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Auf dem Bahnsteig erwarteten Frau Jean-Marc Fabrecé und Liane die Ankunft des Konsuls, die ohne ersichtlichen Grund und nach Einlauf verworrener Telegramme um achtundvierzig Stunden hinausgeschoben war. Liane glich ihrer Schwester kaum. Ihre schmale, wie mit der Schere geschnittene Silhouette verriet bei scheinbar fortdauernder Jugend unjugendliche Gefühlsarmut. Ihr elegantes, maulwurfgraues Kostüm war sehr auffällig. Heute morgen hatte sie Paris verlassen. Sie hatte auf die Eröffnung einer Ausstellung, der Ausstellung der Dreizehn, auf einen Damentee im Buckingham-Palast und auf die Generalprobe im Vaudeville verzichtet, wohin ihre jüngste Schwester, Frau Lesgor, mit ihr und der Mutter gehen sollte, Frau Charnot, deren noch üppige Schultern bei jeder frivolen Gesellschaftsschau in Paris zu sehen waren. In Val-Montoir hatte man über diesen Eifer gelächelt, und Sophie hatte ihn mit einiger Bitterkeit aufgenommen. Ihr gebührte der Platz, da in dem elektrischen Automobil außer dem Klappsessel nur zwei Plätze waren. Im großen Auto hätte man Platz für alle gehabt; so ein Tölpel, ihr Bruder Florent!
Nervös wegen der Verspätung – kann man wissen? seit so langer Zeit war Jacques der Galanterie entwöhnt – hörte Armande zu, wie Liane von oben herab ihr Programm darlegte: »Auf keinen Fall gehe ich ins Ausland. Wenn dein Jacques mir gefallen will, soll er im Ministerium bleiben und auf die diplomatische Laufbahn verzichten. Lesgor würde ihn zur Staatsbank nehmen.« »So höre doch!« »Ich weiß schon. Es ist Zeit für mich, nicht wahr, bei meinen siebenundzwanzig Jahren? Flirts habe ich, so viel ich will, und keinen Gatten. Unsere Ausgaben und Mamas unordentliche Wirtschaft ruinieren uns; und doch mußte nach Papas Tode auf großem Fuße gelebt werden, damit ihr mit fast unversehrter Mitgift verheiratet werden konntet, du und Gisèle. Wer soll mich denn heiraten? Révannes etwa, der kein Interesse hat, weil er nichts besitzt? Er ist ein netter junger Mensch, ja, und er verehrt mich. Aber ich soll seine Geldklemme teilen? Nein. Mir ist der Luxus unentbehrlich. Der Chinese, der Chinese! Du redest beständig von ihm. Ist er denn so reich? Für mich wäre er doch nur der Notnagel, und nach China gehe ich nie!« »So höre mich doch an!« Armande verstand diese Gereiztheit, obwohl Liane ihr unvernünftig schien. Ja, sie hatte sich ihren jüngeren Schwestern aufgeopfert, jedoch weder Lesgor noch Jean-Marc noch ein anderer hatte sie gewählt. Sie hatte etwas Bestechendes, aber ihr herber Geist beunruhigte, und zu viele Winter waren vergangen, wo man nur sie und sie zu viel sah. Man hielt sie für einen Wechsel, dessen Einlösung noch Zeit hat. Wenn ein stiller, auf die höhere Entwicklung der Familie begründeter Vertrag die Fabrecé einigte, so verband ein durchaus praktischer, freimaurerischer Interessenverband Frau Charnot und ihre Töchter. Gisèle und Armande, die nun glücklich waren, wollten, daß Liane an die Reihe käme – nach dem Anciennitätsrang, konnte Armande, die zuweilen auch einen bösen Mund hatte, nicht umhin zu bemerken.
»Jacques ist ein gutmütiger, leicht zu nehmender Mensch und wird der ersten besten anheim fallen. Du brauchst nur den kleinen Finger auszustrecken, dann kannst du mit ihm tun, was du willst.« »Ach, die Fabrecé, sind die bequem! Du glaubtest ja auch schon deinen Herrn und Meister fest zu haben, und nun hat er dich betrogen. Du sagst es ja selbst.« »Unbedingt weiß ich das nicht.« Tief verletzt bedauerte Armande ihre Vertraulichkeit. »Aber ich weiß es!« versicherte Liane. »Die kleine Hycler ... Adrien« (das war der Bankier Lesgor) »hat es vorgestern beim Apachendiner gehört, wo jeder Teilnehmer so eine kleine Million ergaunert haben muß.« »Dein Zynismus ist ekelhaft, Liebe!« »Deine Heuchelei belustigt mich. Du hast die Tugenden der Familie angenommen, in der du dienst! Anstand und Haltung!« Armande war wütend, dann lachte sie. Das Gemeinsamkeitsgefühl war stärker. »Nun, was mir daran liegt ... Du bist ja nicht gezwungen.« Liane sagte: »Man wird ja sehen,« und mit apathischem Hohn fügte sie hinzu: »Warum rufst du nicht den Papa an, damit er über die Seitensprünge deines Gouverneurs zu Gericht sitzt?« Armande hatte Respekt vor dem Manne, der sie unter seine Kinder aufgenommen hatte, und so erwiderte sie: »Ich habe kein Recht, meinem Schwiegervater, der zu mir die Güte selbst ist, den geringsten Schmerz zu bereiten.« Und nach kurzem Nachsinnen: »Auch würde Jean-Marc es mir nicht vergeben.« »Da hast du ja recht. Nun, so muß man den berühmten, hochehrbaren Herrn Fabrecé anders benachrichtigen. Durch einen anonymen Brief?« »Liane, das ist gemein.« »Nicht du selbst, Dummkopf, eine Freundin ... und was hätte es auch für einen Wert? Die Männer halten zusammen.« »Nein, er schwärmt für Treue. Er und meine Schwiegermutter sind ein herrliches Paar.« »Na also, ein Grund mehr noch!« Unruhig und doch für den Rat empfänglich, wandte Armande unter dem spähenden Blick Lianes den ihrigen ab. Wieder einmal hatten sie sich verstanden.
Der alte Bernard kam aus dem Dienstzimmer des Bahnhofsvorstandes, bei dem er verschiedene Gegenstände abgeholt hatte. Unter dem Arm hatte er ein für Fräulein Sophie bestimmtes Paket, in der Hand eine Heckenschere für Antoine und von Frau Jacquemer bestellte Spitzen. Tags zuvor war er mit Herrn Pierre Fabrecé, dessen Sekretär er war, heimgekehrt und hatte alsbald im Hause seine Stellung als Faktotum wieder angetreten. Er war der beste Mensch, von untadeliger Ergebenheit und allen ein Freund, fast ein Verwandter. »Meine Damen,« rief er, indem er sein bartloses, rotgestricheltes Gesicht, drin die hellen Augen eines großen Hundes saßen, abtrocknete, »vom Gut aus wird an mich telephoniert. Warten Sie auf Herrn Jacques nicht! Er kommt nicht.« »Warum nicht?« »Er ist schon da.« »Wieso denn?« »Im Automobil. Mit einer Dame.« »Mit was für einer Dame?« »Ach, das weiß ich nicht. Die Verbindung wurde getrennt.« »Ich sehe schon, ich habe ihn!« meinte Liane zornig. »Was soll das bedeuten?« rief Armande wütend. Der erste Eindruck war also fein gelungen, der erste, der so viel bedeutete. Seit Jacques das letzte Mal daheim gewesen war, hatte er Liane, die mit Bekannten auf einer Orientreise war, nicht gesehen. Eine unbekannte Frau hätte er angetroffen, die lächelnd, mit scheinbar glücklichem Antlitz, seiner harrte. Warum kam er im Auto? Und mit wem, mit einer Frau? Herrgott, er hatte sich doch nicht, ohne etwas zu sagen, verheiratet. Das wäre eine bedauerlich geschmacklose Ueberraschung. Hastig fuhren sie zurück.
Während dessen war Val-Montoir in Aufruhr. Der Schreck, den die Ankunft Simones und ihrer Kinder in der schlechten Mietskalesche verursacht hatte, war nichts gegen das heillose Erstaunen, das der triumphierende, durch lange Hupensignale verkündete Einzug Jacques' hervorrief. Er saß in einem großartigen, aufgeschlagenen Auto, inmitten fremder Leute. Er hatte noch seinen gelben Teint, seine zugekniffenen Augen, die asiatische Gesichtsmaske, die er in Anpassung an das Milieu bekommen hatte, das verdächtige Lächeln unter dem schwarzen Schnurrbart, die unbestimmte und über alles spöttelnde Miene. Sophie hatte sich zuerst ihm an den Hals geworfen. Frau Fabrecé und Frau Siglet-du-Salt waren, einander stützend, eilends über die Treppe hinabgekommen, während Florent aus seinem hochgelegenen Fenster Signale gab wie ein Häftling und die Töchter Jean-Marcs mit den Kindern Simones einen Indianertanz aufführten. Die Gegenwart Fremder konnte den Ueberschwang nicht bändigen. Der Chinese, famos! Der Chinese! An der Schwelle der Gesinderäume und Remisen wurden die durch den Lärm herbeigelockten, froh herüberschauenden Bedienten sichtbar. Ein telephonischer Anruf in den Werken gab den Herren Pierre und Jean-Marc Fabrecé Nachricht.
Die Autofahrer hatten ihre Brillen abgenommen und machten sich in ihrer Befangenheit mit der Maschine zu schaffen. Eine große, blonde junge Frau schob ihren Schleier zurück und lachte geduldig, mit engelhaft strahlendem, wenn auch noch unerklärlichem Antlitz. Sophie erst, die den Konsul mit dem Ellbogen stieß, mahnte an die Etikette. Unter Entschuldigungen stellte er die Herrschaften einander vor, und da er von den letzten Ereignissen gar nichts wußte, sprach er vergnügt, als hoffe er dadurch allgemeine Freude zu erwecken, den am wenigsten erwarteten Namen aus: »Die Schwester unseres Sergius, Frau Belloni, deren Bekanntschaft ich auf dem Dampfer gemacht habe. Ihre Freunde, Marquis Santa Gloria, Herr Pedro Morales.«
Ein betretenes Schweigen folgte. Frau Belloni? Welch unerwarteter Zufall oder welcher besondere Auftrag brachte diese Fremde hierher, die mit der Familie durch so enge, nun aber fragwürdige Bande zusammenhing? Wie kam sie in dieser Stunde, da man wegen der Untaten ihres Bruders mit der größten Höflichkeit und dem besten Willen sie nicht anders hätte empfangen können als mit unfreiwilliger, erkaltender Verstimmung? So sah die schöne, seltsame Schwägerin aus, die man noch nicht gesehen hatte und nur nach der um ihren Namen verbreiteten Legende von Schönheit und Luxus kannte. Man wußte, sie war in Kanada mit einem italienischen Landwirt verheiratet, der großen Grundbesitz hatte, und je nachdem war sie mit Sergius, der von ihr zu reden vermied, in Zwietracht oder ausgesöhnt. Hatte sie erfahren, wie er sich verging? War sie von selbst und ohne Hintergedanken gekommen, hatte sie sich durch ihre Zufallsbegegnung mit Jacques und die schnelle Intimität unter Reisenden dazu berechtigt gefühlt? Was für Beziehungen hatten sie? Sehr freundschaftliche, schien es, allzu freundschaftliche fast unter den gegebenen Umständen. Lauter Fragen, die zu beantworten man in Verlegenheit war.
Frau Fabrecé hatte die Ankömmlinge im Salon begrüßen müssen. Aber Frau Belloni erriet wohl die heftige, je nach den Charakteren bewundernde oder feindselige Neugier, die sie erregte. »Ich hoffte, Sergius hier zu finden,« sagte sie. »Hörte ich nicht eben im Munde von Herrn Jacques den Namen meiner Schwägerin Simone, und darf ich nicht auch sie umarmen?« Der Klang ihrer Stimme war höchst anmutig. Alle standen unter ihrem Zauber, nur Simone nicht, die zuerst hinter der Gruppe sich versteckt hatte und nun rasch entwichen war. Irgend ein Gespräch wäre ihr unmöglich gewesen. Frau Fabrecé antwortete: »Entschuldigen Sie meine Tochter, sie ist krank.« »Ach,« versetzte Frau Belloni. »Haben Sie Herrn Polotzeff seit langem nicht gesehen? Haben Sie keine Nachricht von ihm?« »Seit Monaten weiß ich von meinem Bruder nichts.« Frau Belloni nahm eine reizende, aristokratische Hoffart an. Sie fühlte, daß hier der Boden gefahrvoll wurde. Ihrer scharfen Aufmerksamkeit waren die bleichen, schmerzlichen Züge ihrer Schwägerin und ihre Flucht nicht entgangen. Sergius hatte gewiß etwas angerichtet. Am ratsamsten war es, die Szene abzukürzen. Trotz des höflichen Drängens, Herr Fabrecé komme sogleich und werde glücklich sein, stand sie auf und sagte mit sonderbarem, jungfräulichem Lächeln und nur mit ein wenig zweideutigem Zucken ihrer schlangenhaft gebogenen Lippen: »Ich wollte Herrn Jacques der Liebe der Seinen zurückgeben. Nun ist er ja im Hafen. Leben Sie wohl, erinnern Sie sich an Ihr Versprechen.« Die Liebenswürdigkeit, mit der man Abschied nahm, täuschte darüber, wie eilig man es hatte. Vor Frau Belloni und unter den kalten Augen des Marquis, eines kleinen, stutzerhaft verjüngten alten Mannes mit gefärbtem Bart, hatten der große, rote Engländer und der junge Peruaner mit den Samtaugen sich auf die Maschine gestürzt. Winke, ein Lächeln, wie es der gesellschaftliche Anstand gebot, und das mächtige Auto trug in kraftvoller Wendung die Reisenden von dannen.
Jacques folgte mit dem Blick dem wehenden Schleier der jungen Frau. »Ist sie nicht reizend?« »Ach, willst du uns nicht erklären?« »Wie ich sie kennen gelernt habe? Aber gern.« Auf der Rückfahrt von Indien hatte sie sich in Aden eingeschifft, und am drolligsten war es, daß er, als hätte die Vorsehung es gewollt, sie in Lyon wiedergefunden hatte, als er den Schnelldampfer verließ, um Zeitungen zu kaufen, und ihn vor seiner Nase sich in Bewegung setzen sah. Man lachte. Das war so recht ein Streich von Jacques. Er glaubte, er sei in China, wo man sich immer Zeit läßt. Und nun tauchte sie mit ihrer Eskorte von Freunden plötzlich auf und holte ihn mit Gewalt in ihr Auto. »Wem gehört es?« »Dem Marquis von Santa Gloria, ihrem Reisegefährten.« »Und ihr Mann?« »Sie ist Witwe.« Sophie plänkelte: »Jedenfalls ist sie nicht gerade auf Einsamkeit erpicht.« Der Konsul erklärte: »Sie ist eine vornehme Frau, und so klug! Ist sie nicht wundervoll?« »Schön ist sie entschieden,« meinte Frau Fabrecé, »wenn sie auch eine unbeschreibliche Aehnlichkeit mit Sergius hat, die ich nicht liebe.« Isabelle erwiderte sanft: »Wir wissen nichts von ihr, und an dem Verhalten ihres Bruders hat sie doch keine Schuld.« »Was ist mit Sergius?« fragte Jacques, als falle er vom Monde herab. Und plötzlich kam ihm die ungewohnte Atmosphäre zum Bewußtsein: »Was geht denn vor? Ihr habt sie sehr kühl empfangen! War es denn ein Verstoß von mir ...?« »Komm und trinke deinen Tee, Patzer!« sagte Olivier freundlich und klopfte ihm auf die Schulter.
Gerade hatte man dem Chinesen über Simones Unglück Bericht erstattet, als Florent, der vor Ungeduld brannte, in einem von Antoine und Gervais getragenen Sessel hereinkam. Bald darauf glitt Simone wie ein Schatten ins Zimmer. Cyrille Jacquemer saß in einer Ecke und hörte, wie die heitere und dann von Ernst schwere Aufregung wuchs. Jetzt, da Frau Belloni und Polotzeff beiseite geschoben waren, war eine verworrene, laute Unterhaltung im Gange, mit unzähligen Zwischenrufen und Wiederholungen, deren Refrain stets war: »Du bist doch wohl? Du bist noch gelber geworden. Die Seeluft tut dir wahrhaftig gut. Jetzt aber darfst du nicht mehr reisen. Diesmal mußt du heiraten.« So schien es, als sei die Ankunft Jacques' wichtiger als alles, und als schalte sie durch die von ihr verursachte maßlose Freude jegliche Sorge aus. Mit zärtlichen Augen hütete ihn die Familie, indes er mit einer Tasse Tee sich labte. Die Mutter saß dicht neben ihm, Sophie reichte ihm die Zuckerschale und Isabelle die Zitrone. Dann kamen plötzlich, mit erzwungenem Lächeln, Armande und Liane. Neue Freudenausbrüche und ein bewegtes Schweigen. Im Türrahmen stand die große Gestalt des alten Herrn Fabrecé, der sacht eingetreten war, regungslos, an Jean-Marcs Seite. Er betrachtete das glückliche Schauspiel, das alle seine Kinder vereinigte. Um sein edles Antlitz lag sein graues Haar, an den Schläfen weißlich wie die Spitzen seines Schnurrbarts. Jacques hätte in seiner Rührung beinahe die Tasse fallen lassen. Der Vater umklammerte ihn, und dann hielt er mit seinen starken Armen ihn von sich ab, um mit seinen großen, funkelnden Augen ihn besser prüfen zu können, und wiederum zog er ihn an sein Herz: »Sei willkommen, Junge!«
Am übernächsten Tag, als das verlorene Gepäck endlich gefunden war – Bernard hatte sich redlich geplagt – nahm der Konsul die feierliche Verteilung der Geschenke vor. Stets brachte er prächtige Sachen, und jedesmal zeigte er sich freigebiger. Es war ein ganzes Warenlager. Köstlich feine Vasen, seltene Bilderbücher, altes Elfenbein für den Vater, Pelze, Seidenkleider und Stickereien für die Großmutter, die Mutter und die Schwestern, ohne daß Liane vergessen war. Für Olivier die Tracht eines Mandschugenerals, für Cyrille wertvolle Waffen, deren geflammte Stichblätter und schneidende Klingen der stille Geschichtsforscher in seltsamem Gegensatz gern betastete, für Florent eine Opiumpfeife, für Antoine Fischereigerät, dies für Bernard und jenes für Jenny-Rose, für die Kinder Puppen und Spielzeug, für das Gesinde kleine Gaben. Alles fand seinen Herrn, nur ein Kleid nicht, märchenhaft wie aus Tausendundeiner Nacht, das sofort sich als das schönste erwies, obwohl auch Armande und Simone gut bedacht worden waren. Dieses Kleid hob Jacques für Frau Belloni auf. Man wagte nicht, eine solche Höflichkeit zu tadeln, doch man fällte darüber verschiedene Urteile, und Liane wurde blaß. Sie hatte offenbar gegenwärtig keine Aussicht, so lange Frau Belloni Jacques' Gedanken beherrschte. Das sah man an tausend Symptomen. So oft die Post kam, fragte er, ob kein Brief für ihn da sei. Man sah es daran, wie er den Namen der jungen Frau ins Gespräch einwarf und schnell wieder ablenkte, schwankend zwischen der Lust, von ihr (und nicht nur mit Nächstenliebe) reden zu hören, und der Furcht, gegen Simone taktlos zu sein. Zum Teufel mit Polotzeff! Das Biest hatte sich eine schöne Zeit ausgesucht, um sich die ganze Familie zu entfremden!
Jacques war wirklich in Vera verliebt. Der helle Klang dieses kurzen, süßen Namens bezauberte ihn. Was konnte sie dafür, daß Sergius ein gemeiner Mensch war? Sollte Jacques deshalb darauf verzichten, sie zu umwerben? Lange von seinen Angehörigen getrennt, fühlte er sich noch nicht von dem starren Band umschlungen, das alle Fabrecé in ihren Neigungen füreinander einstehen und ihren Haß gemeinsam empfinden ließ. Er staunte das rätselhafte Schicksal an, durch das, von zwei entlegenen Welten kommend, zwei gestern einander unbekannte Wesen, deren Bestimmung es doch war, sich kennen zu lernen, genähert worden waren. In ihm entfalteten sich unausgesprochenes Begehren, ungeträumte Träume, aufgesparte Zärtlichkeit. Denn da er an seinem fernen Wohnsitz jeden besseren Umgang mit Frauen vermißt hatte, hatte ihn Veras gewinnende Art sofort erobert, ihrer Schönheit wegen so sehr als wegen der günstigen Gelegenheit. Sie zuerst schien mit ihrem reinen, weißen Teint und ihrem westlichen Geist die romantische Vorstellung von der Liebe, die er hegte, zu erfüllen. Hatte er eine ihm klare Absicht? Nein. Sie war Witwe und hatte, wie lange sie auch den ehrenwerten Herrn Belloni beweint hatte, sich zweifellos getröstet; als Witwe war sie ja frei. Das gab ihr viele Möglichkeiten. Eine dunkle Eifersucht hatte die »Kristallisation« seiner Leidenschaft gefördert, indem sie ihm den unvergleichlichen, plastischen, wie die Woge schwebenden Rhythmus Veras enthüllte, wenn die Schiffsbrücke unter ihren Füßen nachgab oder der rußige Wind ihr feines Hemd und ihren geschmeidigen Rock an sie legte. Unendlich begehrenswert war sie. Die Blicke des alten Marquis während der Fahrt waren nicht nur väterlich. Und mit ihrem phantastischen Slawinnen-Typus, dem die falsche italienische Trägheit einen Schein von Müdigkeit gab, verwirrte sie den Colonel Hawks und den jungen Morales, diese Freunde, die sie in Marseille erwarteten und sich umsonst gleichgültig gebärdeten. Jacques hatte den Biß von Rivalitäten gefühlt, die seiner harren konnten, und seine männliche Sucht, zu erobern, war dadurch noch stärker geworden. Dann war noch Veras rätselhaftes Leben in Freiheit und Unabhängigkeit, das sie nur ihren Launen frönen ließ. Alles das, und Vernunftgründe auch, die trotz seiner Benommenheit auf ihn wirkten, seine bürgerlichen Begriffe, die Wahrnehmung flüchtiger Dissonanzen im Verhalten des jungen Weibes, das bizarre Rätsel, in das sie ihr vergangenes Leben zu bergen suchte, indem sie allzu bestimmten Fragen auswich – all das machte ihn Tag und Nacht wie ein Liebestrank fiebern. Ob es Balsam oder Gift war, er wußte es nicht.
Verdrossen kündigte Liane ihre Abreise an. Umsonst gab man sich Mühe, sie zurückzuhalten. In ungewollter Ironie erbot Jacques sich, sie nach Paris zu begleiten; er mußte ins Ministerium. Das war nur ein Vorwand. Der wahre Grund war sein unbezwingliches Bedürfnis, Frau Belloni wiederzusehen, und es traf sich, daß sie ihn auf einer Karte zum Frühstück einlud. Sie bat ihn, das Geheimnis zu wahren, da sie über peinliche, delikate Gegenstände mit ihm vertraulich zu reden habe. Ueber Sergius offenbar?
Die Eisenbahnfahrt war nicht sehr vergnügt. Olivier reiste mit ihnen. Scheinbar ohne die niederträchtige Stimmung Lianes zu bemerken, setzte Jacques sie vor ihrem Hause ab, indem er seinen baldigen Besuch bei Frau Charnot ansagte. Dann rief er dem Chauffeur zu: »Splendid-Hotel, aber schleunigst!«
Währenddessen begab Olivier sich zu den Damen Sarnel, mit der geheimen Furcht, die ihn bei diesen Besuchen eine von allzu großer Niedergeschlagenheit beengte Freude empfinden ließ. Die Uneinigkeit der Menschen, die er in den niedrigen Stuben dieses fünften Stockwerks sah, die Verschiedenheit ihrer Seelen hinterließen in ihm stets eine Erschöpfung, mit einem Grade von Feindseligkeit fast, daß er sich immer versprach, nicht mehr hinzugehen. Und gegen seinen Willen ging er wieder hin, bezwungen durch das leidenschaftliche Verständnis in den Augen von Elisabeth Sarnel, in diesen großen, blauen, schimmernden Augen, die ihn hinderten, etwas anderes in ihrem schon welken Gesicht zu sehen. Weiß war sie wie eine Lilie, die in duftlosem Raum dahinsiecht. Wie konnten zwei solche Ausnahmewesen, André, der den Tod für die Freiheit gestorben war, und Fräulein Elisabeth, die demselben Ideal sich weihte, Kinder von Frau Sarnel sein, deren Ebenbilder vielmehr die beiden jüngeren Schwestern, Juliette und Marthe, waren. Keifend, herrschsüchtig, feig gegenüber dem Leben, hart gegen die Schwachen und die Reichen niedrig umschmeichelnd, hatte sie keine grundlegenden Ideen, keine echte Moral. Ihr Streben war nur, den Schein zu retten, und ihre Züge waren unruhig von Gier und Bosheit. Sie war vielleicht nicht schlecht, aber sie war etwas Schlimmeres. André hatte während seiner kurzen Soldatenlaufbahn sich isoliert, und so stoisch war er gewesen, daß nichts Gemeines an ihn herankonnte. Aber wie mußte Fräulein Sarnel in ihrer Ueberlegenheit, mitten unter dem galligen Nichtverständnis ihrer Verwandten, leiden! Sie war gebrechlich, sie hinkte, sie war zur Krücke verdammt und meist gezwungen, zu sitzen. Wenn sie nicht mit rascher Feder Uebersetzungen aus dem Englischen besorgte, klapperte sie stundenlang an ihrer Schreibmaschine. Von diesem mageren Verdienst – Frau Sarnel war auch Stenographin – lebten die beiden Frauen und erhielten sie Juliette, die zu krank war, um zu helfen, und Marthe, die Unterricht im Konservatorium hatte. Armes Fräulein Sarnel, traurige Umwelt!
Vor der abgescheuerten Strohmatte blieb Olivier stehen. Dünn läutete die an einem langen Band mit braunem Kupferring hängende Klingel. Er hörte einen unregelmäßigen Schritt. Fräulein Elisabeth öffnete. Ihr Gesicht erhellte sich: »Kommen Sie doch herein! Mama ist unterwegs, da sie das Mädchen entlassen hat.« Das war das klägliche Alltagsdrama: ein dürftiges Mädchen zu 25 Francs, das mit Vorwürfen überhäuft und schlecht behandelt wurde, von dem Frau Sarnel ein ausgezeichnetes Benehmen, eine untadelige Küche und reichliche Wascharbeit verlangte, und das sie nach vierundzwanzig Stunden schmählich entließ, wenn es ihr nicht die Schürze an den Kopf warf.
Olivier ging hinter Fräulein Sarnel – ach, war sie noch jung mit zweiunddreißig Jahren? – in ein Zimmerchen, ein kleines Vogelhaus, das von flügelschlagenden Kanarienvögeln und grünen Zwergpapageien wimmelte; sie waren Elisabeths einzige Zerstreuung. Sie pflegte diese Tierchen, wie alle, die nichts Besseres zu lieben haben, und fand in ihrem demütigen Singen einen Trost, den sie sich manchmal zu Herzen nahm, obwohl sie sich sagte, daß sie so wenigstens nicht unter Hunger und Kälte litten. »Wie geht es heute?« fragte Olivier. Ihre Briefe hatten ein vertrauliches Verhältnis zwischen ihnen angebahnt, das bis in die Tiefen des Gewissens reichte, bis zu den Fragen, die ihnen Lebensfragen schienen. Sie entgegnete mit gedämpfter Stimme: »Nicht so gut, als ich wollte. Es gibt schon Stunden, die schwer zu ertragen sind.« Er verstand. Er wußte, daß man ihr wegen ihres gehobenen Geschmacks zusetzte, weil sie nachts »langweilige« Bücher las, weil sie »wie eine große Dame« bei Klatsch und Geschrei schwieg. Man klagte sie an, sie »verachtete« die anderen; man verkannte ihre feine Empfindsamkeit und ihre unermüdliche Hingebung. Willig hielt sie diese Nadelstiche aus, und dennoch flößte sie allen einen gewissen Respekt ein. Aber konnte sie sich an das gewöhnen, was ihr besonders zur Qual war, an die Arglist Juliettes, an Marthes junge Verderbtheit und ihr talentloses Drängen zum Theater, zu dem sie sich berufen glaubte, das heißt früher oder später zur Prostitution? Und dann war noch die brennendste Sorge der Familie, Alexandre, ein Neffe von Frau Sarnel, den man aus Familienstolz wie aus Mitleid aufgenommen hatte, ein neunzehnjähriger Taugenichts, der schon betrübliche Verfehlungen gegen seinen Chef, einen Kaufmann im Stadtbezirk des Temple, begangen hatte.
Olivier kannte durch Marthes Geplapper und die Klagen der Frau Sarnel die ganze Vergangenheit der Familie, die einmal wohlhabend gewesen war. Doch vor zehn Jahren hatte Herr Sarnel, ein Industrieller, unmittelbar vor dem Zusammenbruch Selbstmord begangen, und seine Frau konnte es nicht verwinden, daß sie keinen Wagen mehr hatte und keine teure Wohnung. Das war eine ewige Litanei: »Damals, als wir zwei Parkettsitze in der Komischen Oper hatten,« oder: »Du erinnerst dich doch, Juliette, wie hübsch unser Landhaus in Viroflay war?«
»Ich habe Ihnen das Buch gebracht, das Sie wünschten,« sagte Olivier. Er reichte ihr die »Essays« von Emerson. Fräulein Elisabeth wurde schön, wenn ihre Augen lächelten, die ihr ganzes Antlitz und beinahe ihr ganzes Wesen waren. Keuchend wurde im Nachbarzimmer eine gereizte Stimme laut: »Wer ist da, Beth?« Er verabscheute diese Verkleinerung des Namens, die ihm wie ein Schimpf klang. Das Mädchen erhob sich: »Sagen Sie doch Juliette Guten Tag!« Sonst hätte sie sie nicht in Ruhe gelassen.
Juliette saß in einem mit Kissen vollgestopften Sessel und empfing sie mit einem boshaft triumphierenden Lächeln. Fahl, mit den großen Augen eines Fisches, der auf dem Sande veratmet, mit blauen Nasenlöchern, die so dunkelviolett waren wie ihre Fingernägel, erstickte sie an einem tödlichen, angeborenen Herzleiden. Wütend über ihre Schmerzen zeigte sie die wilde Selbstsucht der Unheilbaren. »Ach, ich dachte mir schon, daß Sie es sind,« rief sie zwischen zwei Krampfanfällen. »Hindern Sie aber Beth ja nicht daran, mir für Sonntag meinen Hut zu richten.« Mit ihren fleißigen Fingern putzte Elisabeth die Hüte der Familie auf. Und als er eintrat, hatte er den Juliettes schon fertig gesehen, mit großen Federn und einer Schleife von vergoldeter Spitze, den Renommierhut, den sie forderte, um bei der Spazierfahrt durchs Bois ihrem schon vom Tode gezeichneten Gesicht ein Aussehen zu geben. Sie fuhr fort: »Warum lesen Sie nicht hier in der Stube? Ich höre so gern vorlesen.« Unwillkürlich warf Olivier einen Blick auf das Bündel schmutziger Romanfeuilletons, das auf ihren Knien lag. Es waren abgeschmackte Geschichten von geraubten Kindern, von Polizei und Verbrechen, die einzigen, an denen sie Spaß hatte. »Ach ja, ich weiß wohl. Sie verachten mich!« Ihr Atem ging rasend schnell. Sie wurde tiefblau, ihre Hände schlugen gegeneinander, ihr Mund rang krampfhaft nach Luft, ohne daß man wissen konnte, wie weit sie, um zu erschrecken, zu ihren nur sehr wirklichen Leiden noch simulierte. Ihre Schwester hielt ihr Aether zum Riechen vor.
Schon öffnete Olivier das Buch Emersons und fing zu lesen an. Juliette maß sie hämisch. Warum sprachen sie diese geschwollene Sprache? Was waren das für alberne Poseure! Allmählich schläferten der Aether und die tonlose Stimme sie ein. Hätte Olivier die Augen vom Buch erheben wollen, wie sehr hätte der Blick von Fräulein Sarnel ihn belohnt! Wie berauscht war dieser Blick, voller Zärtlichkeit. Sie selbst ahnte seine Bedeutung nicht, und doch schlug sie, als das Kapitel zu Ende war, die Augen nieder. Juliette lag in einem Schlummer der Angst und keuchte, wie von einem Mühlstein zermalmt. Wieder fühlte Olivier das Mitleid, das er eben aus seinem Herzen verjagt hatte. Ach, welche traurige Existenz! Warum denn leben, wenn man so grausam verflucht, den anderen und sich selbst zur Last ist? Und sie, sie wollte leben, leben, leben, die Verfluchte! Wie geschah es? Seine Hand lag in der Elisabeths, als vereinigten sich die Hände eines Brautpaars: »Fräulein,« und er erinnerte sich an ein Alterswort Goethes, ein tapferes Wort, das sie liebte: »Dorthin, ich muß, ich muß!« Sie antwortete ihm mit ihrem herrlichen, unsicher frohen Blick: Ja über die vernichteten Illusionen hinaus, über allen Gram, über die Erbärmlichkeit des menschlichen Seins, über die Krankheit, über den ewig drohenden Tod, vorwärts auf dem Passionsweg der Güte und des Opfers!
In ihrer Bewegung einander nah, plauderten sie noch. Und wie immer führte der Ferne, der Verschollene durch das Gedenken an ihn sie zusammen. Die armselige Umgebung verschwand, nichts war zu hören als das leichte Blättern, das piepsende Geschrei der Vögel im Käfig. Lächelnd wachte André Sarnel als mystischer, fast gestaltloser Hüter über der Liebe seiner Schwester und seines Bruders. Plötzlich vernahmen sie ein spitzes Hohnlachen: »Ach, sehr gut, sehr gut!« Juliette hatte die Augen wieder offen und sah mit unsäglicher, beleidigender, verdächtigender Wut her. Elisabeth wurde rot bis zu den Haarwurzeln, als sie bemerkte, daß ihre Hände noch nicht gelöst waren. Ohne Erregung betrachteten sie die Kranke, mit einer Gelassenheit, die zu rein war, als daß sie sie hätte verstehen können.
Aus dem Vorraum schollen Stimmen. Der Zauber war gebrochen. Strahlend rief Frau Sarnel, eine verblühte Schönheit mit unzähligen haarfeinen Runzeln, jedoch gefallsüchtig in ihrer Kleidung: »Wie liebenswürdig von Ihnen! Sie wollen so nett sein und mit uns einen Bissen essen. Doch, doch! Marthe wird Ihnen Toasts vorsetzen. Da bringe ich auch famose Krabben. Ach nein, das sind ja Bänder aus dem Warenhaus La Fayette. Marthe, komm schnell, Herr Olivier ist da!«
Marthe, die mit ein wenig Schwarz, Carmin und Puder sich übers Gesicht gefahren war, trat ein. Sie zeigte dabei ihr Profil wie die Naive im zweiten Akt. Sie sprach schon komödiantisch mit künstlicher Stimme und rollte die R: »O, was für ein Verrgnügen, Sie wiederrzusehen!« Mit ihren Pensionatszöpfen spielte sie den Backfisch und, die Augen verdrehend, suchte sie durch das Gebaren schlauer Unschuld den jungen Mann zu locken: »Was macht Ihr Arm? Schmerzt er nicht mehr so?« Tückisch lachend verhöhnte Juliette den Traum ihrer Mutter, die Besuche des Leutnants zugunsten Marthes auszubeuten. Afrika und eine gute Heirat waren ja besser als angestrichene Dekorationen und die Theaterwirtschaft. Doch da war nichts zu machen! Olivier entschuldigte sich, sein Platz war nicht mehr hier. Er wollte sich die Erinnerung an eine Stunde milder Harmonie unversehrt bewahren. Man konnte ihn nicht zurückhalten.
Im Splendid-Hotel betrat Jacques eine jener ungeheuren Karawansereien, worin das Leben mechanischen Gesetzen untertan scheint. Blitzschnell laufende Fahrstühle, automatische Bediente, riesige Vorhallen, unsichtbare Musik, Wände, die von Wasser und Dampf rauschen und mit elektrischen Fäden bespannt sind. Er kam in irgend einen kleinen, von Gold und gelben Seidenstoffen leuchtenden Salon, in dem Frau Palmé, die Gesellschaftsdame, ihn empfing. Von geistreicher Häßlichkeit, mit großen, sanften Augen und einem geheimnisreichen Mund saß sie, schwarz und kurz gewachsen, nach unten plump wie eine Kröte, da. Wiederum bezwang Jacques seine Abneigung. Zu klug, um dessen sich nicht bewußt zu werden, lächelte sie ihm wohlwollend zu; denn sie beehrte ihn mit schmeichlerischer Sympathie. Das Erscheinen ihrer Herrin in einem rosigen, mit schönem Pelz besäumten Libertykleide endigte diese kurze Pause der Benommenheit. »Die arme Juana hat sich kaum von der Reise erholt,« sagte sie. »Sie hatte während der Fahrt übers Meer so gelitten, daß sie in Marseille hatte ausruhen müssen. Wir werden allein sein,« fuhr Frau Belloni fort. »Der Marquis, der in Versailles logierte, ist gestern abgereist. Sein Sekretär hat mir eben telephonisch Nachricht gegeben.« Daß Herr von Santa-Gloria Versailles und nicht Paris gewählt hatte, machte auf Jacques einen günstigen Eindruck, und er glaubte, sich nach den beiden anderen erkundigen zu sollen. »Ich glaube, der Oberst Hawks ist in London, und der kleine Pedro hat Influenza.« Ein Segen, daß alle diese Menschen abwesend waren, besonders der Marquis, dessen ungewisse Rolle halb die eines Gönners, halb die eines Bewerbers war; doch warum sollte er nicht einfach der alte Freund sein, wie sie beteuerte? Und glücklich bewunderte Jacques den Glanz des jungen Weibes und ihr vollkommenes Antlitz, das ein Verweilen der Blicke kaum erlaubte. Zuweilen aber nahm die Unruhe in ihm überhand. Ihn, der an geordnete soziale Verhältnisse gewöhnt war, verwirrte Frau Bellonis unentschiedene Situation. Selbst ihre Witwenschaft tat es, über die er im Dunkeln blieb. Nur schattenhaften Anspielungen hatte er entnommen, daß sie, solange ihr Mann lebte, eine unverstandene, seelisch leidende Frau gewesen sei. Aber ihr großer Zauber machte ihn rasch der gläubigsten, optimistischen Auffassung wieder botmäßig.
Mit liebenswürdigem Interesse fragte sie ihn nach seiner Familie, nach allen diesen Fabrecé, die sie durch Sergius und mehr noch durch ihn kannte; auf dem Dampfer »Colombo« hatte er sich redselig über sie geäußert. Ohne nachtragend zu sein, bemerkte sie, die Fabrecé hätten sie ein wenig büßen lassen, daß sie im unrechten Moment sich gezeigt hatte. »Seit zwei Tagen kann ich mir vieles erklären, und ich will ihnen sagen, weshalb. Nun wollen wir erst frühstücken. Haben Sie Hunger?«
Jacques' erschöpfter Magen hatte an den Speisen einen schon vergessenen Genuß. Die »gute Juana« erschien wieder, stumme Bedienung stellte Tische hin und wartete mit einem delikaten Service auf, das Frau Palmé mit ihren zärtlichen Raubtieraugen überwachte. Man trank kühlen Sekt und dazu einen heißen Romanée. Jacques fühlte, wie sein Herz schneller schlug, und Wohlbehagen durchrann seinen Körper. Er wurde lebendig, heiter, verführerisch, mit dem Frohmut eines großen Kindes, der ihm die Herzen gewann. Frau Palmé lachte und gab ihm Antworten. Vera Belloni indessen – wahrhaftig, sie hatte mit Sergius seltsame Ähnlichkeit – versank in flüchtige Träumerei. Sie stützte ihr Kinn auf ihre Hand, der weite Mantel ihres Kleides fiel bis zum Ellbogen zurück, und ihr weißer, blaugeäderter Arm entblößte sich. Nie hatte Jacques eine zartere, lieblichere Haut gesehen. Der ausgeschnittene Hals, der gelbliche Nacken unter den goldenen Löckchen bannten ihn.
Beim Kaffee nahm er kaum wahr, daß seine häßliche Verbündete insgeheim entwich. Das Tier aus dem Märchen war fort und nur noch die Schöne da. »Wollen Sie läuten, lieber Freund, damit abgenommen wird?« Wieder waren sie allein. »Eine Zigarette?« Sie reichte ihm das Kästchen, doch sanft zog er es ihr aus den Händen und drückte auf ihre wie Perlmutter schimmernden Flächen, auf ihre Finger mit den wie Korallen von Neapel rosigen Nägeln kleine, fieberheiße Küsse, die sie, zerstreut wie eine lustvoll gerührte Prinzessin, über sich ergehen ließ. Verlieh der Champagner, der Romanée ihm eine solche Kühnheit oder die stürmische Unerfahrenheit eines erstmals verliebten Herzens, das, schlecht gerüstet gegen Argwohn, sich völlig auslieferte?
»Ich liebe Sie,« flüsterte er, »ich liebe Sie. Haben Sie es nicht erraten? Ich zittere, Ihnen zu mißfallen, und doch weiß ich, daß Sie fühlen müssen, was ich für Sie empfinde. Meine Verstörtheit, meine Blicke, mein unruhiges Schweigen, alles muß es Ihnen gesagt haben.« Sie lächelte: »Wirklich, so rasch?« »Ja, so rasch. Ich kenne Sie erst seit wenigen Tagen, aber darin täuscht man sich nie. Vera, ich liebe Sie, und das muß wohl so sein, da ich bei allem Kummer meiner Familie die durch Ihren Bruder ihr zugefügte Kränkung vergessen muß. Ich verletze meine Pflicht gegen meine nächsten Verwandten, um nur an Sie zu denken. Vera, wie können Sie an meinen Worten zweifeln, wenn ich Ihnen sage, daß ich alles sein werde, was Sie wollen, Ihr bester Freund oder, wenn Sie damit einverstanden sind, Ihr Gatte?« Sie unterdrückte eine Gebärde der Ueberraschung: »Sie wollen mich heiraten?« »Gewiß.« Sie betrachtete mit plötzlich weichem, halb mitleidsvollem Blick den Mann, der hitzig und jung genug war, um ihr so, in ehrlicher Wallung, seinen Namen, den seiner Familie, die unwiderrufliche Verpfändung eines Schicksals zu bieten. »Aber Sie kennen mich ja nicht, guter Jacques.« »Ich liebe Sie.« »Sie wissen nichts von mir und meinem Charakter.« »Ich liebe Sie.« Er war beinahe niedergekniet, heiß von Begehren, von einer Erregung gepackt, die stärker war als sein Gefühl, als die Stimme seines Gewissens, als die Warnungen seiner Klugheit. Denn daß dies eine Tollheit sei, daran zweifelte er keine Minute; aber er hielt es für ritterlich, sein Glück auf eine Karte zu setzen. Alles machte ihn taumeln, der Frühlingsrausch und der Rausch, der von dieser Frau ausging. Nach den Jahren der Verbannung stellte ihre niederschmetternde Gewalt für ihn den Triumph der auserwählten Rasse dar, der er in ererbter Abhängigkeit mit jeder Fiber seines Wesens untertan war, der weißen Adelsrasse, von der er so oft während einsamer, schlafloser Nächte in Asien geträumt hatte.
Mit ihren Fingern, an denen die Ringe blühten – wie köstlich war ihr Tasten – streifte sie die Schläfen des Konsuls. »Morgen werden Sie Ihre Worte bereuen!« »Nein.« »Sie werden sie bereuen. Vielleicht bereuen Sie sie schon jetzt?« »Nein, nein.« »Ich durchschaue Sie besser als Sie sich selbst. Sie begehren mich mehr, als Sie mich lieben. Oh, Sie meinen es aufrichtig. Doch was dächten Sie, wenn ich Ihrer Unbesonnenheit nachgäbe?« »Stellen Sie mich auf die Probe. Die Zeit ...« »Sie würden leiden, und ich will Ihnen keine Leiden schaffen. Ich passe nicht zu Ihnen, ich bin schlecht und fähig, das Böse um des Bösen willen zu tun.« »Ich glaube Ihnen nicht.« »Und wenn nicht auch die sicher zu erwartende Feindschaft Ihrer Familie und der wahrscheinliche Bruch unseres Verwandtschaftsverhältnisses jeden Bund unmöglich machten, so habe ich andere Gründe noch.« »Ich will sie kennen lernen.« »Erstens bin ich entschlossen, unabhängig zu bleiben.« »Ihren Entschluß würde ich ehren. Doch entsagt man ihm nicht, wenn man liebt?« Sie lächelte spöttisch und gönnerhaft: »Nein, ich will frei sein.« Eifersüchtig fragte er: »Wem zu Gefallen?« »Mir. Drängen Sie nicht weiter, Jacques! Ich will Ihnen einen Grund anvertrauen, der mehr ins Gewicht fällt. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, darüber zu schweigen.« »Sie haben es.« »Ich bin verheiratet; mein Mann lebt noch.« »Ach!« rief er mit einer Gebärde des Schmerzes und doch auch der Erleichterung, ohne daß er sich dieses unfaßliche, leise, unwägbare Gefühl einer Befreiung erklären konnte. Doch sogleich verdüsterte ihn wieder Argwohn gegen all jenen Schein, der jetzt noch viel zweideutiger war, den Verkehr mit dem Marquis und den anderen Freunden, mit denen sie auf dem Fuß einer ausgelassenen Kameradschaft stand: »Warum gebrauchen Sie diese Lüge?« »Meiner Bequemlichkeit halber. Ich habe Ihnen schon andere Sachen vorgelogen. Aber damals wußte ich nicht, Jacques, daß Sie mich wahrhaft liebten. Mich heiraten! Das ist nett, ja sehr nett, mehr noch, edelmütig und brav. Vergessen Sie diesen Traum und nehmen Sie mich wie ich bin, als die Abenteurerin, zu der mich mein Leben gemacht hat. Vor fünf Jahren habe ich meinen Mann in friedlichem Einvernehmen verlassen und dabei mein Vermögen zurückerlangt.« Friedlich, aber nach was für einem geheimen, schmachvollen Drama? Sprach sie jetzt wenigstens die Wahrheit? Wie wollte er das wissen? »Und seither?« »Seither ... habe ich gelebt ...« »Wollen Sie mich Dinge vermuten lassen, die mich quälen, wenn ich nur daran denke? Sie haben diese Menschen nicht geliebt, Vera?« »Was für Menschen?« »Sie wissen doch? Den Marquis und die ...« »Nein, nein, sie nicht!« Diesmal klang es aufrichtig, und er wollte an ihr nicht zweifeln ... »Wen sonst noch dann?« »Was schert Sie das? Ich war Ihnen nichts schuldig.« Er stöhnte: »Und ich stellte Sie so hoch! Warum habe ich Sie geliebt?« »Weil ich die erste war und Sie an Heirat dachten, haben Sie zu mir davon gesprochen.«
Diese Wahrheit traf ihn wie die Spitze einer Nadel. Doch nie, das wußte er, hatte er den Mut, auf sie zu verzichten, selbst da sie den Heiligenschein nicht mehr hatte, mit dem er sie verherrlichte, auf sie, die, eine Tochter des Triebes, durch die Welt eilte, auf sie, in deren zerrissenem Rätselschleier er Entwürdigung und Not erriet, auf ihre unreine Schönheit. Aus der Tiefe des Geistes, wo das sich regt, was wir uns nicht zu gestehen wagen, glühendes, dunkles Begehren, erhob sich in ihm ein verzweifelter Wille, sie nicht zu verlieren. Er flüsterte: »Sie lieben mich nicht.« »Was wünschen Sie denn von mir?« antwortete sie mit einem Lächeln, das ihm das Lächeln eines Engels schien und nicht mehr des finsteren Geistes, der eine Sekunde lang ihren Zügen sein Stigma aufgedrückt hatte. »So würden Sie mich lieben, Vera?« »Fühlen Sie es denn nicht? Würde ich sonst mit Ihnen reden, wie ich mit niemandem geredet habe? Hören Sie! Als ich Sie erwartete, wußte ich nicht, ob ich Sie als Feind behandeln würde. Ich bin nicht gut, ich habe es Ihnen gesagt, und habe schreckliche Launen. Ich habe Sergius gesehen.« »Sie haben ihn gesehen? Wann?« »Er ging hinaus, als Sie hereinkamen.« »Nun?« »Er hat mir in seinem Sinne seinen Streit mit Ihrer Schwester erzählt. Auch er kann lügen. Ich halte ihn nicht für unschuldig, nein, gar nicht; von ihr glaube ich kaum, daß sie sich verfehlt hat, und übrigens geht mich das nichts an. Doch er kann ihr schaden. Gewissen würde ihn nicht hemmen. Wenn er auch keine Beweise hat, hat er Verdachtsgründe, einen Brief von seiner Frau und von einem, der ... nun, der ihr nicht gleichgültig ist.«
»Was sagen Sie da?« rief Jacques bestürzt, denn nie hätte er geahnt ... »Ich habe also durchgesetzt, daß Sergius mir diese Briefe einhändigt, damit ich bei der Einigung, in die er willigt, vermittle. Scheidung erlaubt er nicht, Trennung von Tisch und Bett auch nicht. Doch mit einer freundschaftlichen Trennung wäre er einverstanden, die die Möglichkeit einer Versöhnung offen läßt, über die Zukunft nichts ausspricht und das Interesse der Kinder sicherstellt. Fürs erste würde er sie Ihrer Schwester anvertrauen und ihr Verfügungsfreiheit über das, was ihr gehört, lassen. Nur eine Bedingung hat er – entschuldigen Sie, wenn ich sie wiederhole – daß nichts im Verhalten von Frau Polotzeff vor der Welt den Argwohn rechtfertigt, den er hegt, und den diese Briefe für voreingenommene, übelwollende Geister erhärten können.« »Oh!« rief Jacques. »Er beschimpft sie noch!« »Ich begnüge mich damit, Sie von Sergius' Vorschlägen zu unterrichten. Es wird für Sie weniger peinlich sein, wenn Sie sie von mir erfahren und dann Ihrer Schwester unterbreiten. Dieser Briefe darf ich mich um keinen Preis begeben. Vor Ihrer Ankunft fragte ich mich, ob ich mich ihrer nicht bedienen sollte, Sie zu demütigen und zu martern. Sergius hat sie mir nur anvertraut, damit ich eine Art Erpressung an Ihnen und Ihrer Familie versuche, um Sie zu knebeln und jeden Antrag auf Scheidung, jeden Prozeß, jede Vergeltungsmaßnahme zu hindern.« Aus dem Ausschnitt ihres Kleides nahm Vera Belloni einen offenen Umschlag: »Sie werden mit den Briefen hier machen, Jacques, was Sie wollen. Sie können nach Gutdünken damit verfahren. Ich verrate Sergius, ich handle schlecht an ihm, ich setze mich einer Rache aus, deren Drohung ich wohl kenne. Aber ich will Ihnen einen Beweis von Ergebenheit liefern, den Sie nicht ablehnen werden. Diese Briefe könnten Ihre Schwester vernichten; da sind sie.« Jacques zögerte. »Nehmen Sie sie schnell,« sagte Frau Belloni mit einem Zittern in der Stimme, als bereue sie schon, was sie tat. Er zwängte den Umschlag in seine Brieftasche. Sie hielt ihm ihre feinen Hände hin, ihre schönen, nackten Arme, die er glutvoll küßte. »Jetzt gehen Sie ...« »Fordern Sie es nicht gleich! Lassen Sie mich von meiner Liebe, von meiner Dankbarkeit sprechen.« Leiser antwortete sie: »Morgen, morgen kommen Sie wieder! Gehen Sie! Es ist besser so.«
Jacques war sehr bewegt, als er mit der kleinen Gräfin unter vier Augen reden konnte. »Ich bitte dich,« hatte sie gerufen, »nenne mich nicht so! Alles, was mich an meinen Namen erinnert, flößt mir Schauder ein.« Sie hatte umränderte Augen, und zuweilen erfaßte sie ein nervöses Zucken wie in Unheilsträumen. Er betrachtete sie mit verlegenem, gütigem Blick. Nie hatten während der langsam dahinfließenden Zeit des Müßiggangs in China sein Herz und sein Hirn einen solchen Aufruhr durchgemacht. Seine komplizierte Empfindung für Vera hatte eine neue Form angenommen, und sein Mitleid mit Simone krankte unter der freundschaftlichen Einmischung der Frau, die er liebte; wie groß gesinnt hatte sie sich gezeigt! Brüderliche Scham hielt ihn ab, alles zu erklären. Doch Simone, deren Geschichte nach und nach in der Familie bekannt wurde, bekundete ihm ein so inniges Vertrauen, daß er sich so weit überwand, die berüchtigten Briefe hervorzuholen. Mit ihren zitternden, armen Händen entfaltete sie sie, dann richtete sie auf ihn einen schönen, unglücklichen Blick: »Du hast sie gelesen?« »Ich! Dessen hältst du mich für fähig? Wie unzart wäre das!« »So lies sie!« Lebhaft wehrte er sich, doch sie bestand darauf. Arme Schwester! Wie hatte sie leiden müssen! Er war gerade mit dem Lesen zu Ende, als Isabelle eintrat. Sie erschien sehr willkommen, und nun beratschlagten sie. Einmütig beschlossen sie, die Briefe zu verbrennen. Beruhigt und doch voll Grams sah Simone, wie die gefährlichen Schriftstücke verschwanden. Es war ihr, als würde da ein wenig vom Denken und Fühlen des Mannes verzehrt, der ihr teuer war, und von ihrem eigenen Selbst. Was die Verhandlungen mit Sergius betraf, so machte die edle Bereitwilligkeit seiner Schwester es unerläßlich, daß man ihre Dienste in Anspruch nahm.
Fünf Minuten später hielt man in Gegenwart der alten Fabrecé eine Konferenz ab. Bei der gerechtfertigten Sorge der Eltern wegen ihrer Flucht und wegen der Situation, in der sie sich befand, hatte Simone sich ein völliges Geständnis abringen müssen. Sie hatte die schmachvolle Brutalität ihres Gatten bekannt und, was ihr noch schwerer fiel, die Rolle ihres Freundes Henri Le Jas in diesem Drama, dem man noch keine Lösung wußte. Denn gab es eine solche, gab es einen Ausweg aus dem Labyrinth? Eine Heirat mit Le Jas hätte alles geordnet, wenn auch nicht nach dem Wunsch von Herrn und Frau Fabrecé, die Feinde der Scheidung waren und über die Nachteile einer zweiten Heirat, auch für einen Witwer, Bescheid wußten. Sie dachten an die Töchter Claudies, wie man sie nannte, statt sie die Töchter Jean-Marcs zu nennen. Schließlich wäre auch das hingegangen, da Le Jas so hohe sittliche Garantien bot. Doch nichts war zu erhoffen. Ihn seinerseits ließ seine Frau nicht locker, und auch Simone war durch Sergius' Willen, einer Scheidung sich zu widersetzen, geknebelt. Herr Fabrecé, der nachsann, blickte auf: »Eine gesetzliche Trennung, die dir drei Jahre Ueberlegung ließe und nichts überstürzen würde, scheint mir das einzig Vernünftige. Der häßliche Skandal, der solche Prozesse begleitet, würde verringert, wenn man deinen Mann dazu brächte, zu unterschreiben. Dann wäre alles in drei Wochen geregelt. Du willst etwas sagen, Isabelle?« »Ich fürchte alles, Vater, was auf Simone die öffentliche Aufmerksamkeit lenken und später ihren Kindern vorgehalten werden könnte. Unbemerkt würde die Ehetrennung einer Fabrecé, auch wenn sie rasch vor sich geht, nicht bleiben.« »Gewiß, aber deine Schwester hätte dann eine klare Position. Das Gesetz würde sie schützen. Sonst hat sie keine Sicherheit als die Versprechungen ihres Mannes, der immer der Herr ist und auf seine Rechte als Gatte und Vater pochen kann. Und zu dem Wort eines Polotzeff habe ich durchaus kein Vertrauen.« Er wandte sich Jacques zu, der eine halbe Bewegung gemacht hatte. »Vater,« meinte dieser, »haben wir denn die Wahl? Frau Belloni hat mir bestätigt, daß Sergius eine solche Auseinandersetzung so wenig gutheißen würde wie eine Scheidung.« »Wir können doch auf Scheidung klagen,« sagte Herr Fabrecé. »Und wir können verlieren,« wandte Isabelle ein.
Frau Fabrecé nahm das Wort: »Mir scheint, daß die freie Handlung von Frau Belloni, die ihren Bruder entwaffnet, uns ihr verpflichtet. Wir dürfen die junge Frau nicht in die Gefahr bringen, ihre Unklugheit beklagen zu müssen. Und wäre es nicht auch Sergius gegenüber, so schuldig er sein mag, gewagt, einen schiedlichen Vertrag abzulehnen, der Aergernis vermeidet, dir, Simone, deine Kinder läßt und dich von einem Joch befreit, das, ich gebe es zu, unerträglich geworden ist? Was meinst du? Auf dich vor allem kommt es an, und du sagst nichts.« Simone brach in Tränen aus. Sie hoffte noch, entgegen aller Hoffnung, aller Logik, nur aus dem Instinkte einer Frau, die nichts weiß, als daß sie liebt und geliebt wird, daß die Gesetze sinnlos, die Menschen böse sind, einer Frau, die man unter Vernunftgründen zermalmt, indes jenseits der Mauer des schwarzen Kerkers flutendes Licht ist, freier Luftraum, Glück und Leben. Ein Schweigen des Erbarmens legte sich um sie und bezeigte die Ohnmacht ihrer Angehörigen, die sie doch liebten. Mit gerunzelten Brauen begann Herr Fabrecé, in seinem Stolz, in seinem Gerechtigkeitsgefühl verletzt und aufgerührt in seiner Zärtlichkeit, die zu klug war, um seine bejammerte Tochter nicht freizusprechen: »Gut, wir wollen verhandeln. Doch ich bestehe darauf, daß wir eine gesetzliche Trennung erstreben. Jacques wird Frau Belloni meinen Dank überbringen, bis ich mit ihr spreche und, das wird notwendig sein, mit Sergius. Das mindeste, das wir fordern können, ist eine Verpflichtung vor Zeugen und vielleicht auch schriftlich beim Advokaten einzugehen; denn mit ihm ...« Er legte die Hand auf die Schulter Simones, die wie zerbrochen sich beugte: »Mut, Tochter! Du stehst unter dem Schutz deiner Familie. Deine Kinder bleiben dir zunächst. Du hast eine andere Aufgabe: Weihe ihnen deine ganze Seele! Ich achte dich und Le Jas trotz seines unüberlegten und sehr unvorsichtigen Verhaltens zu sehr, als daß ich nicht sicher wäre, ihr würdet tapfer einem unerfüllbaren Traum entsagen.« »Meiner Liebe kann ich nicht entsagen,« flüsterte Simone verzweifelt. »Was soll aus mir werden? Eher bringe ich wie Claire Jayant mich um, als daß ich zu Sergius, dem Elenden, zurückkehre. Aber Henri zu verlieren – Vater, du verlangst Furchtbares von mir.«
Empört und doch durch die Stärke einer solchen Verzweiflung im Grund der Seele erschüttert, reichte die Mutter Simone die Hände. Ihre Liebe murmelte Ratschläge, die sie laut vorbringen wollte, die jedoch im Uebermaß des Mitleids erstarben. Hoch aufgerichtet sprach Herr Fabrecé, voll ernster und gütiger Trauer: »Ich verlange von dir das einzige, was mit deiner und unserer Würde sich verträgt. Auch wenn Polotzeff dich nicht zwänge, würde deine Ehre fordern, daß ihr, Henri Le Jas und du, Beziehungen einstellt, die ebenso unerlaubt sind wie gefährlich. Die Liebe, armes Kind, nährt sich von der Gegenwart des Geliebten wie die Flamme vom Holz, in dem sie glüht. Du wirst vergessen, du bist jung. Auch andere haben geliebt und zu lieben geglaubt; und dann, Monate und Jahre ...« »Aber, Vater, gerade weil ich jung bin, kann ich mich nicht darein finden, mich lebendig zu begraben.« »Arme Simone, hast du nicht selbst das Unglück auf dich herabbeschworen?« »Ja, ich habe mich geirrt; doch soll ich für diesen Irrtum mein ganzes Leben lang büßen? Ich war ein Kind. Immer werde ich Henri lieben. Ihn kann ich aus meinem Denken nicht verbannen. Er beherrscht es. Wie sollte ich ablassen, ihn zu lieben?« Zärtlich sprach Isabelle: »Das Herz vermag dir niemand aus dem Leibe zu reißen. Dein tiefinneres Bewußtsein allein wird dich richten. Doch du mußt den Mut haben, in der äußeren Welt einen Bund preiszugeben, der, bestände er fort, alles zerstören würde, was dir und uns das Leben heiligt, die Pflicht, das Ideal derer, die mit dir eines Fleisches und eines Geistes sind.« »Glaube Isabelle,« sagte der Vater, »je schwerer das Opfer dir sein wird, desto höher wirst du in der Achtung derer steigen, die dich mit trostloser Liebe umgeben. Freiheit hast du nicht mehr. Füge dich der Notwendigkeit, nicht feige, sondern als eine wahre Fabrecé!« Stärker noch umklammerten, flehend und befehlend, die Hände der Mutter die Simones, und sie betrachtete Isabelles schönes, von Zuversicht strahlendes Antlitz, Jacques, der voll Teilnahme war, die Mutter, die vor Bewegung und Müdigkeit kaum noch atmete, und den Vater, der ernst und fest dastand. Sie fühlte, daß sie nichts gegen die unerbittliche Macht der Gesellschaft vermochte, der Familie, der Grundsätze, deren grausame Härte auch ihren Geist durchdrungen hatte. Sie sah sich verstümmelt, des besten Teils ihrer selbst beraubt und doch von dem Gedanken gestählt, daß sie, wenn sie eine solche Folterqual über sich ergehen ließ, einem höheren Verhängnis gehorchte. Bleich, zermalmt, doch mit stolzem Blick und straff, als wolle auch sie die echte Fabrecé sein, die sie sein sollte, stammelte sie: »Ich werde alles tun, Vater, was du willst.«
Man hatte die Rechnung ohne Polotzeff gemacht. Als Jacques Frau Belloni wieder besuchte, konnte sie ihm nicht verhehlen, daß eine Schreckensszene zwischen ihr und ihrem Bruder getobt hatte, der mit wilder Wut erfuhr, daß sie der Briefe sich entäußert hatte. Umsonst war dieser Verrat, denn er, der Mißtrauische, bewahrte zweifache Photographien. Er wollte bis zu Ende gehen. Man sollte schon sehen, wie teuer Simone das Verlassen der ehelichen Wohnung bezahlen würde. Man bestahl ihn, man verhöhnte ihn; nun gab es keine Einigung mehr. Durch Zwang wollte er Frau und Kinder zurückholen. Auf der Ehe und allen ihren Folgen wollte er beharren. Das Gesetz war für ihn.
Jacques hörte zu, wie Vera, vor Entrüstung und Groll schaudernd, ihm dies erzählte. Vor sich sah er eine ganz andere Frau als die, die in weichem, rosigem Gewand, mit weißen Armen ihr verführerisches Lächeln spendete. Sie hatte, wie sie ihm sagte, nach dem durch Sergius hervorgerufenen Skandal das Hotel verlassen. In einem dunklen, engen Reisekostüm, in dem sie schlank und kraftvoll dastand, mit hartem Antlitz und gewitterdunkeln Augen schien sie eine junge, schöne Löwin, die mit gespannten Muskeln bereit ist, anzuspringen und zu beißen. Als wäre eine Maske gefallen, nahm er auf diesem neuen Antlitz ein geheimnisvolles, vergewaltigtes Seelendasein wahr, das ihn jäh anzog und dennoch abstieß; unbekannte Leidenschaften wurden hier sichtbar. Er war befremdet, bis seine Milde und seine überredenden Worte seine Freundin ein wenig beschwichtigt hatten.
»Polotzeff hat Sie mißhandelt, nicht wahr?« fragte er. Zugleich mit der Sache Simones wollte er die Veras gegen den Angreifer führen, mit der Faust und mit dem Degen. »Ach, das macht nicht viel. Einmal mehr! Als Kinder haben wir, wenn wir uns schlugen, einander das Gesicht zerrissen. Jawohl, ohne meine Geistesgegenwart und Juanas Hilfe hätten Sie mich vielleicht nicht wiedergesehen. Da!« Sie neigte den Kopf, hob unter ihren dichten Flechten die seidigen Härchen und zeigte ihm da, wo sie auseinandergingen, eine Furche geronnenen Blutes. Das war die Spur eines Messerstichs, den ihr Bruder, weil er keine andere Waffe hatte, ihr ins Gesicht versetzt hatte. Er zielte auf die Augen, um sie zu verwüsten, doch, weil sie rechtzeitig den Ellbogen hob, war der Stoß abgeglitten. Jacques erbleichte; seine Liebe strömte ihm zum Herzen, er krümmte sich im Haß gegen diesen Frauenquäler. »Ich töte ihn,« sprach er und hatte dabei ein Lächeln, das seine Zähne bloßlegte und so grausam war wie das Lächeln der fernen Völker da unten, wenn ein Verurteilter hingerichtet wurde. »Nein, Sergius ist unübertrefflich im Fechten und Pistolenschießen.« »Das ängstigt mich nicht.« »Er würde ein Duell ablehnen, und Sie wollen sich doch nicht mit einem Wahnsinnigen schlagen.« Sie beendete ihre Erzählung. Das Nahen Juanas und ihre Hilferufe hatten einen neuen rasenden Angriff Sergius' nicht aufhalten können. Erst vor dem Revolver war er zurückgefahren, den seine Schwester gegen ihn spannte. Es war ein Taschenrevolver, der sie in ihrem abenteuerlichen Leben schon manchmal beschützt hatte. Hotelbedienstete liefen hinzu, man mußte sie unter irgend einem Vorwand wegschicken; sie waren enttäuscht und skeptisch. In diesem Allerweltslogis, wo sie nun gegen jeden neugierigen Blick wehrlos war, konnte sie nicht bleiben. Sie hatte schon eine möblierte Wohnung in der Rue Pergolèse gemietet.
»Aber Ihr Bruder ist gefährlich,« versetzte Jacques. »Sie können nicht unbewacht bleiben.« »Ich kenne Sergius. Er wird jetzt für einige Zeit verschollen sein, und nur gerichtlich werden Sie von ihm hören. Uns bindet nichts mehr. Zögern Sie nicht! Ihre Schwester soll sich verteidigen und vor Gericht ihre Freiheit fordern.« Entschlossen fügte sie hinzu: »Wenn Sergius wieder bösartig wird, werde ich ihn schon daran hindern, Schaden zu stiften.« Gerührt über die Gesinnung des alten Herrn Fabrecé bemerkte sie dann: »Wäre es nicht besser, lieber Freund, daß es zwischen unserm Leben, dem der Ihrigen und meinem, keine Beziehungen mehr gäbe? Ich habe keinen Platz in Ihrer Mitte, und Sie haben mit mir nichts gemeinsam. Alles entfernt uns voneinander.« Für diese rücksichtsvolle Auffassung wußte er ihr Dank. Ein allzu familiäres Zusammentreffen wäre ihm unangenehm gewesen. Auch in seinen heißesten Wünschen dachte er nicht daran, Vera in Val-Montoir oder im Verkehr mit seinen Schwestern sehen zu wollen. Gerade wegen des starken Begehrens, das ihn ihr zuführte, und weil er sie für sich besitzen wollte, behielt er sich einen eifersüchtigen, geheimen Kult ohne Zeugen und Aussicht vor. Sie kam ihm entgegen, indem sie sagte: »Wissen Sie, was Sie heute abend machen könnten? Holen Sie mich Rue Pergolèse ab und bringen Sie mich in irgendein Montmartre-Restaurant.«
Als er jedoch in ihrer neuen Wohnung vorsprach, hatte sie keine Lust mehr auszugehen. Hatten die herrlichen, duftenden Blumen, mit denen er ihr Zimmer hatte füllen lassen, ihr Kopfschmerz verursacht? Sie hatte den Einfall, an einem kleinen Tisch mit ihm zu speisen. Sie wollten recht gemütlich allein sein. »Ach, das ist eine hübsche Idee!« Jacques war entzückt. Er fand die Vera von neulich wieder, die Fee und Sirene war, bezaubernd und beunruhigend. Sie trug nicht mehr das Reisekostüm, das eng sich an ihre Glieder legte, frei, mit einem seidenen Manilla-Schal drapiert, den purpurne Blumen übersäten, eine fleischige duftausströmende Nelke am Ohr, schien sie ihm ein anderes Weib als sonst. Er bewunderte diese unbeständige Macht, diese Fähigkeit, immer wieder aufzublühen. Frau Palmé ließ sich nicht blicken; und zwischen Kissen auf dem Diwan halb hingestreckt, war Vera noch schöner in ihrem eigenen Glanze. Er saß nahe bei ihr, so nahe als möglich. Diesmal sprachen sie nicht von Heirat, sondern von einem anderen Bunde, dessen Dauer nur ihre ihnen selbst unbekannten Launen und die Ereignisse bestimmen würden. Vera, die ihre Augen schmachtend in die Jacques' tauchte, wurde manchmal von leisem Lachen geschüttelt, während dessen sie, wogend unter dem Schal, der ihre festen, lustvollen Formen umschloß, sich aufrichtete. Zärtlich hob sie den Kopf: »Jacques, ich sage es Ihnen, Sie tun ein Unrecht, wenn Sie mich lieben. Sie werden durch mich leiden. Noch ist es Zeit. Nehmen Sie Ihren Hut und gehen Sie!« Er antwortete mit Küssen auf ihre Finger, ihre Armgelenke, ihre schönen, nackten Arme: »Ich liebe Sie.« In dieser Nacht kehrte er nicht nach Val-Montoir zurück.
Henri Le Jas stand ganz unter dem Bann seiner fixen Idee. Simone und er mußten sich von ihren Ketten befreien, um eines Tags sich anzugehören. Von Florent verständigt, wütete er unablässig gegen das, was er den Egoismus der Fabrecé nannte, gegen ihre Schlaffheit in der Auseinandersetzung mit Polotzeff, diesem kranken Banditen, dem die Richter als einem Unwürdigen eine Eheschließung verbieten und den sie nach Wahl ins Gefängnis oder in eine Irrenzelle schicken sollten. Daß Simone in eine freundschaftliche Trennung ohne Garantien, die ihre verhaßte Sklaverei verlängerte, willigen könne, das ging ihm über den Horizont. Sie wollte er sehen, mit ihr wollte er um jeden Preis sprechen. Nicht lange mehr durfte eine solche Folterqual dauern, daß sie da war, in Entfernung von ein paar Metern, nur durch einen Gang, eine Mauer ihm entrückt, ohne daß er die Haft zu brechen vermochte, die sie unbeugsam sich auferlegt hatte. Er lebte nur noch in Furcht vor dem Unglück, dessen Nähe er auf den Gesichtern aller Familienmitglieder zu lesen glaubte, die weit reservierter als früher gegen ihn waren, die Frauen zumal. Sicherlich, wenn er nicht von selbst ging, hießen Herr Fabrecé oder Jean-Marc, der ihn mit rauher Sympathie betrachtete und ihm derb die Hand drückte, bald ihn gehen.
Florent hatte Mitleid mit ihm. Er hatte sich bemüht, Simone umzustimmen. Sie war nur allzu leicht gerührt, und desto mehr widerstand sie ihrem Herzen. Er, der die Extreme liebte, begriff nicht, daß sie nicht alle Gefahren gern auf sich nahm. Ehescheidungsprozeß, Skandal, ein Mißerfolg sogar: was war weiter dabei! Von Prozeß zu Prozeß könnten sie den Feind jagen, ihn einschüchtern und matt machen. Und warum sollte es nicht gelingen? Was war der große Name Fabrecé wert, wenn er nicht bei den Behörden und in der öffentlichen Meinung Gewicht haben sollte? War es Simone beschieden, vor Kummer zu sterben und einen braven Mann zur Verzweiflung zu bringen? Wenn er sie drängte, fühlte sie, wie sie schwach wurde, und suchte sich ihm zu entziehen. Florent war ohnmächtig gegenüber der vereinsamten Frau. Sie war nun dem Geist der Gesamtheit, der Herrschaft derer, mit denen man im Alltag zusammenlebt, wieder untertan. Er entschloß sich, die Entscheidung zu beschleunigen. Le Jas hatte gerade nach seiner Wunde gesehen, – einer dummen Wunde, er hätte ein Krüppel werden können – als Simone, wie sie es in dieser Stunde erhofften, leichten Schritts zu seiner Tür kam und stehen blieb. Mit einem kurzen Wink deutete Florent auf die kleine, angrenzende Stube, die ihm als Laboratorium und Rumpelkammer diente. Kaum hatte Le Jas sich dort versteckt, als Simone eintrat. Florent mußte sie anstaunen, so hübsch war sie mit ihren blassen, schmerzlichen Zügen, in ihrer ergreifenden Jugend. Sie sah gefaßt aus, wie er sie noch nie gesehen hatte. »Ich dachte, du seiest nicht allein?« »Warum?« »Ich hätte mit Henri ein paar Worte zu reden.« »Wenn du ihn noch unglücklicher machen willst, wozu? Er ist unglücklich genug.« »Bin ich auf Rosen gebettet? Ich habe einen Brief meines Mannes erhalten. Er fordert, daß ich zu ihm zurückkehre und ihm die Kinder wiedergebe.« »Nein, so eine Frechheit!«
Die Tür des Laboratoriums öffnete sich ein wenig, und plötzlich stand Le Jas neben Simone. Erschrocken warf sie sich zurück. »Oh, Sie waren da, Sie waren da! Das ist nicht schön von Ihnen!« »Hören Sie mich an!« »Sehen Sie, Henri! Das wollte ich Ihnen sagen; gehen Sie, wir dürfen uns nicht mehr sehen.« »Ich kompromittiere Sie wohl?« fragte er bitter. »Uns nicht mehr sehen? Habe ich Sie seit Ihrer Rückkehr gesehen? Haben Sie mich nicht wie einen Fremden von sich fern gehalten? Fühlen Sie denn nicht, daß außer Florent niemand Ihnen hilft, niemand Ihnen rät, wie er sollte? Polotzeff befiehlt Ihnen, mit Ihren Kindern in sein Haus zurückzukehren. Sind Sie denn schwach und feig genug zu gehorchen? Ich widersetze mich dem – ich werde Sie mit allen Mitteln zu hindern suchen, das schwöre ich Ihnen!«
Simone heftete auf ihn einen trostlosen Blick, der, ohne daß sie es wollte, voll zärtlichen Mitleids war. »Nein, nein, beruhigen Sie sich. Aber er hat Rechte, schreckliche Rechte; das Gesetz ist für ihn.« »Ja,« erwiderte Le Jas empört, »die Gendarmen! Besorgen Sie nichts, sie werden Sie nicht mit Gewalt holen. Kein Gericht würde heute mehr einen solchen Befehl zu unterzeichnen wagen.« »Aber vergessen Sie denn, daß er mir die Kinder nehmen kann, und daß morgen oder in wenigen Tagen eine Gerichtsentscheidung sie ihm zusprechen müßte? Er ist der Vater, er ist der Stärkere.« »So wollen Sie sie ihm ans Messer liefern?« Gekränkt durch diese Worte, die von Wesen, die ihr Schoß geboren hatte, so sprachen wie von fortgeschlepptem Schlachtvieh, erwiderte sie: »Ich? Eher sollen sie mir das Herz herausreißen!« »Gut,« sprach Le Jas, dessen kraftvolles Gesicht während des Gesprächs die heftigsten Erregungen wiedergab, »sind Sie, Sie und Ihre Familie, endlich zu dem Vorstoß bereit, der schon am ersten Tage hätte geschehen müssen? Finden Sie sich in die Notwendigkeit, die sich aufzwingt, und die Sie nicht umgehen können, trotz all dieser dürftigen oder ehrenwerten Erwägungen der Klugheit, der Würde, des Interesses? Ach, hier handelt's sich viel um Theorien und gesellschaftlichen Anstand. Entschließen Sie sich endlich zum einzigen rettenden Ausweg, zum Kampf, zum unablässigen Kampf, zur Scheidung, oder, wenn Ihnen das genehmer ist, zur völligen Trennung, die ihr vorausgeht! Wir brauchen nicht einmal ganze drei Jahre mehr darauf zu warten,« fuhr er mit einem Lachen fort, das schmerzlich klang. »Polotzeff schiebt Sie vorwärts, und Sie werden sich beide nichts vorzuwerfen haben. Ihre Kinder wollen Sie behalten! Und wenn Sie einmal befreit sind, gerettet vor diesem Menschen, vor dieser Unverschämtheit, dieser Roheit, werden Sie dann nicht die Lebensfreude segnen?« »Ich weiß nichts, ich weiß nichts,« rief Simone entsetzt. »Ich glaube, daß ich in einen Abgrund versinke. Ich bin erschöpft.«
Henri Le Jas ergriff ihre Hände, die wie gefangene Vögel sich sträubten, ihre eisigen Hände, dann zog er sie an sich und eroberte mit seinem Blick, den sie vermeiden wollte, den ihren, um sie mehr noch zu durchdringen: »Simone, das Glück ist kein Zufallsgeschenk; Mut ist dazu vonnöten. Haben Sie Mut! Ich will gehen, wie Sie wünschen. Auch ich versuche meinem Kerker zu entrinnen. Ich will zu meiner Frau und ein letztes Mal mich anstrengen, sie zu überzeugen und sie zu rühren. Gelingt es mir nicht, so sehen Sie mich nicht wieder. Dann will ich Ihnen nicht mehr zur Last sein. Vielleicht gehe ich außer Landes. Man hat mir in der Fremde glänzende Angebote gemacht.« Simone zitterte, sie starrte ihn an und wurde so bleich, daß er fürchtete, sie gleite bewußtlos nieder. »Zum Entgelt«, rief er, »fordere ich von Ihnen ein Versprechen. Weigern können Sie sich nicht. Tun Sie alles, tun Sie Unerhörtes, sich von dem Elenden zu befreien, denken Sie an Ihre Kinder, an sich selbst!« Er blickte zu Boden, und leiser fuhr er fort: »Denken Sie auch ein wenig an mich, der ich Sie liebe! Wenn das ungerechte Schicksal uns trennt, werde ich aus der Ferne für Sie beten, und nur die Gewißheit, daß Sie weniger unglücklich sind, wird mir ein Trost sein.« »Ja,« sprach Simone, »ich will kämpfen, das schwöre ich Ihnen, und will meine Familie dazu bestimmen.« Leidenschaftlich küßte Henri Le Jas ihr die Hand. »Gehen Sie,« sprach sie, »lieber Freund.« Doch er konnte sie nicht verlassen, und erschüttert überdachte Florent, mit wieviel Leid die Freuden maßloser Liebe erkauft werden.
Es klopfte. Jean-Marc trat ein. »Dich suche ich,« sprach er zu dem Arzte. »Ich folge dir.« Le Jas wandte sich zu Simone um: »Ich sage Ihnen also Lebewohl. Auf Wiedersehen, Florent, baldige Genesung!« Ein letztes Mal noch wandte er sich um, und in diesen Blick legte er seine ganze Ergebenheit, seine unbegrenzte, unwiderrufliche Neigung.
Sie gingen die Treppen hinab. Mit befehlshaberischer Gutmütigkeit sprach Jean-Marc: »Nun, Henri?« »Nun, Jean-Marc? Ich habe dir nichts mitzuteilen. Ich gehe.« In seiner Stimme war eine furchtbare Bitterkeit. Diese große Familie war die seine. Er hatte vor Jahren Claudie vom Typhus errettet und alle diese Menschen behandelt, die vor ein paar Tagen noch ihn wie einen Bruder aufnahmen. »Das ist das Beste, was du tun kannst,« sprach Jean-Marc. »Simone wird nicht mehr zögern, sie wird Trennung von Tisch und Bett verlangen.« »Amen!« sprach Le Jas, »warum nicht die Scheidung?« »Dem Vater und der Mutter widerstrebt sie. Und dann legt die Trennung Raum und Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft. Man sieht die Dinge kommen; sie ist eine Probe.« »Und sie schafft Leiden.« Jean-Marc fuhr fort: »Falls sie die Trennung durchsetzt – und warum sollte sie sie nicht durchsetzen, wenn sie eine Zierde der Anwaltskammer nimmt, den pfiffigsten aller Rechtsanwälte? – wird man klarer sehn.« Er blieb stehen, und mit männlichem, freundschaftlichem Lächeln sagte er: »Mein guter Junge, all das macht mir viel Pein.« »Mir auch.«
Jean-Marc deutete auf das Automobil. »Ich fahre nach Paris, fährst du mit?« »Einverstanden!« Armande eilte ihnen nach: »Kann ich mitfahren?« »Unmöglich. Le Jas kommt mit.« Und als dieser sich beeilte, ihr seinen Platz zur Verfügung zu stellen, gebot ihm Jean-Marc mit einem Blick, den er wohl kannte, zu schweigen: »Henri muß zum Schnellzug nach der Bahn. Ich komme zum Essen wieder.« Mit regungslosem Lächeln sah Armande zu, wie sie abfuhren. An der Biegung der Straße winkte Jean-Marc mit der Hand. »Du betrügst mich,« sprach sie zu sich. Und sie lief zum Telephon, um es Liane zu melden. »Du bist eine Gans,« antwortete die Stimme in der Ferne. »Ueberlaß es mir!«
Im Auto rauchte Jean-Marc, ohne zu reden, seine Zigarre, und Henri Le Jas sah, wie in rasender Schnelligkeit Bäume, Straßen, Flüsse dahinliefen. Sie glichen seinem vergangenen Leben, das da entfloh. In Paris nahm er sich nur die Zeit, um einen Handkoffer zu kaufen und die unentbehrliche Wäsche hineinzupacken. Vom Nordbahnhof fuhr er mit dem Schnellzug nach Belgien.
Jean-Marc ging zum Advokaten, dann nach dem Hotel, in dem Polotzeff abgestiegen war. Er wollte nicht, daß sein Vater sich auf eine Unterredung mit Sergius einließe, aber er für sich wollte ihn sehen und mit ihm sprechen. Er vermied es, sich melden zu lassen, nahm den Fahrstuhl und klopfte direkt an die numerierte Tür des Zimmers, in dem sein Schwager wohnte.
»Wer ist da?« fragte eine argwöhnische Stimme. Vorsichtig öffnete Sergius, in violettem Pyjama mit cremefarbenen Streifen. Als er Jean-Marc sah, wich er zurück. Ein unruhiges, dreistes Lächeln umspielte seltsam sein blasses Patriziergesicht. Sein Schädel war ungewöhnlich gewölbt und ging spitz zu, schmaler und schmaler bis herab zu seinem geteilten Kinnbart. Zur Hälfte kahl, hatte Sergius die gebogene Nase eines Raubvogels und unter seinem blonden Schnurrbärtchen gebogene Lippen von äußerster Beweglichkeit. Seine sehr schönen, sehr großen Augen spähten mit falschem Glanze hin und her. Seine kleine, geschmeidige Gestalt bewies Rasse; aber von Degeneration zeugten seine geschwollenen Augenlider, die Fahlheit seiner Hände mit den langen gekrümmten Nägeln, seiner Hände, die trocken und eingeschrumpft waren wie die Klauen eines Vogels. Seine verwirrende Erscheinung ließ an einen der Buhlen Heinrichs des Dritten denken, wie Clouet sie gemalt hat. Die lastende Halskrause und das Samtbarett gehörten dazu, und man vermißte den langen Dolch, der tödlich war wie ein Wespenstachel.
»Wir haben Ihren Brief erhalten,« sprach Jean-Marc, der sich beherrschte. »Er ist ein schlechter Spaß, ein Bluff, nicht wahr?« Der Kontrast der beiden Männer war überwältigend. Von Jean-Marc gingen die Gesundheit und Kraft seines plebejischen Ursprungs aus, den kaum zwei Generationen verfeinert hatten. Ein Schlag seiner verkehrten Hand hätte den kleinen Menschen da gestürzt, der unverwundbar war durch Gesetze, die ihm hoheitliche Macht über schuldlose Opfer verliehen. Sergius Polotzeff betrachtete mit größter Aufmerksamkeit die bekleideten Hände seines Gegners. Hatte er eine Ohrfeige mit der flachen Hand oder einen Hieb mit der geballten Faust zu erwarten? Eine Sekunde hatte es ihm vor den Augen geflimmert. Aber sogleich erriet er, daß Jean-Marc ihn nicht anfassen würde, und sein Selbstbewußtsein kehrte wieder: »Darf ich Ihnen sagen, daß ich Ihre Frage inkorrekt finde? Ich erkenne niemandem das Recht an, sich zwischen meine Frau und mich zu drängen.« Er hatte eine scharfe Stimme, die von seiner neurasthenischen Erregung zum Falsett hochgetrieben wurde, und unter dem Lächeln des Weltmannes wurde ein kalter Haß sichtbar, die Tücke eines Reptils, die Jean-Marc zum erstenmal empfand. Blut stieg ihm ins Antlitz: »Auch nicht um die Schläge aufzufangen, die Sie ihr geben, Sie Schurke?« »Ich habe gegen Frau Polotzeff nie die Hand erhoben,« beteuerte Sergius unsicher. »Was ist das für ein Märchen? Ein Gentleman wie ich ... erzählt sie solche Dummheiten?« Salbungsvoll setzte er hinzu: »Ich wußte wohl, daß sie manchmal nicht bei Vernunft war; aber so schlimm ...«
Mühsam widerstand Jean-Marc dem tollen Wunsche, ihn hinzuwerfen und wie ein Schneckengehäuse mit dem Fuß zu zertreten. Polotzeff las wohl in seinen Augen dies Verlangen, denn er hielt es für ratsam, sich hinter einen breiten Tisch zu bergen. »Sie haben eine eiserne Stirn,« sprach Jean-Marc endlich betroffen. »Ich bin nur gekommen, Ihnen zu sagen: Simone wird nie mehr Ihr Haus betreten, und die Kinder behält sie.« »Gut,« sprach Polotzeff, »so wende ich mich ans Gericht.« »Sie auch.« »Recht so! Es wird Schmutz genug geben, um alle gegenwärtigen und zukünftigen Fabrecé damit zu besudeln.« »Kanaille, Kanaille,« brüllte Jean-Marc, der, krampfhaft sich zwingend, die Arme kreuzte, denn sonst ...
Ein Bedienter im Frack erschien. Hinterrücks hatte Sergius, an das Holzgestell der Wand sich lehnend, den elektrischen Knopf berührt. »Ich will Sie nicht länger aufhalten,« sprach er mit erlesener Höflichkeit. »Auf Wiedersehn!« und zum Diener: »Führen Sie den Herrn hinaus!« Unfreiwillige Achtung lähmte Jean-Marc. Mit seinem Blick maß er Polotzeff, der jetzt würdevoll ihn mit Geringschätzung strafte. Er sagte nicht ein Wort mehr, das ja nur eine Schmähung sein konnte, und ging, wütend über sich selbst, über seinen vergeblichen Besuch und seine Ohnmacht. Ach was, er hätte ihn einfach zerstampfen sollen. Er war noch dunkelrot im Gesicht, als er zu seiner kleinen Freundin Suzette Hycler von den Bouffes kam, eine Schachtel Pistazien in der Hand, die sie gern aß.
Nicht ungestraft fühlte Sophie den Odem des Frühlings; und dazu war sie von einer Liebesatmosphäre umhüllt. Was Simone anging, so wußte sie nur allzu viel von ihr, während sie über Olivier und den Chinesen in einem Halbdunkel blieb, in dem es nur Ahnungen und Wahrscheinlichkeiten gab. Kein Zweifel, daß Olivier den Damen Sarnel unterlag; und es wäre zu wünschen gewesen, daß der Konsul sich weniger um die schönen Augen der Frau Belloni kümmerte. Sogar die liebende Eifersucht Armandes war eine Note in diesem Konzert verwirrender Eindrücke, gegen die Sophie nicht länger unempfindlich sein konnte. Leichte Symptome zeigten bei ihr die Rückwirkung an. Einige waren natürlich, Migräne und Blutandrang nach dem Kopf, andere künstlich und nicht minder verräterisch. Sie trug helle Blusen und änderte ihre Frisur, was ihr Gesicht so entstellte, daß die Meinungen ungeklärt waren. Teils sah man sie so lieber, teils beschwor man sie, sich wieder das Haar zu bauschen; und das tat sie auch.
Herr Virquot ließ sich während seiner Arbeit in ungewohnter Zerstreuung gehen. Eine Mitgift und großartige Hoffnungen hypnotisierten seinen Geist. Der Plan einer Heirat, dem er umständlich und verschmitzt vorgearbeitet hatte, war zunichte geworden. Und andererseits hatte er entdeckt, daß eine junge Posamentiererin, die er allwöchentlich mit seiner sparsamen Gunst beehrte, ihn mit einem Sargfabrikanten betrog. Er wurde deshalb so schwermütig, daß man es an seiner Gesichtsfarbe merkte. Auch seine Kleidung hatte er erneuert und trug nun statt seines ewigen schwarzen Rocks ein braunes Jackett und gelbe Handschuhe. Er dachte daran, einen großen Schlag auszuführen; wie aber? Das Herz der Frau ist ein Rätsel; manche neigt zur Poesie, und manche wertet die Dinge nur nach praktischen Gesichtspunkten. Er konnte nicht des Nachts unter den Fenstern von Fräulein Fabrecé Gitarre spielen oder sie heldenmütig aus den Flammen oder vom Wassertod retten, dem sie sich ja auch nicht aussetzte, abgesehen davon, daß er vor Wasser und Feuer selbst Furcht hatte. Diskret und geduldig ihr die Cour zu machen, hatte manchen Vorteil für sich, doch auch manchen Nachteil; wenn ihm nun ein kluger Nebenbuhler, der verführerischer war als er, die Eroberung wegfangen wollte? Hm! So weit war er noch nicht. Geschenke sind im allgemeinen willkommen; aber was für Geschenke? Er sann darüber nach, was er vom Geschmack des Fräuleins wußte, und nachdem er gegen seinen schäbigen Geiz gekämpft hatte, entschloß er sich, ihr ein Gefäß mit Goldfischen zum Geschenk zu machen. Verstohlen erkundigte er sich nach ihrem Geburtstag; denn er hielt es für galant, diesen Tag zu wählen. Zu seinem Unglück war für Sophie nichts ärgerlicher als der Gedanke, daß man ihren sechsunddreißigsten Frühling ergrünen sah. Ein schrecklicher Verdruß mischte sich in die Freude, die ihr sonst die durchsichtige Schale bereitet hätte, worin die armen Goldfische nur rund herum, in Schraube oder Spirale, sich drehen konnten. Von der feierlichen Bemühung des Herrn Virquot hatte sie nichts als ein durch Lächerlichkeit verschärftes Unbehagen. Auch hatte der Ingenieur sich übertrieben fleißig mit Veilchenessenz besprengt, die sie nicht ausstehen konnte. Doch Herr Virquot hoffte, die Zeit werde diese Verstimmung beseitigen; und was er durch zu großes Selbstvertrauen verloren hatte, wollte er durch sein wehleidiges Gebaren und seine demütigen Seufzer zurückgewinnen. Sophie konnte sich nicht verhehlen, daß sie der Gegenstand einer heimlichen Leidenschaft war, und obwohl ihre erhabene Würde die gleiche blieb, gewöhnte sie sich daran, Herrn Virquot ziemlich günstig zu beurteilen. Manchmal, wenn sie den Goldfischen Ameiseneier gab, blieb sie träumerisch stehen und verfolgte, wie sie mit klaffendem Maul und ungestümen Schwanzstößen gefräßig sich tummelten.
Eine Woche lang hatte Antoine Michette nicht wiedergesehen. Hatte ihre Mutter sich nicht einfallen lassen, sie unter dem Vorwand, daß sie die kranke Tante pflegen solle, nach Nemours mitzunehmen? Er hoffte sie auf dem Markt von Fontainebleau zu sehen. Fast immer begleitete sie ihren Stiefvater dorthin in dem kleinen englischen Wagen, den Biskri zog, ein altes, kleines Pony, dickhaarig wie ein Bär; und hinterdrein sprang Pompon, der niemals fehlte. Doch umsonst lief Antoine an allen Verkaufsstellen vorbei, umherschwankend in der Menge der Käufer und der Mägde, vom Fischmarkt zum Geflügelmarkt und von den Mohrrübenbündeln zum Käse. Er traf niemanden. In der Remise für die ausgespannten Pferde, in den leeren Ställen des »Goldenen Affen« war kein Biskri, kein Pompon.
Er entschloß sich nach Val-Changis zu gehen. Der alte Gärtner empfing ihn mürrisch oder vielmehr traurig. Seine Taubheit erschwerte Unterhaltung, und vielleicht tat er das seinige dazu. Ueber Jenny-Rose und ihre Rückkehr konnte Antoine nichts erfahren als die hartnäckige Beteuerung: »Sie hat eben auch ihre Arbeit, wie Sie die Ihrige haben, Herr Antoine.« Der Stiefvater sah aus wie ein gutes altes Pferd, bieder, mit müden Augen. Zwischen seinen Fingern drehte er einen Binsenhalm, und auf den jungen Mann heftete er einen unbestimmten Blick, der fast einem Vorwurf glich. »Hören Sie mal, Maldant,« schrie Antoine in sein linkes Ohr, das bessere, »das ist ja alles ungereimtes Zeug. Warum sagen Sie mir nicht die Wahrheit? Haben Sie kein Vertrauen zu mir?« Der Alte hob den Kopf. Er hatte schon gut verstanden: »Junge Leute sind jung, Herr Antoine, und lieben den Spaß; aber der Spaß geht vorbei, und dann bleibt der Kummer.« »Ich will Ihnen ja keinen Kummer machen,« rief Antoine. Wenn nur die Nachbarn nichts hörten! »Ein schlechter Mensch sind Sie nicht,« gab Maldant zu. »Aber bedenken Sie doch: Jenny-Rose ist kein Kind mehr. Jetzt wird das Leben für sie ernst. Auch wir haben unsere Ehre, wenn wir auch nichts Feines sind.«
Antoine mußte darauf verzichten, ihn zu überzeugen, und begab sich entmutigt nach Nemours. Er fand dort nur die Tante, eine alte zänkische Frau. Ihre Schwester war wieder fort. »Mit Miche?« Sie ließ sich den Namen wiederholen, der nicht in ihrem Heiligenkalender stand. »Ach, Jenny-Rose?« Und indem sie den jungen Mann mit bäuerischer Hinterlist belauerte, begann sie wieder zu ächzen. Das Hüftweh bohrte ihr im Bein, als ob man ihr mit einer Säge die Knochen der Länge nach zerschnitte. Er stellte ihr lauter Fragen. Sie jammerte noch mehr, doch umging sie jede Antwort. Sie sagte nur, daß Noëmie heute abend oder morgen sicher nach Val-Changis zurückkehren würde. Immer besorgter ging Antoine nach dem Gärtnerhäuschen. Vergebens klopfte er, die Laden waren zu. Niemand antwortete ihm. Um seine Sache stand es schlecht. Was ging vor? Michette war doch nicht krank? Wollte man sie entfernen? Weshalb hatte sie ihm nichts geschrieben? War der Brief aufgefangen worden? So wie er Noëmie und auch Maldant kannte, hatte sie nicht von selbst ... So hatte jemand sie beeinflußt? »Mir scheint, es brennt,« murmelte Antoine. »Das ist die Hand des Gouverneurs. Nun, dann!«
Nach einer schlaflos verbrachten Nacht betrat er drohend Val-Changis wieder. Der alte Maldant war noch immer fort und auch Biskri und Pompon. Aber in der Küche fand er Noëmie, die, mit rotgeweinten Augen, Erdäpfel schälte. »Ah!« rief sie grob ihn an, »du bist da! Suche nicht weiter, Junge! Der Vogel ist auf und davon.« Sie war groß und stark, hatte ein volles Gesicht, helle Augen und einen festen Mund. »Noëe,« sprach er sie mit dem Namen an, den er ihr als Kind gegeben hatte, »ich bin ganz unruhig. Wo ist denn Miche, warum ist sie fort, wohin habt ihr sie geschickt? Ich will es wissen.« Die Frau, die früher seine Amme gewesen war, wurde rot, und mit einer Heftigkeit, unter der ihr Gram sich versteckte, fuhr sie ihn an: »Du willst, du willst! Wer befiehlt denn im Schloß? Du oder ...?« Sie biß sich auf die Lippen. »Jean-Marc hat mir Schlechtes nachgesagt,« verantwortete er sich milde. »Du hättest mehr Vertrauen zu mir haben können, Noëe!« »Und du?« erwiderte sie versöhnlicher – denn sie hatte ihren »Jungen« sehr lieb, da sie ihn einst mit der guten, Leben spendenden Milch genährt hatte, von der sie zuviel hatte für Jenny-Rose allein. »Hast du denn nicht deine alte Amme betrogen, die kein Arg gegen dich hatte?« »Ich habe nichts Böses begangen und Michette auch nicht.« »Und wenn auch,« sprach Noëmie und blickte ihm, noch mit ein wenig Groll, in dem zugleich Mitleid war, in die Augen, »aber du hast den Leuten zu klatschen gegeben; und der Alte hat dir schon gesagt, wir haben unsere Ehre. Laß du nur Jenny-Rose stehn, Junge.« »Aber um Gottes willen, Amme, siehst du denn nicht, daß ich deine Tochter liebe?« »Das ist ja das Unglück, wenn es wahr ist, Bürschchen. Ich dachte nur, es sei gute Freundschaft und sonst nichts. Du kommst hierher, du bist ihr begegnet, ich ließ euch miteinander gehen, weil ich mir nichts Böses dabei vorstellte. Aber sobald es sich gezeigt hat, daß du und meine Tochter nicht vernünftig seid, da mußte man euch eben trennen. Füge dich nur drein! Sie kommt nur dann zurück, wenn du auf Reisen gehst, wie es dein ...«
Einmal noch verschluckte sie, was sie sagen wollte. »Gute Amme,« wandte er sich an sie, »ich bitte dich dringend, sage mir, wo Miche ist. Ich bin wie verloren. Denke doch, es handelt sich nicht um eine bloße Liebelei. Es ist doch mein Ernst. Mir tut das so weh.« »Und glaubst du denn,« rief sie, »mir machte es Freude, daß meine einzige Tochter weg ist? Und meinem Alten, der ganz selig war, daß sie aufblühte wie eine Rose im Frühling? Aber unsere Pflicht will's, Antoine, und wir müssen uns gegen unsere Wohltäter anständig benehmen. Ehe ich deinem Vater und deiner Mutter Sorge mache, hacke ich mir die Hände ab. Dein ... also ich sage es frei heraus, dein Bruder hat recht, wenn er nicht zugibt, daß du dich in ein Mädel verliebst, das du nicht heiraten kannst; denn alle Leute würden über dich lachen. Und sie ins Unglück bringen willst du doch auch nicht, hoffe ich, denn jeder, der Ehre hat und ein Gewissen, würde dich verurteilen. Und nun sei mutig, wie wir Mut brauchen! Denke nicht mehr an sie, Junge, und geh' deines Wegs!«
In Noëmie gab es einen Widerstreit der Gefühle. Ihre Aufrichtigkeit hinderte nicht, daß sie in unfreiwillige Erbitterung geriet. Ohne es zu wollen, hatte Jean-Marc sie verletzt. Gutmütig, aber barsch, hatte er nicht verstanden sie zu nehmen. Der Zorn war mit ihm durchgegangen, er hatte beleidigende Worte gesagt und schließlich Geld geboten; und sie und der Vater konnten ihm das nur schwer verzeihen. Nein, da Antoine dieses gesunde Gesicht sah, diesen graden Blick unter den hellblonden, halb weißen Haaren, die unter der stets von ihr getragenen Bäuerinnenhaube herausragten, konnte er keine Sekunde lang an Noëmies Wahrheitsliebe zweifeln, wenn sie von Ehre sprach. In ihr war kein Hintergedanke, keine trübe Hoffnung auf ihn zugunsten ihrer armen Tochter. Dessen war er sicher. Aber wie alle kleinen Leute, die beständig übergangen werden, hatte sie einen empfindlichen Stolz. Was sie jetzt erlebte, traf sie in ihrem Muttergefühl und hinterließ in ihr den Groll der Gedemütigten, weniger gegen ihren »Jungen«, der die erste Ursache des Verweises war, als gegen Jean-Marc, dessen Auftrag sie dennoch blindlings befolgt hatte.
»Wo ist Michette?« wiederholte Antoine. »Sage es mir, wenn du mich ein bißchen gern hast.« »Frage mich nicht danach, Antoine! Sagen werde ich dir es nicht, das habe ich versprochen.« »Noëmie, warum hast du es versprochen?« »Ich habe so getan, wie ich es verstand.« »Laß dich doch erweichen! Wo ist Miche?« »Suche es nicht zu erfahren, sage ich dir. Mein Mund bleibt zu.« Er kannte Noëmies Trotz. Da ließ sie sich nicht zwingen. Er kannte ihren Dickschädel, ihre starren Augen. Umsonst wurde er aufgebracht, flehte er sie an, drohte er, Lärm zu schlagen, Jean-Marc mit der Faust einzuschüchtern – und was für Dummheiten sonst noch er sagte – sie gab nicht nach und blieb ihrem Worte treu. Endlich beruhigte er sich: »Nun, ich bin dir nicht böse. Du giltst mir wie eine zweite Mutter; und jetzt bist du mir noch lieber als vorher. Aber das mußt du auch wissen, ein Wort ist bei mir ein Wort. Und eines Tags, mag der Teufel es wollen oder nicht, ob es nun meiner Familie behagt oder nicht, und einerlei was ihr sagt, du und dein Mann: Müßte ich auch auf alles verzichten, was ich habe, müßte ich die Erde mit den Händen aufkratzen, um mir mein Brot zu verdienen, so wahr ich spreche, wird Miche, die mir teurer ist als alles auf der Welt, meine Frau.«
Bewegt sah Noëmie ihn gehen: »Er ist verrückt, wahrhaftig. Er wird wieder etwas anstellen. Und auch Jenny-Rose ist jetzt schwer zu halten, die ganze Zeit hat sie geweint.« Sie zuckte die Achseln und schälte wieder ihre Erdäpfel. Von Zeit zu Zeit trocknete sie sich mit dem Schürzenzipfel die Augen. Und doch mußte sie, wenn sie an die große Liebe ihres »Jungen« zu ihrer Tochter dachte, boshaft und gerührt ein wenig lächeln. Man weiß, daß etwas unmöglich ist, aber der unklare Gedanke daran macht glücklich wie ein sinnloser, schöner Traum.
Antoine eilte in der Richtung der Werke dahin. Da hatte Jean-Marc eine rechte Büberei ersonnen! Aber er wollte ihm das nicht schenken. Der Chef war wieder aufs Privatgut gefahren. Der alte Faktor Gibal hatte ihn vor zehn Minuten in den elektrischen Wagen springen sehn. »Gleichwohl,« dachte Antoine, »erspart wird ihm nichts.«
Zwei gesattelte Pferde warteten vor der Freitreppe, die für den Waldritt des Vaters und Jean-Marcs bestimmt waren. Alsbald erschien dieser, gestiefelt und gespornt, die Reitgerte unterm Arm. »Auf ein Wort, Jean-Marc! Wo ist Miche? Sei so freundlich mir das zu sagen!« Jean-Marc runzelte die Brauen: »Später.« »Nein, Jean-Marc, sofort! Du hast dich häßlich gegen mich benommen.« »Ich war auf dein Wohl bedacht.« »Du hast dir Rechte angemaßt, die dir nicht gebühren. Ich bin großjährig.« »Dann benimm dich wie ein Mann und nicht wie ein Kind!« »Das ist keine Antwort. Wo ist Miche?« »Da ist der Vater, laß uns.« »Nein.« Antoine hob die Stimme und nahm die Mütze ab: »Vater, entschuldige! Ich bitte dich um deine Hilfe gegen Jean-Marc. Er hat meine Milchschwester fortgeschickt, die ich liebe. Hat er dir das gesagt?« Herr Fabrecé – er sah in dem engen Reitanzug, der ihn verjüngte, noch stattlich aus – richtete sich empor und sprach mit Entschlossenheit: »Ich habe es vorhin gehört, Antoine. Ganz kann ich deinen Bruder nicht tadeln. Er ist älter als du und hat gemeint, dir Gutes zu erweisen.« »Vater, findest du sein Vorgehen gerecht?« Herr Fabrecé schob nie einer Zerstreuung wegen die Erfüllung einer Pflicht auf, und der Anruf seines Sohnes blieb nicht ohne Widerhall. »Führt die Pferde herum,« befahl er. »Wir reiten nachher. Komm' in das Rauchzimmer!«
Dort sagte er in Gegenwart von Jean-Marc, der sehr unzufrieden war, zu Antoine: »Ich erkläre es dir frei heraus, ich habe Jean-Marcs Uebereilung gemißbilligt. Er hat den braven Leuten zugesetzt, während er, des bin ich sicher, an dich allein, an deine Vernunft, an deinen Edelmut sich hätte wenden müssen.« »Vater ...« »Ich weiß, du willst Jenny-Rose heiraten. Dieser Wunsch ist für dich keine Schande. Dein Großvater hat meine Mutter geheiratet, und beide waren arme Landleute.« Antoine warf Jean-Marc einen herausfordernden Blick voller Genugtuung zu. »Jedoch,« fuhr Herr Fabrecé fort, »er war dein Großvater. Er hat die Familie begründet. Solch einen bescheidenen und dennoch geachteten Ursprung, das vergesse ich nicht, haben wir. Aber wir unterstehen dem Gesetz des Lebens, der Vervollkommnung, des Aufstiegs, wenn dir dies Wort eher zusagt. Nicht aus leerer Ehrsucht habe ich deine Mutter, eine Siglet-du-Salt, geheiratet, sondern der zwingenden Logik der Anpassung gemäß, die Paul Bourget die Etappe nennt, und die jede folgende Generation um eine Stufe erhöht. Keinem von uns ist in dieser sittlichen, geistigen und sozialen Entwicklung ein Rückschritt erlaubt. Ich weiß, daß Jenny-Rose ein gutes, nettes Mädchen ist, daß ihre Mutter und ihr Stiefvater brav und tüchtig sind. Wenn ich dir sage, und meiner Erfahrung kannst du glauben, daß diese Ehe unglücklich ist, so geschieht es nicht, um Personen auszuschließen, sondern nach einem Klassengesetz. Ich bediene mich dieses unvollkommenen Wortes, weil es kein besseres gibt.« »Vater, du, der du die Gleichheit verteidigt hast, der du bei Gesetzen im Namen des Fortschritts und der Gerechtigkeit mitarbeitest ... du bist wirklich der Meinung,« entgegnete Antoine, »diese Heirat wäre eine Erniedrigung?« »Es wäre eine, laß dir versichern, nicht an sich, aber gegenüber allen denen, mit denen du solidarisch bist, und dir selbst gegenüber, der du zu ihnen gehörst. Du bist kein vereinzeltes Individuum. Da du an der Gesamtheit Teil hast, hast du altruistische Verpflichtungen, und so wie du deinem Vaterland Tribut erstatten mußt, mußt du es der Familie.« »Und wenn wir nun für uns leben wollten, Jenny-Rose und ich, ohne jemandem zur Last zu fallen oder Aergernis zu erregen?« »Dann hättest du nicht getan, was du als Fabrecé zu tun hast. Du bist Notwendigkeiten untertan, gesellschaftlichen Satzungen, geeinten Kräften, die keiner von uns antasten und schwächen darf.« »Und doch liebe ich Miche von ganzem Herzen, ich habe sie immer geliebt.« »Es war, wie ich jetzt erkenne, unklug von uns, daß wir dieser Vertraulichkeit nicht früher entgegenwirkten. Aber im wesentlichen ändert das nichts. Du kannst Jenny-Rose nicht heiraten.«
Antoine erblaßte. Nun war die Reihe an Jean-Marc, ihn triumphierend zu betrachten. »Ich finde deine Antwort sehr hart, Vater. Nicht den Ton, in dem du mit mir redest. Ich kenne deine Güte, ich spüre, daß es dir Ueberwindung kostet, so mit mir zu sprechen.« »Dessen darfst du gewiß sein, Antoine.« »Wenn meine Liebe nun aber stärker wäre ...« »Als deine Vernunft? Nein, Sohn. Du verleumdest dich selbst, und dann bist du ja auch erst zweiundzwanzig Jahre. Michette ist sehr jung. Du kannst mir das Versprechen, einige Monate dir die Sache zu überlegen, nicht weigern.« »Ich weiß, daß ich nicht anderen Sinnes werde.« Herr Fabrecé hatte sich gelobt, die Ruhe zu bewahren. Jetzt, da er ein wenig gereizt war, entfuhren ihm die Worte: »Du wirst dich ändern. Ich verlange, daß du dich sechs Monate lang entfernst. So wirst du Jenny-Rose nicht weiter opfern, und sie darf zu ihrer Familie zurück. Wenn du von ihr weg bist, wirst du sehen ...« »Vater, ich war fern von ihr beim Militär und bin noch treuer zurückgekommen. Was würdest du sagen, wenn ich sie noch in sechs Monaten lieben würde, in einem Jahre?« Herr Fabrecé erwiderte streng, denn er war überzeugt, nachgiebig genug gewesen zu sein: »Du bist großjährig. Das Gesetz erlaubt dir, uns eine Aufforderung zustellen zu lassen und dann zu verfahren, wie du willst. Heirate also gegen unsern Willen! Zwischen ihr und uns hast du zu wählen.« »Niemals,« sagte Antoine erschüttert. »Du weißt wohl, daß ich, der ich, wie du sagst, ein Fabrecé bin, nie so sehr die Achtung dir gegenüber vergessen werde. Aber du fügst mir einen großen Schmerz zu. Denn Jenny-Rose werde ich immer lieben, und sie gilt mir jetzt schon als meine Braut.«
Herr Fabrecé prüfte ihn mit langem Blick. Diese Beharrlichkeit, dieses wuchtige Antlitz ... er glaubte seinen Vater wiederzusehen, wenn er in seinem abgewetzten Samtrock, fest auf seinen Spaten gelehnt, im Felde stand. »Für heute habe ich dir alles gesagt, Antoine, was ich dir zu sagen hatte. Morgen werden wir, wenn du willst, in Gegenwart deiner Mutter die Unterhaltung fortsetzen.« Er ging auf die Freitreppe hinaus. »Die Pferde!« rief er mit Kommandostimme. Man führte Red-Bill vor, ein muskulöses, kurzbeiniges, irländisches Pferd, auf das er behend sich schwang. Jean-Marc ritt Vulcan, einen hitzigen, braunen Vollblüter, der ungeduldig mit den Hufen schlug. »Los!« rief Herr Fabrecé, und Antoine sah, wie sie im Trabe wegritten und an der Straßenbiegung verschwanden.
Jean-Marc hatte an solchen Ritten ein großes Vergnügen. Er war ein Freund aller Sports, durch die man in Form blieb – ja nicht dick werden, Diät und Methode – und so vergaß er selten, sein Pferd in den Wald hinauszulenken. Er liebte die lebhaften Gangarten, die Sprünge über Hindernisse, den Heimritt im kleinen Jagdgalopp über die von Wurzeln durchquerten Sandalleen, dahin zwischen dunklen Tannen und hellen Buchen. Er nahm an den Schnitzeljagden der Offiziere und an den herbstlichen Treibjagden teil. Zu der Freude, die es ihm machte, ein edles, heißes Tier zu zügeln, kam der Rausch der reinen Luft und des Aufenthalts im großen, einsamen Wald, dem wunderbaren Wald von Fontainebleau. Mit seinen hohen Stämmen, seinem dichten Unterholz, seinen Felsen, Sandflächen, Heiden und Kieferbeständen haucht er, ernst und schweigend, den Atem einer verzauberten Welt aus. Und seine gewundenen Pfade und Lichtungen haben der Jagd entlehnte Namen, Namen von Waffen und Wild, von Pflanzen, empfindsamer Schäferei und solche, die unirdisch sind wie Märchen. Sie heißen Hirschweg, Schlüsselblumenweg, der Weg der Meute, der Pilzweg, der Weg des freien Jägers, der Kreuzweg des Lebewohls, des Geheimnisses, des Arkebusiers und ähnlich noch.
Jean-Marc war zufrieden, daß der Vater in Antoines Sache dasselbe Urteil fällte wie er; und die ganze Familie schloß sich an, bei der der plebejische Geschmack des guten Burschen einmütigen Widerspruch hervorrief. Weder Sophie noch Isabelle, auch Simone nicht waren bereit, Jenny-Rose in die Familie aufzunehmen, und Armande reagierte sicher mit Krankheitsanfällen darauf. Ueberdrüssig dieser Szenen – immer schwebte noch die Geschichte mit der Hycler – und besonders vom Drama der heutigen Frühe mitgenommen, nach dem die junge Frau vernichtet, tränenüberströmt liegen geblieben war, sog Jean-Marc die köstliche Ruhe um ihn her mit Wonne ein.
Wenn Armande so eifersüchtig, wütend und verzweifelt alle gelegentlichen Liebschaften aufnahm, die anzufangen ihm einfiel, dann konnte die Zukunft ja heiter werden. Wie dumm war so eine kleine, hübsche Frau, da sie die Augen nicht schließen wollte, nicht schließen konnte wie ihre Schicksalsschwestern. Ach was, das Wetter war schön. Der Tag leuchtete in Azur, Gold und Smaragd, der Tau glänzte, und Jean-Marc empfand den Sohnesstolz, sich hier mit dem Vater allein, unter vier Augen zu wissen.
»Der arme Antoine merkt nicht,« begann er, »daß er mit seiner Dulcinea bald unglücklich wäre.« »Das ist nicht so sicher,« erwiderte Herr Fabrecé. »Wenn an unserem Stammbaum ein Zweig wieder zur Erde hin wachsen und zur Natur zurückkehren kann, so ist es dieser und kein anderer.« »Was hindert ihn denn, einen besseren Geschmack zu haben?« »Er ist nun einmal so,« fuhr Herr Fabrecé fort, »er ist immer so gewesen und wird wahrscheinlich so bleiben. Dennoch ist er ein herzensguter Mensch.« Er sah den trostlosen Blick Antoines vor sich, sein einfältiges Gesicht, und auch seine eigene Vergangenheit, die schwer und dürftig gewesen war. Das Glück hatte ihn so sehr gefördert wie seine Arbeit. Wer hätte ihm damals prophezeit, daß er, der Sohn eines Soldaten, der wieder Bauer geworden war, ein großer industrieller Schöpfer sein würde, ein Gelehrter, ein Gesetzgeber, eine der »Spitzen«? Er glaubte fest, seine Pflicht zu erfüllen, wenn er Antoine als dem Sohn eines berühmten Senators und Akademikers, als dem Bruder des Leiters der großen Fabrecé-Werke eine Heirat, die zweifellos eine Mißheirat war, verbot. Aber er litt unter der Strenge des sozialen Gesetzes, dem mit einem solchen Opfer genug getan werden sollte, und im Grunde seines Herzens war er nicht damit einverstanden. Was war zu tun? In nachtragender Laune wurde Jean-Marc ein wenig zu eifrig: »Einen Sparren hat er entschieden. Dieses verschmitzte Dirnchen, seine Miche, wie er sie nennt, mit meiner Frau, mit meinen Schwestern verschwägert, Noëmie als Schwiegermutter – das geht über die Hutschnur!« »Uebertreiben wollen wir nicht,« sprach Herr Fabrecé und streichelte sanft den Hals seines Pferdes. »Die Heirat ist unmöglich, aber Jenny-Rose und ihre Eltern verdienen unsere Achtung.«
Er sah Jean-Marc aufmerksam an: »Mein Lieber, wenn ich die Moral unserer Zeit und unserer Gesellschaft anerkenne, so geschieht es, weil meiner Ansicht nach jeder Moral ein höheres Prinzip innewohnt. Ich will nicht behaupten, daß unsere Gesetze und Sitten vollkommen sind, das schon gar nicht. Die ersten ermächtigen manche Ungerechtigkeit, die zweiten hehlen manche Verfehlung, und die frivole Meinung der Welt, die zu nachsichtig oder zu streng ist, bekundet oft eine Heuchelei oder ein Pharisäertum, die mir mißfallen. Und doch glaube ich, daß unsere Alltagsmoral für einen anständigen Menschen, der gewissenhaft ihre Regeln beobachtet, genügt. Man soll sie aber nicht nach dem Buchstaben befolgen, sondern nach dem Geist, ohne sich geheime Kompromisse zu erlauben. Und man soll auch nicht die Notwendigkeit von Pflichten für andere Leute ausposaunen, selbst jedoch sie umgehen, einzig darauf erpicht, eine schöne Fassade zu zeigen.« Unruhig blickte Jean-Marc empor. Worauf spielte der Vater an? »So wirst du auch, Jean-Marc, wenn du auf mich hörst, nachsichtiger gegen die Irrungen deines Bruders werden. Sie entspringen einem Gefühl, dessen er sich nicht zu schämen hat, der Liebe und dem Willen zur Treue in der Liebe. Er verstößt weder gegen die wahre Moral noch gegen die, die mehr äußerlich ist und Schwankungen ausgesetzt ist, je nach der Zeit, nach den Ideen, nach politischen Wertungen. Jawohl,« schärfte er ihm ein, »sei nachsichtig, wenn du für dich Nachsicht beanspruchst. Du hast zu genaue Begriffe von gut und böse, um dich selbst für vorwurfsfrei zu halten.«
Jean-Marc, der, um seine Verlegenheit zu unterdrücken, mit seiner Gerte die lästigen Fliegen verjagte – Vulcan hatte eine sehr reizbare Haut – antwortete betroffen: »Was meinst du damit?« »Du hast sehr gut verstanden. Der Kummer deiner Frau, euer stürmischer Ehezwist sind keinem von uns ein Geheimnis, vor allem seit heute morgen nicht, wo man mit dem besten Willen der Welt nicht mehr überhören konnte, was bei euch vorgeht.« »Armande ist nervös und bildet sich ...« Herr Fabrecé betrachtete Jean-Marc streng und doch lächelnd: »Hüte dich, Jean-Marc. Das ist einer der Kompromisse, von denen ich sprach. Nein, Armande bildet sich nichts ein. Ich auch nicht. Lies mal den Brief, den ich heute morgen bekommen habe.« Er zog aus seiner Tasche einen vierfach gefalteten Zettel. Die gewöhnliche Schrift, das billige Papier ließen den Inhalt erwarten. »Ein anonymer Brief! Pah!« rief Jean-Marc, der trotz seines Widerstrebens das Schreiben bis zu Ende las und zögerte, es zurückzugeben. Herrn Fabrecé entging das alles nicht. »Jawohl, anonym, jedoch klipp und klar. Du kannst den Brief aufbewahren. Lüge dich nicht heraus, Jean-Marc! Du kannst dir denken, daß ich auch andere Nachrichten habe.« Jean-Marc blickte wieder zum Vater: »Ich schwöre dir, daß Armande übertreibt.« »Dabei ist dieses Fräulein Hycler ...« »Ja, aber glaube mir doch, das ist nur ein Zeitvertreib.« »Einen solchen Zeitvertreib darfst du nicht haben, Lieber! Armande ist jung und reizvoll, du hast sie aus Liebe geheiratet, hast ihr Treue geschworen. Ja, ich weiß, es war der Schwur eines Mannes. Ihre Treue setztest du voraus; du jedoch ...« »Das ist nicht dasselbe.« »Wir wollen nicht streiten. Du kennst meine Ideen. Ich glaube, daß in der Ehe die Treue des Mannes ebenso notwendig ist wie die seiner Gefährtin.« »Es gibt doch Ausnahmen.« »Ich weiß nichts davon. In deinem Fall entschieden nicht. Deine Frau ist gesund und kräftig und hat dir schon Kinder geboren, die sie selbst genährt hat.« »Gerade deshalb.« »Auf diese Art also belohnst du sie? Kann denn deine Selbstsucht nicht ein bißchen Enthaltsamkeit zum Dank für ihre Mutterschaft ertragen, deren Bürde, Schmerzen, Gefahren sie auf sich genommen hat und nachher noch die Mühsal, das Kind zu säugen?« »Du hast recht, Vater, aber ...« »Nein, Jean-Marc, sage mir nicht, daß viele Männer ... Wäre die Ehe nur eine offizielle Monogamie, gemildert durch private Polygamie, verbunden mit der Auslese der legitimen Kinder und der grausamen Hinopferung der übrigen, wäre die vor der Gesellschaft eingegangene Verbindung nichts als Lüge, dann brauchten die Geschlechter sich wahrhaftig nicht mehr zu vereinigen, um Hausstände zu begründen. Die Ehe ist nicht nur eine Interessengemeinschaft, sie ist der höchste, edelste Bund, unausgesetzte Offenheit und Hingabe. So habe ich meine Ehe mit deiner Mutter aufgefaßt, und am fünfzehnten Mai wird es vierzig Jahre her sein, daß ich sie geheiratet habe, ohne sie ein einziges Mal zu hintergehen.«
Bewegt antwortete der Sohn: »Ach, du, Vater! Du bist ein Mensch von anderer Art als wir.« »Ich habe deine Mutter mit zweiundzwanzig Jahren geliebt und liebe sie noch mit fünfundsechzig. Unsere Zärtlichkeit ist durch ein gleiches, hohes Ziel gefestigt, durch viele Stunden, die wir Hand in Hand verlebten, und erst der Tod wird uns scheiden. Und dem, der zuerst stirbt, wird der andere folgen; so unauslöslichen Zusammenhang hat das Leben zwischen uns gewebt. Heißt das, daß ich nicht aus demselben Stoff bin wie jeder Mensch? Mehrmals, ja, war ich in Versuchung. Denn das Ideal der Monogamie, das am meisten der starken, reinen Fortpflanzung der Familie und der Rasse entspricht, fällt, das weiß ich wohl, unserem nomadenhaften Begehren, unserer Sucht nach Veränderung nicht leicht. Aber wäre es ein Ideal, wenn es nicht eine Abtötung verlangte? Und wie heilig wird diese dadurch, wie groß! Von dem geliebten Wesen Gram fernzuhalten, seiner selbst würdig zu bleiben, rein von niedriger Berührung, sich des bequemen Genusses zu berauben, um sich tiefer zu fühlen, tiefer zu lieben!« »Gewiß, Vater, aber Vernunft und Instinkt ...« »Man bezwingt den Instinkt. Wozu sollen Wille und Intelligenz da sein? Aber sei nur offen, ist die Lust – wir sind unter Männern – ist die Lust, ja, die du bei jenem Weibe findest, so viel wert wie das normale Glück, das du deiner jungen Frau verdankst? Was hast du mit dieser leichtsinnigen Schauspielerin gemein, indes du mit Armande so viele Pflichten teilst, so viele Sorgen, so viel Freude, so viel Leid! Also, Kleiner –,« es rührte Jean-Marc, daß der Vater ihn mit seinen achtunddreißig Jahren so nannte – »du tust mir den Gefallen, sofort unter dieses Abenteuer den Schlußstrich zu ziehen, deine Frau nett zu trösten und künftig ihr ein guter Gatte ohne Fehl zu sein.« »Das gestehe ich,« räumte Jean-Marc ein, »daß es dumm von mir ist, einer mäßigen Unterhaltung wegen ihr Schmerz zu bereiten. Ich hoffte eben, sie würde nichts erfahren.« »Alles erfährt man, das siehst du. Und wagst du mir zu sagen, daß dein Gewissen dich nicht mahnte?« »Jetzt, Vater, ja, und dir danke ich es!« Wer zum Teufel hatte diesen anonymen Brief schreiben können? Jean-Marc richtete auf Herrn Fabrecé einen männlichen, achtungsvollen Blick: »Du hast recht. In meinem Alter wäre es jetzt ... Du wirst mir solche Vorwürfe nicht mehr machen müssen.« »Sicher?« »Ich verspreche es dir!« »So wollen wir etwas galoppieren. Die Fliegen plagen unsere Pferde!«
Als sie abstiegen, trafen sie einen Mann mit steifem Hut, der eine Tasche unter dem Arm trug und das zweideutige Gebaren eines Geschäftsagenten, eines verdächtigen Schreibers oder Polizeibeamten hatte. Im übrigen war er sehr höflich, ohne die Anmaßung, wie sie zu seinem Berufe, der ihm überallhin Zutritt verschaffte, gehören mochte. Es war der Gerichtsbote, der beauftragt war, Frau Polotzeff, Simone Jeanne Claire geborene Fabrecé, samt den der Ehe entstammenden Kindern gerichtlich zur Rückkehr an den ehelichen Wohnsitz zu laden. Ihr selbst oder einer Person aus ihrem Haushalt war die Zustellung zu überbringen. Mit regungslosem Antlitz vor sich hinstarrend, empfing Simone den Menschen, und ein Bleistift, den er aus der Tasche zog, in Gegenwart ihres Vaters und ihres Bruders, diente dazu, ihre Weigerung zu Protokoll zu bringen. Dann grüßte der Gerichtsbote sehr tief und ging, von den unwilligen Blicken der beiden Herren begleitet. Er war zu Fuß gekommen, und er schwitzte.
Der Chinese brachte Nachricht von Paris. Frau Belloni, die nun eine verläßliche, großgesinnte Verbündete war, hielt dafür, bei Sergius' Aufführung sei Schonung nicht mehr ratsam. Sie wollte den Fabrecé nach Kräften helfen, Zeugnisse und den für eine gerichtliche Untersuchung erforderlichen Beistand zu beschaffen. Dieses kampflustige Interesse gewann Jean-Marc ein ungewolltes Lächeln ab: »Gilt ein so schöner Eifer nur Simone? Mir scheint, Jacques, daß auch ein Interesse, das du einflößest, dabei mitspricht.« »Und wenn dem so wäre?« erwiderte er, nicht ohne Eitelkeit. »Ich an deiner Stelle wäre auf der Hut. Sie ist eine Polotzeff, und die sind alle bösartig oder verdreht. Hast du nicht von den Tobsuchtsanfällen der Mutter gehört, die, als sie in Moskau wohnte, ihre Zofe peitschte, und vom Wahnsinn des Vaters, der ein Trunkenbold und Wüstling war? Ein Onkel ist eingesperrt, eine andere Schwester hat Selbstmord begangen. Wir haben es erst nachher erfahren, und wie immer zu spät!«
»Frau Belloni ist von anderer Art,« beteuerte Jacques zuversichtlich, mit dem Glauben des Glücklichen. Eine Herabsetzung seines Idols hätte ihn geschmerzt. Jean-Marc wechselte den Gegenstand des Gespräches. Und doch wäre auch ihm lieber gewesen, hätte der Konsul Neigung zu einem jungen Mädchen gefaßt; wenn er Liane nicht wollte, so waren andere zu finden. War in einem solchen Wunsche auch der Neid eines unterjochten Ehemanns verborgen, der auf die Freiheit des Nachbarn mißgünstig schielt? Jedenfalls versöhnte er sich mit Armande, die tags darauf an Liane telephonierte: »Sein Vater hat ihm den Kopf gewaschen, du hattest recht. Er hat mir, was ich wollte, zugeschworen.« Ein lautes Lachen antwortete ihr.
Wenn Olivier eine bis zwei Stunden bei dem langsam genesenden Florent zugebracht hatte, dessen Wunde sich allmählich schloß, ging er meist zu Isabelle und Cyrille. Durch die Unterredung mit dem »Ritter ohne Furcht und Tadel« angetrieben, kam Florent auf eine neue Narrheit. Er wollte Medizin studieren. Seine Hinwendung zur Naturwissenschaft schien ihm ein Wink, so groß auch der Sprung von der Beschäftigung, tote Tiere zu versteinern, zur Anatomie lebendiger Körper war. Doch was ihn an diesem Beruf lockte, war dessen apostolische Idee. Stets hatte Florent davon geträumt, durch Talent oder Wissen unmittelbar auf die Menschen zu wirken. Vielfältiger Ehrgeiz hatte schon in ihm gegärt: des Musikers, des Redners, des Malers, des Philosophen, des Erfinders, des Schriftstellers! Er dachte daran, daß wenige Berufe so viel Gelegenheit zur Hingabe böten wie der des Arztes. Er bedeutete ihm unablässige Anstrengung, Wachsamkeit des Geistes, leidenschaftliches Forschen und segenreiches Ringen mit Krankheit und Tod.
Zu dieser Umwandlung trugen das Vorbild von Henri Le Jas und auch Worte Oliviers bei. Ein Geständnis des Offiziers hatte seine Phantasie aufgehellt. »Ich weiß nicht,« sagte Olivier, »ob nicht die Zucht meines Standes ein notwendiger Damm gegen eine gewaltsame Richtung meines Charakters war.« Und auf einen erstaunten Widerspruch hatte er entgegnet: »Ich kenne mich. Ich weiß, wie starke Leidenschaften in mir waren, wie sehr das Leben, die Zügellosigkeit mit ungesundem Reiz mich anzogen. Ich weiß auch, daß ich rasend mich hineingestürzt hätte. Unordnung, Gier nach Gewinn, Ausschweifung, Spiel hätten mich besessen.« »Was schwatzest du da?« »Die genaue Wahrheit. Vom Schein eines ruhigen Wesens gedeckt, mußte ich mich furchtbar bezwingen, um meiner selbst Herr zu werden. Einzig der militärische Gehorsam hat mir den Mut zum Verzicht gegeben, und ich will es frei heraussagen: wenn ich nicht in der Front bin, so fühle ich meine Entschlußkraft geringer werden. Mir scheint dann, als ob mein sittliches Niveau sinke.« »Du übertreibst, Bruder! Das sind die Gewissensbisse des anständigen Menschen.« »Ach, was, Anstand! Wer ist denn wirklich anständig? Der Mensch bedarf der Vormundschaft, Florent, und wo anders soll er, wenn er nicht religiös ist, Schutz finden als in einer strikten Lebensdisziplin?« Florent hatte diesen Worten sehr nachgesonnen. Er hatte gerade bei Saint-Simon wieder die Schilderung des Duc de Bourgogne gelesen, des heißen, lasterhaften Prinzen, der durch seinen Willen der tugendhafteste von allen geworden war. Manchen seiner Züge fand er in seinem eigenen Charakter wieder. Gleich dem Dauphin hatte Florent als Kind, dann als junger Mann sich »hart und zornig bis zur äußersten Maßlosigkeit« gezeigt, »heftig bis zur Wut, unfähig, den geringsten Widerstand zu dulden, allen Leidenschaften ausgeliefert und von allen Vergnügungen außer sich gebracht«. War er nicht jetzt noch so? Man konnte sich also mit geduldiger Energie und im starren Zwang eines Berufs, der Aufopferung forderte, umwandeln.
Florent war in einer jener Lebenskrisen, wo der Gedanke an intellektuelle Entwicklung und sittliche Vervollkommnung ihn beherrschten. Das war ein kurzes Halten, eine vorübergehende Kur in geistiger Höhenluft nach und vor einem Ansturm des Instinktes. Die schwesterliche Liebe Isabelles begünstigte diese heilsamen Neigungen. Er hatte ihr gebeichtet, daß seine Wunde nicht von einem unglücklichen Zufall herrührte. Traurig hatte sie den Kopf geschüttelt – Florent kam wohl nie ins Gleichgewicht. Sein plötzlicher Hang zur Medizin konnte sie nicht begeistern. Das Studium dauerte lange Zeit genug, um seiner satt zu werden. Warum ging Florent nicht die offene, ihm durch Jean-Marc gewiesene Bahn? Er hatte sich schon in allen Betrieben der Fabrecé-Werke umgesehen. Warum sollte er nicht neben dem ältesten Bruder und später als sein Sozius sich einen Platz schaffen? »Nein, Isabelle, Brüder geraten allzu oft aneinander. Jean-Marc und ich sind zu sehr verschieden.« Sie seufzte. Dieser sprudelnde Müßiggang, dieser Ueberschuß abenteuerlicher Jugendkraft riß ihn dem Untergang entgegen. »Ich bin neunzehn Jahre alt und habe mein Diplom,« antwortete er. »Das ist nun einmal sicher, ich werde Arzt.« Er las jetzt nur noch anatomische Bücher. Die Fabrik, in deren sämtlichen Ateliers er gern gearbeitet hatte, in blauem oder schwarzem Typographenkittel, war ihm jetzt verhaßt. Der »Bulle«, der schwarze, haarige Kerl, der große Jules und die anderen Kameraden schienen ihm ferne Spukgestalten, ganz wie die Dragoner-Unteroffiziere, seine Genossen beim Nachtbummel. Er sah sich nur noch unter Studenten, er, der ihre lärmenden Tanzbuden verachtet hatte, ihren albernen Gänsemarsch, die Schalheit der Kaffeehäuser, wo sie ihre Jugend in Gesellschaft von jungen Weibern mit flach anliegendem Haar, im Brodem des Zigarettenrauchs und des beizenden Bierdunstes, redend vergeudeten. Die Familie mißbilligte seinen Plan nicht. »Die Hauptsache«, hatte Herr Fabrecé gesagt, »ist, daß er irgend etwas ernsthaft tun will.« Jean-Marc zog zweifelnd die Brauen hoch. Simone errötete. Diese plötzliche Bekehrung trat zu schnell nach Henris Abreise ein, um sie nicht – war es noch nötig? – an seine Abwesenheit zu erinnern.
Olivier und Isabelle waren nicht wieder zu intimer Fühlung gelangt. Im Familienleben und dem täglichen Umgang von Menschen gibt es rätselhafte Strömungen, die sie bald von einander entfernen, bald einander nähern, je nach der Willkür der plötzlichen Verständigung im Denken oder im Empfinden. Oft plauderten sie allein, oder sie lasen Cyrille vor, dessen äußerst feines Gehör den klaren, männlichen Stimmklang seines Schwagers liebte. An jenem Tage hatte Isabelle, die erriet, was in Olivier vorging, ihn, so schwer es war, dazu bewogen, sich mitzuteilen. Von Sophie beeinflußt, wurde auch sie nach und nach unruhig. Was war mit den Damen Sarnel? Er sprach von Elisabeth, was ihm keiner anderen Schwester und nicht einmal der Mutter gegenüber möglich gewesen wäre. Er erzählte von einer arbeitsamen, würdigen Existenz, vom langsamen Ersticken einer Seele, die dem trockenen Egoismus ihrer Familie erlag, und durch seine einfache Schilderung rief er die edelmütige Neugier Isabelles wach. Sie wünschte, das junge Mädchen kennen zu lernen, dessen Olivier, der so Verschlossene, der so wenig seine Eindrücke übertrieb, mit so viel echter Bewegung gedachte. »Kann ich dich einmal begleiten; oder wäre das zudringlich?« fragte sie. »Ich bin sicher, daß Cyrille, wenn du mir erlaubst, ihn in unser Gespräch einzuweihen, glücklich wäre, in Beziehung zu ihr zu treten. Du weißt, wie er einen intelligenten Gedankenaustausch sucht, und welcher Trost für ihn darin liegt.« Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Aber wahrhaftig, warum sollte die Mutter sie nicht auf eine oder zwei Wochen einladen? Sie würde dieser drückenden Atmosphäre entrinnen, und die Schwester des armen André Sarnel, den du uns lieben gelehrt hast, würde hier nur Sympathien finden.« Olivier zögerte: »Sie ist sehr scheu ...« »Sie könnte nach Gutdünken leben; niemand fiele ihr zur Last. Sie könnte das blaue Zimmer neben meinen Wohnräumen haben.« »Sie schämt sich ihres körperlichen Gebrechens.« Isabelle dachte an ihren unglücklichen Mann: »Ich verstehe, aber wir werden ihr die rücksichtsvollste Gastfreundschaft erweisen. Wenn du willst, so gehe ich morgen mit dir und lade sie ein.« Im Grunde, so fühlte sie, ersehnte Olivier für seine Freundin eine solche Zerstreuung, wenn er auch besorgt und vielleicht insgeheim eifersüchtig war, sie nicht mehr für sich allein zu haben. Aber hatte er sie für sich, wenn er sie in ihrem Hause sah, indessen Juliette vor Wut nicht atmen konnte, Frau Sarnel wie ein Papagei plapperte, und Marthe sich im elegischen Schmachten einer unverstandenen Liebhaberin übte? Sie erklärte: »Man müßte sie von dort wegnehmen.« »Wie aber?« »Hast du mir nicht gesagt, daß sie ihr Oberlehrerinnenexamen machen wollte? Ist sie nicht Kandidatin?« »Kandidatin für Literatur und Englisch. Wäre sie nicht verkrüppelt, so hätte sie es bis zur Professur gebracht, und heute hätte sie eine Stellung an einem großen Provinzlyceum.« »Ihr Fall ist also unheilbar?« »Die Aerzte geben keine Hoffnung.«
Isabelle sah überrascht auf seinem Gesicht den Kummer des Leidens. Er hatte die Augen niedergeschlagen wie vor einem verbotenen Bild; denn er wollte den Gedanken an jene traurige Qual bannen, an das unter Elisabeths Kleid versteckte, abgezehrte, entstellte, ohnmächtige rechte Bein, das Bein eines zehnjährigen Kindes. War es nicht abscheulich, daß es solche physische Ungerechtigkeiten gab, und daß sie ein Wesen wie sie heimsuchten? »Höre,« sagte Isabelle, gerührt durch das, was sie in frauenhafter Ahnung erkannte, »Cyrilles Rat ist gut. Er hat an der Universität noch Beziehungen und Freundschaften. Wir werden Fräulein Sarnel befreien.« »Tue das, Isabelle, es wird eine der schönsten Rettungen sein, die dir gelingen könnten.« Sie wagte ihn auszuholen: »Deine Freundschaft zu ihr ist groß?« »Groß.« »Und auch ihre Freundschaft zu dir?« »Ich hoffe es.« »Olivier ...« »Was willst du sagen?« Sie zögerte, dann blickte sie ihn an: »Du empfindest mehr als Freundschaft für sie, du empfindest Liebe?« »Schweige ...« »Warum heiratest du sie nicht?« Sie sah seine Züge sich ändern. »Isabelle, bedenke, was du sagst! Sie ist ein vornehmes Geschöpf, jedoch welcher Abgrund trennt uns!« »Welcher denn?« »Danach fragst du?« Sie legte den Finger auf die Wunde seines Herzens. Eine Heirat mit Elisabeth? Er hatte mit dem gesammelten Drang eines großen Begehrens daran gedacht, aber seine Vernunft lehnte einen solchen Wahnwitz ab.
»Cyrille und ich lieben uns leidenschaftlich,« sprach sie, um ihn durch ein unwiderlegliches Beispiel zu überzeugen. »Das ist nicht das gleiche. Du hast Cyrille geliebt, als seine Augen noch den Glanz der Welt und deine eigene Schönheit sahen.« »Ich hätte ihn auch als Blinden geliebt.« Sie errötete, denn in ihre Worte hatte sie die Glut ihrer stets bewährten Hingabe gelegt. Er wiederholte: »Das ist nicht das gleiche. Fräulein Sarnel ist in ihrer Weibnatur selbst getroffen. Das unholde Schicksal verbietet ihr die Mutterschaft.« »Du kannst dich irren!« »Nein. So schwer sich das auch sagen läßt, habe ich dich verstanden. Kannst du dir denken, daß ich diesen armen Leib, der, um nicht zu fallen, sich auf Stöcke stützt, nach dem Senegal oder nach Dahomey mitnehmen? Und eine Ehe ohne Kind ist für mich ein Unding.« Schmerzlichen Tones sagte Isabelle: »Wir haben kein Kind, Cyrille und ich.« »Wie sehr du darunter leidest, Liebe, und auch er! Verzeihe, daß ich diesen Gram in dir geweckt habe. Es ist noch ein anderes Hindernis. Fräulein Elisabeth ist nicht für ihre Mutter und ihre Schwestern verantwortlich. Aber mit einem jungen Mädchen werden durch die Ehe alle ihre Angehörigen in eine Familie aufgenommen. Die Damen Sarnel kann ich mir hier nicht vorstellen.« »Und doch ...« »Nein, Isabelle ...« »Bist du nicht in deinem Urteil sehr absolut? Ist es Schuld der Unglücklichen, wenn sie schwach ist, unfähig zu gebären, und mit einer Familie belastet, die Fehler hat?« »Ihre Schuld? Gewiß nicht! Aber sie ist einem Verhängnis untertan, das weder sie noch ich besiegen kann. Ach, sonst! Ich habe lange gegrübelt. Ich habe mir sogar gesagt, ich könnte die Armee verlassen, Elisabeth trotz allem heiraten und mit ihr, fern der Welt, eine brüderliche, einsame Existenz führen.« »Nun, und?« »Ich glaube nicht, daß ich das Recht habe, das zu tun und meine soldatische Mission preiszugeben, ohne Nutzen für irgend jemanden, nur einem egoistischen, verstümmelten Glück zu gefallen. Ich kann mir, das wiederhole ich dir, die Ehe unter solchen Bedingungen nicht denken. Dazu müßte man allein auf der Welt sein, und ich bin es nicht. Ich fühle mich mit meinen Brüdern und Schwestern solidarisch. Ich darf in die Familie nur eine Frau bringen, die zur Entfaltung unserer Gesamtheit beiträgt.« »Es gibt mehr als eine Art, dazu beizutragen. Hältst du die Gegenwart einer starken, vollkommenen Seele für nichts, wofern, was ich nicht bezweifle, Fräulein Elisabeth die ist, als die du sie schilderst?« »Lassen wir das, es tut mir weh!« »Armer Olivier!« »Beklage mich nicht. Ich habe Mut.« »Du bist stoisch, aber du leidest.« »Ja.« Isabelle betrachtete ihn mit Respekt, aber ihre zarte Einsicht reichte tiefer. »Willst du mir ein letztes Wort erlauben?« »Sprich.« »In deiner Art, die Beweise zu führen, ist ein gut Teil Hoffnung, Olivier. Das alles ist viel einfacher.« Er erwiderte nicht sogleich und blickte nieder. Er erforschte sich selbst. War Hoffart im Mystizismus seines Willens zum Leiden, wie bei André Sarnel, als er gelassen das Messer des Chirurgen in seinem Leibe fühlte? Ja, die Hoffart des Vereinsamten, des Apostels; war sie unfruchtbar? Er gestand: »Vielleicht hast du recht.«
Drei Tage darauf brachte Isabelle Fräulein Elisabeth nach Val-Montoir. Nicht ohne Mühe. Die Damen Sarnel hatten, als müßten sie ihre Beute fahren lassen, hartnäckig sich widersetzt. Gerade gebe es so viel Arbeit, stöhnte die Mutter, und Juliette, die an die Pflege ihrer älteren Schwester gewöhnt sei, könne sie nicht missen. Marthe hingegen nahm diese auf Elisabeth beschränkte Einladung als persönliche Schmach hin. War es denkbar, daß Olivier die andere vorzog, wo er doch sie hätte einladen sollen? Das war die Beschwerde aller, ein galliger, unter gelbem Lächeln verhohlener Neid gegen die, die »Glück« hatte. Der Pförtner und der Dienstmann an der Ecke mußten das zitternde Mädchen bis auf die Treppe tragen, während Elisabeth die lästigen, an den Enden mit Kautschuk überzogenen Krücken nahm und darauf achtete, nicht damit ans Geländer zu stoßen. Beseligt während der Fahrt und tiefbewegt, als ihre Hände in denen der jungen Frau lagen, wurde Fräulein Sarnel beim Anblick des hinter dem Gitter sich zeigenden Hauses wiederum furchtsam und ängstlich. Olivier stand auf der Freitreppe, Sophie hinter ihm. Frau Charnot und ihre Töchter, Frau Lesgor, Liane und Armande, liefen schnell über die blumigen Gartenbeete, um das Schauspiel der Ankunft nicht zu versäumen. Olivier hätte sie gern zum Teufel gejagt. Welches Mißgeschick, daß die Damen unvermutet zum Frühstück erschienen waren, und daß der unausstehliche Bankier Lesgor die Absicht hatte, zum Diner nachzukommen! Aber nicht Eigenliebe verursachte ihm dieses peinigende Unbehagen. Er beklagte Elisabeth und ihre hilflose Zaghaftigkeit, als sie das Haus betrat. Und dennoch lächelte sie dankbar ihn an, und ihre wunderbaren Augen erfreuten seinen Blick. Was lag an den frivolen, aufgeputzten, schwatzhaften Zuschauerinnen? Unter Isabelles Mitwirkung stützte er Fräulein Sarnel, die Sophie liebenswürdig empfing. Sie brachte die Leidende fort, und er deckte den Rückzug.
Liane, der Armande die Epistel las, und der Gisèle nachhalf – nie waren die drei Schwestern so einig gewesen – versuchten den letzten Gegenstoß. Auch die majestätische und schöne Frau Charnot schien ihre eindringliche Autorität ins Feld führen zu wollen. Liane, die vor dem Erscheinen des Chinesen sich aus ihm nichts gemacht hatte, fing jetzt vor Enttäuschung Feuer. Sie hoffte ihn zu überrumpeln; aber gerade an jenem Tage war er in Paris, im Ministerium. Es war ganz erstaunlich, wieviel er mit dem Sektionschef für Asien zu arbeiten hatte. Dieser Sektionschef hatte wohl einen Unterrock und einen italienischen Namen. Aergerlich hatten Liane und Frau Lesgor ihren kritischen Sinn an Fräulein Sarnel ausgelassen, und diese wäre bei Tisch der Gegenstand einer allzu beharrlichen Aufmerksamkeit gewesen, hätte nicht ein Ereignis von weit größerer Wichtigkeit, das einer dem anderen zuflüsterte, sensationelles Interesse wachgerufen. Man brauchte nur das verlegene, lächelnde Gesicht Armandes, die stolze Genugtuung von Jean-Marc zu sehen, um zu erraten, daß ein engeres Band, als die Versöhnung es war, sie einander näherte, eine dauerhaftere und in ihren Folgen schwerere Hoffnung. Wirklich erlebte Armande, mit leiser Besorgnis und doch voll Freude, die ersten Anzeichen einer Schwangerschaft. Mit leiser Besorgnis, weil sie fürchtete, Jean-Marc würde darin einen neuen Vorwand zu ehelichen Ferien und Seitensprüngen erblicken; voll Freude, weil sie wußte, daß nichts ihren Mann ihr mehr verpflichten konnte als die Geburt eines Töchterchens. Jawohl, für dieses Mal ein Töchterchen, wenn sie ihm nicht sogar Zwillinge schenkte. »Nun, Jean-Marc,« hatte Herr Fabrecé gesagt, »jetzt hast du Gelegenheit, Wort zu halten.« »Ja, Vater. Armande fürchtet, daß ich ihr nicht treu bleibe. Sie ist eine tapfere kleine Frau, und du wirst sehen, daß ich ihr diesmal Aufregung erspare.«
Die gute Nachricht, die die Familie beglückte, hatte ein Echo auch im Herzen eines mageren, blassen Mädchens und, obschon dunkler, in dem eines Kindes mit dicken Wangen: bei Nénette und Mimi, den Kindern aus erster Ehe. Es kränkte Nénette sehr, daß sie seit zwei Tagen ihre Stiefmutter immer wiederholen hörte: »Es wird ein Mädchen werden. Ich wünsche mir so sehr ein Mädchen.« Augenscheinlich sah sie Nénette und Mimi nicht für ihre eigenen Kinder an. Und Nénette, die so früh schon zu empfinden, zu lieben und zu leiden vermochte, fühlte sich durch das Kind, das in wenigen Monaten Blick und Gedanken des Vaters auf sich lenken sollte, noch mehr von ihm verstoßen und abgedrängt. Wenn es ein Mädchen wäre, so würde er gegen sie und Mimi gleichgültig sein. In ihrem romantischen Geist gingen seltsame Ideen um. Sie wollte sich draußen ihren Lebensunterhalt verdienen, eine berühmte Sängerin werden, die alle Welt und die Fabrecé sogar bewundern sollten, oder einem Fürsten gefallen und so reich und mächtig werden, daß ihre Stiefmutter ihre Gnade erbetteln mußte. Von ihren kindlichen Träumen erwachte sie wie Aschenbrödel. Während sie auf künftige Huldigungen wartete, wurden sie ihr jetzt von Odile, der Kammerfrau, die bei ihrer Stiefmutter in Gunst stand, verweigert. Odile hatte sie zwingen wollen, ein zerrissenes Kleid anzuziehen, da sie keine Zeit gehabt habe, den Saum zu nähen. Da Nénette sich sträubte und zum erstenmal über Vernachlässigung klagte – sie selbst hatte Mimi den Kopf waschen und ihre Strümpfe ausbessern müssen – war Odile ergrimmt. Sie war ein Weib mit grünlicher Gesichtsfarbe, im allgemeinen schweigsam, eine aus dem Süden, die es in sich hatte, und mit desto hastigerem Jähzorn. Sie schrie, sie werde Frau Jean-Marc holen, und dann werde man sehen, ob das Fräulein gehorche. »Gehen Sie doch hin,« hatte Nénette, die erblaßt war, gerufen. »Als Mama noch lebte, hätten Sie sich nicht so benommen. Sie hat sich ordentlich getäuscht, als sie Ihnen vertraute. Holen Sie doch Ihre Herrin, holen Sie sie doch, Sie Klatschmaul!« Verdutzt hatte Odile das empörte Mädchen betrachtet, an das die Schwester fassungslos sich schmiegte. Ein Kampf vollzog sich in ihr, die Wut trug den Sieg davon, und indem sie mit den Türen warf, wiederholte sie: »Sie werden noch von mir hören!« Nénette wartete. Da hatte sie die Bescherung. Sie konnte sich auf eine derbe Abkanzlung, auf eine exemplarische Strafe vorbereiten. »Ach, Mimi,« jammerte sie und umarmte das Kind, »wie glücklich bist du, daß du noch so klein bist und nicht verstehst. Kommt denn niemand und rettet uns vor der Stiefmutter?« Sie wußte, daß ihre Worte böse waren. Armande zeigte sich nicht immer parteiisch und vorurteilsvoll; doch kann man gerecht sein, wenn man unglücklich ist? Sie dachte: »Wäre ich nur zwei Jahre älter und meine Brust ein bißchen weniger flach, dann würde mich der Konsul vielleicht ansehen. Er ist so schön, so gut, so tapfer. Er ist dekoriert, er ist ein Held. Und immer ist er verständig und hochherzig. Mancher Onkel hat seine Nichte geheiratet. Er will ja heiraten, und Liane mag er nicht, so sehr sie sich auch anstrengt. Könnte ich ihm gefallen! Um geliebt zu werden, um mich nicht mehr hier bei den Zwillingen – sie sind ja noch nicht böse, aber sie werden es werden – als Fremde zu fühlen, ginge ich weiter als bis nach China, ginge ich bis zum Mittelpunkt der Erde.« Nénette stieg auf einen Stuhl und prüfte ihre Gestalt im Spiegel des Kamins: »Ich sehe noch aus wie ein kleines Mädchen. Ob ich mir etwas ins Korsett stopfe?« Ach, wie sehr wollte sie den unbekannten Erretter lieben!
Das laute Schelten Odiles hallte aus der Gesindestube bis zu Sophie, und so drang es bis zu Isabelle, die erregt sich an Cyrille wandte: »Sophie hat mir gesagt, daß Armande Jean-Marc bestimmen will, Nénette in ein Pariser Pensionat zu geben. Findest du nicht, daß das zu weit geht?« Jacquemer durchzog mit nervösen Fingern seinen Bart und murmelte: »Seit langem ist so etwas im Werke.« »Großmutter wird es nicht gestatten.« »Nein, sie hat keine Macht mehr.« »Es war unrecht von Nénette ...« »Der Form nach. Es ist die große Kunst derer, die dem Wesen nach unrecht haben, ihre Widersacher Verfehlungen gegen die Form begehen zu lassen.« Isabelle wagte die Frage: »Wenn nun Vater und Mutter einschritten?« »Sie verwöhnen Armande, und wenn sie ihnen später eine Enkelin schenkt ...« »Dann ...« »Ja, die Töchter Claudies sind im voraus verurteilt.« »Oh, du bist hart.« »Die Gesetze der Familie sind unbarmherzig wie die Naturgesetze. Sie gehorchen einer geheimen Logik, sie unterdrücken die Schwachen, vernichten die fremden Elemente und stoßen sie aus, weil sie auf dem Interesse begründet sind. Jede große Familie wie die unsere ist eine Kaste mit ihrem Hochmut, mit ihrem Partikularismus, ihren Vorrechten und Mißbräuchen. Das Interesse, das sie bewegt, kann niedrig oder hoch sein; stets wird Interesse walten.« »Traurig!« »Höre, Isabelle; so schwierig es für uns ist, hier zu handeln, müssen wir doch mit Hilfe von Sophie und Simone durchsetzen, daß Nénette nicht aus diesem Hause, wo ihr Platz ist, verbannt wird.« Isabelle senkte den Blick: »Arme Kleine!« Er fügte hinzu: »Der Familienegoismus hat seinen Daseinsgrund, aber auch die Zerstörten sind zu beklagen. Ich gestehe dir, daß der Kummer Antoines, der mir heute morgen ein unerwartetes Vertrauen bekundet hat, mich tief rührt.« »Cyrille, du willst doch nicht, daß er eine Gärtnerstochter heiratet?« »Liebe, neben der Gesamtheit besteht das Individuum. Es kommt darauf an, ob der Schaden, den andere von ihm haben, sein eigenes Unglück wert ist.« »Antoine ist ein guter Kerl,« sagte Isabelle bewegt, obwohl sie in ihrer Seele Aristokratin war und sein Beginnen für eine Torheit hielt. »Mehr als das, Liebe. Antoine ist ein prächtiges Herz.« »Ach,« rief sie überrascht. An Cyrilles Menschenkenntnis durfte sie nicht zweifeln. Aber wenn man immer neben einem Bruder daherlebt, weiß man nur schlecht über ihn Bescheid; denn der Schein und die Ansicht aller ...
Die Enttäuschung Antoines war groß. Unter Berufung auf den Vorgang des Großvaters Marie-Joseph, der ihm entscheidend dünkte, hatte er vertrauensvoll gegen den Uebergriff des Gouverneurs Einspruch erhoben. Aber Herr Fabrecé hatte ihm, ohne sehr in Harnisch zu geraten, bedeutet, daß der ersehnte Bund unmöglich sei. Unmöglich, warum? Weil Jean-Marc ein Fräulein Charnot gewählt hatte, mußten deshalb auch die anderen sich Weiber nehmen mit Spitzenkleidern, Weiber aus der Gesellschaft? Der Schlag traf ihn um so schwerer, als er glaubte, daß man sein Recht mißachte; und das konnte er in seiner Herzenseinfalt nicht ertragen. Bitter war es für ihn, daß nun auch sein Vertrauen zur Unfehlbarkeit des Vaters, den er höher gestellt hatte als alle Wesen, schwankte. Und Antoine sprach bei sich: »Er wird schon recht haben, nur ich verstehe ihn nicht.« Und je mehr er sich in diese Idee vergrub, desto weniger begriff er. Das war so klar, daß er Miche heiraten wollte, da er sie liebte; was bedurfte es noch so vieler Wenn und Aber? Warum halfen seine Schwestern ihm nicht? Warum fand er nur bei Florent Ermutigung? Vielleicht die Mutter? Denn die Großmutter zählte nicht. Sie war eine Siglet-du-Salt und stolz auf ihren Namen. Aber noch einmal sollte ihm eine Hoffnung genommen werden.
Frau Fabrecé war nicht gegen Noëmie parteiisch. Aber da sie ihre sämtlichen Kinder außer Antoine genährt hatte, und auch ihn nur einer Krankheit wegen nicht, hatte sie trotz aller Dankbarkeit sich einer instinktiven Eifersucht nicht erwehren können, die leidenschaftliche Mütter hegen, ohne sich darüber klar zu werden, und nach Möglichkeit verbergen. Sie hatte unter der Zärtlichkeit der starken Bäuerin zu ihrem »Jungen« und unter der Liebe Antoines zu seiner Amme gelitten. Eine unangenehme Erinnerung blieb in ihr zurück, eine Erinnerung an unausgesprochene Anklagen und Beschwerden, an kleine Reibereien zwischen natürlicher Mutterschaft und Pflegemutterschaft. Mit Verdruß hatte sie die bäuerischen Neigungen ihres Sohnes gesehen – woher hatte er sie? –, seinen traulichen Umgang mit Noëmie und seiner Milchschwester. Doch aus Güte und Erkenntlichkeit gegen die braven Leute hatte sie diese Wahlverwandtschaft ihres Sohnes nicht zur rechten Zeit bekämpft. Jetzt beklagte sie es, und Antoines Liebe gab ihrem Bedauern eine unvorhergesehene Kraft. Sie hatte kein Vorurteil, wie sie sich selbst beteuerte, aber der Gedanke, daß er Jenny-Rose zur Frau nehmen wollte, schien ihr noch weniger erklärlich, als wenn er sie zu seiner Geliebten gemacht hätte; und doch hätte auch das als eine Niedrigkeit sie empört. Sie war also – und dieses ihr Verhalten war sehr weiblich – den Plänen Antoines um vieles feindseliger als der Vater. Eine peinliche Unterredung zu dreien war erfolgt; heiße Tränen weinend war Antoine weggegangen.
Simone, die ihn auf dem Gang traf, legte ihm mit freundlicher Gebärde die Arme um den Hals und führte ihn, um ihn zu trösten, in ihr Zimmer. Sie verstand ihn mehr als alle, weil sie geliebt und gelitten hatte. Isabelle und Sophie gruppierten sich um ihren betrübten Bruder. Die Gründe, mit denen er sich verteidigte, hätten sie nicht überzeugt; aber ihn wie ein Kind schluchzen zu sehen, rührte sie. Die eine klopfte ihm auf die Schultern, die andere strich ihm übers Haar, die dritte umarmte ihn. Die Ankunft der Schwestern Armande, Liane und Gisèle, ihre höhnischen oder ärgerlichen Mienen verbreiteten Frostigkeit, ohne Antoine des wohltuenden Mitleids, das er erregt hatte, zu berauben. Zwar war dieses Mitleid vergeblich, und Sophies und Isabelles Meinung wurden dadurch nicht abgeändert; doch Mitleid war es, und seine Wärme beglückte ihn.
»Alter Kerl,« sagte nachher Florent zu ihm, »was plagst du dich noch so viel? Du liebst Michette? Nun, dann kann dich doch keiner daran hindern.« »Ja, aber ich habe versprochen, nach dem Jubiläum der Eltern in die Sologne abzureisen. Es ist da ein großes landwirtschaftliches Unternehmen, wo der Freund eines Bruders vom Vater einen zuverlässigen, praktischen Helfer braucht, um das Ganze zu überwachen. Die Arbeit ist schwer und die Verantwortung groß. Ich konnte den Eltern eine Frist von sechs Monaten, damit ich mir die Sache überlege, nicht abschlagen.« »Du bist ein gutes Kind!« »Sie haben mich so inständig gebeten, Florent.« »Na, ja, aber Michette?« »Sie kann, wenn ich fort bin, nach Val-Changis zurückkehren, und jedenfalls sehe ich sie wieder.« »Du weißt, wo sie versteckt ist?« »In Melun, beim Bruder und der Schwägerin des alten Maldant. Nadel und Schere sind ihr zuwider, sie geht nur mit der Heckenschere und dem Steckholz gern um und läuft am liebsten in Holzschuhen über die feste Ackererde. Jetzt kleben sie sie auf einen Stuhl und zwingen sie, sich mit der dummen, weißen Wäsche die Augen zu verderben.« Florent begann das Volkslied zu singen: »Spinn, spinn, Tochter mein, morgen wird die Hochzeit sein.« »Ach, laß nur, die Liebe behält immer den Sieg.« »Dann kann ja noch alles gut werden,« meinte Antoine, halb getröstet.
Tags darauf fuhr er mit seinem Rad durch den Wald. Auf der Höhe des Kreuzes von Augas wandte er sich um, die Hügel von Solle zur Linken. Als er am Hofjägerkreuz war, fuhr er in einem Zug auf den Rundweg zu. Er sollte ihn von dem Waldweg, der Großmeisterkreuz heißt, zum Königstisch führen. Der Weg war länger, doch es gab dort weniger Autos und Staub, und er durchkreuzte einen der schönsten Teile des Waldes. Antoine kannte ihn besser als Jean-Marc. Begeistert für Fußpartien, hatte er alle seine Mulden durchstreift, seine labyrinthisch verwirrten Pfade, seine Hochflächen mit jungfräulichem Rasen, seine Brandheiden, seine chaotischen Einöden. Alle Namen, die er vom Tierreich hat, vom Pflanzenreich und vom Menschen, waren ihm vertraut. Keinen Forstwächter gab es, den er nicht kannte, und öfters hatte er in der Hütte der Kohlenbrenner genächtigt, wenn er von morgens bis abends, die Botanisiertrommel auf dem Rücken und den Bergstock in der Hand, Pflanzen gesammelt hatte.
Plötzlich blieb er stehen; das war eine Geschichte. Er hatte nur eines vergessen, sich die Adresse von Miches Verwandten geben zu lassen, die Jean-Marc wohl nicht kannte. Melun ist groß. Na, er wollte fragen. Eines der ersten Häuser war das eines Fuhrmanns. Maldant? Der Name war hier fremd. Er forschte in den Ausspannherbergen. Im Hintergrund gepflasterter Höfe standen große, gelbe Wagen mit schwarzen Decken, und ihre langen Gabeldeichseln waren herabgelassen. Die Ställe strömten Dunggeruch aus. Hier und da liefen gefräßige Hühner, und auf dem Sims eines Fensters mit weißen Vorhängen sah man Geranien. Maldant? Keiner wußte von ihm.
Antoine irrte von Tür zu Tür. Eine Näherin auf Tagearbeit, die so hieß, nein. Da konnte man ihm nichts sagen. Man schickte ihn zu einem alten Fräulein: Balidan? Auch das war falsch. Auf der Post erhielt er keine Auskunft. Er ließ schon alle Hoffnung fahren, als ein kleiner Fox vergnügt ihn ansprang. Es war Pompon auf seinem Spaziergang durch die Stadt. Der Hund wenigstens war gescheit. »Miche? Pompon, wo ist Miche?« Kläffend bewegte der Fox zweimal den Kopf, als ob er Antwort gäbe, und dann zeigte er den Weg. Am Ende der Sackgasse blickte er listig zu Antoine zurück, führte ihn in einen Hof, stieß mit der Schnauze und den Pfoten eine halbangelehnte Tür auf, und zappelnd begann er hin und her über eine Treppe zu klettern, als ob er so das Liebespaar zusammenbringen wollte. Leise klopfte Antoine an eine kleine Tür. Miche öffnete ihm. Als sie ihn sah, wurde sie blaß, und mit dem Finger auf dem Mund gab sie ihm ein Zeichen, er solle lautlos wieder hinuntergehen. Sie brachte ihn in eine mit Steinplatten ausgelegte dunkle Stube. Er war von solcher Erregung gepackt, daß seine Hände am Türgriff zitterten.
»Na,« hub er an, »das war eine Arbeit, bis ich dich gefunden habe. Gibt's denn hier keinen Herrn Maldant?« Sie lächelte in ihrer Bestürzung: »Bural heißt er, mein Stiefvater und er sind nur von der Mutter her Brüder.« »Schnick, schnack! Aber Schatz, du siehst so elend aus. Wo hast du denn deine frische Farbe?« Miche zuckte zusammen und lauschte: »Ich habe mich eben um dich gegrämt. Ich wußte wohl, daß das schlecht enden mußte.« »Du meinst wohl, Michette, daß es nun erst gut werden soll?« »Nein, Antoine, es ist aus. Wir müssen vernünftig sein. Auch du, armer Bursche, siehst nicht gut aus, und ich soll mir sagen, daß es um meinetwillen geschieht.« Von neuem horchte sie: »Die Tante ist oben, sie wird mich rufen.« »Hast du Furcht vor ihr?« »Nein, sie ist nicht arg, und ihr Mann auch nicht. Aber ich sterbe hier in der Stadt vor Langerweile.« »Das wird schon anders werden. Zuerst müssen wir beide miteinander reden.« Mit unglücklichem Gesicht verneinte Miche. »Antoine, ich habe versprochen, gehorsam zu sein. Es ist besser so, glaube mir.« »Du hast versprochen? Da willst du mich also auf sechs Monate so weglassen?« Sie riß die Augen auf, ihr Mund verzerrte sich, und geängstigt fragte sie: »Fort sollst du? Ist es nicht genug, daß sie mich von dir entfernt haben?« »Du siehst also, daß wir miteinander sprechen müssen, und zwar gleich!«
»Jenny-Rose!« rief eine schleppende Stimme. »Die Tante! Geh schnell!« »Ich warte den ganzen Tag an der Straße hinter dem Königstisch, die sich mit dem Weg nach Chailly schneidet.« »Ich werde nicht können ...« »Du wirst kommen, wenn du deinen Liebsten gern hast.« »Jenny-Rose!« rief die Stimme nochmals. Pantoffel klapperten oben auf dem Treppenflur. »Du kommst also?« »Ja! geh nur rasch!«
Antoine entwich. Die Stunden, die er warten mußte – er hatte kaum Zeit, eilig in irgendeiner Schenke, wo er sein Fahrrad einstellte, zu frühstücken – schienen ihm ewig. Nochmals zweifelte er, ob sie sich frei zu machen vermochte. Aber da kannte er sie schlecht. Mitten durchs Feuer wäre sie gegangen, um ihn wiederzusehen. Doch hatten sie sie ihm nicht entfremdet? Wie hatten sie sie so einschüchtern können? Sicher hatten sie ihr Ehrgefühl verletzt und ihr nahegelegt, daß ihre Selbstlosigkeit durchaus zu bezweifeln sei. Nichts hätte dem armen Kind mehr weh getan. Wenn Jean-Marc ihren Verzicht auf Antoine wollte, so hatte er einen guten Einfall gehabt. Es ist ja um die Familie etwas Schönes; aber dieses unschuldige Ding zu quälen, war blöd und nutzlos.
Vier Uhr. Jetzt mußte sie kommen. Fünf Uhr. Blieb sie etwa aus? Die Schwierigkeit war zu beheben. Antoine wollte hingehen und von Angesicht zu Angesicht sie der Tante und dem Onkel wegfangen. Er wollte sie sehen, er mußte sie sehen. Bei dem Gespräch heute morgen hatten sie sich nicht einmal setzen können. Er fuhr empor. Auf dem Wege sah er die Umrisse einer Frau. Sie war es nicht. Die Zeit verging. Die Sonne stieg am Waldsaum hinab, in einer halben Stunde mußte Dämmerung sich ausbreiten.
Endlich, jetzt gab es keinen Irrtum mehr. Diesen hastigen Gang, dieses blaue Kleid kannte er. Das war seine Miche, seine Michette, sein Schatz, sein kleines, großes Kind, seine süße Geliebte. Sie war außer Atem. Ihre Backen hatten sich wieder gerötet, ihre Augen glänzten. »Du bist mir sicher böse? Wie schön und gut du bist! Was hast du denn in deinem Korbe?« »Was zum Essen. Semmeln mit Butter und Stachelbeeren drauf. Das ißt du ja gern, du Feinschmecker.« »Ich habe auch daran gedacht, aber ich habe Hörnchen und Schokolade gekauft. Ich habe beim Bäcker geholt, was ich fand.« »Das ist lieb von dir, Antoine.«
Sie betraten den Wald, in dessen Unterholz es allmählich dunkelte, während die Baumwipfel noch im hellen Licht ragten. »Nur hier ist Ruhe,« sagte Antoine. »Wir wollen wieder hin zum Moor. Aber du siehst so müde aus?« »Ja, weil ich so viel sitzen muß.« Und Miche erzählte, wie das Glück ihnen hold sei. Der Onkel Bural, der eine Fuhre nach Pontoise hatte, sollte erst morgen zurück sein. Die Tante war nach der anderen Seite der Stadt zu einer Wöchnerin gerufen worden und mußte bei ihr übernachten. Sie hatte also Zeit, aber wegen der Dunkelheit durften sie nicht so spät umkehren. »Miche, liebst du mich noch?« »Ja, was sollte aus mir werden, wenn ich dich nicht liebte?« »Gut, das wollte ich wissen. Nun höre ...« Er setzte ihr die jüngsten Ereignisse auseinander und erfuhr von ihr, was in Val-Changis vorgegangen war, die Auftritte mit Noëmie, die Klagen des Alten. Er begründete auch seine Abreise: »Du verstehst, ich tue es, weil ich dem Vater und der Mutter nicht ungehorsam sein will, und doch tut es mir leid, daß ich ihnen den Beweis meines guten Willens gebe.« »Du hast recht gehandelt, du konntest anders nicht handeln.« Jedoch ändern würde das nichts. Sie sollte ihm ihr Herz bewahren, und die Zeit würde Rat bringen. Ungläubig verneinte sie das mit ihrem Blick und ihrem Lächeln, während ihr Kopf und ihr ganzer Leib sanft gegen ihn lehnten. Er solle sich keiner trügerischen Hoffnung hingeben. Eine Heirat sei unmöglich, niemand würde darein willigen, und sie auch nicht. »Laß das nur gehen, wie es will,« erwiderte Antoine. »Wir wollen uns nicht vor dem Standesamt zanken. Wir lieben uns, und damit gut, und alle Gouverneure, alle Oberverwalterinnen und alle aufgeregten Fabrecé sind dagegen ohnmächtig. Meine Schwestern sind schon viel freundlicher zu mir, weil sie mich haben weinen sehen.« »Armer Antoine,« rief sie bewegt.
Sie gerieten von einem Pfad zum andern in ein seltsames Netz von trockenen Kanälen. Wie ein großes Spinngewebe, dessen Fäden Erddämme sind, umgibt es das Moor. Rund lag es da, mit seinem aufgerissenen Grün. Einst hatte es dazu gedient, im Wasser den Hirsch zu fangen, und für den Durchbruch der Kavaliere und Amazonen. Hier hatte Antoine Jagdhörner hallen hören, und mit Ekel hatte er zugesehen, wie man dem Hirsch den Todesstoß gab. Wieviel schöner war heute das schweigende Moor mit seiner Spiegelung des erblassenden Himmels, zwischen einem Gürtel hoher, schon geschwärzter Stämme! Eine kleine Holzhütte, die man die Malerhütte nannte, weil irgendein Landschaftsmaler darin gewohnt hatte, war zwischen Röhricht und Buschwerk verkrochen.
»Sieh doch,« sagte Antoine, »das Schloß ist entzwei.« Die Tür gab unter seiner Hand nach. Sie durchspähten den Zufluchtsort; er war leer. Moosstücke waren zu einem weichen Lager aufgeschichtet. »Es scheint fast, als wäre es für uns da.«
Sie ließen sich nieder, um zu essen. Er hieb mit kräftigem Appetit ein, aber Miche, der das Herz schwer war, aß kaum eine Schnitte. Sie legte den Kopf an die Schulter des Geliebten: »Ist es denn möglich, sechs Monate soll ich dich nicht sehen?« »Du wirst doch an mich denken?« »Ach,« seufzte sie, »ich denke viel zu sehr an dich.« Um sie her senkte sich aschenfarben die Dämmerung, sie überflutete die Lichtung, und man hörte die Frösche mit Geplätscher in den Schlamm tauchen. »Ich muß nun fort,« flüsterte sie nach langem Schweigen. »Warte nur ein wenig, ich geleite dich bis zum Haus. Teile doch noch das Hörnchen mit mir!« Sie hatten in ihrer Freude, sich wiederzufinden und, wie zur Zeit ihrer zärtlichen Begegnungen, allein zu sein, sich so viel zu sagen. Wie viele Erinnerungen hatten sie! Bei der Pilzlese hatten sie Sacktücher und Taschen voll gehabt. Miche kannte die Pilze, die guten und die falschen, so gut wie er. Und wie damals Pompon von einer Schlange gestochen wurde! Mit einem Hieb seiner Gerte hatte Antoine das häßliche Tier zerstückelt, und er hatte sogar die Wunde des Hündchens ausgesogen, damit das arme Geschöpf nicht sterben mußte. »Er ist dir aber auch dankbar,« sprach Miche lachend. Sie betastete die Moosbank: »Sag mal, es sind doch hier keine Schlangen mehr?« »Oh,« rief Antoine, »damals waren wir drüben bei den alten Steinbrüchen.« Aus Vorsicht beklopfte er mit dem Stiefelabsatz das Moos. »Ich möchte nicht so gestochen werden wie Pompon.« »Ich würde dich heilen, wie ich ihn geheilt habe, Kind.« Sie errötete, aber das sah er nicht, weil mehr und mehr die Dunkelheit niederfiel. »Nun muß ich aber nach Hause.« »Es ist so schön hier.« »Ach, könnte ich tun, wie ich wollte, dann bliebe ich bis morgen. Sei vernünftig, Antoine!« Er richtete sich seufzend auf und zog sie, ihre Armgelenke umschließend, an sich: »Ich tue nur, was du willst, Michette.«
Draußen sahen sie, daß schon völlige Nacht war. »Ich kenne den Weg,« versicherte er. Aber er irrte sich. Dessen wurden sie alsbald gewahr. »Wir müssen rechts gehen,« rief sie. »Das glaube ich nicht. Nach links!« »Ich weiß es gewiß.« Aber nach wenigen Augenblicken erkannten sie, daß sie sich getäuscht hatten. »Wenn man nur die Wegweiser lesen könnte,« sagte er. »Hier ist einer.« Umsonst schwang er sich, mit Händen und Füßen sich anklammernd, an dem Pfahl empor, wo er ein Streichholz entzündete, um die Wegangabe zu lesen. Er glitt wieder herunter. »Das nutzt auch nichts. Und ich glaubte, alle Waldwege zu kennen. Wenn wir nur zur Landstraße kämen. Hier, in dieser Richtung müssen wir gehen.« Aber sie kamen, da sie zwischen all den Erddämmen nicht aus noch ein wußten, immer wieder dorthin zurück, wo sie gestanden hatten. »Ach,« rief Miche, »das ist der Sumpf.« »Ein Glück noch, daß er so schimmert, sonst wären wir hineingetreten.«
Auf einmal strauchelte Miche, und beinahe wäre sie umgefallen. Sie stieß einen Schmerzensschrei aus. Kräftig faßte er sie: »Herr Gott, hat dich eine Schlange gestochen?« »Nein, aber viel besser ist es auch nicht. Ich habe mir den Fuß verrenkt.« »Tut es dir weh?« »Ein bißchen, aber das macht nichts.« Jedoch sie hinkte, und er konnte nicht weiter. »Ich trage dich.« »Nein, nein, Schatz!« »Aber wenn wir heim wollen! Lege die Arme um meinen Hals, damit ich dich auf meinen Rücken nehme. Hopp! Jetzt irre ich mich nicht mehr, jetzt sind wir auf dem rechten Weg.« »Du glaubst?« Ohne unter der köstlichen Bürde zu wanken, ging er entschlossen einen der Wege, dann suchte er einen anderen, er bog aus, endlich, nachdem er gegen einen Stamm gestolpert war, blieb er unschlüssig stehen. »Wahrhaftig, die Gegend ist verhext, jetzt sehe ich gar nichts mehr.« Er schritt wieder aus und rannte mit dem Kopf gegen einen Baum. Miche ließ sich zur Erde fallen, jedoch sie ächzte, weil der verrenkte Fuß sie schmerzte. »Da sind wir schön in der Patsche,« sagte Antoine. »Jetzt können wir nur noch den Sumpf und die Hütte wieder aufsuchen. Morgen wird es schon wieder hell werden.«
Aber sie verloren noch eine halbe Stunde, um dahin, von wo sie ausgegangen waren, zurückzukehren. Endlich legte Antoine das Mädchen mit großer Vorsicht auf die Moosbank nieder. Sie weinte leise, und ihre lauen Tränen fielen auf Antoines Hand. Er war ganz unglücklich. »Ach, Liebste, wie weh dir das tun mag! Warte, ich muß, weil ich mein Fahrrad mithatte, in meiner Tasche ein Stückchen Kerze haben. Noch ist Hoffnung. Nein, es ist mein Pfropfmesser – und hier ist Schnur – und hier sind Samenkörner – und da ist ja auch das Kerzenstümpfchen. Nur müssen wir sparen, sonst kommen wir nicht weit damit. Siehst du, jetzt haben wir Licht!« Miches gequältes Antlitz, das doch voll Sanftmut und Zärtlichkeit war, rührte ihn. »Halte du den wunderbaren Leuchter, ich will nach deinem Fuß sehen.« Heftig zog sie ihn mit einer Leidensgrimasse zurück. »Kleine,« gebot Antoine, »ich will es.« Sie sträubte sich weniger. Er band ihr den Schuh auf und betastete sachverständig und schonend ihr Gelenk. »Hier sitzt es, nicht wahr? Warte, ich massiere dich. Aber den Strumpf mußt du ausziehen.« Verwirrt wandte sie nach einigem Zaudern sich ab, während er es vermied, hinzublicken. Dann hielt sie, während sie züchtig den Rock zusammenzog, ihm den nackten Fuß, ihre weißen Knöchel, ihre volle, mit goldigen Härchen besetzte Wade hin. Stumm und emsig preßte er seinen Daumen auf das geschwollene Fleisch, und mit der Genauigkeit eines Knocheneinrichters – er hatte das beim Militär einem, der es gewesen war, abgeguckt – massierte er die gequetschten Sehnen. Sie biß sich auf die Lippen, um nicht zu schreien. »Du bist tapfer,« meinte er. »Es hilft mir ein wenig.« »Morgen, wenn es dämmert, werde ich es wieder versuchen. Und müßte ich dich auch bis zum Königstisch tragen, bringe ich dich doch nach Hause.« Der Docht der Kerze zuckte. »Du verbrennst dir die Finger. Wir müssen auslöschen, Miche, und da wir nichts Besseres zu tun haben, mußt du sehen, ob du nicht schlafen kannst. Strecke dich auf der Moosbank aus!« »Und du, Antoine?« Er entgegnete mit ein wenig unsicherer Stimme: »Ich werde mich draußen hinsetzen, vor die Tür, und wie ein großer Hund dich bewachen.« »Nein, Lieber, verlasse mich nicht ...« »Miche!« Sie schauderte vor Müdigkeit, vor Erregung, in Angst vor der Nacht, vor der Einsamkeit, vor dem Unbekannten. »Lege dich hin, schlafe!« Sie gehorchte ihm. Nach einer längeren Frist seufzte sie: »Mir ist kalt.« Er nahm den Rock ab und breitete ihn über sie. Wiederum seufzte sie: »Wo bist du? Komm zu mir, du mußt mich wärmen.« Er legte sich neben sie und umschlang sie mit seinen Armen. »Ist dir besser so?« »Ach, Antoine, ich bin im Paradies.« »Nun wollen wir schlafen.«
Das Schweigen des Waldes umhüllte sie, eine schwarze, dichte Stille, durch die zuweilen ein Rascheln des Laubes ging. Die Frösche schliefen; nur manchmal sprang einer furchtsam in den Sumpf. Der Odem von Wasser und Moos, ein mächtiger Odem von Erde und Saft stieg empor, der wallende Odem des Frühlings. Fiebernde Glut war in ihren Adern, und sie fühlten, wie ihre Herzen in dumpfen, rhythmischen Schlägen klopften. Sie verstummten, aber sie hörten sich atmen, und Antoines Lebenswärme übertrug sich auf Miche, die hier im finsteren, ruhigen Walde ausgestreckt lag, am Rande dieses Sumpfes, dessen verhextem Kreis sie nicht entfliehen konnten. Es war, als sollten sie durch das Verhängnis ihrer Jugend und die unentrinnbaren Gesetze des Lebens früher oder später an der Gemeinschaft der Schöpfung teilnehmen, an der Allkraft, die in den Pflanzen und Tieren des verzauberten, nächtlichen Waldes göttlich dahinströmte.
Im Schnellzug von Paris nach Brüssel hatte Henri Le Jas ein sonderbares Abenteuer gehabt. Entmutigt durch die Ausdauer, mit der er in sein Leid sich verwühlte, lehnte er sich gerade zurück, um vielleicht zu schlafen, als das Notsignal, der schrille Pfiff einer Sirene, ertönte. Der Zug fuhr langsam, zum Staunen der Passagiere, die zum Fenster hinausschauten oder über die Gänge eilten. Gerüchte flatterten auf: ein Schrankenwärter sei überfahren, eine Zugentgleisung eben noch vermieden worden. Man hörte: »Der Kopf ist ihm abgeschnitten,« oder: »Es war ein kleines Mädchen, die Tür war schlecht zu.« Beamte liefen umher. Ein Speisewagenkellner rief: »Ein Arzt, ein Arzt wird verlangt!« »Hier,« rief Le Jas, der sich an seine Berufspflicht erinnerte.
Er warf seinen Ueberrock ab und eilte hin. Unter den entsetzten Blicken der Gaffer, die man zurückschob, drang er in ein blutbespritztes Coupé ein. Dort erblickte er einen Priester, den ein alter Herr mit Ordensband und eine energische alte Dame stützten. Todesfahl und ohne Bewußtsein lächelnd, sah der Verwundete zu, wie aus seinem Arm ein roter Strahl hervorschoß, der schon auf dem Fußteppich eine Lache bildete. »Wie, du bist es, armer Freund?« Verblüfft fand er einen Jugendkameraden wieder, von dem er seit Jahren nichts mehr vernommen hatte, den Abbé Stéphane Arnaud.
Der Priester erkannte ihn nicht, er wurde eben ohnmächtig. Als er die schwere, zum Unglück zerbrochene Scheibe hatte herablassen wollen, so erklärte die Dame, war ein großes Stück ihm auf den Arm gefallen und hatte wie ein Beil hineingeschnitten. »Es war Zeit!« rief Le Jas, während er hastig die zerschnittene Ader mit den Daumen zusammendrückte. Nach seinen Weisungen verband der alte Herr mit einem zusammengelegten Taschentuch den Arm. Schnell etwas Alkohol oder Kölnischwasser! Le Jas wusch die Wunde aus, dann umwickelte er die Ader mit Faden, den man aus der Reisetasche der alten Dame nahm. Gewickelte Leinwand vervollständigte diese Notbandage. Indessen war der Priester mit Hilfe des Riechfläschchens, das man ihm unter die Nase hielt, allmählich zu sich gekommen. Er suchte lange das über ihn gebeugte Antlitz zu erkennen; dann fragte er mit schwacher, froher Stimme: »Ist es möglich?« Und mit dem Lächeln des Priesters, das dem einfachsten Worte Bedeutung gibt, wiederholte er: »Henri Le Jas ... Henri Le Jas ... Ach, die Vorsehung schickt dich mir.« Und mit eindringlichem Ton fuhr er fort: »Daß du hier im Zuge warst, daß wir beide durch ihren Willen in einer Stunde uns wiederfinden mußten, die so gefahrvoll für mich war!« Sein fast kindlich sanfter, aber von mystischer Glut verinnerlichter Blick heftete sich auf Le Jas mit einer beharrlichen Einfalt, in der weniger egoistische Dankbarkeit lag als ein Schuldgefühl gegen den Herrn der Geschicke, der ihm den rettenden Erzengel unter den Zügen eines seinem Herzen noch immer teuren Menschen gesandt hatte. »Wir wollen nicht hier bleiben,« sagte Le Jas. Er hob den Abbé auf und legte ihn in dem angrenzenden Coupé, das man leer gemacht hatte, nieder. Inzwischen verschlossen die Beamten den blutigen Raum und klebten an die Scheibe einen Zettel mit der Aufschrift: »Gesperrt.« Im Gang erläuterte der alte Herr mit dem Ordensband redselig den Unfall, indem er annahm, daß die Bahngesellschaft verantwortlich sei, und Zeugen warb. Ein Passagier mit einem Kahlkopf, ein Pariser Advokat, erbot sich, den Prozeß einzuleiten, und sprach von hohem Schadenersatz. Le Jas war besorgt über die Erschöpfung des Verletzten, der, zum Reden zu schwach, ihn mit gerührtem Lächeln betrachtete. Der Arzt, der nicht gläubig war, staunte über die dunklen Wege des Zufalls. Aufmerksam prüfte er seinen Mitschüler, dessen Bekehrung für ihn eine verwirrende Erinnerung geblieben war. Er sah Stéphane Arnaud auf den Bänken des Lyzeums Heinrichs IV., einen blassen, verträumten Jüngling, der immer der Erste in der Klasse war. Nachher wurde aus ihm ein lebenslustiger Student der Rechte, der weder ein Liebesabenteuer noch ein nächtliches Trinkgelage scheute. Der Tod seines Vaters, ein gräßlicher Selbstmord, hatte ihn umgewandelt. Er hatte die Erschütterung der Auserwählten, die wie ein Blitzstrahl trifft, in sich gespürt. Als er in den geistlichen Stand eintrat, verschwand er für seine ehemaligen Kameraden. Er sollte im Heiligen Lande sein oder Vikar in einem verlorenen Dorf in Moriana, dann in Rom. Henri Le Jas bewunderte den idealen Ausdruck seines Gesichts, das einst durch verbummelte Nächte und durch Wahllosigkeit im Verkehr unstet und zuweilen entstellt gewesen war. Die Augen allein hatten sich nicht verändert, nur war ihr Blick hohler und klarer. Aber die Wangen traten schärfer hervor, das bartlose Kinn verriet eine ungeahnte Energie, und es schien, als hätte ein entsühnendes Wasser, das Wasser eines Jungbrunnens, dem ganzen Antlitz eine heitere Frische verliehen. Um zwanzig Jahre sah Stéphane Arnaud jetzt jünger aus als damals, als er an dem nächtlichen Bummel im Quartier Latin teilnahm.
Freunde, das Ehepaar Firmin Luce, erwarteten den Priester. Sie standen auf dem Bahnsteig. Welche Aufregung gab das! Da sie vielmals darum baten, begleitete Le Jas seinen Freund. Vom Arzt der Familie Luce unterstützt, half er der ersten flüchtigen Wundpflege nach. Er reinigte die Wunde, legte um die Ader einen regelrechten Verband und nähte das Fleisch, während der Abbé in seinem Schmerze eine leichte Ohnmacht erlitt. Auch Frau Firmin Luce entfaltete einen taktvollen Eifer. Sie war eine Frau mit matter Gesichtsfarbe, schwarzen Brauen und vor der Zeit weißem Haar, das sie hochfrisiert trug wie die Marquisen auf den Bildern von La Tour. Sie besaß große sittliche Vornehmheit, viel Geist und ein gütiges Herz. Man konnte sie nicht sehen, ohne achtungsvolle Sympathie zu empfinden. Nach einstündigem Gespräch war Le Jas in ihrem Bann. Die Luce ihrerseits hatten an der Offenheit und an der Schlichtheit des Arztes Gefallen. Als freigesinnte, doch überzeugte Katholiken sahen auch sie in der glücklichen Rettung ihres Abbé Stéphane, wie sie ihn in beinahe familienhafter Vertraulichkeit nannten, eines jener täglichen Wunder, die die göttliche Vorsehung an ihren Lieblingen wirkt. Und für einen dieser Lieblinge hielten sie den Abbé wegen seiner makellosen Reinheit. In mancher Beziehung war Stéphane Arnaud für Frau Luce dem heiligen Franz von Assisi ähnlich, den sie mit besonderer Inbrunst verehrte. Herr Firmin Luce, Advokat und belgischer Senator, ein stämmiger Mann von sechzig Jahren, war feingebildet und genoß unter seinen wallonischen Landsleuten einen verdienten Ruf. Der Salon des Ehepaars war für alle geistigen Bestrebungen offen. Mit den großen Pariser Schriftstellern befreundet, hielten sie in Brüssel gegen die flämische Strömung und den germanischen Vorstoß die französische Kultur, den französischen Einfluß aufrecht.
Henri Le Jas fühlte sich bald von Freunden umgeben. Das dramatische Abenteuer hatte das Entstehen von Sympathien beschleunigt und ein gegenseitiges Zutrauen begünstigt, das sonst vielleicht Monate und Jahre erfordert hätte. Die Luce erlaubten nicht, daß er im Hotel blieb, wo er der guten Art halber sich ein Zimmer genommen hatte. Er mußte bei seinem Kranken sein, und Herr Vernhelsdt, sein Brüsseler Kollege, war der erste, der ihn darum bat. Mitunter gab es schlechte Augenblicke. Der Zustand des Abbé flößte Besorgnis ein; seine Verwundung war schwer. Nach einer Woche jedoch konnte Le Jas, da eine erhebliche Besserung eingetreten war, sich einen Tag festsetzen, um sich nach Brügge zu begeben, wo seine Frau, durch einen Brief benachrichtigt, ihn erwartete. Seine Traurigkeit war Frau Firmin Luce nicht entgangen, und auch dem Abbé nicht. In ruhigen Stunden, nachdem sein Fieber gefallen war, richtete er auf seinen Freund einen forschenden, hellseherischen Blick, der das Leiden des Herzens ergründete, um nun auch ihn zu heilen, da nach dem volkstümlichen Wort der Priester der Arzt der Seele ist wie der andere der des Körpers. Nur daß Le Jas Stéphane Arnaud heilen konnte, der Abbé jedoch nicht ihn. Umsonst schwieg er, umsonst biß er die Zähne zusammen; der Priester und Frau Firmin Luce ahnten die Krise, mit der er rang. Hatte nicht er das durchdringende Gefühl des Beichtvaters, sie das der Frau? Und so schonend sie waren, tröstete ihn die Empfindung eines Mitleids, das sicher machtlos war, aber doch seinen Gram linderte.
Als er nach Brügge abfahren wollte, teilte eine Depesche ihm mit, er solle sich keine Umstände machen. Frau Henri Le Jas, die durch Privatinteressen nach Brüssel gerufen wurde, war bereit, im Hotel Zu den drei Königen mit ihm zusammenzutreffen. Frau Firmin Luce kannte es. Es war ein altes Gasthaus in der Altstadt, in der Rue des Eperonniers, das noch ein Schild mit dem Bilde der drei Könige aus dem Morgenlande hatte, und in dem eine fromme Kundschaft abstieg. Mutmaßte sie, wem er nach so langer Pause begegnen sollte? Hatte sie etwas erfahren, da sie überall in Brüssel und in den anderen Städten Beziehungen hatte? Sie entschloß sich zu einer Frage: »Lieber Herr Le Jas, ich sehe – entschuldigen Sie, wenn ich die Hand auf eine Wunde lege – daß Sie mit einem Gram herumgehen. Kann ich etwas für Sie tun? Ich wäre glücklich, dürfte ich Ihnen helfen, denn nie werde ich vergessen, daß Ihnen unser lieber Abbé das Leben verdankt.« Er machte eine schwache Bewegung der Abwehr: »Gnädige Frau, auch der beste Arzt muß immer damit rechnen, daß der Teufel im Spiel ist, das heißt die böse Gefahr.« »Nein, Gott vielmehr,« sprach Frau Luce mit ernstem Lächeln, »sein Schutz nämlich, den er, wie ich hoffe, dem Kranken weiter gewähren wird, und den ich im Gebet erflehe. Auch Sie haben Ihren Anteil daran, lieber Freund, denn ich wie der Abbé wünschten Sie weniger in Sorge zu wissen.« Henri Le Jas blickte sie an. Die edle Wärme, an die er nicht gewöhnt war, das schöne Antlitz vor ihm, die friedvollen Augen ... plötzlich verlor er die Fassung und fühlte, wie ihm die Tränen kamen. Nur schwer konnte er sich beherrschen, dann sagte er, den Kopf schüttelnd: »Ich zweifle daran, daß Sie etwas ausrichten können. Manche Naturen sind für jede menschliche Regung tot. Ich will meine Frau um ihr Einverständnis mit einer Scheidung bitten und weiß schon jetzt, daß sie ablehnen wird.« »Sie lieben, Herr Le Jas?« »Ich liebe ein sanftes, aufrichtiges, anmutiges Wesen, eine maßlos unglückliche junge Frau.«
Frau Firmin Luce betrachtete ihn mitleidig. Sie schwieg, zugleich im Geist widerstrebend und doch durch ihr Herz zu ihm gezogen. »Wenn es so ist, so fürchte ich allerdings ... unsere Religion gestattet die Scheidung nicht. Ist Ihre Frau fromm?« »Nicht so wie Sie! Gläubige von Ihrer Art achte und bewundere ich.« Sie erwiderte sanft: »Der Heiland hat gesagt: Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen. Sind Sie etwa in Ihrer nachtragenden Abneigung ungerecht?« »Nein.« »Warum wollen Sie sie versuchen? Das ist nicht wohlgetan.« »Sie hat Kraft genug, sich zu verteidigen.« »Warum wollen Sie sich einer Enttäuschung aussetzen?« »Es ist das letzte Mittel, das mir übrigbleibt.« Sie sprach: »Ich beklage Sie. Hätten Sie den wahren Glauben, so würde er Sie etwas Höheres lehren als die Verwirklichung des Herrlichsten und Schönsten, daß Sie sich wünschen können.« »Was nämlich?« »Das freiwillige Opfer.« Er antwortete: »Ich habe mich in meinem Dasein dem Opfer nie entzogen. Ich bin Arzt. Uebrigens erfülle ich nur meine Pflicht und bin nicht eitel darauf. Aber wenn ich auf das, was für mich der einzige Grund zum Handeln, das Leben selbst ist, verzichten soll – nein!« Frau Firmin Luce betrachtete ihn noch immer voll teilnehmenden Gefühls. Ihr Ideal war ein anderes, aber ihre vorurteilslose Intelligenz ließ jede Weltanschauung gelten. Sie bedauerte ihn, und in ihrem Glauben an die göttliche Barmherzigkeit dachte sie, daß nach der irdischen Prüfung alle Gerechten errettet werden müßten. »So gehen Sie denn, Freund! Ich kann für das, was Sie ersehnen, nicht beten, und doch, vermöchte ich Ihnen sonstwie zu helfen, ich täte es.«
In einer gewissen Aufregung wandte Henri Le Jas sich nach dem Hotel Zu den drei Königen. Es war noch zu früh. Mit jedem Schritt wuchs seine Angst. Fünfzehn Jahre waren verronnen, seit sie sich zum letztenmal mit eisigem Lebewohl verlassen hatten. Fünfzehn Jahre, während deren er nur durch die dunkle Scheibe von Raum und Zeit von ihr erfahren und sie zu vergessen sich bestrebt hatte. Glich sie noch dem achtzehnjährigen, armen, nicht eben hübschen Mädchen, das er als junger Landarzt in seiner Unbesonnenheit geheiratet hatte, ohne daß sie durch irgendeine ungewöhnliche Eigenschaft ihn berückte? Es war eine traurige Ehe gewesen. Kurze Flitterwochen, dann Oede und die Feststellung, daß ihr Charakter, ihr Geschmack in nichts sich vertrugen. Hätte sie sich noch dazu verstanden, ihm gehorsam den Haushalt zu führen! Aber ihre trockene Lieblosigkeit wurde durch Hochmut verschärft. Vier Jahre hatte er unter der herausfordernden Bitterkeit einer durchschnittlichen Lebensgefährtin gestöhnt, und dazu kam als vergiftende Mittlerin eine jener komischen, furchtbaren Schwiegermütter, deren einzige Verrichtung ist, die Ehe ihrer Tochter zu zerstören. Mit herber Trauer erinnerte er sich an die Pauline von damals, an ihr unter seinen Küssen totes Gesicht, an ihr höhnisches Mundzucken, wenn er begeistert für irgendeine Entdeckung, einen großen Gedanken, einen schönen Traum sich ins Zeug legte. Endlos waren diese vier Jahre ihm erschienen, als eines jener langsamen Martyrien, die auch der Stärkste nicht aushält. Und wenn er sich fragte, warum er sich auf solchen Wahnwitz eingelassen hatte, wurde er sich kaum darüber klar. Alles hatte zusammengewirkt. Die Langeweile in der kleinen Stadt, in der er als Anfänger wohnte, die geschäftige Beschlagnahme durch die Damen Noeflé, seine selbstlose Leichtgläubigkeit, sein Wunsch, eine Familie zu gründen. Und doch kam niemals das erhoffte Kind.
Wie hatte sie nach der Trennung gelebt? Nach dem Tode ihrer Mutter hauste sie mit einer alten Cousine. Ein lichtloses Leben in der Tiefe bei ewigem Glockenklang, ein ewiges Herumkriechen in den Messen, Stickereien auf grüne Wachsleinwand, Klatsch in einer Gesellschaft von alten Mädchen oder Patronessen, Werke der Mildtätigkeit, die das Elend mit gütiger Strenge unterstützten. In dem stillen, ruhevollen Brügge hatte sie langsam und träge altern müssen, mit einschrumpfenden Schultern, mit einschrumpfendem Herzen. Ob sie mit siebenunddreißig Jahren noch dieselbe war? Vielleicht war ihr braunes Haar jetzt von grauem durchzogen, und sicher trug sie es asketisch an die Schläfen geklebt. Eine andere hätte vielleicht den Lockungen des Lebens gehorcht, ihr Herz hätte auf die Rufe des Frühlings gehört, die Stimme eines Mannes hätte sie erregt. Das wäre für Henri das Heil gewesen. Ihre beiderseitige Freiheit hing von der Frage ab, ob sie zur Liebe fähig war und sich eine glücklichere Existenz noch bauen wollte. Aber wie sollte er das erwarten können? Und zum erstenmal empfand er mit Pein, daß er das Geheimnis dieses wohl geheimnislosen Lebens zu durchdringen nicht imstande war.
Und dennoch, so unwahrscheinlich das klang, hatte Pauline einem anderen Menschen eine Neigung eingeflößt, wenn sie auch mit rechnender Vernunft sich mischte, die gewöhnliche Neigung, die in mittelmäßigen Seelen erblüht. Als Le Jas ins Hotel trat und dem Geschäftsführer seinen Namen buchstabierte, sah ein kleiner, bärtiger Mann mit gekrümmten Schultern, der die Treppe hinunterkam, ihn fest, mit nicht sehr wohlwollender Neugier an. Er konnte nicht ahnen, daß Herr van Bloomen, ein im Viertel von Sankta Gudula hochgeschätzter Apotheker, ein Witwer mit einer hüftkranken kleinen Tochter, sich in Pauline verliebt hatte, weil ihr Naturell, das einer sparsamen Ameise ähnelte, und ihre Reizlosigkeit ihn bestachen. Dieser Freier hielt dafür, daß Frauenschönheit die Männer in sicheren Untergang reiße, und war überzeugt, die Ehe sei mit der für einen echten Frommen gebotenen Abtötung verträglich. Reich und habsüchtig hatte er noch einmal für sich und Gertrude bei Frau Le Jas gesprochen. Es geschah für das Mädchen, nicht wahr? Doch ihren Widerstand hatte er nicht besiegt. Trotzdem mißfiel Herr van Bloomen ihr nicht. Sie hegte sogar ein gewisses vertrauliches Mutterschaftsgefühl für das kranke Kind. Aber ihrem Manne eine Freiheit wiederzugeben, von der er Gebrauch machen konnte, zu dulden, daß er liebte und geliebt wurde, daß er endlich das Glück kennen lernte, das lag ihr fern, und hatte Le Jas sich etwa so weit verirrt, es zu erhoffen, so sollte sein Irrtum nicht lange währen.
Er wurde in ein kleines, nüchternes Arbeitszimmer eingeführt, mit roten Steinfliesen, kargen Möbeln und runden, moosgrünen Fußdecken. Erbauliche Stahlstiche schmückten die Wände. Auf dem Kamin stand zwischen zwei großen, rosig geränderten Muscheln ein bronzener Johannes der Täufer. Eine Tür ging auf, Pauline trat ein. Sie schien um keinen Tag älter, nur ein wenig magerer unter dem kurzen schwarzen Schal, der ihr spitz über Brust und Rücken hing. Ohne ein Zeichen der Unruhe nickte sie, und ihre trockne Hand deutete auf einen Stuhl. Sie selbst ließ sich an einem Tisch nieder und harrte, Kopf und Leib kerzengrade, mit gefalteten Händen. Sobald er sie sah, begriff er, daß er hier reden und reden konnte, und daß Gründe oder flehende Vorstellungen in das starre Schweigen zurückfallen würden. Er mochte sich vor Schmerz winden oder vor ihr töten, immerzu würde sie ihn mit diesen Augen ansehen, als unerbittliche Gläubigerin, als weiblicher Shylock, der seinem Schuldner das Pfund lebendigen Fleisches abnimmt, da wo das Herz schlägt, wo das Leben zuckt.
Der große Tag, auf den alle gespannt waren, nahte. In Helle begann der Morgen des 15. Mai. Seit Wochen sprach die Familie in heimlichen Versammlungen von diesem Feste und bereitete es zu einem Glanze vor, der unauslöschlich werden sollte. Ein gemeinsamer Gedanke setzte dem, was in dem einzelnen vorging, ein Ziel. Beinahe vergaß jeder seine Sorgen, seine Klagen. Den Jubeltag des Vaters und der Mutter zu begehen und vierzig Jahre eines wolkenlosen Glücks zu feiern, das hieß, zu erlesener Stunde um sie und das zähe Greisentum der Frau Siglet-du-Salt die Zärtlichkeit der sieben noch lebenden Kinder scharen und mit ihnen die Toten vereinigen, die Großeltern und Therèse, die in erster Jugendblüte dahingemäht worden war. Es hieß auch ein Fest der Hoffnung auf die Kinder, Nénette, Mimi, Jean-Pierre, Pierre-Jean, Iwan, Betty, ohne die mitzuzählen, deren Geburt die Zukunft bringen sollte. Durch die Ehrung von Pierre Fabrecé und der Mutter sollten die kraftvollen Schößlinge des großen Stammes ihrer dauernden Energie und ihres künftigen Gedeihens noch bewußter werden. In diesem Glaubensakt erinnerten sich alle Fabrecé ihres hohen Ursprungs. Vierzig Jahre des Beispiels und der Pflicht. Nie hatten auf langem Wege diese beiden miteinander verbundenen Leben unter der Last der Verantwortung geschwankt, so schwere Stunden es gab, und aufrecht erreichten sie nach so vielen rastlosen Tagen, deren keiner verloren war, die Jahre einer wohl erworbenen Ruhe, umleuchtet von der Aureole der Achtung und der Ehrfurcht. Alle diese Menschen empfanden auf sich einen Abglanz des väterlichen Ruhms und waren in frommer Ergebenheit für die, die sie zur Welt gebracht hatte, verschwistert, verschwistert durch die Bilder gemeinschaftlicher Erlebnisse, durch unentwirrbar gemeinschaftliches Fühlen. Sie alle mußten, so verschieden und so gleich sie waren, tief bewegt sein, als sie endlich den Anbruch des strahlenden Tages erlebten, den alles verschönerte, vom intimen Familienstück bis zur Nachmittagszeremonie und dem großen offiziellen Diner. Morgens sollten Vater und Mutter den Kindern gehören. Dann sollten die Arbeiterdeputationen, die Vorstände und die Faktoren kommen und eine goldene Medaille mit dem Doppelbildnis des großen Chefs und seiner Frau überreichen. Das sollte die Feier der ganzen Fabrecé-Werke sein, der Geburt, des Kampfes und der triumphierenden Entwicklung des Unternehmens, in dem Frau Fabrecé, als Gewissensbeistand und als taktvolle Pflegerin, die von den ärmsten Leuten gekannt und geliebt wurde, ihren Pflichtteil redlich erfüllt hatte. Abends, beim Bankett unter dem großen Zelt im mittleren Hof, war der Gelehrte, der namhafte Senatsredner an der Reihe. Die Ansprache des Unterrichtsministers und die Uebergabe der Insignien eines Kommandeurs der Ehrenlegion sollten die Symbole des Beifalls seiner Kollegen und seiner Freunde in allen Welten des Gedankens sein. Gern wäre Herr Fabrecé den schmeichelhaften Kundgebungen ausgewichen, aber wie? Durfte er sich der Freude, die alle daran hatten, verschließen?
Wenn einer seinem Charakter nach mehr als die anderen von diesen Weihrauchwolken umnebelt werden mußte, so war es Jean-Marc, der jetzige Leiter der Anstalt, auf deren Größe und Leistung er pochte. Sein Ehrgeiz – er gedachte bei der nächsten Wahl Deputierter zu werden – wurde dadurch ebenso befriedigt wie seine Sohnesliebe. Jedoch auch Olivier als Parteigänger der Tradition und der Zucht, Antoine, dem jedes Protzen zuwider war, und Florent sogar trotz seiner anarchistischen Stimmungen fühlten eine solche Genugtuung. Von den Frauen war Sophie in ihrem Familiensinn wie berauscht, Isabelle war glücklich, wenn auch ruhiger, und Simone war es mit der Schwermut, die nun stets bei ihr zutage trat. Cyrille, ein freier Intellektueller, konnte die Kraft dieser sozialen Formeln nicht verkennen. Jacques lächelte darüber und glaubte, es sei nichts als diplomatischer Prunk, dessen Unzulänglichkeit auch den Einfältigsten sichtbar ist. Für Nénette und ihre Schwester, für Betty und ihren Bruder war das Fest identisch mit neuen Kleidern und Kuchen in Menge. Ein Waffenstillstand begann, während dessen es nur Heiterkeit gab und keine Schelte und fröhliches Lachen, fröhliches Geschrei.
An jenem Morgen war die Luft in Val-Montoir mit Elektrizität geladen. Man lief von Zimmer zu Zimmer, Türen klappten, man tuschelte und Röcke rauschten. So war es auch bei der Heirat Isabelles und bei der Simones gewesen; diesmal jedoch hatte die Freude einen ernsteren, fast religiösen Zug. Sophie hatte vor Ungeduld ihr Puderkästchen zerbrochen und, als sie sich das Haar wellte, sich eine Locke verbrannt. Simone zog zum erstenmal ein Frühjahrskleid an und vergewisserte sich, daß ihre Kinder vorteilhaft aussehen würden. Seit Henri Le Jas abgereist war, beschäftigte sie sich von morgens bis abends mit ihnen. Sie war besorgt über Bettys Nervosität und traurig über den zornigen, launischen Charakter Iwans. Wie sehr hätte eine männliche Erziehung ihm wohlgetan! Vorgestern hatte er in einer der grausamen Anwandlungen, in denen er früher einmal einen lebendigen Vogel gerupft und die Pfoten einer Katze an einen rotglühenden Herd gehalten hatte, die friedliche Mimi gekratzt und bis aufs Blut gebissen. Die wütende Intervention Nénettes hatte ihm eine Backpfeife eingetragen, deren Echo, durch die Angeberei Odiles und den Tadel Armandes vervielfacht, zu der ganzen Familie gedrungen war.
Simone versuchte, den Gram ihres Lebens, ihre Enttäuschungen, ihre Furcht abzuschütteln. Als im Justizpalast der Sühnetermin stattfand, hatte ihr Gatte seine Rolle mit Ueberlegenheit gespielt. Er behauptete, verleumdet, das Opfer einer mächtigen Familie zu sein. Seine angebetete Frau habe man umstellt, und nur eines verlange er, daß sie zu einer billigeren Auffassung sich bekehre und ihm die Kinder wieder zuführe. Der Präsident, den Herr Fabrecé noch vorher hatte einweihen können, ließ sie zunächst der Mutter. Zweimal wöchentlich sollten sie zum Vater gebracht werden. Der Advokat hatte zu einer List geraten: Wenn Polotzeff in flagranti abgefaßt werden könnte, wäre der Prozeß gewonnen. Nach dem Einspruch Simones, die allzu ehrlich war – »und doch, gnädige Frau, heiligt der Zweck die Mittel«, so hielt Maître Raballeau ihr vor – hatte Bernard seinerseits den Rat verwertet. Ein Freund von ihm, ein pensionierter Kriminalinspektor, überwachte mit Geschick Polotzeff, der, krank vor Wut, sich in Nachtrestaurants und Vergnügungslokalen herumtrieb, aber schlau sich vor einer Falle hütete.
Bald nach Tagesanbruch war Antoine auf den kleinen Landfriedhof von Barbeau gegangen, wo sein Großvater und seine Großmutter ruhten. Bewegt staunte er. Er fand auf dem Grabstein, der ihre Namen verschlungen zeigte, ein großes Bündel weißer Lilien, wie sie so prachtvoll bei den Maldants blühten. Das war sicher ein Liebeszeichen Noëmies. Da sie freiwillig dem Familienfest fern blieb und unter den Lebenden nicht weilen durfte, hatte sie wenigstens den Toten bekunden wollen, daß sie sie nicht vergaß. Antoine dachte an Michette und stutzte sorgfältig den Efeu, dessen dichtwucherndes Grün den Grabstein umkränzte. Wenn sein Schätzchen da wäre, wie freundlich würde es ihm helfen! Ueber diesem verlassenen Totenfeld mit den wenigen Kreuzen lag heiterer Friede. Vögel flatterten in den Akazienbäumen umher, und das saftige, tiefgrüne Gras zwischen den Ligusterhecken besternte sich mit Maßliebchen. Gewiß, hier lebten die Alten fort, und sie hatten recht gehabt, daß sie in freier Natur wohnen wollten, unweit ihrem Haus und ihren Feldern, statt in einem reichen Gewölbe neben Thérèse und Herrn Siglet-du-Salt zu schlafen, auf dem Père-Lachaise, wo es so eng war, daß man an die Grabmäler stieß und sich bedrückt fühlte wie zwischen den Mauern einer übervollen Stadt. Er sah Thérèse wieder, froh und reizvoll, die Verkörperung des lachenden Frühlings. In wenigen Stunden war sie einer Entzündung der Hirnhaut und des Rückenmarks erlegen. Nur eine leblose, bläuliche Gestalt war von ihr zurückgeblieben; wie furchtbar! Er wusch die Steinplatte, die vom Kot der Vögel beschmutzt war. Ihre kleinen Triller, ihr lustiger Flug mit struppigen Federn, das dichte Gras, das Rauschen der Bäume, der blaue Himmel, die schöne, wärmende Sonne und der unbeschreibliche Duft, der den Brodem der unterirdischen Verwesung mit der unnennbaren Jugend der Dinge vermählte, belebten aufs neue seine Liebe und die Unruhe, die seit der Nacht am Sumpf ihn nicht mehr verließ. Ihm war, als höre er den Rat des allmächtigen, so kurzen und so bedrohten Lebens. Der Stimme seines Herzens zu folgen, nach der ihm verliehenen Kraft zu arbeiten, hieß das nicht der Familie und dem Lande bescheiden dienen? Er wollte wie der Großvater Marie-Joseph, der erste der Fabrecé, nichts sein als der Schmied eines einfachen Glücks mit Michette als Frau und vielen Kindern. Diese Lehre wehte ihm von Bäumen und Gräbern zu, und das zu werden gelobte er sich.
Olivier dachte an Fräulein Sarnel. Die Ferien des armen, liebenden Mädchens waren sehr kurz gewesen. Das Gezänk ihrer Angehörigen hatte sie gezwungen, sich wieder ans Lager Juliettes zu setzen. Welches Recht besaß sie, diese Pflicht zu verleugnen, die sie in ihrer Entsagung auf sich genommen hatte? Zu Hause erwartete sie eine neue Betrübnis. Alexander, der Neffe, hatte seinen Prinzipal bestohlen, und nur durch unterwürfige Besuche ersparte man ihm die Strafhaft. Marthe – hoffte sie Olivier eifersüchtig zu machen? – hatte sich im Konservatorium in zweideutige Tändelei mit einem schon kahlen jugendlichen Liebhaber, dessen Krawatten leuchteten, eingelassen. Sie wollte auf und davon, wenn man ihr dieses Verhältnis untersagte. Zum Glück bemühte sich Cyrille, den Fräulein Elisabeth für sich gewonnen und der in verinnerlichtem Gespräch ihren Wert erkannt hatte, für sie einen Posten zu finden, der ihren Fähigkeiten entsprach. So konnte sie vielleicht außerhalb ihrer Familie sich interessanter und auch gut bezahlter Arbeit widmen. In ihrer unfreien Existenz sollte sich ihr ein Durchblick nach einem neuen Horizont eröffnen.
Jacques war in der Morgendämmerung aus Paris eingetroffen und hatte sich, um noch zwei Stunden zu schlafen, aufs Bett gelegt. Aber seine schweren Augen schlossen sich nicht zum Schlaf, und durch die Fensterläden sah er das kärgliche, halbe Licht des beginnenden Tages eindringen, das so sehr dem des Abends gleicht. Erfüllte ihn das Erwachen aus seinem Traum mit Melancholie, war es die dunkle Müdigkeit nach der Wonne? Oder war es schon jenes Unbehagen, das seelische Dissonanzen verrät, die Vorahnung eines möglichen Sterbens für das, was ewig schien? Es war wohl etwas von allem, jedoch noch ungewiß wie jene Rasenflächen und Bäume, die nach und nach dem Mondlicht enttauchten. Wenn ihn je etwas mit Zauberei umstrickt hatte, so war es der Bann Veras. Sie war unstet wie Wind und Wolke, bald aufreizend, bald beunruhigend und je nach ihrem gleitenden Willen vom Gespinst eines Rätsels umgeben, so fein, daß Jacques' Phantasie oft ins Leere tappte. Wen hatte sie gesehen, woher kam sie? Sie wahrte ihre Unabhängigkeit, sie war gewandt darin, ihn auf falsche Fährten zu führen, zu verstummen, vielleicht zu lügen, und immer hatte sie jenes gönnerhafte Lächeln, das seinen Argwohn und seine Klagen entwaffnete, die schönen Blicke eines sündigen Engels, die zu sagen schienen: »Ich habe Sie gewarnt, Sie müssen mich nehmen, wie ich bin.« Und der Konsul beugte sich ihrer Herrschaft, ohne zu wissen, was am nächsten Tag sein würde, und über seine Ohnmacht insgeheim erzürnt. Bald lag sie träge auf dem Diwan, bald raste sie in wirbelnden Fahrten dahin, aus Magazinen, Konzerten, von Diners mit großer Dekolletage in amerikanische Paläste, und immer saß neben ihr Frau Palmé mit ihren liebkosenden Augen, plump und breit wie eine fette Kröte. Er war sie jetzt gewohnt. Aber Vera Belloni zwang ihn zu anderem, lästigem Umgang. Nicht nur der alte Marquis von Santa-Gloria und seine beiden Meßgehilfen waren da, auch ein russischer Prinz, haarig wie ein Bär, ein Sänger mit dem Kopf eines römischen Hirten, ein Japaner mit goldener Brille, ein schlauer Asiat, der sieben Sprachen sprach, dazu noch Esperanto, Slang und Argot. Jacques zweifelte nicht daran, daß er der bevorzugte, daß er der alleinige Liebhaber sei; doch wenn er sich klar darüber werden wollte, so war er ganz Veras Eigentum, und sie gehörte nur unvollkommen ihm. Besser als Polotzeff, ähnelte sie doch ihrem Bruder. Jacques sah voraus, daß ihr Gewissen bald gegen das Bündnis mit der feindlichen Sippe sich auflehnen würde, und in dem versteckten Lächeln, dem Schweigen, das ihm zu Hause begegnete, spürte er die Befangenheit seiner Familie und ihren unausgesprochenen Vorwurf. Zuletzt entschlummerte er.
Olivier mußte ihn wecken. Schon war das erste Zeichen zum Frühstück gegeben worden; als er herunterkam, fand er alle seine Geschwister, nicht aber die Eltern, im großen Speisesaal, an dem um die Gedecke für die Kinder, für Bernard, Frau Charnot, das Ehepaar Lesgor und Liane vermehrten Tisch, jeden hinter seinem Stuhl. Zwanzig Personen waren es im ganzen. In der Mitte war der Platz des Vaters, zu seiner Rechten der der Großmutter, der der Mutter zu seiner Linken. Auch die Bedienten in Galalivree, die Kammerfrauen mit Festtagsschürzen harrten unbeweglich. Plötzlich öffnete Gervais, der gelauscht hatte, die Doppeltür zum Salon. Bewegung las man auf den Gesichtern, als Frau Siglet-du-Salt, auf ihren mit Kautschuk bezogenen Stock gestützt, erhobenen Hauptes eintrat. Sie trug ihr Sonntagskleid aus schwarzem, flandrischem Seidenstoff und in ihrem weißen Haar eine Spitzenschleife und ein lila Band. Eine dünne Goldkette hing ihr von den Schultern zum Gürtel herab, ihr Auge sprühte noch, ihr Mund war boshaft, belebt von der Jugend, die greisen Leuten an großen Tagen für kurze Stunden beschert ist. Hinter ihr kam Herr Fabrecé. Er reichte seiner Frau den Arm und wandte sich ihr zu, mit der Galanterie, die ihm, dem Fünfundsiebzigjährigen, noch so gut stand.
Zaghaft und doch voll Hochgefühls trat Betty, einen großen Strauß im Arm, vor, um einen kleinen Versglückwunsch, den man der poetischen Gabe Florents verdankte, herzusagen. Aufmerksam hörten Großmutter, Vater und Mutter zu und küßten herzlich das Kind wie alle anderen Kleinen. In Sophies Augen sah man Tränen, und Liane, die in berechnender Klugheit ihren Platz neben Jacques gewählt hatte, verbiß sich ein Lachen.
Aller Blicke richteten sich bewundernd auf die Eltern. Glücklich strahlte die Mutter, als liege das Gold der Herbstsonne auf ihr. Sie vergaß ihre Müdigkeit und den schwachen Schlag ihres alten Herzens. Das ausgesuchte Festmahl – Jean-Marc verstand sich darauf – und die köstlichen Weine aus den besten Ecken des Familienkellers lösten die Zungen und verbreiteten Wohligkeit. Höflich antwortete der Konsul auf Lianes Neckereien. Armande triumphierte, berauscht von der Gewißheit, ihren Mann zurückerobert zu haben, und von der großen Hoffnung, die sie in sich nährte. Gerührt betrachtete Isabelle die blonden Kinderköpfe. Beim Nachtisch, als die Champagnerpropfen sprangen, erhob sich Jean-Marc, der dem Vater gegenüber saß, und sprach in einigen zärtlichen, kräftigen Worten aus, was ein jeder fühlte. Einmütig erzitterten alle Herzen. Auf diesen so verschiedenen Gesichtern, die doch alle desselben Fleisches und desselben Blutes waren, erschien klarer und unversehrt der Abdruck des einen gemeinsamen Bildes. In ihren Augen, die beinahe sämtlich des gleiche dunkle Braun hatten, schimmerte ein feuchter Glanz, die bogenförmig geschwungenen Lippen aller wurden von dem gleichen Lächeln umspielt, ihre Stirn von demselben edlen Licht.
Inmitten des allmählich erstickten Getöses stand Herr Fabrecé auf, um seinem Sohn zu erwidern. Er ließ seinen Blick über alle seine Kinder schweifen, von den schon ergrauenden Schläfen Jean-Marcs bis zu den kleinen, rosigen Gesichtern der Zwillinge, die man zu Armande gebracht hatte. Er durfte jetzt die Fortführung seines Geschlechtes in Gegenwart und Zukunft schauen. Alle diese lebenden Kräfte sollten zum Werk der Energie beitragen, auf dem Heimatsboden oder in den fremden Ländern Afrikas und Asiens, und in diesem ganzen Stamm offenbarten sich, trotz unvermeidlicher Fehler und Schwächen, von Olivier und Isabelle, den Adelsnaturen, bis zu dem Bauern Antoine und dem Individualisten Florent, die Gesundheit und die Kraft, das helle, aufrechte Lebensbewußtsein des vornehmen französischen Bürgertums.