegen? Wir machen die Sachen unter uns, als gute Freunde, ab, und alles bleibt im Dunkel vergraben. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Ich muß an Schweigen gewöhnt sein.« Und er blies.
»Was die Schwätzer anlangt,« fuhr er fort, »was wollen Sie, das die sagen sollen? daß ein Mönch anderswohin geschickt wird, um zu predigen, ist etwas so Gewöhnliches! Und übrigens wir, die wir sehen ... wir, die wir vorsehen ... wir, die wir imstande sind ... wir haben uns um kein Gerede zu bekümmern.«
»Um indessen dem zuvorzukommen, würde es gut sein, wenn Ihr Herr Neffe bei dieser Gelegenheit irgendeine Erklärung abgäbe, irgendein offenbares Zeichen von Freundschaft, von Ehrfurcht ... nicht vor uns, sondern vor dem heiligen Gewande ...«
»Gewiß, gewiß; das ist recht und billig ... Wiewohl es nicht not tut; ich weiß, daß mein Neffe zu jeder Zeit den Kapuzinern begegnet, wie es sich gebührt. Er tut es aus Zuneigung; es ist ein Familienzug, und dann weiß er auch, daß er sich mir damit angenehm macht. In diesem Falle übrigens ... ist etwas Außerordentliches ... nicht mehr als billig. Lassen Sie mich machen, ehrwürdigster Pater; ich werde meinem Neffen gebieten ... Das heißt, man muß ihn mit Behutsamkeit bedeuten, damit er sich dessen, was zwischen uns vorgefallen ist, nicht versieht. Denn ich möchte zuweilen nicht gern ein Pflaster auflegen, wo keine Wunde ist. Und was das betrifft, was wir verabredet haben; je schneller, desto besser. Und wenn sich irgendein etwas entfernter Ort finden ließe ... um recht eigentlich jede Gelegenheit abzuschneiden ...«
»Es wird soeben für Rimini um jemand bei mir nachgesucht, und vielleicht hätte ich auch, ohne weitere Veranlassung, die Augen auf ...«
»Recht erwünscht, recht sehr erwünscht. Und wann? ...«
»Wenn denn die Sache einmal geschehen soll, so mag es bald sein.«
»Bald, bald, ehrwürdigster Pater; besser heute als morgen. Und,« fuhr er sodann fort, indem er sich erhob, »wenn ich irgend etwas, ich und meine Angehörigen, für unsere guten Väter Kapuziner tun kann ...«
»Die Gefälligkeit des Hauses ist uns aus Erfahrung bekannt,« sagte der Pater Provinzial, der gleichfalls aufgestanden war und, hinter seinem Sieger drein, dem Ausgange zu ging.
»Wir haben einen Funken erstickt,« sagte dieser, langsam voranschreitend, »einen Funken, ehrwürdigster Pater, der eine große Feuersbrunst hätte entzünden können. Unter guten Freunden macht man große Dinge mit zwei Worten ab.«
Bei der Tür angelangt, machte er die Flügel weit auf und wollte durchaus, daß der Pater Provinzial voranginge; sie traten in das andere Zimmer und mischten sich unter die übrige Gesellschaft.
Eine große Sorgfalt, eine große Kunst, große Worte verwendete dieser Herr auf die Durchführung einer Sache; aber er brachte denn auch große, dem entsprechende Wirkungen zuwege. Und in der Tat gelang es ihm, vermöge der Unterredung, die wir berichtet haben, Bruder Cristoforo zu Fuße von Pescarenico nach Rimini wandern zu lassen; was eine tüchtige Strecke ist.
Eines Abends langte in Pescarenico ein Kapuziner aus Mailand mit einem Pack für den Pater Guardian an. Es ist der schriftliche Befehl für Bruder Cristoforo, sich nach Rimini zu begeben, wo er die Fasten predigen soll. Das Schreiben an den Guardian enthält die Weisung, dem besagten Mönch zu verstehen zu geben, daß er jeden Gedanken an etwaige Geschäfte fahren lasse, auf die er in der zu verlassenden Gegend könne eingegangen sein und keine Verbindung mit derselben unterhalte; der Bruder Überbringer soll der Reisegefährte sein.
Der Guardian sagt am Abend nichts; am Morgen läßt er Bruder Cristoforo rufen, zeigt ihm den Befehl, sagt ihm, er solle Pilgerstab, Handkorb, Schweißtuch und Strick holen und habe sich dann mit dem Pater Begleiter, den er ihm vorstellt, sofort auf den Weg zu machen.
Man denke sich, ob das ein Schlag für unseren Bruder war. Renzo, Lucia, Agnes kamen ihm alsbald in den Sinn, und er rief sozusagen bei sich aus: – »O Gott! was werden die Unglücklichen beginnen, wenn ich nicht mehr hier bin!« Aber gleich darauf erhob er die Augen gen Himmel und klagte sich an, in seinem Vertrauen gewankt, sich eingebildet zu haben, daß er zu irgend etwas notwendig wäre. Er legte die Hände kreuzweise über die Brust, zum Zeichen des Gehorsams, und neigte vor dem Pater Guardian das Haupt; der ihn darauf beiseitezog und ihm, den Worten nach als einen guten Rat, dem Sinne nach als eine Vorschrift, jene andere Weisung eröffnete.
Bruder Cristoforo ging in seine Zelle, nahm den Korb, tat das Brevier, seine Fastenpredigten und das Brot der Vergebung hinein; gürtete sich die Lenden mit einem Strang von Leder, nahm Abschied von den Mitbrüdern, die sich im Kloster befanden, ging endlich, sich den Segen des Guardians zu holen und schlug mit seinem Begleiter den Weg ein, der ihm vorgeschrieben worden war.
Wir haben gesagt, daß, erpichter als je darauf, sein schönes Unternehmen zu Ende zu führen, Don Rodrigo sich entschlossen hatte, die Hilfe eines furchtbaren Mannes in Anspruch zu nehmen. Von diesem vermögen wir weder den Zunamen, noch den Namen, noch einen Titel, noch sogar nur eine Vermutung über irgend etwas von alledem anzugeben; ein um so seltsamerer Umstand, als wir die Person selbst in mehr als einem Buche, gedrucktem Buche, sage ich, jener Zeit erwähnt finden. Daß es die nämliche Person sei, darüber läßt die Übereinstimmung der Tatsachen keinen Zweifel bestehen; aber allenthalben wird der Name mit großer Sorgfalt umgangen, fast als ob die Feder die Hand des Schreibers hätte verbrennen sollen. Francesco Rivola, der in dem Leben des Kardinals Federico Borromeo von diesem Manne zu sprechen hat, bezeichnet ihn als »einen durch Reichtum ebenso mächtigen als durch Geburt edeln Herrn,« weiter nicht. Giuseppe Ripamonti, der im fünften Buche der fünften Dekade seiner » Storia Patriae« umständlichere Meldung von ihm tut, nennt ihn: »Einer, der, jener, dieser Mann, die hohe Person.« »Ich werde,« sagt er in seinem schönen Latein, aus dem wir übersetzen, so gut es uns gelingen will, »von Eines Schicksal erzählen, der einer der vornehmsten Großen der Stadt war und seinen Wohnsitz auf dem Lande aufgeschlagen hatte; wo er, durch Verbrechen gesichert, die Rechtssprüche, die Richter, jedwede Obrigkeit und Gewalt für nichts achtete. An der äußersten Grenze des Staates seßhaft, führte er ein unabhängiges Leben; nahm Vertriebene bei sich auf, einmal selbst ein Vertriebener und darauf ungefährdet wiedergekehrt ...« Diesem Schriftsteller werden wir weiterhin noch einige andere Stellen entnehmen, die uns gerade passen, um die Erzählung unseres anonymen Autors, mit der wir vorschreiten, zu bestätigen oder zu erhellen.
Dasjenige zu tun, was die öffentlichen Gesetze verboten oder irgendeine Gewalt verhinderte; der Schiedsrichter, der Schutzherr in anderer Angelegenheiten zu sein, ohne etwas weiteres davon zu haben als das Vergnügen, zu befehlen, von allen gefürchtet zu werden; denen überlegen zu sein, die gewohnt waren, über andere zu schalten und zu walten; solcherart waren zu jeder Zeit die Hauptleidenschaften jenes Menschen gewesen. Von Kindheit an empfand er bei dem Schauspiele all der Gewalttätigkeiten, all der Bedrückungen, all der Wettstreitigkeiten und der Kunde davon, beim Anblick so vieler Tyrannen, ein gemischtes Gefühl von Unwillen und ungeduldigem Neid. Jung und in der Stadt lebend, ließ er keine Gelegenheit vorübergehen, sondern suchte sie vielmehr auf, sich an die Berüchtigsten dieses Gelichters zu machen, ihnen etwas in den Weg zu legen, um sich mit ihnen zu messen und sie zu bezwingen oder sie dahin zu bringen, um seine Freundschaft zu buhlen. Über die meisten an Reichtum und Gefolge, und vielleicht über alle an Kraft und Verwegenheit hervorragend, nötigte er viele, von allem Wetteifer abzustehen; viele richtete er übel zu, viele hatte er zu Freunden; freilich nicht zu Freunden, die mit ihm auf gleichem Fuße standen, sondern nur insoweit sie seinem stolzen, frevelhaften Sinne wohlgefällig sein konnten, zu untergebenen Freunden, die einen gewissen Beruf zur Abhängigkeit empfanden, die ihm den Vorrang ließen! In der Tat kam es jedoch auch vor, daß er der Sklave, das Werkzeug derselben ward; sie ermangelten nicht, in ihren Angelegenheiten die Hilfe eines solchen Bundesgenossen in Anspruch zu nehmen; und hätte er seinerseits sich ihnen entzogen, so würde er damit seinen Ruf vernichtet, sich in seinem Gewerbe heruntergebracht haben; so daß für sich sowie für andere er es so arg trieb, daß weder der Name, noch die Verwandtschaft, noch die Freunde, noch sein vermessener Trotz gegen die öffentlichen Verordnungen und so vielfältigen mächtigen Haß mehr ausreichten und er weichen und das Land räumen mußte. Ich vermute, daß auf dies Ereignis ein merkwürdiger Zug hindeutet, den Ripamonti vorträgt. »Einstmals, als er landesflüchtig werden mußte, waren die Heimlichkeit, Rücksicht und Schüchternheit, womit er dabei verfuhr, so groß, daß er zu Pferde, mit einem Gefolge von Hunden, unter Trompetenschall durch die Stadt zog und, vor dem Schlosse vorüberkommend, den Wachen eine Botschaft von Schmähungen an den Statthalter hinterließ.«
In der Abwesenheit verzichtete er auf seine Ränke nicht und gab auch das Einverständnis mit den Freunden jener Art nicht auf, die, um Ripamonti wörtlich zu übersetzen: »in einem heimlichen Bunde zu schmählichen Ratschlägen und heillosen Dinge« vereint blieben. Es scheint auch, daß er nunmehr an höheren Orten gewisse neue, furchtbare Unterhandlungen anknüpfte, von denen der vorerwähnte Geschichtschreiber mit geheimnisvoller Kürze spricht. »Auch einige auswärtige Fürsten bedienten sich wiederholt seiner Hilfe zu irgendeinem wichtigen Totschlage und mußten ihm des öfteren von fern her Verstärkung an Truppen zusenden, die unter seinen Befehlen dienten.«
Am Ende, man weiß nicht, nach wie langer Zeit, und ob durch irgendeine mächtige Vermittlung, der Bann aufgehoben worden war oder ob der Frevelmut dieses Menschen ihm jede andere Freisprechung ersetzte, entschloß er sich, heimzukehren, und kehrte er in der Tat zurück; allerdings nicht nach Mailand, sondern nach dem Schlosse eines seiner Lehen, auf der Grenze des bergamasker Gebietes, das dazumal, wie jedermann weiß, unter venetianischer Herrschaft stand, und schlug hier seine Wohnung auf.
»Dies Haus,« ich führe nochmals Ripamonti an, »war gleichsam eine Werkstätte blutiger Befehle, die Diener zum Tode verurteilte, entsprungene Verbrecher und Kopfabschneider, weder Koch noch Küchenjunge der Pflicht überhoben, zu morden, die Hände der Kinder sogar blutbefleckt.« Außer dieser schönen Hausdienerschaft hatte er, wie derselbe Geschichtschreiber versichert, noch eine andere von ähnlichen Subjekten, die verstreut in verschiedenen Ortschaften der beiden Staaten, auf deren Grenze er lebte, gewissermaßen einquartiert und jederzeit zu seinen Befehlen bereit waren.
Sämtliche Tyrannen in einem weiten Umkreise hatten, der bei der einen, jener bei einer anderen Gelegenheit, »wischen der Freund- oder Feindschaft dieses außerordentlichen Tyrannen wählen müssen. Aber dem ersten, der den Versuch hatte machen wollen, ihm Widerstand zu leisten, war es so übel bekommen, daß keiner mehr Lust verspürte, dies Wagnis zu unternehmen. Und auch wenn sich einer sozusagen weder um Hinz noch Kunz bekümmerte und ruhig seiner Straße zog, konnte er sich nicht unabhängig von ihm erhalten. Es kam einer seiner Boten bei ihm an und tat ihm kund, er solle auf das und jenes Unternehmen verzichten, er solle ablassen, den und jenen Schuldner zu mahnen. Und dergleichen; er mußte Ja oder Nein zur Antwort geben. Wenn ein Teil mit wahrer Untertänigkeit irgendeine Angelegenheit seinem Urteil anheimgestellt hatte, so befand sich der andere in der harten Notwendigkeit, sich entweder in seine Entscheidung zu fügen oder sich für seinen Feind zu erklären; was dasselbe war, als wenn man, wie man sonst zu sagen pflegt, sich im dritten Stadium der Schwindsucht befunden hätte. Viele, die unrecht hatten, nahmen ihre Zuflucht zu ihm, um in der Tat recht zu haben; viele wendeten sich an ihn, die recht hatten, um einer solchen Schutznahme zuvorzukommen und dem Gegner den Zugang zu vertreten; die einen wie die anderen wurden von ihm abhängig. Es trug sich mitunter zu, daß, unterdrückt, bedrängt von einem Mächtigen, ein erbitterter Schwacher sich an ihn wendete; und daß er, die Partei des Schwachen ergreifend, den Übermächtigen zwang, von den Kränkungen abzustehen, das Unrecht wieder gutzumachen, sich zu Entschuldigungen herabzulassen; oder daß er den Widerspenstigen züchtigte, ihn die Orte zu meiden nötigte, die er grausam behandelt hatte, oder ihn dafür auf eine schnellere und furchtbarere Art büßen ließ. Und in solchen Fällen war der so gefürchtete und verabscheute Name wohl auch auf einen Augenblick gesegnet worden; denn, ich sage nicht diese Gerechtigkeit, aber diese Abhilfe, diese Wiedervergeltung, wie sie auch immer war, hätte man, unter jenen Zeitverhältnissen, von keiner anderen weder öffentlichen noch besonderen Gewalt erwarten können. Häufiger, ja für gewöhnlich, war die seinige freilich die Dienerin ruchloser Begierden, grausamer Genugtuungen, schmachvoller Launen gewesen. Aber die so vielfältige Anwendung dieser Gewalt brachte auch eine entsprechende Wirkung hervor, indem sie den Gemüter« eine hohe Vorstellung von dem einprägte, was er alles der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zum Trotz wollen und zustande bringen könne, welche beiden Eigenschaften dem Willen der Menschen so viele Hemmungen in den Weg legen und sie sooft vermögen, umzukehren.
Der Ruf der gewöhnlichen Tyrannen blieb meist auf die kleine Strecke Landes beschränkt, wo sie sich fortwährend aufhielten oder des öfteren gegenwärtig waren, um zu bedrücken; jeder Strich hatte die seinen, und sie glichen einander dermaßen, daß kein Grund vorhanden war, warum die Leute sich hätten um diejenigen bekümmern sollen, deren Druck und Beunruhigung ihnen nicht fühlbar ward. Aber der Ruf dieses unserigen war schon seit langer Zeit in jeden Winkel des Mailändischen gedrungen; allenthalben war sein Leben im Munde des Volkes, und sein Name bedeutete etwas Übermächtiges, Düsteres, Fabelhaftes. Daß man allenthalben seine Verbündeten und Meuchelmörder argwöhnte, trug auch mit dazu bei, sein Andenken allenthalben frisch zu erhalten. Es blieb freilich immer beim Argwöhnen; denn wer würde eine solche Abhängigkeit offen eingestanden haben? Aber jedweder Tyrann konnte ein Bundesgenosse von ihm sein, jeder Straßenräuber einer der Seinigen, und die Ungewißheit selber machte die Vorstellung von der Sache desto größer und ihre Schrecken desto tiefer. Und jedesmal, wenn man irgendwo unbekannte ungewöhnliche Mißgestalten von Straßenräubern zum Vorschein kommen sah, bei einer jeden Untat, deren Urheber man nicht sogleich bezeichnen oder erraten konnte, nannte, murmelte man den Namen dessen, den wir, dank sei es der gesegneten, um nicht anders zu sagen, Behutsamkeit unserer Schriftsteller, gezwungen sein werden, den Ungenannten zu nennen.
Von der kleinen Festung desselben bis zu dem Burgschlosse Don Rodrigos waren nicht mehr als sieben Miglien, und dieser letztere war nicht sobald Gebieter und Tyrann geworden, als er sich auch hatte versehen müssen, daß in so geringer Entfernung von einer so bedeutenden Person es unmöglich sei, dies Gewerbe zu treiben, ohne mit Ihm handgemein zu werden oder einverstanden zu handeln. Er hatte sich ihm also genähert und war sein Freund geworden, versteht sich, nach Art aller anderen; er hatte ihm mehr als einen Dienst erwiesen – das Manuskript besagt nicht mehr davon – und von ihm jedesmal die Zusage der Gegengefälligkeit und Hilfe bei allen Vorfällen erhalten. Er trug indessen große Sorgfalt, eine solche Freundschaft zu verheimlichen oder wenigstens nicht wahrnehmen zu lassen, wie eng und welcher Art sie wäre. Don Rodrigo wollte freilich auch den Tyrannen, aber doch nicht den unbändigen Tyrannen spielen; dies Gewerbe war für ihn ein Mittel, nicht ein Zweck; er wollte unangefochten in der Stadt verweilen, die Bequemlichkeiten, die Kurzweil, die Ehren des bürgerlichen Lebens genießen, und darum mußte er hundert Rücksichten nehmen, die Verwandtschaft zu Rate ziehen, mit hochgestellten Personen Freundschaft pflegen, eine Hand immer an der Wage der Gerechtigkeit haben, um sie entweder nötigenfalls nach seiner Seite hin aus, schlagen zu lassen, oder um sie beiseite zu schieben, oder auch um nach Gelegenheit dem und jenem damit auf den Kopf zu treffen, der auf solche Art leichter als mit den Waffen der gewaltsamen Selbsthilfe zu bezwingen wäre.
Nun würde ihm zwar gerade die große Vertrautheit, wir wollen lieber sagen der Bund mit einem Verrufenen dieses Schlages, mit einem unverhohlenen Feinde der öffentlichen Gewalt sicherlich kein gutes Spiel bei dieser, und ganz vorzüglich nicht bei dem Grafen-Oheim gemacht haben. Jedoch mochte so viel von der sogenannten Freundschaft, als nicht zu verbergen war, nachgerade noch für eine unerläßliche Gefälligkeit gegen einen Menschen mit hingehen, dessen Feindschaft allzu gefährlich war und in der Notwendigkeit ihre Entschuldigung finden; denn wer die Verpflichtung hat, vorzusorgen, und keine Lust dazu hegt oder die rechte Art dazu nicht findet, willigt auf die Länge darein, daß der andere bis zu einem gewissen Grade für seine Angelegenheiten selber sorgt, und wenn er nicht ausdrücklich darein willigt, so drückt er ein Auge zu.
Eines Morgens ritt Don Rodrigo, gleichwie auf die Jagd, mit einem kleinen Gefolge von Banditen zu Fuß, der Graue neben ihm und vier andere hinterdrein, aus und nahm den Weg nach der Feste des Ungenannten.