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Dritter Teil

I.

Drei Monate waren vergangen. Minuten reihten sich aneinander, Stunden und Wochen, jede mit ihrem Rhythmus und ihrer Bedeutung. Sie gaben den Gewohnheiten das Tempo und brachten alle die Tätigkeiten und Eindrücke wieder, die sie begleiten. In den Werken verlangsamte sich die Arbeit, in größeren Zwischenräumen rollten die Wagen dahin. In Val-Montoir waltete auch jetzt mit ihrer steten Aufmerksamkeit Sophie, in Einsamkeit lebten die Jacquemer. Man erlebte Armandes nahe Mutterschaft, ihre Nervosität und ihr Gezänk mit Claudies Töchtern. Antoine war nach der Sologne abgereist. Oliviers Arm heilte, und zu stundenlangen Spaziergängen schleppte er sich in den Wald. Herr Fabrecé ruhte mit der Mutter und der Großmutter in Vichy sich von den Strapazen des Jubiläumsjahres aus. Der Chinese, der eine kurze Reise Veras zu benutzen gedachte, wollte sich ihnen anschließen; seinem Teint und seiner Leber mußte diese Kur gut bekommen. Ferienstimmung herrschte in dem großen, fast entvölkerten Hause. Simone führte die Kinder in der Seine baden, die unten am Gutsbezirk vorbeifloß. Der Konsul und Bernard standen auf guter Wacht, seit ein verdächtiger Zwischenfall sich ereignet hatte, ein Versuch Polotzeffs, die zur Aufsicht über Betty und Iwan angestellte Kammerfrau zu bestechen. Wollte er die Kinder entführen? Der Gedanke konnte die Mutter wahnsinnig machen. Waren sie jetzt nicht alles für sie, die so ganz einsam war?

Heiß brannte der August, ein glutlastender August, der die Hausmauern und die Stufen der Freitreppe erhitzte. Der Rasen welkte nach dem Sprühregen der Gießfässer, schwer und matt beugten sich die Blumen nieder. In einer weißen Leinenjacke betrat Florent pfeifend sein Zimmer. Er war magerer geworden. Seine in Höhlen liegenden Augen, seine vorspringenden Backenknochen und der krampfhafte Ausdruck seines Gesichts zeigten eine jener Krisen an, worin er seine Intelligenz seinem Trieb preisgab, gewaltsamer Tollheit. Im Quartier Latin – das war der deutlichste Erfolg seiner medizinischen Studien – hatte er eine Liebschaft mit einem exzentrischen jungen Weib angefangen. Sie hatte gelbgefärbtes Haar und hieß Mandarine; ihr wirklicher Name, den er vorzog, war Danila. Sie heuchelte Kunstsinn, ohne einen Pinsel anzurühren, und Literaturverständnis, ohne ein Buch zu lesen. Ein Raubtier unter einer Scheinkultur, die sie ihrem vielfältigen Verkehr verdankte, aber herrschsüchtig und listig, nicht schön, kaum hübsch, nicht jung, mit Pantheraugen und dem Gebiß einer Katze. Ihr unklarer Nihilismus entzückte Florent. Sie stimmte ihm zu, wenn er Nietzsche zitierte, und wußte über das, was sie nicht verstand, zu schweigen. Sie besaß in ihrer Welt einen Ruf und galt als genial. Aestheten suchten ihren Umgang. Sie hatte Florent unter dem Pantoffel. Scharfsichtig genug, empörte er sich gegen Abhängigkeit und war verzweifelt, daß alles umsonst blieb, da er schon im nächsten Augenblick wieder bereit war, ihr Joch zu tragen. Ohne einen Heller von ihm zu verlangen, hatte sie ihn dazu verleitet, sich für sie in Schulden zu stürzen. Er war in die Klauen von Wucherern geraten und hatte Wechsel unterschrieben, deren Zurückweisung ihn beunruhigte. Brüder und Schwestern hatte er unter verschiedenen Vorwänden angepumpt. Doch konnte er nicht ewig ihre Nachsicht ausbeuten, und auch sein Stolz litt zu sehr darunter. Paßte das medizinische Studium wirklich für ihn? Zuerst hatte er jeden Morgen die Demonstrationen eines großen Arztes in der Klinik Guérin besucht und ihren Reiz für den Neuling an sich erfahren, dessen Wissensdurst sich mit Kenntnissen überlädt; dann war sein Eifer lauer geworden. Wie Isabelle vorausgesehen hatte, entfremdete er sich schon einem undankbaren Beruf, wo er von Jahr zu Jahr schwierige Prüfungen zu bestehen hatte. Zwar hatte er die Entfernung einer Kropfgeschwulst, ohne zu erblassen, mit angesehen, doch als er Zeuge eines Bauchschnittes wurde, wäre er fast bewußtlos umgesunken. Der Anatomiesaal und sein blutiges Schauspiel gaben ihm den Rest.

Verdrossen streckte er sich auf seinem Bett aus. Die Glut lähmte ihn und reizte seine Nerven. Dann hatte auch Danila, die er nicht hatte hindern können, in Bas-Samois Wohnung zu beziehen, vorhin erst ihm eine sinnlose Szene gemacht, und er wußte, daß er trotz seines festen Entschlusses in weniger als zwei Stunden auf seinem Motorrad zu dem kleinen Sommerhaus auf der Insel ihr nachfahren würde. Er gähnte, kratzte sich den Kopf, sprang vom Bett und setzte sich an den Tisch. Die Tinte in seinem Schreibzeug war eingetrocknet, und seinen Federhalter fand er nicht. Er schrieb dann mit Bleistift:

 

Herrn Antoine Fabrecé

Herrschaftsgut La Garaudière
Erfeuil bei Romorantin (Loir et Cher).

Lieber Junge!

Du wirst glauben, daß ich ein Kaffer bin. Sei gewiß, ich habe Deinen Auftrag treu erledigt. Leicht war es nicht, denn, wenn Jenny-Rose nach Val-Changis zurückgekehrt ist, kommt sie doch nicht aus dem Haus ihrer Eltern. Sie überwachen sie streng. Vorige Woche konnte ich ihr trotzdem Deine Karte zustecken. Sie schien traurig und sehr verändert, aber noch immer hübsch. Noëmie und ihren Mann, diese wackeren Leute, hat man sehr gedemütigt und verletzt, denn ich fühlte in ihrem Wesen stolze Zurückhaltung. Ich bewundere Deinen Mut, Tony, und Deine Ehrlichkeit. Denn Du kannst ja jeden Tag unversehens zurückkommen, so, daß Du nur mich benachrichtigst und die anderen nichts davon wissen. Ich würde schon dafür sorgen, daß Du Miche siehst. Das Kind ist ohne Dich unglücklich. Aber ich will Dir nichts einreden. Morgen – in Val-Changis ist Markttag – werde ich mich dort herumtreiben, und wenn sie mir die Antwort für Dich gibt, um die ich sie gebeten habe, wirst Du den Brief gleich empfangen. Sagen muß ich Dir jedoch, daß sie trotz meines Drängens »nein« erwidert hat, mit niedlichem Trotz und traurigem Kopfschütteln. Dann hat sie nach einigem Zögern Dein Schreiben genommen. Denke nicht, daß sie Dich weniger liebt. Sie haben sie wohl gehörig abgekanzelt, an ihre Gefühle und ihren Stolz appelliert. Sie ist ein gutes Ding, und ich wäre froh, wenn Ihr glücklich würdet.

Deine Abwesenheit wird in mehr als einem Sinn erörtert. Armande und die Damen Charnot haben beteuert, Du würdest Jenny-Rose vergessen. Isabelle, Cyrille und Simone sind anderer Meinung. Die Oberverwalterin äußert sich nicht. Der Chinese hat neulich sehr nett Deine Partei genommen, worauf Armande entgegnete, Du lebtest doch nicht in China. Liane hat sich zugeschworen, ihn zu verführen. Sie, die saure, ist mit einemmal zuckersüß und macht ihm verliebte Augen. Gestern hat sie sich sehr gründlich nach dem Leben erkundigt, das eine Pariserin in China sich bieten kann. Ich glaube nicht, daß sie gewinnt. Erstens ist der Chinese schon besetzt, und dann ist sie nicht sein Fall. Sophie zuliebe hat er geruht, sich Fräulein de la Hocquinat vorstellen zu lassen, die der Inbegriff aller Tugenden zu sein scheint. Aber sie ist so unliebenswürdig, daß der Chinese noch immer auf der Flucht vor ihr ist. Dieses untadelige Fräulein hat eine Nase, flach wie ein Buttermesser, und trägt seidene Fausthandschuhe. Wir haben Sophie damit geneckt, und sie, die über ihre Freundinnen nicht spaßen läßt, ist sehr wütend geworden. Es war auch die Rede von einer Verwandten Cyrilles, aber sie wird bald heiraten.

Das sind die sensationellen Neuigkeiten. Ach, ich vergaß, heute nacht gab es einen Alarm. Wir haben vermieden, Simone davon zu erzählen, die so leicht ihrer Kinder wegen sich ängstigt. Zum Glück hatte sie zwei Pillen eines Schlafmittels genommen, um ihre nervöse Hinfälligkeit zu überwinden, und so hat sie nichts gehört. Der Pförtner, unser wackerer Aljean, war gerade mit seinem Hund die Runde abgegangen, kehrte in sein Häuschen zurück und begann ein wenig zu schlummern, als die Tiere knurrten. Aljean stand auf. Im hellen Mond sah er, wie zwei Leute auf das Haus zuglitten. Er nahm seinen Revolver, und als die Individuen versuchten, das Schloß des Türchens aufzubrechen, durch das man über die Diensttreppe zu dem Flur von Simones Zimmern gelangen kann, hat er sie angerufen. Sie sind entflohen, er hat ihnen mit den Hunden nachgesetzt und zwei Schüsse abgegeben, ohne sie zu treffen. Sie sind auf das Dach der neuen Garage, die eben im Bau ist, geklettert und von dort aus auf die Landstraße gesprungen. Am seltsamsten ist, daß zwei Schritte vom Gitter ein Automobil wartete. Ein kleiner Kerl, der Schmiere stand, ist rasch hineingesprungen, während ein vierter ankurbelte und das Auto eilends dahinschoß. Das riecht ganz nach Polotzeffs Kriminalroman, besonders nach der Geschichte mit dem Kindermädchen. Jean-Marc zaudert noch, sich an die Gerichte zu wenden. Es soll ein Polizeihund gekauft werden, der dressiert ist, die Mauer zu erklimmen, und man will auch die Nachtrunde durch einen Wärter aus der Fabrik verdoppeln.

Was gibt es sonst noch? Herr Virquot, der plumpe Duckmäuser, der hinter Sophie her war – Dreistigkeit gehört dazu – ist seit sechs Monaten unsichtbar. Der Sommer bekommt ihm nicht gut. Er hat im Gesicht einen roten Ausschlag bekommen, mit dem er wunderschön ist. Wie sonderbar sind die Frauen! Leider hat unsere Oberverwalterin ihm ein unverhofftes Mitleidsinteresse bekundet. Und wenn man ihr Schmachten sieht ...

Nun ist der Brief lang genug. Auf Wiedersehen. Ich habe Dich gern und küsse Dich auf Deine dicken Backen.

Dein Florent.

 

Er erhob sich. Der Brief an Antoine hatte ihn wieder ermutigt. Nein, er wollte nicht so schwach sein, Danila nachzufahren. Er pfiff auf sie: »Warum soll ich nicht den Kopf ins Wasser tunken? Jetzt baden sie alle.« Ueber Alleen, die sich dahin schlängelten, und abkürzende Feldtreppen schritt er zur Seine hinab. Am Ufer, an einer Stelle, die von einem Lustwäldchen umrahmt war, zwischen zwei rot- und schwarzgestreiften Leinwandzelten, tummelte sich beinahe die ganze Familie. Einige standen, einige saßen am kleinen Strand. Eine Sandfläche von etwa zehn Metern dehnte sich aus, grau unter dem durchsichtigen, goldglitzernden Wasser. Pfähle und ein Strick trennten diese sichere Zone vom tiefen Wasser und ihrem Pflanzengestrüpp ab. In einer Barke, an deren Rückwand ein Treppchen mit drei Stufen hing, ruderten der Chinese und der wackere Bernard, mit Bademänteln bekleidet, langsam, stillliegend, gegen die Strömung an.

In marineblauem Schwimmanzug trat Jean-Marc aus einem Zelt. Er nahm gern vor dem Bade im Flusse ein Sonnenbad, und wohlig empfand er die Genugtuung über die gute Wirkung seines harmonisch kräftigen und noch jungen Körpers. Da er überall der Erste sein wollte, mißfiel es ihm nicht, sich in seinem Alter und dank methodischer Hygiene in besserer Verfassung als seine Brüder zu zeigen. Nur die stählerne Hagerkeit Oliviers hätte mit seiner wuchtigen Stärke wetteifern können. Er erwiderte das Lächeln Armandes, die stolz auf ihn war. Gleich nachher wollte er vom Boot den Kopfsprung machen, zuerst aber die Kinder baden. Mager und zapplig kamen sie, mit ihnen Nénette, die einer großen, blonden Heuschrecke ähnelte. Sie war sehr beschämt, so vor den Augen des Konsuls zu erscheinen, und die schreckliche Wachstuchmütze auf ihrem Kopf sah aus wie ein Schwamm. Sie hätte sich gern heroisch erwiesen, sein begeistertes Staunen erregt. Aber sie, die Größte, war auch die Furchtsamste. Sie hatte vor dem Fluß einen heiligen Schauder, seit sie in der ersten Schwimmstunde hatte Wasser schlucken müssen. Wie konnte sie das Interesse des Onkels fesseln, wie seine Neigung gewinnen? Er sollte ihr antragen, ihr Mann zu werden, sie, samt Mimi natürlich, in jenes glückliche China führen, wo sie kühn die Schweine abwehren wollte, die die kleinen Kinder fressen, und die Fanatiker, die die Europäer niedermetzeln. Vielleicht konnte sie Jacques, wenn sie in Gefahr war zu ertrinken, retten. Das war sehr unwahrscheinlich. Aber wenn er sie rettete? Ob nicht die Aufregung, das Mitleid ...?

Die Kinder Simones wurden schon aus dem Wasser geholt. Ihre Mutter und Sophie wickelten sie in Badetücher und zogen sie weg. Mimi und Nénette, die neben ihrem Vater dahergingen und sich an der Hand hielten, traten zähneklappernd in die plätschernde Flut und tauchten schnell bis zum Halse unter. Mimi war in drei Minuten schon fertig. Dann lief Jean-Marc zu dem Strick vor, der Grenze, von deren bloßem Anblick Nénette schon schwach wurde, und rief das junge Mädchen an: »Komm', zeige mir, was du gelernt hast.« Und da sie zögerte, legte er sie stracks auf das Wasser, hob sie unter dem Kinn und nur wenig am Gürtel und sagte: »Hände und Beine zugleich! Nicht so hastig! Steife dich nicht so!« Das war leichter gesagt als getan. Der Konsul lächelte in seinem Boote und spottete vielleicht über sie. »Ruhig, Hände und Beine zugleich!« Aber was ficht Nénette an? Ist es ein Krampf, ist es Furcht, ist es ein wahnsinniger Einfall, den sie sich selbst nicht erklärt? Sie schnattert plötzlich, verschluckt eine Menge Wasser und umklammert mit so wilder Bewegung ihren Vater, daß er ausrutscht und mit ihr in dem jäh abschüssigen Boden verschwindet. Er reißt den Strick und den Pfahl, die er anfaßt, mit sich. Armande stößt einen durchdringenden Schrei aus, und andere Schreie werden laut. Florent springt halbnackt aus dem Zelt, aber schon sind der Chinese und Bernard untergetaucht. Ein Gewühl, ein Kampf, ein unmittelbares, rätselhaftes Geschehnis, das ein Jahrhundert dauert, dann taucht Jean-Marc, Wasser triefend und speiend, wieder empor. Von den beiden Männern gehalten, umschlingt er die ohnmächtige Nénette. Er wiederholt: »Es ist nichts, es ist nichts!« Doch man sieht, daß er um das Kind und vielleicht um sich selbst in Angst war. Seine Frau wirft sich ihm an den Hals und schluchzt, nach einem schrecklichen Blick auf ihre Stieftochter, die ihr beinahe den Mann geraubt hätte – diese blöde, verhaßte Nénette, um die sich die übrigen sorgend mühen, die sie kaum wieder beleben, und die Armande eine Sekunde lang nimmer wiederzusehen sich erträumt hatte, wenn nur um diesen Preis Jean-Mare gerettet werden konnte.

II.

Da die Szene sie zu sehr erschöpft hatte, fehlte sie beim Diner. Jean-Marc, der verärgert war, hätte eine andere Unterhaltung dem Gerede über den lebensgefährlichen Zwischenfall, bei dem seine Tochter ihn fast erwürgt hatte, vorgezogen; wie ungereimt war das alles! Er hätte sich ja auch allein aus der Patsche geholfen. Freilich hatte Bernard ihn gerade zur rechten Zeit aufgefischt, während der Chinese die Bademütze und mit ihr Nénette in die Hand bekam. Wie hatte sich das eigentlich zugetragen? Die Närrin war wohl nicht bei Verstand gewesen. In Wahrheit erinnerte sich Nénette an nichts mehr. Sie behielt von dem Abenteuer Bangnis und Ekel vor dem grünlichen Wasser, vor dem wie Haar verwirrten Gras, dessen kalte Umringelung sie gespürt hatte, ehe sie den Atem verlor. Man hatte ihr die Haut gerieben, bis sie krebsrot wurde, dann hatte man sie zu Bett gebracht, wo sie durch Erbrechen sich befreite. Diesmal also war es nichts. Der Tod? Sie dachte mit Entsetzen an ihn. Dieser verschleierte Gast konnte hinter der tückischen Krankheit eintreten oder, ein feiger Mörder, unter ihrem Bett sich ducken. Jeden Abend kroch sie auf dem Bauch dahin und spähte. In ihre Scham mischte sich unklarer Stolz. So lächerlich die Geschichte sein mochte, war sie doch tragisch, und sie mit dem Konsul, ihrem Retter, war die Heldin.

Denn gerettet hatte er sie. Sie sah sein fragendes, lächelndes Gesicht über sich geneigt und hörte ihn sagen: »Nun, Nénette, du hast uns ja gehörige Angst eingejagt!« Wie gütig war er gewesen, wie zärtlich sein Blick! Warum sollte er nicht um sie freien, nachdem er sie dem Strom entrissen hatte; wurde sie nicht hinfort seinen Gedanken teuer, war sie nicht gewissermaßen für ihn heilig, eine kostbare Beute, die seinen Mut belohnte? Ein solcher Vorgang mußte auf beider Leben ungeheure Wirkungen haben. Und in leisem Fieber murmelte Nénette mit gedämpfter Stimme für diese besondere Gelegenheit erdichtete Litaneien: »Jacques, du hast mich errettet! Sage mir nicht, daß du mein Onkel bist, Liebe kennt keine Verwandtschaft. Jacques, du bist schön. Jacques, ich bin nur ein armes Mädchen und liebe dich. Erbarme dich meiner und hole mich und Mimi in dein Haus! Ich will dir ein gutes Weib sein und deine neunzehn Bedienten überwachen. Ich will deinem Pferd Zucker geben, das, wenn es regnet, mit Oelpapier umhüllt wird, damit es nicht naß wird. Ich bekomme dann rote Visitenkarten wie du, zwei Hände breit, mit Buchstaben, die keiner lesen kann. Und wenn das Konsulat angegriffen wird, dann schieße ich wie die englische Dame; immer wenn ich losdrücke, mache ich die Augen zu. Und wenn ich erschossen werde, dann will ich in deinen Armen und unter deinen Küssen sterben. Amen.«

Armande wurde unruhig. Wie lange Jean-Marc fern blieb! Nie war ihr die Existenz fragwürdiger, unfaßlicher und bedrohter erschienen. Eine solche Angst läßt den Abgrund klaffen, an dessen Rand wir gehen. Daß sie ihren Gatten hätte verlieren können, den unentbehrlichen Gefährten, den Vater ihrer Kinder, der so verschwenderisch für ihren Luxus aufkam, das bestürzte sie. Plötzlich ward sie inne, ein wie beneidenswertes, einziges Gut er für sie war. Sie schauderte noch. In wenigen Sekunden! Sie sah die großen Kreise wieder, die im Strom sich dort gebildet hatten, wo Jean-Marc verschwand. Eine Stunde später hätten sie ihn fahl und leblos herausfischen können, und nichts wäre von ihrem Frauenglück übriggeblieben, von ihrer berauschten Jugend, von ihrem frohen Lebensgenuß. Warum hatte er sie so schnell verlassen, als er nach dem Diner heraufkam, sie zu umarmen? Warum mußte er mit Bernard den Park durchstreifen und sich vergewissern, ob Gitter und Tore gut verschlossen waren? Wenn er nun die hinter der Garage lauernden Menschen von der vorigen Woche träfe. Er hatte keine Waffen bei sich. Das war Wahnsinn. Wollte er, daß sie vor Schreck den Tod fände? Simone war zu beklagen; jedoch – Armande machte sich aus diesem Gedanken einen Vorwurf – wenn sie nicht mit ihren Kindern in Val-Montoir wäre, so brauchte man sich vor Polotzeff weniger zu fürchten.

Sie liebte ihren Mann mit tyrannischer Leidenschaft. Er gehörte zu vielen Wesen und zu vielen Dingen an, seiner Familie, seinem Ehrgeiz, dem Werke. Er sollte einzig ihr gehören. Sie wurde um alle Gedanken, Blicke und Gesten bestohlen, die nicht ihr galten, die etwas anderes wollten als ihr eheliches und mütterliches Glück. Und dennoch, wurde nicht sie vor allen durch die stolze Macht ihres Gatten, durch die Größe seines Unternehmens, durch seine politische Zukunft erhöht? Waren sie nicht eine direkte Huldigung für sie? Ach! Warum hatte er noch Kinder von einer anderen Frau? Undenkbar, daß er um des einen willen fast ertrunken wäre. Das schien ihr gräßlich. Sie haßte Nénette als freiwillige Anstifterin des noch vermiedenen Unfalls. Das waren maßlose Empfindungen, sie wußte es; aber sie waren stärker als sie. Ungerecht war sie, aber das ist man immer, wenn man liebt. Sie vergötterte ihren Mann, blind und taub für alles sonst. Welches Verhängnis, daß sie und er durch Wesen getrennt wurden, in denen das Fleisch und die Seele der anderen Frau, der Nebenbuhlerin, der Toten, neue Gestalt angenommen hatten, in denen sie fortlebte! Je mehr sie heranwuchsen, desto bitterer wurde Armandes Qual. Denn diese Eifersucht auf eine Tote und auf Lebende vergiftete ihre Lebensfreude. Fremde – für sie waren die Töchter ihres Gatten nichts als Fremde – drängten sich stets zwischen Jean-Marc und sie. Sie erinnerten sie daran, daß er in demselben Hause eine andere Frau geliebt und besessen hatte, die glücklich mit ihm war, und gleich ihr Kinder, die ihr ähnelten, auf seine Knie legte. Claudie! Was half es ihr, daß sie den Vorrang hatte, daß sie allein jetzt noch zählte? Die andere hatte ihn zuerst gehabt. Wohl hatte sie ihm Schmerzen bereitet, wie er sagte, indem er sie mit jener feigen Nachgiebigkeit verleugnete, die man hat, wenn man nicht mehr liebt. Was lag daran, da Armande nicht ganz den Spuk bannen, nicht erwirken konnte, daß er nie gewesen war!

Der erste Gegenstand, den sie erblickte, als sie in Nénettes und Mimis Zimmer trat, war das Bild Claudies. Feindlich schien es sie zu fragen, was sie hier suche: und dennoch lag auf diesem zarten, schmerzlichen Antlitz eher Traurigkeit. Sollte sie einen Vorwurf darauf lesen, eine Klage, daß sie Nénette und Mimi nicht liebte und zurücksetzte und stets den Wunsch hatte, sie weit weg von hier und sich ihrer für immer entledigt zu wissen? Seit sie neues Leben in sich trug, wurde ihre Abneigung noch herber. Es war, als tue Jean-Marc ihren Zwillingen und der kleinen Madeleine, die sie erharrte, unrecht, wenn er einen Tadel oder ein gutes Wort an seine Töchter richtete, wenn er einen absichtlich leisen Kuß auf ihre Stirn drückte. Mit ihrem ganzen zur Abwehr und zum Kampf gespannten Lebensinstinkt, mit dem Herzblut ihrer Mutterschaft drängte sie die Eindringlinge von ihrem Wege ab. Das war schlecht, sie wußte es. Man hat Pflichten und muß sie erfüllen. Sie war unverständig, und sie gab vor sich selber zu, daß ihre nicht immer ungerechtfertigten Beschwerden gegen Nénette zumal sich fast in nichts auflösen würden, hätte sie die Liebe des Kindes zu erobern gewußt. Denn geliebt hätten Nénette und Mimi, die noch jünger und leichter zu gewinnen war, sie sicherlich, wenn sie nur gewollt hätte. So war sie selbst zu jung und in ihrem Fühlen zu ausschließlich. Mit dem triebhaften Ungestüm der Verwöhnten und Triumphierenden, die zuletzt kommt, hatte sie Jean-Marcs Töchter abgestoßen und sich entfremdet. Nie konnte sie sie gern haben, nie sie dulden, ob ihr Gatte nun darunter litt oder nicht – und er litt sehr, ohne es zu sagen, das wußte sie und zürnte ihm sogar deshalb. Sie erriet wohl, daß ihre im engen Kreis ihrer Zärtlichkeit fruchtbare Liebe um sie her Leere schuf, jedes natürliche, lebendige Gefühl ausjätete und zerstörte. Wenn sie nur ihren Rachedurst stillen konnte, waren Jean-Marcs Gram und die Leiden ihrer Stieftöchter ihr einerlei. Sie opferte sie mit zähem, unbarmherzigem Willen, wenn auch ihr Gewissen sie mahnte und ohnmächtige Reue sie heimsuchte. Dieser Eifersucht war sie verfallen wie einem Laster; umsonst mißbilligt man es, man ergibt sich ihm doch und man entrinnt ihm nur, um noch tiefer in den Abgrund zu versinken.

Die Tür ging auf: Jean-Marc. »Nun?« fragte sie ängstlich. »Alles ist ruhig, Julot wird mit Aljean wachen; nichts ist zu befürchten.« »Es war ein Fehler, daß du nicht gleich den Staatsanwalt benachrichtigt hast.« »Ach,« erwiderte er, »die Gerichte! Man hat nur Verdruß, und dann finden sie nichts.« »Warum bist du so lange geblieben? Hast du dich aufgehalten?« »Nein.« »Du kommst doch aus dem Zimmer deiner Töchter?« »Nein.« Er hatte dahin gehen wollen, und wirklich hatte er es nicht gewagt, so peinlich war ihm Armandes Zornesausbruch gegen Nénette vor dem Diner gewesen. Jeder Ehemann will Frieden. Herausfordernd fragte sie weiter: »Warum gehst du denn nicht?« »Ich sollte es tun, Nénette hatte ein wenig Fieber.« »Warte, ich begleite dich.« Das eben fürchtete er; die Ueberwachung, der seine Frau ihn unterwarf, machte ihm das Vergnügen, für seine Töchter zu sorgen, zur Last. Sie bespähte seine geringsten Bewegungen, sie ließ sich zu kleinen Bosheiten herbei und behorchte – einmal hatte er sie erwischt – hinter der Tür seine Gespräche mit ihnen. Er wußte ja, daß hier auch ihr gegenwärtiger körperlicher Zustand in Betracht kam, aber glücklicher machte ihn das alles nicht. Denn er wollte zugleich liebevoll gegen sie und gerecht gegen seine Töchter sein. Da er nachgab, hatte sie keine Lust mehr. »Nein, gehe ohne mich.« Aber er sah voraus, daß sie, wenn er zurückkäme, mit ihm zanken würde. Versöhnlich und mit dem Vorbehalt, sich nachts – denn Armande hatte einen festen Schlaf – zu vergewissern, daß Nénette ruhig schlummerte, legte er ihr nahe: »Gehe du doch hin, das wäre nett von dir!« So versuchte er sie, ohne daß sie es wollte, zu einer mütterlichen Aufmerksamkeit zu bringen. Nichts hätte ihn mehr gerührt, als wenn sie sich von selbst seinen Kindern freundlicher erwiesen hätte. Wenn sie einmal ihrem Argwohn und ihrer Feindseligkeit entsagte, so zollte er ihr dafür unendlichen Dank.

Durch sein Verhalten beschwichtigt, wandte Armande sich dem Zimmer ihrer Stieftöchter zu. Sie war nicht feinfühlig genug, um zu erraten, wie schwer es dem männlichen Stolz wurde, so zu kapitulieren, und sie verschloß sich auch dem unbewußten Groll, der ihn gegen sie verbitterte. Sie sah stets nur den greifbaren Vorteil. Nach der Gewohnheit, die sie angenommen hatte, um die Kinder bei irgendeiner Verfehlung zu ertappen, stieß sie die Tür auf. Nénette, die gierig eine Photographie betrachtete, verbarg sie, emporspringend, mit ungeschickter, verschüchterter Geste unter ihrem Kopfkissen. »Was versteckst du da?« »Nichts, Stiefmutter!« Das Wort reizte sie immer; denn es ließ sie fühlen, daß sie nicht eine zweite, anerkannte Mutter war. »Vor allem nenne mich Mutter und zeige mir das Bild!« »Was für ein Bild?« Die großen scheuen Augen Nénettes, ihre Verstörtheit hätten jeden zum Erbarmen bewogen. Armande jedoch wollte wissen! »Lügnerin, gleich gib das Bild!« Sie schob die Hand unter das Kissen, drängte die schwachen, starren Arme des Mädchens zurück und entriß ihm mit Gewalt das Bild, das es packte. Dann ward sie mit Erstaunen gewahr, daß es ein Porträt Jacques' war, der seine schöne, gestickte Uniform anhatte und lächelte. »Wie kommt die Photographie in deine Hände, wer hat sie dir gegeben, wo hast du sie gestohlen?« Als sie den Karton umdrehte, las sie auf der Rückseite die von Nénette geschriebenen Worte: »Der schönste und beste Mann, den ich für mein Leben gern habe.« Zu leidenschaftlich, um nachzudenken und sich zu erinnern, daß es sich hier nur um eine romantische Albernheit handeln konnte, verlor Armande den Kopf: »Du Unglückswurm, du schamloses Ding! Willst du mir erklären, was das bedeutet? Nein? Dein Vater wird dich schon zum Reden zwingen.« Aber Nénette hätte bei ihrem mißtrauischen, stoischen Charakter sich eher die Zunge zerbissen, als daß sie dem Unverständnis ihrer Verfolger das kindische Geheimnis ihrer Phantasie gebeichtet hätte. Armande schüttelte sie, bedrohte sie, umsonst. Mimi, die aufwachte, brachte ihrer Schwester eine illusorische Hilfe; zum Lohn bekam sie eine Ohrfeige und mußte weinend in ihr Bett zurückkriechen. »Gut,« rief Armande, die durch den unbeweglichen, fiebernden Blick Nénettes und ihre glühenden Wangen ein wenig erschreckt wurde, »wir werden morgen sehen, was mit dir zu geschehen hat. Jetzt schlafe, wenn du kannst.« Sie drehte sich um und ging hinaus.

Verblüfft sah Jean-Marc sie die Photographie des Chinesen schwingen. Er erkannte sie, sie war dem Album im Salon entnommen. Er beurteilte den Fall zwar vernünftiger, doch ahnte er mit nichten, was da in der Seele seiner Tochter vorging. Was wußte auch er in seiner Ueberbürdung mit Arbeit von seinen vernachlässigten Kindern? So zuckte er die Achseln: »Nénette ist närrisch und das ganze eine Kinderei.« Jedoch Armande wollte in der Geschichte ein Verbrechen sehen, die Verirrung eines frühreifen Naturells. »Daß du die Sache so leicht nimmst,« höhnte sie, »wundert mich nicht. Du verteidigst ja deine Töchter immer.« »Morgen werde ich Nénette den Kopf waschen.« »Ja, aber eine Untersuchung wirst du nicht vornehmen.« »Was soll ich denn untersuchen?« Er blickte ihr in die Augen. Die Wahngedanken, die Armandes krankes Hirn heimsuchten, waren so ungeheuerlich, daß sie errötete. Sie bog schnell aus: »Wärest du mir gefolgt! Deine Töchter müssen in die Pension. Val-Montoir ist nichts für sie.« »Du meinst, die Familie ist nichts für sie. Davon wollen wir kein zweites Mal reden. Du willst sie entfernen – sie bleiben.« »O, wie du mit mir zu sprechen wagst, mit mir, deiner Frau! Wenn du nur deinen Blick sähest, wenn du dein eigener Zuhörer sein könntest!« »Aber du bist ja ganz wahnsinnig, Liebe! Ich sage dir nur ... Teufel noch mal! Gäbest du dich mehr mit ihrer Erziehung ab, dann geschähe so etwas nicht.« »Vortrefflich, sage mir nur, ich ließe sie herumlungern wie Tiere, die sie ja auch sind! Aber natürlich, du bist gegen mich und für sie! Alle sind gegen mich, ich bin ja nicht blind! Vorher war es nur deine Großmutter, jetzt ist es die Oberverwalterin, Isabelle, morgen Simone, wer denn sonst noch?« Denn Simone ertrug die Sympathie des Mitleids nicht, das andere an ihrer Statt, wenn auch vorsichtig genug, den Kindern Claudies bezeigten.

»Wir wollen jetzt der lächerlichen Szene ein Ende machen,« sprach mit fester Stimme Jean-Marc. »Ich werde mich um Nénette kümmern, und je weniger sie gescholten wird, desto besser wird es sein. Gesetzt, sie hätte wie alle kleinen Mädchen dem Konsul eine schwärmerische Verehrung gewidmet – der übrigens, dafür lege ich meine Hand ins Feuer, sehr verdutzt sein würde, davon zu erfahren – so wäre es ungebührlich, die Geschichte zum Drama aufzubauschen und das Kind mit Beschimpfungen zu überhäufen.« »Ja, ja.« Armande blickte zum Himmel empor. Empört über eine solche Weisheit, die ihr nur feig schien, stampfte sie mit den Füßen. Jean-Marc, der zur Brutalität neigte, verlor die Geduld: »Nun habe ich's aber satt!« Sie schrie: »Ach, das kann ja schön werden. Meine armen Kinder – und unser Kind, das kommen soll!« Diese Selbstsucht brachte ihn auf: »Meine Liebe, so viel Unvernunft ist nicht gestattet. Daß du meine Töchter nicht liebst, ist bedauerlich. Warum willst du aber auch mich ärgern und selbst darunter leiden?« Sie warf sich mit einer Heftigkeit über ihn, die halb Verzweiflung war, halb Wut. Sie umklammerte seinen Hals, wie Nénette es im mörderischen Wasser getan hatte, ganz wie eine Ertrinkende sich an ihren Retter hängt: »Ich bin zu unglücklich, ich kann so nicht leben!« »Du bist wohl sehr eifersüchtig?« »Ja, und wenn ich daran sterbe!« Ihn ergriff das. »Aber bedenke doch, bedenke!« Mit tiefer, kläglicher Stimme, in der die Not ihrer Seele zitterte, stöhnte Armande: »Ich kann sie nicht ausstehen! Umsonst halte ich es mir vor. Wenn du mich liebst, dürfen sie uns nicht mehr trennen.« »Du bist grausam, du bist eine wahre Stiefmutter, weißt du das auch?« »Ich bin ein Weib, das dich liebt, und ich bin eifersüchtig, eifersüchtig!« Der Streit schloß mit einer Nervenkrise, und Jean-Marc, der Isabelle hatte rufen müssen – in solchem Falle war sie die einzige gute Krankenschwester – betrachtete traurig seine Frau, ihr verwüstetes Gesicht und seinen großen Schmerz, für den sie kaum verantwortlich war. Er mußte sich dazu verstehen, seine Kinder, sein Fleisch und Blut, zu opfern.

III.

Acht Tage später bestellte eine Depesche von Frau Belloni den Konsul nach der Rue Pergolèse. Die Abwesenheit Veras beunruhigte ihn. Vierzehn Tage hatte sie sich in Ouchy am Genfer See aufgehalten, in Gesellschaft des Marquis von Santa-Gloria und des Japaners mit der goldenen Brille. So plötzlich war diese Flucht gewesen, daß er erst durch einen kurzen Brief von Genf aus davon erfahren hatte. Sie schützte vor, sie müsse eine kranke Freundin pflegen. Und wieder forschte heute Jacques Frau Palmé aus, ihren zweideutigen Blick, ihre übertriebene Verschwiegenheit. Ihr Mund war geheimnisvoll wie immer: »Vera ist ausgegangen, sie hat mir gesagt, Sie möchten sie erwarten. Sie kehrt bald zurück.« Die häßliche Vertraute brachte ihm Zeitungen, Biskuits und einen weißen Portwein, den er gern trank. Es klingelte. Sie verhandelte an der Tür und trat ruhig ein: »Es ist Pedro Morales. Vera läßt sich verleugnen, um nur Sie zu sehen.« Sie blickte ihn mit wohlwollendem Lächeln an. Wieviel wußte sie wohl, das sie niemals sagen würde; und welche rätselhaften Beziehungen verbanden sie mit dem jungen, schönen, phantastischen Weibe, dessen Helfershelferin sie war?

Jacques – lag es an dem ermüdenden Warten? – war mutlos und niedergeschlagen. Liebte er Vera noch wie am ersten Tage? Wie hatte er ihr die Heirat anbieten können? Und von einer Ehe träumte er. Ein junges, reines Mädchen sollte es sein, das er in die Liebe, in das Leben einweihen wollte, ein jungfräulicher Geist, den er nach seinem Geist zu formen wünschte. Liane und andere zogen vor ihm vorbei. Auf keine noch fiel seine Wahl; aber aus allen bildete sich, mit dem verführerischen Reiz der einen, mit den gewinnenden Eigenschaften einer anderen, ein einziges Wesen, das junge Weib. Er faßte es im Sinne des ehemaligen Typus auf: anmutsvoll und bescheiden, intelligent, gebildet, fähig, Gefallen zu erregen, und ohne Koketterie. Blondes Haar sollte dieses Mädchen haben, frische, rosige Wangen, eine große, schmale Gestalt. Die Grazie Simones und der Ernst Isabelles entsprachen am meisten seinem Ideal. Die Bande der Familie, das beruhigende Milieu fesselten jetzt diesen unsteten Nomaden. Gewiß, Vera Belloni wußte er Dank. Sie hatte sich edel gezeigt, zartfühlend, als eine herrliche Geliebte; sie war sein schönstes Abenteuer gewesen. Jedoch im Grunde war sie nach Ursprung, Rasse und Vergangenheit ihm fremd. Er verstand nicht mehr, daß er sie zu seiner Frau hatte machen wollen, so sehr bestimmte sein ererbter Geschmack, der ihm endlich klar wurde, ihn zu einer bürgerlichen Heirat, die Neigung und gesellschaftliche Rücksicht vereinigen mußte, zu einer Ehe, wie sie eines Fabrecé wert war. Und ferner: diese zaubermächtige Vera gab ihm nicht Sicherheit genug. Auch die von keinem Gesetz sanktionierte Liebe bedarf ihrer wie die andere, deren Voraussetzung Gesetz und Religion sind. Jacques erkannte, daß er ein Mensch der Ordnung war; er war es immer gewesen.

»Guten Tag, Freund,« rief Frau Belloni, die unter einem Türvorhang sichtbar wurde. Sie hatte ein graues Tuchkleid an, ein Rennplatzkostüm. Ein großer, schwarzer Philippinenhut mit aufgerichteten Flügeln saß auf ihrem Haar. Sie trug Lackschuhe und Gamaschen von Hirschleder. Der konzentrierte Ausdruck ihres Gesichts ließ sie fast hart erscheinen, und dennoch lächelte sie: »Ist etwas Schlimmes passiert, Vera? Ihre Depesche ...« »Etwas Schlimmes? Allerdings.« »Etwas, das Sie betrifft?« »Mich und Ihre Familie.« Jacques riß die Augen auf. Sie setzte sich neben ihn und streifte ihre Handschuhe ab, während er unbewußt zusah, wie ihr weißer Handrücken und ihre feinen Finger sich entblößten. »Seit gestern ist Sergius im Irrenhaus des Doktors Sol in Passy.« Bestürzt erinnerte er sich, daß sie ihm gesagt hatte: »Wenn Sergius wieder bösartig wird, werde ich ihn schon daran hindern, Schaden zu stiften.« »Haben Sie ihn einsperren lassen?« »Ich nicht. Welches Interesse sollte ich daran haben? Zweifellos war Sergius gefährlich. Bevor ich nach Ouchy abreiste, mußte ich einen Diener wegschicken, den Juana ertappte, als er über Eßgeschirr mit verdächtigen Fläschchen hantierte. So ein Giftanschlag ist leicht auszuführen. Aber deshalb hätte ich mich noch nicht entschlossen, Sergius' Einsperrung zu fordern. Er hatte einen Tobsuchtsanfall, der die Präfektur zwang, gegen ihn vorzugehen.« »Wo und wie?« »Am Freitag, vor drei Tagen, im Buckingham-Hotel. Er war vorher schon in drei bis vier Hotels gewesen. Weil sein Bad zu heiß war, stürzte er sich auf die durch sein Geschrei herumgejagten Dienstboten, und dann ist er, mit einem Rasiermesser bewaffnet, splitternackt in einem Gang hinter einem hergerannt. Zum Glück hat er niemanden verwundet. Zuletzt drängte man ihn mit dem Rücken gegen einen Fahrstuhl, mit Kissen hat man ihn fast erstickt, und so wurde er blutend – denn bei seiner Verteidigung hat er sich selbst geschnitten – weggeschafft. Es war frühmorgens, das Publikum und die Zeitungen haben nichts erfahren. Der Präfekt, der sich sehr höflich benahm, hat den Verhaftungsbefehl erteilt.« »Aber, ist Sergius wirklich verrückt?« »Sie werden sich mit eigenen Augen überzeugen. Ich bestehe darauf, aus mehreren Gründen. Die Sache ist für Sie und Ihre Familie zu wichtig. Man hat mir telegraphiert, ich bin hastig zurückgereist und habe den Unglücklichen im Polizeiarrest gefunden. Ich habe ihn in das beste Pariser Sanatorium bringen lassen, wo er schonend und aufmerksam behandelt wird.« »Schrecklich,« flüsterte Jacques, der an Simone und die Kinder dachte. Ein wahnsinniger, dem sozialen Bereich entrückter Gatte und Vater. Wenn es bekannt wurde! Das Geschwätz der Leute und so viele andere Folgen!

»Wie wird es aber mit dem Prozeß?« »Das ist das ärgste,« erwiderte Vera. »Die Advokaten werden es Ihnen sagen. Ihr Gesetz läßt keine Ehetrennung zu, wenn ein Gatte irrsinnig ist und als Irrer sich in einer Heilanstalt befindet.« »Ich weiß ... Simone?« »Der Schlüssel von Sergius' Zelle sperrt auch sie in ihre traurige Ehe ein. Ich beklage sie von ganzem Herzen.« »Kann man nicht seine Befreiung erwirken, da die Öffentlichkeit noch nichts weiß?« »Die Aerzte lehnen das ab, sie halten ihn für gemeingefährlich. Und daß er es ist, werden auch Sie nicht bezweifeln, wenn Sie mich zu ihm begleitet haben.« Gelähmt erwog Jacques die Plötzlichkeit alles dieses Unheils. Vor acht Tagen wäre Jean-Marc beinahe ertrunken. Jetzt war Sergius wahnsinnig. Mit einem Mitleid, an dem vieles teilhatte, blickte er Vera an: »Arme Freundin, was sind das für Aufregungen!« »Seit Jahren fühlte ich, wie in Sergius der Dämon brütet, der ihn jetzt beherrscht. Sie konnten schon erraten, daß sein Betragen gegen Ihre Schwester mit geistiger Gesundheit unvereinbar war.« »Es gibt ja zahllose anormale und unzurechnungsfähige Menschen,« murmelte Jacques. »Ja, aber die Furcht der Verantwortlichkeit oder eine höhere Autorität hält sie im Gleichgewicht. Sergius hat nie einen Zwang gekannt; erst eine ungebändigte Kindheit, dann Verschwendung mit vollen Händen. Er hat Dinge begangen, von denen Sie nie etwas wissen sollen. Wozu auch? Kommen Sie mit nach Passy!«

Das Auto, in das sie stiegen, war ihm vertraut. Es war der Wagen des Marquis, mit den weichen Kissen, mit dem Buketthalter, mit der kleinen Uhr und dem Koffer.

An einem schwarzen Gitter mit goldenen Spitzen fuhr es vor. Zwischen hundertjährigen Buchen lagen die runden Rasenbeete eines Parks und im Hintergrund ein altes Schlößchen im Stil Ludwigs XVI., das dem kleinen Hause von Bagatelle ähnelte. Der Doktor Sol, ein moderner Arzt mit energischem, feinem Gesicht und unter dem Lorgnon scharf prüfendem Blick, empfing sie unverzüglich. »Herr Polotzeff ist so außer sich, daß wir ihm die Zwangsjacke anlegen mußten.« Er gab Jacques jede Erläuterung: »Maniakalische Tollheit. Er wird Tag und Nacht überwacht. Gestern morgen wollte er sich mit seiner Serviette erwürgen.« Während seine Frau, eine Aerztin, sich mit Frau Belloni unterhielt, stellte der Arzt sich Jacques zur Verfügung. Der Konsul hatte mehrere Irrenhäuser gesehen, aber zum erstenmal drang er in eine Privatanstalt ein. Die großen Bäume, die umfriedeten Plätze, an denen er mitten im Gebüsch einige harmlose Schatten in Gesellschaft von Bedienten sah, machten nicht den grauenvollen Eindruck auf ihn, den er erwartet hatte. »Kann er genesen?« »Das läßt sich nicht sagen,« erwiderte der Arzt. »Aber nach seiner ererbten Krankheit, seinem zügellosen Leben ist wohl nichts für ihn zu erhoffen. Wenn zuletzt allgemeine Paralyse ausbräche, so würde mich das nicht überraschen.«

Sie schritten durch die hellen Gänge eines Nebengebäudes, an Türen vorbei, in denen Gucklöcher sich befanden.

Der Arzt blieb stehen. Zwei Männer in weißen Kitteln, ein Assistenzarzt und ein Wärter, verwarnten ihn, als er die Tür öffnen lassen wollte: »Vorhin hat er dem Krankenwärter beinahe den Finger abgebissen.« Der Doktor Sol hob die Klappe des Gucklochs auf: »Blicken Sie hinein,« sagte er. Jacques, dem das Herz sich zusammenpreßte, hielt sein Auge unter das Kupferplättchen. Als es klappte, hatte Polotzeff den Kopf erhoben und knirschte, wie ein Raubtier sich duckend, mit den Zähnen. Unvergeßlich war für den Konsul diese Vision, die kahle Zelle mit den gepolsterten Wänden, der kleine Mann mit der riesigen Stirn und der Raubvogelnase, der in Wutkrampf, Schaum vor den Lippen, hin und her ging, sich umwandte, sich bückte und wieder aufreckte, sich drehte und überallhin mit der Raserei eines Organismus, der seine Fesseln zersprengt hatte, zu entrinnen versuchte. Unvergeßlich war ihm dieses Tiergesicht, diese schönen Augen, die nun wie Beutel mit zerronnener, gräßlicher, schwarz-grüner Galle herabhingen; diese vorspringenden Wolfszähne, die Füße, an denen keine Stiefel saßen, die in ihrem frenetischen Umherrennen schon die Strümpfe durchgerieben hatten, und unter deren Stoff die Nägel hindurchkamen, diese verbuckelte zerfetzte Hose, diese hinten zugeschnallte Zwangsjacke mit den langen, emporgeschlagenen und zu Leinwandstümpfen zusammengeschnürten Aermeln. Mit unglaublicher Schnelligkeit, im Tempo eines zerrütteten Uhrwerks, das Schlag auf Schlag die Stunden angibt, bellte Polotzeff unverständliche Worte, die irgendein wahnwitziger Gedanke ineinanderfügte. Zum Guckloch rennend, spuckte er darauf, klebte seinen Mund daran, der roch wie der eines Tieres, und begann zu heulen, zu heulen wie ein verreckender Hund, wie ein von der Säge und dem spanischen Stiefel gefolterter Mensch. Fahl vor Entsetzen war Jacques zurückgewichen. »Genug,« ächzte er, »welcher Jammer!« Einst hatte er einen verführerischen Polotzeff gekannt, einen reizvollen Plauderer, einen raffiniert gebildeten Gesellschafter, mit charakteristischem, rassigem Lächeln. Und jetzt ...

Im Auto faßte er Veras Hand mit einem Gefühl des Mitleids für sie und für sich selbst, des tröstenden Blicks gewärtig, den sie austauschen würden. Aber ihr Profil, das heute mehr als je dem ihres Bruders ähnelte, kehrte sich ihm nicht zu. »Vera, liebe Vera.« Jetzt erst blickte sie ihn an. »Sie dürfen mich nicht mehr so nennen, Jacques.« »O, warum?« »Ich will freimütig sein. Mit unserer Liebe ist es aus.« Er begriff, daß diese Stunde kommen mußte, doch nicht so bald. Hatte Sergius' Tragödie die Entwicklung beschleunigt, indem sie ihnen beiden zu erkennen gab, welche Kluft von nun an sie trennte, als werde hinfort das Gespenst des Unglücklichen zwischen ihnen aufsteigen? Es war noch etwas anderes, das erriet er. »Ich werde auch in der Ferne Ihre Freundin bleiben,« sprach sie, »aber Sie reisen bald nach China zurück und ich ...« »Sagen Sie es rasch!« »Ich bin frei. Erst im vorigen Monat habe ich erfahren, daß mein Mann vor achtzehn Monaten gestorben ist.« »Und Sie hatten mir das verschwiegen?« rief Jacques im Ton des Vorwurfs. »Wozu sollen wir viel reden? Unsere beste Zärtlichkeit ist dahin. Ich will nicht mehr einsam leben. Meine Reise nach Ouchy hat meine Heirat in Lausanne vorbereitet, die am Freitag in acht Tagen stattfindet.« »Wen heiraten Sie?« »Den Marquis von Santa-Gloria. Er allein ist alt, philosophisch und nachsichtig genug, um mich ganz gewähren zu lassen; reich genug, daß der Vermögensstand weder des einen noch der des anderen dabei gefährdet wird. Er liebt mich seit langem, und mir ist dieser Ausgang willkommen.« »Und Frau Palmé?« »Die behalte ich.«

Jacques verstummte. Litt er? Ja, und mehr, als er geglaubt hatte. Die Wendung war zu jäh, und seine Eigenliebe, die noch stärker war als seine Liebe, war tief gekränkt. Wie mißachtete Vera ihn, wie hatte sie ihr Leben geordnet, ohne sich um ihn zu kümmern. Es war so, ganz so. Das Bedauern über diesen Verlust erregte wilden Schmerz in ihm. Er entsann sich heißer Stunden, leidenschaftlicher Geständnisse. Für eine Sekunde hörte sie auf, ihm die Fremde zu sein, eine Polotzeff; für eine Sekunde war es die, die ihn selbstlos, um seinetwillen geliebt hatte.

Er preßte die Hand Veras, die er immer noch hielt; doch sie lächelte ruhig, ohne den Druck zu erwidern. »Sie quälen mich.« Freundlich antwortete sie: »Sie werden sich mit einer Frau, die Ihrer wert ist, trösten.« »Ich werde Sie nicht vergessen können.« Sie wurde ein wenig schwermütig: »O, leichter als Sie denken.« »Sie hatten mich bezaubert!« »Um so besser, dann habe ich Ihnen nicht allzu weh getan.«

Eine lange Pause. Sie fragte: »Wo darf ich halten lassen?« »Wo Sie belieben. Place de la Concorde.« Symbolisch war dieses Lebewohl auf der weiten Fläche, die in jeder Minute, in paralleler und entgegengesetzter Richtung, von so vielen menschlichen Schicksalen beschritten wird. Jacques rief noch: »Innige Wünsche für Ihr Glück!« Das Auto fuhr weiter. Am selben Tage reiste er seinen Eltern nach Vichy nach.

IV.

Für Simone war der Schlag grausam, und in ihrer Umgebung nahm man diese Wirkung bewegt auf. Eine gerichtliche Trennung war schon ein letztes, peinvolles Mittel. Aber die Hoffnung zu verlieren, an die Grenze zweier Welten gedrängt zu werden, der Welt der vernünftigen, lebenden Menschen und der rätselhaften zweiten Welt, wo der Spuk des Ungeheuerlichen waltet, war das nicht die furchtbarste Steigerung ihrer Qual? Sie war trostlos über die Ohnmacht ihres Mitleids. Denn was ist ein unfruchtbares Mitleid? Vor ihr schwebte Sergius' Bild, so wie Jacques es geschildert hatte. Nun verstand sie, warum sie ihren Leidensweg hatte gehen müssen. Mit einem unentdeckten Wahnsinnigen hatte sie dahingelebt. Ein Wahnsinniger hatte den Funken des Lebens in sie gesenkt, der die aus ihrem eigenen Fleisch geborenen Kinder erzeugt hatte. Die Drohungen eines Wahnsinnigen umlauerten sie hinter Mauern und Gittern. Mit einem Wahnsinnigen, der zur Erfüllung seiner sozialen Pflichten unfähig war, schmiedete die Härte des Gesetzes sie zusammen. Sie sollte in ihrer Lebensfülle mit diesem zuckenden Kadaver verbunden sein, für den sie nichts zu tun vermochte, als ihm eine Pension zu zahlen, die sie, auch von ihm befreit, ihm hätte sicherstellen können. Welcher Begriff von Menschlichkeit und Gerechtigkeit forderte denn, daß sie ihre zerrüttete Jugend, ihre nutzlose Aufopferung diesem Menschen vorbehielt, der außerhalb des Gesetzes stand und außerhalb des Lebens? Noch gestern durfte zuweilen eine dumpfe, trügerische Hoffnung in ihrer Entmutigung sie anwandeln. Sie sah eine Freiheit vor sich, die vielleicht überflüssig war, jedoch ihr wohltätige Erleichterung verschaffte und ihr ermöglichte, wenn eines Tags Henri Le Jas seinerseits ... Ach! Ihr Kerker schloß sich wieder und war nun noch finsterer. Der Maître Raballeau und der Advokat beraubten sie jeder Hoffnung. Sie mußte sich darein ergeben, die Witwe eines Lebendigen und mit einem Gorilla vermählt zu bleiben. Für sie und ihre Kinder war das Torheit und Grauen zugleich.

Ein Brief von Le Jas an Florent, den dieser ihr zeigte, entfachte ihren Schmerz aufs neue. Im Sinne seines Versprechens war der Arzt nicht nach Val-Montoir zurückgekehrt. Er hatte seine Praxis abgetreten, seine Möbel verkauft, seine Wohnung in der Rue de France verlassen, deren Fenster in den Garten der Diane herausragten, und die er mit schönen, von sicherem Geschmack zusammengestellten Möbeln ausgestattet hatte. Er lebte in Brüssel, wo die Freundschaft des Ehepaars Luce ihm dazu verholfen hatte, eine günstige Situation zu erringen. Ein glücklicher Zufall berief ihn an den Hof; er hatte den König Albert während eines gefährlichen Influenzafiebers behandelt, und der Ruf seines Namens war dadurch verbreitet worden. Der Brief hatte den folgenden Wortlaut:

 

»Von einem kleinen Badeort an der Nordsee schreibe ich Ihnen, lieber Florent. Zwei Ferienwochen, die ich mir wohl verdient habe. Ich halte mich bei meinen Freunden auf, und der Abbé Stéphane Arnaud, mein ehemaliger Mitschüler, ist aus London gekommen, um gleichfalls einige Tage bei ihnen zu verbringen. Ich habe Ihnen schon gesagt, mit welcher Freude ich ihm wieder begegnete, wie die Reinheit seines Glaubenslebens ihn vervollkommnet und geadelt hat. Sein hoher Verstand birgt sich unter fast kindlicher Einfalt. Zu regelmäßigen Kirchenämtern ungeeignet, denn für einige Klöster und für ein Pfarramt hat er nicht gepaßt, wird er, so scheint mir, zu delikaten, geheimen Aufträgen verwendet. Er reist viel. Unsere freundschaftlichen Gespräche bei seinem Unfall und seit seiner Rückkehr haben mich die Heimatlosigkeit eines neuen Lebens und den Bruch mit lieben Gewohnheiten glimpflicher ertragen lassen. Da eine Bekehrung unmöglich war, hat er mich zu größerer Tapferkeit gegenüber meinem jetzigen Leben gebracht, und auch der belebende, heitere Einfluß des Ehepaares Luce hat mich sehr darin gefördert. Ich wünschte, Florent, Sie kennten diese ungewöhnliche Frau. Es steht bei mir fest, daß alle Religion und alle Moral auf einer gewissen Stufe idealer Erhabenheit übereinstimmt. Sie alle, die Sie ihren Gedanken so fern, ihrer Seele so nahe stehen, würden sie gewiß bewundern und lieben, und Simone wäre die Erste.«

 

Damit war diese, als sie die Worte las, nicht einverstanden. Sie war eine Frau, sie liebte; kaum, daß das Alter von Frau Luce sie beruhigte. Dem Abwesenden zu vertrauen lieh ihr einzig Kraft; sie zwang sich, eine Regung der Eifersucht zu unterdrücken, ohne daß es ihr ganz gelang. Aber sollte sie sich nicht freuen, daß er in einer so völligen Umwandlung seiner Existenz, die doch nur durch die Rücksicht auf sie geboten war, sich nicht selbst überlassen war?

Sie las weiter:

»Frau Firmin Luce ist, wie ich Ihnen schon gesagt habe, mit ihrem Gatten meine zuverlässigste Freundin in meinem Leid. Sie weiß, wie groß Simones innerer Wert ist, und wie unglücklich sie war. Ihrer Erziehung und ihren Ideen nach kann sie nur die unauflösliche Ehe, das wechselseitige Opfer der Gatten begreifen. Doch ist sie zu klug, um nicht für manche Fälle die Unmöglichkeit des gemeinsamen Lebens zuzugestehen und anzuerkennen, daß die Schwierigkeiten einer Trennung, wie bei uns, ärger werden können als eine zweite Heirat. Da sie in ihrem Gewissen sich klar sein wollte, hat sie sich nicht auf das, was ich ihr beichtete, beschränkt, sie wollte meine Frau kennen lernen; ihre ausgedehnten Beziehungen haben ihr das verstattet. Pauline, die sich geschmeichelt fühlte, hat trotz ihres mißtrauischen Charakters den unwiderstehlichen Einfluß von Frau Luce allmählich auf sich wirken lassen. Ihre Herzensarmut und Herzenshärte haben Frau Luce besser als alle meine Erzählungen bewiesen, wie unhaltbar unsre Ehe ist. Vorsichtig hat sie, nach Besprechungen mit autorisierten kirchlichen Ratgebern und unserm Freunde Stéphane Arnaud, den Versuch vorgeschlagen, bei den vatikanischen Gerichten die Annullierung unserer Ehe zu beantragen. Da unser für die religiösen Anschauungen gebrochener Bund ihnen gemäß nur noch ein gesetzliches Konkubinat ist, so wäre die Scheidung, anstatt ein brutales, gewaltsames Prozeßverfahren, nur noch eine zivilrechtliche Formalität, die der Kirche gleichgültig sein durfte. Die Ausführung dieses wohlerwogenen Planes war nicht sehr einfach; ich widersprach, und auch Pauline machte Miene, sich zu sträuben. Jedoch Frau Firmin Luce hat eine Hartnäckigkeit und Ueberredungsgabe, die ihr ein Recht auf das Apostolat verleihen. Unvermerkt gewöhnte sie Frau Le Jas an einen solchen Ausgang, sie wies ihr einerseits die Traurigkeit eines starren Alters, auf der Gegenseite das ihrer harrende Eheglück mit Herrn van Bloomen, dessen eifriges Werben meiner Frau mehr gefallen hat, als wir zu erhoffen Ursache hatten. Ferner haben wir keine Kinder, während sie zu der kranken Tochter jenes Mannes eine Neigung gefaßt hat; sie scheint hier eine Pflicht zu sehen, deren Erfüllung sie befriedigen würde. Der Abbé Arnaud fährt nach Rom zurück und wird mit Aufbietung seines Ansehens, das nach der Meinung von Frau Luce nicht unbeträchtlich ist, unserem Plan dort dienlich sein. Der Rang ihres Gatten in der Gesellschaft und in katholischen Kreisen gibt auch ihr Bedeutung. So winkt denn, lieber Freund, meinem Leben noch ein Sonnenstrahl der Hoffnung. Ich will mich keiner Selbsttäuschung hingeben, will von der Zukunft nicht allzuviel erwarten. Doch wissen soll Simone, daß ich mit unsäglicher Glut an sie denke und daß kein Wagnis, kein Opfer mir zu groß sein wird, um eines Tages zu ihr zu dringen.«

Verzagend ließ Simone den Brief fallen. Was konnte es nutzen, daß Henri vielleicht seine Freiheit zurückerhielt, wenn sie niemals der ihrigen teilhaftig zu werden vermochte?

 

Der Erholungsurlaub Virquots war zu Ende gegangen. Sein Gesichtsausschlag verschwand, und er häutete sich. Er hoffte einmal und wohl schon bald über Sophies züchtige Scheu zu siegen. Er wog den Vorteil einer Ehe mit ihr ab. Nicht nur, daß Fräulein Fabrecé ihrem Gatten eine Mitgift und löbliche Erbansprüche zu schenken hatte, auch ihre praktische Tüchtigkeit sicherte wertvolle Ersparnisse im Haushalt zu. Herr Virquot, der ein Filz war, wußte den Pfennig zu ehren. Er sammelte die unbeschriebenen Blätter von Briefbogen und verwandte sie für seine Privatkorrespondenz. Von seiner ärmlichen Jugend her hatte er sich die Gewohnheit bewahrt, aufs Frühstück zu verzichten. Obwohl ihm jetzt sein Gehalt gut zu essen erlaubte, genügte ihm eine Kutscherkneipe. Die Trinkgelder, die er gab, waren schmachvoll karg, und wenn einer seiner Röcke abgewetzt war, ließ er ihn von einem Schneider in der Stadt umkehren. Von dem herrlichen Glück, das ein Liebesbund mit der ältesten Fabrecé für ihn darstellte, umgaukelt, fing er an, auf Zetteln sein künftiges Soll und Haben zu skizzieren. Mitten in seiner Aktenarbeit kritzelte er diesen oder jenen Einfall darauf. So fand denn eines Morgens Jean-Marc in einem Bericht, den Herr Virquot ihm überbracht hatte, die weiße Klappe eines Briefumschlags, auf die der Ingenieur mit den unverkennbaren Zügen seiner Hand geschrieben hatte:

» Budgetentwurf für Sophie

Ja, er hatte sich schon im voraus diese vertrauliche Anrede erlaubt, die später die heilsame Durchführung einer absoluten, ehelichen Einheit rechtfertigen sollte. Jean-Marc, der die Augen aufriß, las nun die Fortsetzung:

»Gemietet wird eine Wohnung zu höchstens 3000 Francs, wenn angängig 2700, mit Wasser, Gas, Elektrizität und Teppichen.

Ein Zimmermädchen und eine Köchin sind genug.

Sophie hat alle ihre Kleider und Mäntel selbst zu nähen, und eine Hausschneiderin hilft ihr dabei.

Taschengeld für Sophie: 150 Francs sind reichlich genug.«

So war das ganze Programm. In winzigen Buchstaben war es aufgezeichnet, und alles umfaßte es: das für Nahrung, soviel für Steuern, soviel für Reisen, soviel für den Arzt. Und auch eine besondere Vorschrift war nicht vergessen:

»Keine Kinder. Sie sind zu teuer, und Sophie ist zu alt, um sich welche zuzulegen.«

Jean-Marc drückte auf die Klingel. Er war hochrot geworden und wollte schon dem Bureaudiener die Weisung geben: »Sagen Sie Herrn Virquot, daß ich ihn zu sprechen habe! Und zwar schleunigst!« Er schwankte noch, ob er ihm mit dem Papier übers Gesicht fahren oder ihm mit dem Stiefel in irgendeinen Körperteil treten sollte. Er wollte ihn gleich entlassen. So ein Tropf, so ein Bauer erfrechte sich, mit Sophies Vermögen und Liebe zu schalten. Nachdem es ihm bei Isabelle nicht gelungen war, versuchte er es bei der Aeltesten, und zwar aus kalter Berechnung, aus schäbiger Habsucht. Dann zauderte Jean-Marc. Gewiß traf Sophie kein Tadel, und doch hatte sie eine wenn auch geringe Schuld an dieser Narretei, durch ihre schmachtenden Mienen, ihre hellen Blusen, ihren ein wenig eitlen Johannistrieb. Eine kleine Reaktion schadete ihr nicht. Sie heilte sie für diesmal und wappnete sie für die Zukunft. Hatte sie wirklich daran gedacht, Herrn Virquot zu heiraten? Schwachheit, dein Name ist Weib. Ihr Geld sollte einem Virquot zufallen! In Wirklichkeit setzte Jean-Marc voraus, Sophie habe einer Ehe entsagt und ihr schweigendes Einverständnis gegeben, daß seinen Zwillingen eine Erbschaft gebühre, die – möglichst spät – ihr väterliches Teil abzurunden hätte. Das schien ihm nur billig und natürlich. Zog sie ihn nicht allen Brüdern vor, und war nicht sie seine alte Sophie, seine Lieblingsschwester?

Nach dem Frühstück ging er mit ihr im Park spazieren. »Diesen Zettel hier«, sagte er, »hat Virquot mit seinen Akten aus Versehen mir in die Hand gespielt.« Schonend blickte er weg, indes Sophie bei dieser zynischen Enthüllung über die Seele ihres Freiers erbleichte, errötete, bald einem Tränenausbruch nahe, bald der Zerstörungswut. »Soll ich ihn noch heute wegschicken?« Sie atmete schwer, ihr Schmerz war grausam. Sie, die so erfahren, so mißtrauisch war, hatte geglaubt, um ihrer selbst willen geliebt zu werden, sie hatte für diesen Filz Sympathie gehabt! Sie sah seinen schokoladenbraunen Anzug, seine gelben Handschuhe, und als sie sich der Goldfische entsann, hatte sie Lust, krampfhaft zu lachen. Sie hatte sogar seiner Krankheit sich erbarmt. Am peinlichsten war ihr nicht, daß er die Ausgaben der Frau, von der er eine so schöne Mitgift erwartete, nach einem so gestrengen Tarif buchte, sondern daß er sie für zu alt erklärte, Kinder zu bekommen. Und wenn es zutraf, durfte er so unzart sein, es zu schreiben? »Was verfügst du?« fragte Jean-Marc. Mit schwer eroberter Ruhe betrachtete sie ihren Bruder; aber sie war tapfer und wußte sich, wenn es darauf ankam, edel zu zeigen: »Er ist ein unglücklicher Mensch,« sprach sie, »und er dauert mich.« Mit rachsüchtiger Entschlossenheit setzte sie hinzu: »Ich will mit ihm reden.«

Eine Stunde darauf konnte sie sich die Genugtuung, die schwülstigen Liebesbeteuerungen des vierschrötigen Mannes herauszufordern und anzuhören, verschaffen. Dann hielt sie ihm den schimpflichen Zettel unter die Nase, strafte ihn mit ihrer Verachtung und zeigte ihm die Tür. Virquot hätte fast mehrere Hautkrankheiten zugleich bekommen. Er bat um einen Halbjahrsurlaub, den Jean-Marc ihm mit geringschätziger Ironie bewilligte. Sophie trug hinfort dunkle Blusen und wellte ihr Haar nicht mehr. Das Goldfischbecken schenkte sie der Pförtnerin Frau Aljean. Dann beschäftigte sie sich mit der Reiseausstattung für Nénette und Mimi. Jean-Marc vertraute sie dem Ehepaar Jacquemer an, das für mehrere Wochen nach England gehen wollte.

V.

Es war im Oktober. In goldener Glorie vergilbte das Birkenlaub. Der rote Wein an den Terrassen entblätterte sich, Astern und Sonnenblumen flammten in violetten und gelben Büschen. Der herbe Duft der ersten Chrysanthemen floß mit dem weichen, faden Brodem der Erde zusammen. Der Wald wurde fahl. Die Buchen sprenkelten ihn mit ihrem gewaltsamen Purpurrot, die großen Kastanienbäume wurden gelbgefleckt. Die Glut des blühenden Heidekrauts erlosch. Die Pilze sprossen empor, Pilze mit gelben Hüten und runden Dächern und die Schwämme der Morcheln.

Zu Fuß ging Olivier dem Bahnhof entgegen. Sein Erholungsurlaub war bald vorbei; in acht Tagen sollte er übers Meer. Vorhin hatte seine Mutter ihm in die Augen geblickt und ihn lange bei der Hand gehalten. Sie hatte empfunden, daß der »Ritter«, ihr alter Olivier, der immer fern sein mußte, eine schwere Krise durchmachte. Auf seinem asketischen Gesicht hatte sie Kampf und Niederlage beobachtet und endlich den Sieg. Stumm hatten sie sich verstanden. Seufzend hatte sie ihn beklagt und seiner tapferen Haltung beigepflichtet, und sie staunte nicht, daß er Zweifel und Versuchung bezwungen hatte. Ihre entschuldbare mütterliche Selbstsucht freute sich, daß ihr kein Ungemach von diesem auserwählten Sohn, von diesem ernsten, vornehmen Menschen widerfuhr, dem sie mit einem gewissen Respekt sich beugte. Genug an der Trauer, die ihr die beiden jüngsten Söhne bereiteten, und an Simones ungestraftem Gram. Eine Entschädigung war der Mutter nur das Glück des Chinesen. In einer großen Familie halten Gutes und Böses, Freude und Leid nach dunklem Gesetz sich das Gleichgewicht; das ergibt sich aus dem Beieinander der Charaktere und aus den Fügungen des Zufalls. Mit Herzlichkeit dachte Olivier an das Erlebnis des Konsuls, der verlobt von Vichy zurückgekommen war. Weder Liane war seine Erkorene noch eine von denen, an die man gedacht hatte, vielmehr ein junges Mädchen aus der Provinz, dessen Mutter vierzig Jahre vorher mit Frau Fabrecé befreundet gewesen war. Im Park, im Trinkpavillon und im Hotel hatten die beiden Mütter sich einander genähert und Erinnerungen ausgetauscht. Frau Rovire, die Witwe eines Notars in Tours, hatte ihre einzige Tochter sorgsam auf dem Lande erzogen, in jener Einsamkeit, in der das innere Leben durch die Arbeit im Haushalt, durch Lektüre, durch vertiefte Neigung einen ruhigen Glanz empfängt. Die Züge von Fräulein Rovire hatten einen milden Widerschein davon, jene Sanftheit, die es heute kaum noch gibt, und die das Zeichen einer mit sich selbst noch unbekannten Seele ist. Liane behauptete, Jeanne würde immer mit sich unbekannt bleiben; denn sie sei dumm. Das war eine ungebührliche Kränkung.

Jacques war von ihrem Wesen sofort gewonnen. Nicht ohne Ueberwindung hatte die Mutter in die Reise gewilligt. Zwei, drei Jahre sollte sie ihre Tochter nicht sehen. In ein »barbarisches« Land sollte diese verschlagen werden. Zwei Monate war ein Brief unterwegs. Das Klima, die Menschen, die Ereignisse schreckten sie, dieses ganze von blutigen Legenden (dem Mord an Missionaren, teuflischen Folterungen) erfüllte China. Jetzt war es von Unruhen heimgesucht, die, wie Jacques prophezeite, den Sturz der Mandschudynastie und die Errichtung der Republik zur Folge haben mußten, unter Gemetzel, Meuterei und Plünderungen. Trotzdem hatte Frau Rovire nachgegeben. Jeanne liebte und wurde geliebt; Gott würde schon für das andere Sorge tragen. Sie mußte für ihre Tochter den Eintritt in eine Familie, die in so hohem Ansehen stand, begrüßen. Jeannes bescheidene Mitgift zählte neben ihren persönlichen Eigenschaften nicht, und für Jacques wäre eine vorteilhaftere Ehe nicht denkbar gewesen. Olivier lächelte. Die Freude seines Bruders war ihm ein Trost dafür, daß er selbst gelitten hatte und nun mit leeren Händen nach Afrika zog, als ein Soldat, der gelobt hatte, allein auf Posten zu stehen, zu entbehren, sich zu opfern. Reizvoll schien ihm die, die in der letzten Woche des Monats als Gattin mit Jacques abreisen sollte. Da Wünsche sich selten ganz verwirklichen, war Jacques' Braut durchaus nicht blond, nicht rosig und nicht schlank, sondern klein, mit matter Gesichtsfarbe und schönem schwarzem Haar. Am Tage vor Oliviers Einschiffung sollte die Hochzeit stattfinden, doch nur im engsten Familienkreis wegen der Betrübnis, die noch in Val-Montoir herrschte, wegen Simones und der beiden jüngsten Brüder.

An sie dachte Olivier. Die Mutter war fassungslos, und er begriff die Erregung des Vaters und Jean-Marcs Härte. Florent war ein Sklave seiner Triebe, und alles, was er an gutem Willen besaß, wurde stets durch Rückfälle zerstört. Er, der Hochbegabte, leistete nichts, als hätte nach den guten Feen sich über seine Wiege die böse geneigt, die mit einem Schlage ihres Stäbchens die Geschenke der Schwestern zunichte machte. Seit zwei Monaten hatte Florent Unbesonnenheit über Unbesonnenheit begangen. Ein Liebeshöriger jener Danila, die er nicht lieben und achten konnte, und der er doch wie ein Pudel gehorchte, hatte er ein wirres Leben geführt und sich in Schulden gestürzt. Er überhäufte das Mädchen mit teuren Kleidern und Schmuck, den er vom Gelde der Wucherer zahlte. Die Vorhaltungen der Eltern, die Ermahnungen der Brüder, die Klagen der Schwestern, die Briefe Isabelles, alles war dem bizarren Widerstand begegnet, der in seinem Charakter der vorherrschende Zug war und andauerte, bis plötzlich der Wind wieder umsprang. Herr Fabrecé hatte ihn aus ärgerlicher Verlegenheit befreien müssen. Er hatte ein nicht völlig bezahltes Perlenhalsband in der Leihanstalt verpfändet. Auch war er durch Danila mit anarchistischen Konventikeln bekannt geworden, und dort gab es eine blutige Schlägerei mit gerichtlicher Untersuchung, deren Einstellung der Vater mit Mühe durchgesetzt hatte. Doch war Florent nicht verderbt. Man fühlte, daß er mit sich rang. Sein Stolz lag mit seiner Vernunft im Krieg, und die krampfhaften Zustände seines Geistes stritten mit der edlen Glut seines Herzens. Vielleicht hätte, wenn Isabelle und Antoine noch in Val-Montoir gewesen wären, ihn ihr guter Einfluß noch berührt; denn Antoines Bruderliebe und die Achtung Isabelles waren ihm unentbehrlich. Der Gehorsam gegen Vater und Mutter zähmte ihn nicht, und Jean-Marc hatte in solchen bösen Stunden die Fähigkeit, ihn außer sich zu bringen. Doch Antoine war fern ... Auch das war ein Grund zur Betrübnis. Armer, guter, ungeschickter Antoine! Olivier mußte ihn zugleich lieben und beklagen.

Ein ländlicher Wagen kam ihm entgegen. Auf dem Kutschersitz erkannte er Bernard, mit seinem braven rötlichen Gesicht, seinen treuen Augen. Er kam vom Markt in Fontainebleau, mit herrlichem Obst im Korbe und einem riesigen Hecht, der auf Eis lag. »Steigen Sie auf,« so lud er ihn ein, »ich nehme Sie mit zum Bahnhof.« Olivier wäre lieber zu Fuß gegangen, aber dem freundlichen Drängen des wackeren Faktotums mußte er nachgeben. »Ich habe eingekauft,« sagte er, indem er das Pony umdrehte. »Die Damen Rovire kommen zum Mittagmahl.« Er deutete auf den Korb: »Essen Sie doch einen Pfirsich, was? Es ist ein Unglück, daß Florent und Antoine nicht da sind. Florent hat Hecht so gerne, und Antoine hätte sich an dem schönen Obst gelabt.« Nachdenklich hob er den Kopf: »Sehen Sie, um Florent habe ich eigentlich nicht die größte Sorge. Er ist so jung, ein bißchen verdreht, ja, aber er wird schon vernünftig werden. Und dann ist auch die Gefahr für ihn vorbei.« Olivier blickte ihn an. »Ach, Sie wissen es noch nicht? Gestern hat Herr Fabrecé gegen das Weib einen Ausweisungsbefehl erlangt, weil sie eine Fremde ist, und heute früh hat die Polizei sie in aller Hochachtung zur Grenze geschafft. Es blieb kein anderes Mittel, da Florent nicht hören wollte. Aber sein Vater hat ihm tüchtig die Leviten gelesen.« Olivier wandte ein: »Wenn er ihr nur nicht ins Ausland nachläuft!« Bernard widersprach: »Was Ihnen einfällt! Ein Fabrecé! Ich lege meine Hand ins Feuer, Florent gibt klein bei. Und da er ein bißchen viel über die Stränge geschlagen hat und es nun mit der Gesundheit schlimm steht, wird er sich in Pau erholen können, wohin er vom Vater unter der Aufsicht zuverlässiger Freunde verbannt wird.« Er strich mit der Peitsche über die vollen Flanken des Pony, dessen Schellen tanzten: »Sie werden schon sehen, die Geschichte kommt in Ordnung, aber mit Antoine ...« Seine ängstliche Teilnahme schien Olivier unmäßig groß und auch ein wenig komisch. Weil er so ganz mit der Familie lebte, war Bernard nun königlicher gesinnt als der König selbst. Die Streiche Florents bewunderte er insgeheim, wie ein Bürger sich freut, wenn ein Prinz von Geblüt die Wache foppt und sich in Spielhäusern herumtreibt. Antoine hingegen kam ihm vor wie ein Edelmann, der sich zum Volk erniedrigt, um eine Kuhhirtin zu heiraten.

Bernard, der Sohn kleiner Leute, fühlte mit ungeheurem Stolz für alle Fabrecé. Er brummte: »Als ich vor zwei Monaten erfuhr, daß die Maldant vorgaben, sie hätten eine Tante im Süden zu beerben, und sich aus dem Staube machten, da habe ich mir gesagt: Gut so, glückliche Reise! Unser Antoine wird nun bald die Sache vergessen! Da stürzt er auf einmal herbei wie ein Tiger. Ich glaubte, er wolle die ganze Welt und alle, denen er begegnete, auffressen. Er schmeißt seine Arbeit in La Gavaudière hin, läuft fort, ohne vorher etwas ruchbar werden zu lassen, und setzt Noëmie, dem alten Maldant und der Kleinen nach. Sie wissen doch, daß sie die Handelsgärtnerei der Tante Léocadie übernommen haben, und dort schuftet Antoine jetzt wie ein Tagelöhner. Er karrt Erde und bestellt die Blumen im Garten. Die Maldant haben das Ding fein eingefädelt. Hier konnte man ihre Ränke zerstören, dort aber ...« Olivier verteidigte Noëmie, die eines so berechnenden Vorgehens unfähig sei. Bernard kam aus dem Konzept: »Ach, glauben Sie? Ich rede Herrn Jean-Marc nach, der die Kleine für abgefeimt hält.« »Nein,« bemerkte Olivier, »Jenny-Rose ist ein anständiges Mädchen, dafür bürge ich.« »Anständig, anständig, ich will's ja nicht bestreiten ... Sie wissen doch, die Leute klatschen gern. Man hat mir erzählt, daß es zwischen Noëmie und ihrer Tochter heftige Auftritte gab, und daß sie nicht ohne Ursache die Gegend verlassen haben.« »Was für eine Ursache sollte das sein?« fragte Olivier. Er mißbilligte Antoines Hartnäckigkeit im Kampfe gegen das Gebot des Vaters; doch daß man die Ehre von Jenny-Rose verdächtigte, das wollte er nicht zulassen. Er legte die Hand auf Bernards Aermel: »Sie dürfen nicht glauben, was da erzählt wird, alter Freund, und dürfen solche Gerüchte auch nicht weiter tragen.« Im Gespräch entstand eine Pause. Plötzlich erschien Olivier die Abreise der Maldant und das Verhalten seines Bruders in anderem Lichte, plötzlich wurde ihm die Möglichkeit klar, daß die beiden jungen Leute dem Ungestüm ihrer Jugend erlegen seien. Er bedachte, wie der Widerstand der Ihrigen sie geradezu versuchen mußte, wie frei sie sich getroffen hatten, wie der Wald ihr Verbündeter gewesen war. Antoine war nicht so feige, daß er den Folgen seiner Handlungen sich entzog. Das erklärte ja auch, daß er trotz aller Befehle und Bitten in Vence geblieben war; wie Jakob bei Rahel, im Hause Labans, war er von den Maldants ausgenommen worden. Aber diese Erwägungen behielt Olivier für sich. Der Wagen stand vor dem Bahnhof; er kam noch vor Abgang eines früheren Zuges. Beim Stoßen und Rattern der Räder suchte Olivier über undurchsichtige Fernen hinweg kummervoll im Geist seinen Bruder. Ihn nicht sehen, nicht die Wahrheit wissen zu können ...

Und es war anders, als Bernard glaubte. Seit der am Waldteich durchwachten Nacht hatte Jenny-Rose Besorgnisse gehegt, deren Natur später Noëmie erkannt hatte. Ihr Zorn, ihre Verzweiflung konnten dieses Verhängnis, für das es eine bestimmte Zeit gab, nicht mehr abwenden. So wünschte sie wenigstens, daß die Schande ihrer Tochter nicht in der Heimat verlauten sollte, da wo sie aufgewachsen war, dicht vor dem Tor der Fabrecé. In barscher Entschlossenheit zwang sie ihren Mann, das Haus, darin sie seit zweiundzwanzig Jahren gelebt hatten, zu räumen und an den Abhang eines jener Hügel von Vence zu übersiedeln, wo krumm gebogene Oelbäume an trockenen Steinmauern emporstreben, wo der roten Erde Rosen, Nelken, Anemonen, Levkoien in zahllosen Reihen entsprießen und zusammengebunden die Körbe füllen, die an die Blumenhändler versandt werden. Noëmie hatte nicht vorausgesehen, daß Antoine sie verfolgen würde. Sie war gewillt, ihm Jenny-Roses Unglück und seine Schuld an der Entwurzelung ihres Lebens zu verhehlen. Das tat sie aus Stolz wie aus nachtragendem Groll, doch vor allem aus dem Ehrgefühl rechtschaffener Leute heraus, die nichts fordern, keinen Schadenersatz verlangen und für andere büßen – für die Fabrecé, denen sie sich noch immer verpflichtet fühlte. In diesen wenigen Wochen war sie gealtert, und ihre Züge waren entstellt. Ihr weiches, gutes Herz konnte sich nicht in die Einsicht schicken, daß ihre Jenny-Rose einen Fehltritt begangen hatte. Das Kind wollte sie zu sich nehmen, da es so sein mußte; aber Brot, Wein, die Luft, die sie atmete, waren von jetzt ab Bitternis. Das plötzliche Erscheinen Antoines, dem Florent die Nachricht vom Verschwinden der Maldant gesteckt hatte, die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen, in denen sein Trotz sich mit dem Noëmies maß, hatten ihren Widerstand nicht brechen können. Bernard verleumdete sie und ihren Mann, wenn er sie anschuldigte, sie hätten den Sohn ihrer Wohltäter unter ihrem Dach beherbergt. Noëmie hatte kein Erbarmen mit der Reue Antoines, mit seinen erregten Versicherungen; sein Platz war hier nicht. Er sollte zu seiner Familie zurückkehren. Ihre Tochter mußte zusehen, wo sie blieb. »Niemals, Bursche, niemals gebe ich eure Heirat zu.« »Ja, willst du denn, daß ich Selbstmord begehe, um gutzumachen, was ich angerichtet habe?« »Damit machst du nichts gut.« »Aber denke doch an deine Tochter, die ich liebhabe!« »Du hättest sie eben vorher achten sollen.« »Nur ich bin schuld daran.« »Und sie hat jetzt die Schande.« Antoine wollte seinen Eltern schreiben und ihnen die Wahrheit gestehn. Doch die Weigerung seines Vaters klang ihm noch in den Ohren; was nutzte das viel? Daß er nicht bis zum Ende der sechsmonatigen Frist sein Wort gehalten hatte, konnte ihm doch nicht verziehen werden. Nichts mehr erhoffte er von der Gerechtigkeit und der Güte der Seinigen. Allein gedachte er nun seine Pflicht als treuer Schützer zu vollbringen. Wenn er auch Michette gegen den Willen ihrer Eltern nicht heiraten konnte, sollte sie gleichwohl seine Frau werden. Drei Tage nachher brach Michette, schluchzend, von seinem Flehen besiegt, in seinen Armen zusammen. Sie war nun bereit, mit ihm zu leben, ein freies Mädchen aus dem Volke, das dem Mann anhängt, der es liebt, dem Manne, der es ernährt, dem Vater des Kindes, das in seinem Schoß sich regt. Sie lebten in einem nahen Dorfe, in Saint-Jeannet. Mit erspartem Geld und mit Hilfe des Erbteils, das vom Großvater Siglet-du-Salt ihm vermacht war, hatte Antoine ein kleines Gut gemietet, und soweit hatte Bernard recht: er karrte Erde, er überwachte die Setzlinge, er bewässerte die Pflanzen. Seine Genossen waren Michette, ein Landarbeiter und zwei alte Bäuerinnen mit lohgelber, aufgesprungener Haut unter schwarzen, altmodischen Strohhüten. Olivier wußte nichts von alledem und auch vom Bruch Miches mit ihren Eltern nicht, die die beiden nicht mehr sehen wollten, und deren ehrbare Unerbittlichkeit in Val-Montoir so schnöde verkannt wurde. Und doch, wie zerriß es dem Vater Maldant und Noëmie das Herz, wenn sie dem Paar begegneten und wegschauten!

 

Der Zug lief in die Gare de Lyon ein. Olivier fuhr im Auto dahin. Die in der Sonne glitzernde Seine, die einsamen Quais, die verdorrten, brandroten Bäume, an denen hie und da neues Laub grünte, dann das Bois, der See von Saint-James und Neuilly. Der Wagen hielt vor einem großen Neubau, den ein Park umschloß. Ueber der Einfahrt standen in einem Zierrahmen, in goldenen Lettern die Worte: » Collège Clémence Royer.« Eine vornehme Frau, die ihr Leben dem freien Unterricht gewidmet hatte, leitete diese verdienstvolle Anstalt, die auf die höheren Schulprüfungen vorbereitete. Durch schleichende Krankheit geschwächt, hatte Fräulein Micael eines Beistandes bedurft, und auf die Fürsprache von Cyrille Jacquemer war Elisabeth Sarnel als stellvertretende Direktorin eingetreten. Man führte Olivier sehr höflich eine Galerie entlang und über eine große Treppe bis zum hellen Warteraum, und gleich darauf gelangte er in ein großes Arbeitszimmer, wo, als er eintrat, Fräulein Sarnel sich von ihrem Sitz erhob. »Sie hier zu sehen, ist mir eine Befriedigung,« sprach er. Er erinnerte sich an die kleine Stube mit der niederen Decke, an die Vögel im Käfig, an die scharfe Stimme Juliettes und an die mutige Entsagung seiner Freundin. Noch fehlte ihm das alles ein wenig; aber er war glücklich, sie nun in einer Umgebung, die ihrer wert war, betrachten zu dürfen. Die Fenster lagen nach dem welkenden Garten zu. Auf breiten und hohen Bücherschränken mit Schnitzerei sah man die Bände geschichtet. Auf dem großen Arbeitstisch reihten sich die Akten neben Kästen, aus denen Papierzettel hervorlugten. Nur die Krücken, die bereit standen, mahnten an das geheime Elend dieses Daseins.

Sie lächelte ihm zu. Ihre schönen Augen waren noch größer als sonst. Sie hatten einen neuen Ausdruck, seit Elisabeth ihr Amt hatte, seit ihre Aufgabe als Erzieherin mit fruchtbaren Ideen und Empfindungen sie durchdrang. Von ihren Schülerinnen, den großen jungen Mädchen, deren Kleider man durch das Baumgewirr flattern sah, geachtet und geliebt, trug sie auf ihrem Antlitz die Weihe ihres späten Apostolats, und das verlieh ihr eine schwermutsvolle Anmut. »Gefällt es Ihnen hier?« fragte er. »Mein Glück wäre vollkommen, wäre nicht die Unbill, die meine Familie mir zufügt.« »Ach, ja.« Mutter und Schwestern verziehen Elisabeth nicht, daß sie ihnen entronnen war, und nicht die Wendung in ihrem Schicksal. Sie nahmen die schweren Opfer, die sie sich auferlegte, ihre Hochherzigkeit hin und vergalten sie ihr mit Undank. Da sie nicht mehr von ihr zu ziehen vermochten, konnten sie ungestraft hart gegen sie sein und sie mit schonungsloser Begehrlichkeit überfallen. Fräulein Sarnel mußte einen gewissen Mut zeigen, um sich ihnen nicht völlig auszuliefern. Am herbsten war für sie die Erkenntnis, daß sie sie nicht liebten. Marthe war zweifellos auf schlechten Wegen. Es wurde davon gesprochen, daß Alexandre nach Madagaskar müsse. Juliette plagte die Mutter unsäglich. Alle zerfleischten sich in wildem Egoismus, und Elisabeth litt darunter, als sei auch sie verantwortlich. »Sie sollen nicht mehr von bösen Menschen sich ausbeuten lassen,« sprach Olivier. »Ihr Leben ist anderswo.« Sie senkte ihren Blick und ließ den Bleistift fallen, den sie mechanisch in ihrer Hand drehte. »Ja, aber man braucht Zeit, um sich der Liebe zu entwöhnen.« Ihre Stimme hatte ein wenig gezittert. »Arme Freundin, vergessen Sie sie!« Sie antwortete nicht. Er beklagte sie. Es ist das Los zarter Seelen, für andere, die unter ihnen stehen, zu leiden. Sie sah ihn an. Dann fragte sie ruhiger: »Sie reisen also?« »Bald.« Ein Schweigen herrschte nun, schwer von wortlosem Gefühl, von ernsten Gedanken, von ohnmächtigem Bedauern. Hätte er gekonnt, so wäre er geblieben, so hätte er zu ihr gesagt: »Werden Sie meine Frau! Nie wird mir ein Wesen entgegentreten, das mir näher ist, nie ein Ideal, das dem meinigen mehr gleicht.« Aber er konnte es nicht. Die starren Krücken, die am Sessel lehnten, schienen wie symbolische Schranken diese so sehr füreinander geschaffenen Existenzen zu trennen. Das wußte Elisabeth, und ihr wie ihm bereitete es großen Schmerz. Der ihre war, Weib zu sein im Geist und im Herzen, in allem, was über die Wirklichkeit erhebt, dem Leben zu, der Liebe, und kraftlos wie eine Kellerassel dahinkriechen zu müssen, sich nicht schenken, kein Leben zeugen zu dürfen ...

Sie murmelte: »Wie rasch die letzten Monate vergangen sind!« »Zu rasch,« sagte Olivier. »Ihr Beruf wird Sie sehr in Anspruch nehmen.« »Das muß so sein, und auch Sie der Ihrige?« »Das hoffe ich, das will ich.« Sonst sprachen sie nichts. Was hätten sie noch reden sollen? Sie zählten zu den Aufgeopferten, deren Schicksal es ist, ihre Intelligenz, ihre Hingabe in ein Werk zu sammeln. Durch Tausende von Meilen getrennt, sollten sie das Gewissen von Zöglingen ausbilden und zur Idee der Vernunft und Pflicht sie erwecken. Dergestalt blieb ihr Erdenwallen nicht vergeblich, und wenn sie für sich selbst nicht leben konnten, lebten sie für ihre Mitmenschen. »Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit!« Sie gab Einzelheiten an. Sie organisierte die Unterrichtsstunden, überwachte Klassen und hielt Vorträge. Ihr Antlitz rötete sich; man spürte, daß sie ihren wahren Beruf gefunden hatte, und ihm verdankte sie es. »Und Sie?« erkundigte sie sich. In einfachen, kurzen Sätzen berichtete er, welch strenges Leben ihn erwarte. So konnten sie aneinander denken und sich den Verlauf ihrer Tage vorstellen. Sie plauderte auch von den Büchern, für die sie eine gemeinsame Vorliebe hatten. »Sie werden mir doch manchmal schreiben,« fragte sie, in Furcht, er werde es ablehnen. »Manchmal, jawohl.« Aber auch wenn sie schwiegen, verkehrten sie im Gedächtnis eines Toten, im Gedächtnis Andrés.

Eine goldbronzene Empireuhr holte zu einem Schlage aus, der feierlich hallte wie die Stimme der Zeit. Schon waren die Minuten, die sie jetzt beisammen zugebracht hatten, in die Vergangenheit entflohen, und so mußte es mit den Minuten, den Jahren ihres künftigen Lebens geschehen. Alles sank in den unentrinnbaren Abgrund, der die Gedanken verschlingt, alles, was wir tun, den Schmerz, die Freude und selbst die Liebe. Olivier stand auf: »Leben Sie wohl, Freundin.« Eine schreckliche Qual verzerrte die Züge des jungen Mädchens: »Leben Sie wohl, Olivier.« Ihre Hände vereinigten sich in festem, kurzem, schon lockerem Druck. Die großen Augen Elisabeths füllten sich mit Tränen; aber Olivier sah sie nicht oder wollte sie nicht sehen. Er hatte schon die Tür geschlossen und entfernte sich raschen Schrittes. Die Hände an die Stirn gepreßt, unbeweglich, fühlte Fräulein Sarnel, wie ihr verfehltes Schicksal in ihr erstarb. Vom Rufen junger Stimmen erwachte sie aus ihrer Niedergeschlagenheit. Sie trocknete ihre Augen, und sie hatte die Kraft, den schüchternen, liebevollen Gesichtern zuzulächeln, die durch die halboffene Tür hereinspähten: »Dürfen wir, Fräulein?« Das war hinfort ihr Los, diese unfruchtbare Mutterschaft, diese unbelohnte Zärtlichkeit für die flüchtigen Schutzbefohlenen ihres arbeitreichen Lebens.

»Kommt herein, Kinder!«

VI.

Jacquemer hatten Brighton und London verlassen. Die Nervosität Cyrilles machte für ihn einen stillen Aufenthalt notwendig. Er brauchte für seine Arbeit völlige Zurückgezogenheit. Sie verbrachten das Ende des Herbstes auf Jersey, in einem kleinen Villenort bei Saint-Aubain. Ein großer noch grünender Garten, der viele exotische Pflanzen aufwies, lag über dem Strande und über der blauschimmernden, von konzentrischen Streifen, wie man sie auf der Landkarte sieht, durchquerten See. Von riesigen Kastanienbäumen ragten gelbe Blätter herab. Unter grünen Steinen entdeckte man ungeheure Kröten. Ein alter gewissenhafter Gärtner fegte die Alleen, die wie der Boden eines Tanzsaals glänzten. Im Hause blühten von Efeu umrankte Geranien; in einer Glasveranda strömte die Sonnenhitze zusammen. Das Innere war im englischen Geschmack möbliert, mit breiten Sesseln, weichen Betten und Anrichtetischen, blinkendem Silbergeschirr und großen Tellern im Speisesaal.

Nénette und Mimi waren nun glücklich. Cyrille und Isabelle freuten sich, zu sehen, wie sie gelehrig und zärtlich sich entfalteten. Da sich nichts ohne Mühe erreichen läßt, hatte es etlicher Wochen für die gegenseitige Einstimmung bedurft. Bei Nénette besonders hatten der Zwang und die Spannung, unter denen sie lebte, einige Charakterfehler zurückgelassen. Sie mußte beruhigt, ihre argwöhnische, heftige Empfindlichkeit beherrscht werden. Allmählich gelang es dem heiteren Gleichmut Isabelles, ihrer gelassenen Milde, das Vertrauen des jungen Mädchens zu erringen. Mimi, die stets sich an das Beispiel der Schwester hielt, hatte nur ihren guten Anlagen zu folgen. Und so machten sich beide um ihrer selber willen liebenswert. Cyrille, der den Versuch zugleich ersehnt und gefürchtet hatte – denn auf sein empfindliches Wesen wirkte jede Aenderung störend ein – entschlug sich seiner Besorgnisse. Seine Arbeit wurde durch den Zuwachs im Hausstand nicht beeinträchtigt. Mit seinen toten Augen fühlte er die Anmut der Kinder. Er fühlte sie im liebkosenden Klang ihrer Stimme, in der Frische ihrer Wangen, wenn er sie küßte, in der warmen Schmiegsamkeit der kleinen Hände, die sich ihm anboten, um ihn zu führen. Nénette wurde schöner als zuvor. Sie ähnelte einer vom Frost versehrten Knospe, die nur der Zeit harrte, in der sie sich öffnen sollte. Die einsichtsvolle Leitung durch ihren Onkel und ihre Tante, die von Pedanterie freien Gespräche, eine gewählte Lektüre entwickelten ihre bisher unausgenutzten oder zerstörten Fähigkeiten. Sie lebte jetzt mit vertieftem Bewußtsein, glücklich, verstanden zu werden und lieben zu dürfen. Als sie sicher war, daß Isabelle ohne die Zanksucht der Großmutter, die jähen Launen Sophies ihr zugeneigt sei, brachte sie ihr froh ihr Herz entgegen. Den guten Willen, die ungeheuchelte Dankbarkeit, die Armande verkannt und zurückgestoßen hatte, nahm Isabelle froh auf. An der noch kindlichen Mimi betätigten sie und Cyrille den Hang zu schützen, der im Elterngefühl das beste Teil ist. Aufmerksam war Isabelle um alles bemüht, was in Val-Montoir von Odile vernachlässigt worden war, um die Pflege der Reinlichkeit, der Gesundheit, um das, was zwischen Mutter und Kind die engste Berührung herstellt. Nénette war für sie die große Tochter, mit der man vernünftig reden kann. Ihr großmütiges Opfer war durch die Belebung aufgewogen, die ihr unfruchtbarer Bund von diesen Kindern ihrer Wahl widerfuhr, die der Zusammenhang des Blutes und der sittlichen Erziehung zu ihren eigenen Kindern machte.

Sie dehnten ihre Ferien aus und wünschten, sie möchten nie zu Ende gehen. Bald drängte die Frage der Rückkehr. Die Aussicht, wieder unter Armandes Zucht zu geraten, erschreckte Nénette und mit ihr ihre Schwester. Betrübt rechneten die Jacquemer mit der Möglichkeit, sie zu verlieren. Würde Jean-Marc, der seine Töchter trotz allem liebte, und würde Armande, und sei es nur aus Hoffart, darein willigen, ihnen die Kinder noch zu belassen? Einstweilen unternahmen sie mit den Kindern kräftigende Ausflüge zu Fuß oder auch im Wagen, auf den ebenen Straßen. Einmal nach Gorey, ein andermal nach dem Leuchtturm von Corbière oder nach dem Strand von Sainte-Brelade. An der Küste entlang fuhr eine kleine Eisenbahn. Landauer, die mit großen mageren Gäulen bespannt waren, eilten durch kleine lachende Täler, über baumumsäumte Wege. Man frühstückte auf den Klippenfelsen, man badete in den Buchten, wo das klare Wasser, wenn die Sonne auf dem Gestein zittert, goldene Kringel malt wie runde Schildkrötenschalen. Man stieg in Boote, um zu fischen. Man aß winzige Hummern mit zuckersüßem Fleisch, Rhabarbertörtchen und dicke Puddings. Nénette begann Englisch zu sprechen. Mimi hatte Backen wie rote Aepfel. Cyrille und Isabelle wurden jetzt von Unruhe beschlichen. Allzu schwer mußte es sie treffen, wenn Jean-Marc ihnen die Kleinen abnahm, die sie mit ihrer ungestillten Zärtlichkeit beschenkten. Andererseits tat das gemäßigte Klima von Jersey, die Heilkraft der salzgeschwängerten Luft Cyrille wohl. Eine Ausflucht bot sich. Warum sollten sie nicht hier einen Teil des Winters verbringen? In einem trefflichen Lyzeum konnten die Kinder als externe Schülerinnen einen hinreichenden Unterricht erhalten. Man konnte von Saint-Aubain nach einer Villa in Saint-Hélier übersiedeln. Ungeduldig erwarteten die vier Menschen, deren Herzen ein gutes Geschick vereinte, die bejahende oder verneinende Antwort Jean-Marcs und Armandes; denn der Gouverneur richtete sich zweifellos nach dem, was sie wollte. Alle Hoffnung setzte man auf ihre Eifersucht. Der Kinder Claudies entledigt zu sein, war ihr vielleicht hochwillkommen; aber in diesem impulsiven, herrischen Charakter konnte eine andere häßliche Eifersucht keimen und Schwester und Schwager zwingen, die Töchter zurückzugeben, damit sie nicht anderswo glücklich würden.

 

Endlich kam Jean-Marcs Bescheid. Cyrille strich sich erregt den langen Bart, die Finger Isabelles zuckten, als sie den Umschlag zerriß. Mimi beobachtete beide; Nénette sah bleich mit großen Augen zu, und es schien, als hinge für sie Tod und Leben vom Inhalt dieses Briefes ab. Isabelle las ihn achtsam durch; dann sprach sie mit ihrer ruhigen Stimme, die ein liebevoller Blick begleitete: »Cyrille, Jean-Marc ist einverstanden. Ihr bleibt bei uns, Kinder.« Schon lag Mimi ihr in den Armen, und zwei heiße Tränen fielen aus Nénettes Augen auf die Hand Cyrilles. »Na,« sagte der Blinde bewegt, »na, Kleine.« »Ach, Onkel, jetzt ist es für uns das Glück; aber später ...« »Wir gewinnen Zeit,« schloß Isabelle, »und wir werden weiter sehen.«

 

Abends war der Tisch mit Blumen geschmückt; leicht und fein war die Luft, als fühle man das Gewicht des Körpers und der Gedanken nicht mehr. Während Mimi, die Hände geballt, ruhig schlief und Nénette, vor Freude schlaflos, sich in ihrem Bett wälzte, plauderten Cyrille und seine Frau in der Einsamkeit ihres Gemachs mit gedämpfter Stimme: »Bist du zufrieden, Isabelle?« »Ja, Cyrille, und du?« »Ganz zufrieden. Doch eine Einbuße wirst du haben, Liebe, denn weder bei Jacques' Heirat noch bei Oliviers Abreise wirst du anwesend sein können.« »Büßen muß man immer, Cyrille; und mit solcher Entbehrung ist die Aufnahme der Kinder bei uns nicht zu hoch bezahlt.« »Und später?« »Armande wird zum drittenmal Mutter werden. Sie wird sich daran gewöhnen, die großen Kinder nicht mehr um sich zu sehen. Sie lassen sie uns, sei ohne Sorge.«

 

November und Dezember vergingen. Nebel hüllten Jersey ein. Mit ihren schwarzen Uferstraßen und ihrem ewig gleichen Seepanorama glich die von Kohlendunst bedrückte Insel einem Schiff, dessen Kessel unter hohem Druck dampfen. In Val-Montoir hatte man die Zimmer des Chinesen und Oliviers zugesperrt. Die frommen Hände Sophies hatten die Möbel zugedeckt und die Läden vorgeschoben. Nun waren beide fort. Olivier hatte sich an seinen Standort begeben; der Konsul und seine Frau fuhren ihrem entfernten Wohnsitz zu. Der Winter breitete über das Haus den Schleier seiner Schwermut. Die Tage waren kurz, man zündete bald Licht an. Herr Fabrecé hatte seine gewohnte Arbeit in Paris wieder aufgenommen; Frau Fabrecé hatte darauf beharrt, ihn zu begleiten. Für die Zeit vom Sonnabend bis zum Montag kamen sie im Auto hinaus. Der Gesundheitszustand der Mutter schwankte noch immer; auf plötzliche Besserung folgten Perioden der Herzschwäche und der Atemnot. Frau Siglet-du-Salt alterte nicht. Bei jeder Witterung sah man sie nach dem Frühstück in ihrem pelzbesetzten Kapuzenmantel über die Terrassen spazierengehen. Es war, als ob sie in der Kälte gedeihe. Simone widmete sich der Erziehung ihrer Kinder. Durch Aufgebot von Willenskraft hatte sie sich zu einem Pflichtleben mit regelmäßigen Unterrichtsübungen gezwungen; aber bei Bettys Trägheit und Iwans Jähzorn bedurfte es großer Festigkeit. Sie bemühte sich, an Henri Le Jas nicht zu denken, und dieser Kampf der Vernunft gegen den Trieb des Herzens erschöpfte sie. Von ihm selbst hatte sie nichts mehr gehört; und nun machte sie die Zurückhaltung, die sie sich abgerungen hatte, sich zum Vorwurf. Was wurde mit ihm? Setzte er die Aufhebung seiner Ehe durch? Sie wußte auch, daß Sergius sich erholte. Neues Ungemach! Sie verscheuchte jeden Gedanken an die Zukunft und lebte wie eine Verurteilte in den Tag hinein. Armande litt unter der Bürde der Schwangerschaft. Sie war im siebenten Monat und schon ganz unförmlich. Dem Versprechen gemäß, das er seinem Vater gegeben hatte, verließ Jean-Marc selten das Haus, und er arbeitete viel, als ob die Erwartung des Kindes seinen Drang, das Familienvermögen zu mehren, verzehnfache. Oft dachte er an Nénette und Mimi, und stets mit dem schwachen Bedauern seelischer Erleichterung; wenigstens war er jetzt unbehelligt. Armande, die nicht mehr über Untreue ihres Gatten zu klagen hatte, beschränkte sich auf ihre kleine häusliche Welt, auf ihren Mann und ihre Kinder. Sie hatte für nichts außer ihnen Sinn, sie las nicht und entsagte jeder Ziererei. Mit einem lockeren Morgenrock angetan, nähte sie bis zum Abend Jäckchen, Strümpfe, Höschen, und von diesen puppenhaft winzigen Gegenständen ging, wenn sie mit glücklicher Miene sie hochhob, eine rührende und alberne Komik aus.

Florent und Antoine erwähnte man nur mit halben, vorsichtigen Worten. Von dem ersten hatte man Nachrichten; man hatte gehört, daß er an Influenza erkrankt war. Unter der Pflege wohlwollender Freunde und dank dem Klima von Pau war er zum Glück bald genesen. Er war nun gescheit geworden. Von Danila wußte man nichts mehr; sie war wohl in irgendeiner großen Stadt des Auslands tätig. Florent war wiederum seinem Hang zur Malerei verfallen und arbeitete, und das traf sich gut, weil er jetzt, nach der Abreise seiner Wirtsleute, allein und ohne Aufsicht blieb. Ueber Antoine hatte Bernard, der unterwegs Erkundigungen eingezogen hatte, die Wahrheit hinterbracht. Er berichtete, daß er und Miche in wilder Ehe lebten, daß er mit ihr zusammen dem ländlichen Tagewerk nachging und in zwei Monaten ihr Kind kommen sollte. Mit Schweigen glitt man darüber hinweg, während Armandes so ungeduldig ersehnte kleine Madeleine bei Tisch und abends bei der Lampe der Gegenstand aller Gespräche war. Es schien, als sei Antoine aus der Familie ausgeschlossen, deren Hausgeist er beleidigt und deren gerechte Satzungen er mißachtet hatte. Insgeheim jedoch sprachen Sophie und Simone über ihren Bruder, über Miche und das unschuldige Wesen, das sich nicht gewünscht hatte, geboren zu werden. »Es ist schrecklich,« flüsterte Sophie; »wie mag er so als Bauer leben wollen!« Das stärkste war, daß nach der Meinung Bernards, der das junge Paar gesehen hatte, Antoine ganz friedlich schien. Gesunder als je nahm er sich aus, wuchtig, gebräunt, die Aermel bis zum Ellbogen emporgestreift, mit offenem Antlitz. Kaum war auf den Zügen der tapferen Michette ein leichter Schatten sichtbar; dann geschah es, weil sie darüber nachsann, daß um ihretwillen Antoine mit seinen Eltern sich überworfen hatte. Doch daß sie glücklich waren, völlig glücklich, war nicht zu bezweifeln. Sophie fuhr fort: »Wie soll das enden? Nie werden Vater und Mutter die Heirat zugeben.« Simone blickte mit ihren schönen, traurigen Augen die Oberverwalterin an: »Aber unsere Pflicht wäre es, sie von der Notwendigkeit zu überzeugen.« Sie dachte an die Härte der Familienauffassung, die die Glücklichen und Gehorsamen kräftigte, die Andersgearteten und die Widerspenstigen verleugnete. Für die Gesamtheit war dieser Altruismus vorteilhaft, für das Individuum ein grausamer Zwang. Den flatterhaften Jean-Marc verhielt er zur Treue. Den Chinesen hatte er nach kurzem Freiheitsrausch in die klassische Ehe eingefangen. Sophie überantwortete er dem Zölibat einer alten Tante. Und endlich hatte er, wie ihr Frauenherz, das Herz Oliviers verstümmelt, der dem Schicksal der Fabrecé sein eigenes Glück preisgab, auf daß sie noch größer würden, noch stärker, noch reicher gesegnet. Verwirrt schwieg Sophie. »Glaube mir,« sprach Simone, »wir alle haben genug gelitten.«

VII.

Der Dezember stellte im großen Salon seinen Weihnachtsbaum auf, der Januar begann mit weißem Schnee und mit Frostblumen an den Scheiben. Die Näschen der Kinder waren, wenn sie beglückt die Spender der Neujahrsgeschenke umfingen, kalt wie die Schnäuzchen der Katzen. Endloser Regen ging nieder, der den Himmel grau streifte und trotz der dumpfen Ofenhitze Val-Montoir mit Feuchtigkeit erfüllte. Sophie hatte Zahnschmerzen, der alte Gervais glitt, als er in den Keller ging, aus und quetschte sich eine Rippe. Von neuem erweckte der Gesundheitszustand von Frau Fabrecé Besorgnisse. Man hatte Jacques' ersten Brief empfangen, und man wußte, daß Olivier marschfertig war.

Gegen Ende des Monats unterbreitete Antoine in einem achtungsvollen Brief dem Vater und der Mutter seine Pläne. Er gedachte die Heimat zu verlassen und sich in Argentinien als Landwirt zu versuchen. Dort sei noch etwas zu machen. Solch ein Leben würde ihm wie auch seiner Gefährtin passen (diesen Namen gab er Michette). Aber erst in ein paar Monaten könne er daran denken, und er werde nicht abreisen, ohne zuvor seiner Familie Lebewohl zu sagen. Er sprach weder von seinem Wunsch, Miche zu heiraten, noch von seiner baldigen Vaterschaft.

Dieser Brief wurde vielfach erörtert. Trotz seiner Bewegung erwiderte der Vater, den Antoines Hartnäckigkeit verletzt hatte, in Kürze, er habe Freiheit, sein Leben, wie er wolle, einzurichten. Frau Fabrecé weinte. Sie war tief getroffen. Alle ihre Söhne sollten die Jahre oder Monate, die sie noch zu leben hatte – »Nicht doch, Mutter,« rief man ihr zu – fern von ihr verbringen. War es nicht genug an Oliviers Abwesenheit und der beständigen Gefahr, in der der Konsul schwebte? Die Familie war geteilt. Jean-Marc und Armande, stark durch die Unterstützung der Großmutter (einer Siglet-du-Salt), beurteilten Antoine mit unerbittlicher Strenge. Unter dem Einfluß Simones war Sophie für mildernde Umstände. Isabelle, die auf Cyrille hörte, fand sich in ihren Briefen darein, die »Gefährtin« Antoines und ihr bald zu erwartendes Kind, wenn dem so sein müsse, in die Familie aufzunehmen. Die Mutter und der Vater äußerten sich nicht. Jedoch ihre betrübte Miene sprach für sie.

»Ohne Jean-Marc und seinen Hochmut«, schrieb Simone an Isabelle, »würden die Eltern vielleicht nachgeben; aber sein Machtspruch bestimmt. Ich rechne auf Eure Rückkehr, damit Ihr uns, Sophie und mir, zu Hilfe kommt.«

Nachdem die Jacquemer über die Gewissensfrage, die sie quälte, verhandelt und Sicherheit erlangt hatten, daß man ihnen Nénette und Mimi nicht nehmen würde, kamen sie nach Val-Montoir zurück. Aus Vorsicht ließen sie ihre »Töchter« in Jersey, wo sie bis Ostern Pfleglinge des englischen Kollegs sein sollten. Auf diese Weise war kein Aergernis zu befürchten.

Freudig sah man die Jacquemer wieder erscheinen. Von Isabelle ging sittliche Kraft aus und der sanfte Friede ihres Herzens. Die bitteren Auseinandersetzungen verstummten. Um sie sich zu verpflichten – und mit einem Hintergedanken, sie war unverbesserlich, die Gute – wünschte Armande sie sich zur Patin des Kindes, das heute oder morgen ... Daraus entstand eine große Verlegenheit. Isabelle entzog sich ihr, indem sie versicherte, Sophie werde (was der Wahrheit entsprach) schmerzlich berührt sein, sich eines Vorrechts, das ihr zukam, beraubt zu sehen.

Tags darauf, als der Abend dämmerte, ein weicher Februarabend, in jenen Wochen, wenn es schon länger hell ist, brachte die junge Frau ein schönes, kleines Mädchen zur Welt. Das war ein Ereignis! Val-Montoir fand seine rege, festlich frohe Stimmung wieder. Sophie strahlte: ein Kind ihres Jean-Marc, des Familienoberhauptes, des Leiters der Werke. Es schien ihr, als nehme sie durch Vollmacht an einer Mutterschaft teil, wie sie sie nicht kannte und wohl niemals kennen lernen sollte. Der Vater, die Mutter, die Großmutter ihrerseits empfanden die Geburt dieses Enkels und Urenkels als eine neue Fortsetzung ihres Daseins. Ein schwacher Zweig war auf den Stamm gepfropft und verlängerte seine Kraft und seine Dauer in die Zukunft. Simone fühlte das Glück aller mit. In Isabelle erweckte das kleine, vollkommene Geschöpf – Madeleine hatte dickes Haar und zierliche, runde Nägel – den Schauer eines ungestillten, großen Begehrens; ihr Trost war, daß sie nun dennoch Mutter sein durfte und es schon war, indem sie über die Erziehung ihrer Nichten wachte. Aber ein Kind, ein Kind von ihrem Fleisch und Blut, von ihren Hoffnungen, ihren Schmerzen, in dem ihre und Cyrilles tiefe Liebe zueinander sich verkörperte ... Armande war ganz von dem heiligen Rausch, ihrer Tochter die Brust geben zu können, benommen; strahlende Schönheit belebte ihr hübsches Gesicht, auf dem Mutterstolz und Mutterliebe lagen.

Bei der Taufe war alles voll Uebermut, vom alten Gervais bis zu Aljean, von den Kammermädchen bis zu dem Boy, der den Briefeingang der Werke ablieferte. Auch dort wurde die Geburt von Madeleine Fabrecé mit offizieller Wichtigkeit begangen. Die Frauen der Arbeiter schenkten Armande einen Spitzenlatz für den Säugling und Blumen und sprachen die üblichen Glückwünsche aus. Man vergaß darob die Abwesenden. Einzig dem Ehepaar Jean-Marc galten die Huldigungen. Sein Glück erhöhte noch seine Ueberlegenheit, von der die Eltern selbst lächelnd sich neigten. Als man am nächsten Morgen beim Frühstück auf Madeleines Gesundheit angestoßen hatte – niemand trank auf das andere kleine Wesen, das ohne Erlaubnis die Familie zu vermehren im Begriff war – und als man in den Salon ging, Kaffee zu trinken, sah man Gervais mit Briefen und Zeitungen. Herr Fabrecé schlug den »Matin« auf, und verblüfft zog sich sein Gesicht zusammen. Er betrachtete ein Bild mit ungeheurem Titelstreifen darüber. Jean-Marc, der das »Journal« auseinandergefaltet hatte, sah sprachlos dasselbe Bild an. Ein Ruf des Staunens entfuhr ihm: »Das ist doch nicht Florent?« Gespannt umgab man ihn, durch den Ton seiner Stimme wenig beruhigt: »Aber gewiß! Das kann nur Florent sein! Welche neue Verrücktheit! Unglaublich!« Herr Fabrecé redete der Mutter zu. Ja, es war eine zugleich glänzende und sinnlose Ueberrumpelung des jungen, heillosen Toren. Florent hatte ... Aber mit lauter Stimme las Jean-Marc, um die Neugier seiner Schwestern zu befriedigen, ihnen vor:

» Flug von Pau nach Lille in 7 Stunden 41 Minuten.

Diese Leistung hat Colson, ein Neuling in der Aviatik, mit einem Hariel-Monoplan vollbracht.«

»Colson«, sagte Herr Fabrecé, »ist der Name meiner Mutter; und auch die Aehnlichkeit läßt keinen Zweifel bestehen.« Widerstreitende Gefühle waren in ihm, stolze Ueberraschung über die Tat seines Sohnes und Angst in der Erkenntnis, daß dieser sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Bis zuletzt hatte er geschwiegen. Wie einen schlimmen Streich hatte er sein rühmliches Unternehmen vorbereitet, und nun hatte er einen so herrlichen, packenden Erfolg. Daß Florent eines Tages ein großer Mann werden sollte, erregte in seinem Vater Unglauben, Furcht vor einer Schicksalswendung, hohe Genugtuung, den Wunsch, ihn abzukanzeln und ihn leidenschaftlich in seine Arme zu ziehen. Indes ging der »Matin« von Hand zu Hand, und aller Köpfe neigten sich über den, der die unverkennbaren Züge Florents trug. Hals und Armgelenke waren mit leinenen Schutzklappen umwickelt, ein wollenes Polo verdeckte sein Gesicht bis zu den Ohren, und mit beiden Händen hielt er die Lenkstange. Jean-Marc fuhr fort, im »Journal« zu lesen: »Ja, eine wunderbare Leistung hat gestern ein Neuling, ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren, nach dreiwöchigen Uebungen auf dem Flugfeld von Pau vollbracht. Um 3.45 früh aufgestiegen, ist Herr Colson um 7.35 in Poitiers eingetroffen. Regen und Wind haben ihm den Weiterflug, den er nach einer Reparatur an seinem Motor antrat, erst nachmittags erlaubt. Im Aerodrom von Villacoublay hatte er neuerdings eine Panne. Von dort flog er nach Lille ab, wo er 4.20 abends landete. Antoine Colsons ...« »Er hat sich den Vornamen seines Bruders zugelegt,« bemerkte Sophie, gerührt von der brüderlichen Treue des Jüngsten. »Antoine Colsons Durchschnittsleistung in der Stunde sind 125 Kilometer. Von Pau nach Poitiers ist ihm die erstaunliche Leistung von 170 Kilometern in der Stunde gelungen. Mit denkwürdiger Bravour hat er die Schnellzüge von Orléans und Brüssel geschlagen. Er soll einen Rückflug auf derselben Strecke beabsichtigen. Als Herr Colson den Monoplan verließ, war keinerlei Ermüdung an ihm wahrzunehmen.«

Unter feierlicher Stille schloß Jean-Marc. Die mannigfaltigste Wirkung seines Vortrags lag auf den Mienen. Den Gouverneur selbst erfaßte unwillkürlicher Neid, in den sich Bewunderung mischte. Er schätzte die Aviatiker nach jenen Desperados ein, die den Ruhm auf die schwarze Null des Verhängnisses setzen: Triumph oder Tod. Dieser Lotterie der Kühnheit zog er die geduldige Arbeit vor, die Willensausdauer; der kärgliche Kampf war sein Leben. Die jungen Frauen waren wie berauscht. Frau Siglet-du-Salt schien unzufrieden. Sie hielt »das alles« für Unvernunft. Die Mutter war erblaßt, und plötzlich verlor sie zum namenlosen Schreck der Anwesenden die Besinnung. Herr Fabrecé eilte zu ihr. Man schwebte in großer Angst. Nach einigen bangen Minuten kam sie wieder zu sich, und sie weinte über Florents Erfolg, wie sie seinen Untergang beweint hätte. Man umdrängte sie, man tröstete sie. Herr Fabrecé murmelte mit leisem Tadel: »Wenn Florent es wüßte! Seine Mutter hätte daran sterben können.« Traurigkeit lastete auf den Gemütern, wie ein Tag der Sonnenfinsternis zwischen Sonnengluten. Aber sobald man Frau Fabrecé lächeln sah, wurde man wieder froh. Die Huldigung beseelte alle, die man den Eroberern entgegenbringt, den mutigen Lieblingen des Glücks. Allen war es, als vollziehe sich die Wiedererstehung Florents, als habe der Sturm, die von seinem dumpf sausenden Motor zerspaltene Luft den Makel einer leichtsinnigen Jugend von ihm genommen, als habe sein adlergleicher Aufschwung zum Himmel ihn vom Schmutz der Erde befreit. Zu Olivier, zu dem Chinesen, zum Vater, zu Jean-Marc gesellte sich ein neuer Held des Namens Fabrecé.

VIII.

Seit Wochen schien es, als ob Polotzeffs geistige Erkrankung zurückgehe. Er hatte helle Augenblicke, er war gehorsam, bei Appetit und guter Laune, er zeigte die besten Symptome. Dr. Sol, der, durch die bizarre Persönlichkeit seines Patienten interessiert, ihn genau beobachtete, prophezeite zwar keine endgültige Wiederherstellung, aber doch einen beruhigenden Stillstand des Leidens. Methodisch hatte er versucht, Sergius zu überführen, zu reizen, unter der Maske des Zivilisierten das dunkle Geheimnis seines Wahnsinns wieder hervortreten zu lassen. Es gelang ihm nicht. Der Kranke war auf der Hut und vereitelte mit der unglaublichen Verstellungskraft mancher Irren jede Bemühung, ihn zu erforschen. Trotz seines berufsmäßigen Mißtrauens ließ nunmehr der Arzt mit seinem Personal in der Ueberwachung ein wenig nach. Die Schranken, die man Polotzeff zog, wurden erweitert; zu gewissen Stunden durfte er im Privatgarten spazierengehn, man erlaubte ihm, sich aus der Bibliothek Bücher zu holen, und ein- oder zweimal frühstückte er mit Dr. Sol und seiner Gattin. Sie waren der Ansicht, die zuerst unumgängliche Vereinzelung dürfe mit fortschreitender Behandlung durch häufige, rationelle Kontakte gemildert werden.

Inzwischen bereitete Polotzeff mit der Tücke und der Ausdauer der Menschen, in deren Hirn eine fixe Idee wohnt, seine Flucht vor. Er hatte berechnet, inwiefern sie unmöglich sei, aber auch die günstige Chance unter tausenden abgeschätzt, bei der der Zufall mitwirkt, die Minute, das Unverhoffte. Am einfachsten schien ihm, die Mauern des Parks zu überklettern; nur bot sich keine Verwirklichung. Keine Leiter war vorhanden, kein Maurergerät, kein Zimmermannsgerät. Die gestutzten Bäume an der Front des Hauses waren von den Steinen zu sehr entfernt. Auch durch das Wohnhaus des Arztes zu entkommen, war undenkbar. Im Vorderteil des Parks wurde kein Kranker geduldet; der Portier, ein handfester Kerl, bewachte das Gitter und paßte auf, wer eintrat und fortging. Es blieb noch das Nebengebäude, der Durchlaß für Bedienstete und Lieferanten, die Anfahrtsseite für die Krankenautos; hier wollte Polotzeff sein Glück erproben. Der Gang, der von den Privaträumen des Arztes zum Verwalterzimmer und zu den Küchen führte, war immer geschlossen, die schwere Tür war verriegelt; jedoch es brauchte nur einmal ... Am Sonntagmorgen wurde der Pförtner von seiner Frau abgelöst, und diese klatschte mit dem Gesinde, während der Arzt und seine Gattin mit den die Religionsgebräuche einhaltenden Patienten am Gottesdienst in der Kapelle teilnahmen.

Dreimal in zwei Monaten ging Polotzeff zur Unzeit vor; beim drittenmal – es war am Tage nach Florents rühmlicher Tat – nahm er die Gelegenheit mit unerhörter Willenskraft und unerhörtem Erfolg wahr. Alles ging ihm wunderbar von statten: er drang in das Arbeitszimmer des Doktors ein, durchwühlte die Schubläden, raffte ein paar Banknoten und Gold zusammen, schlich in den Speisesaal, steckte unter seinen Rock ein großes Brotmesser und eilte durch die Verbindungstür zum Gang hinaus. Als er vor der Tür des Verwalterzimmers vorbeikroch, rief eine Stimme ihn an: »Bist du es, Bernard?« Er grunzte nur. In einer Waschkammer bemerkte er weiße, gebügelte Jacken der Köche. Er legte eine um, setzte sich eine weiße Mütze auf den Kopf und erreichte, ohne angehalten zu werden, den rückwärtigen Hof. Gerade wurde das Tor aufgetan, um einen Leichenwagen durchzulassen. Ein Toter sollte begraben werden, ein ehemaliger Domänendirektor, der seit siebenunddreißig Jahren irrsinnig gewesen war. Polotzeff drängte sich auf die dem Pförtnergelaß gegenüberliegende Seite. Er war auf der Straße, er war gerettet.

Seine Flucht wurde nicht sofort entdeckt; Sonntags war die Hausdisziplin in der Anstalt lockerer. Ein Autoomnibus fuhr vorüber. Er sprang hinauf und stieg im Templeviertel ab. Bei einem Barbier ließ er sich den Bart rasieren, der während seiner Zellenhaft gewachsen war, bei einem Trödler kaufte er einen olivengrünen Ueberrock und einen weichen Hut, und seine Pantoffeln vertauschte er mit Schnürschuhen. Nun sah er erträglich aus. Er wandte sich der Gare de Lyon zu. Dann ließ er sich, da ihm einfiel, man werde die Polizeikommissariate an sämtlichen Bahnhöfen telegraphisch benachrichtigen, von einem Auto bis zur Stadtgrenze fahren, die er zu Fuß überschritt. Er schlug die Richtung nach Villeneuve-Saint Georges ein, von wo er mit der Bahn bis Thomery fahren wollte. So dumm war er nicht, in Fontainebleau abzusteigen und der Polizei ins Garn zu gehn! Von Thomery wollte er durch den Wald hindurch nach Val-Montoir, bis vor die Zimmer Simones, und dort ... Elastisch schritt er aus, in vorgebeugter Haltung, vor sich hinstarrend, als ob sein Blick vom Ziel der Reise magnetisiert sei ... In Villeneuve nahm er ein Billett dritter Klasse. Drei Soldaten, eine Bäuerin und ein Kind befanden sich im Wagen. Von Zeit zu Zeit tastete er unter seinen Kleidern nach dem breiten, scharfen Messer, das ihm die Rocktasche durchstochen hatte und, von der Weste gehalten, ihn zwang, aufrecht dazusitzen. Sollte er nur Simone umbringen? Nein, auch Betty und Iwan. Er zog durch die Nase die Luft ein; wie gut sollte ihr Blut riechen, ihr schönes, rotes Blut! Er wollte sie mit Stichen übersäen, bis ihm der Arm wehtat, dann ihnen den Bauch öffnen und in ihre warmen, klebrigen Eingeweide seine Hände tauchen; und lachen wollte er! Sie sollten es ihm schon heimzahlen, daß sie ihn eingesperrt hatten. Und mit höchster Lust wollte er zum Abschluß seiner lieben, hübschen, kleinen Simone die Augen ausstechen. Er aß und trank in einer Dorfschenke, Brot, Wein und Käse. Jetzt lief er in trübem Dämmerlicht die Seine entlang, mit dem gleichen, beharrlichen Schritt wie zuvor und mit der seelenlosen, furchtbaren Präzision des nahenden Verhängnisses.

Als Florent in Lille eintraf, beglückwünschte ihn Henri Le Jas. Ihm allein hatte der junge Mann Nachrichten zukommen lassen; er hatte im Geist sein Training miterlebt und seine ehrsüchtige Hoffnung. Florents Sieg hatte ihn mit maßloser Freude erfüllt. Auch er sah in diesem Heldenmut einen Freispruch. Aus der Ferne war er der Vertraute seiner Irrungen, der Berater einer besseren Tätigkeit gewesen. Er wußte, daß Simones Bruder das Blut der Fabrecé nicht verraten konnte. Nicht ohne Schwierigkeit war Florent den Journalisten entronnen, den Neugierigen, den offiziellen Besuchern, einer Flut von Telegrammen und einem improvisierten Ehrenbankett in der Präfektur, den schönen Frauen, die ein Autogramm von ihm und sein Lächeln erbettelten, den Dienstwilligen, die ihm halfen, seinen Apparat mit der Bahn zurückzutransportieren. »Warum sollten Sie so bald das Glück wieder versuchen?« hatte der Arzt gesagt; und ein gräßliches Wetter stand für die nächsten Tage bevor.

Jetzt plauderten sie vergnügt in einem Zimmer des Hotels Zum Hirschen, bei einem Steinkohlenfeuer, indes auf einem runden Tisch der Samowar kochte. Sie betrachteten sich, und jedem schien es, als habe der andere sich verändert. Florent war abgemagert, und seine Wangen glühten vom Feuer des Willens, Le Jas war in dem behäbigen Brüsseler Leben ein wenig dicker geworden; und dennoch waren sie dieselben, als die sie sich gekannt und geliebt hatten: der von zäher Leidenschaft strotzende Florent und der gemessene, ruhig starke Henri, mit seiner treuen Liebe im Herzen. Florent beichtete, wie er versucht worden sei, Aviatiker zu werden, und wie sein Hang zur Mechanik ihn neuerdings überwältigt habe. Stunden hatte er inmitten der Arbeiter zugebracht. Fasziniert hatten ihn die Piloten, die fast alle noch jung waren und aus den verschiedensten Beweggründen sich ihrer Mission weihten. Berufsmäßige Sportsleute waren darunter, die Pokale und Preise wollten, Ingenieure und Mechaniker, die nach technischer Vervollkommnung und Patenten trachteten, junge, reiche Müßiggänger und wurmstichige Intellektuelle wie der erstaunliche Bruchal, der von Marseille bis Korsika geflogen, ein zweites Mal in Neapel gelandet und beim drittenmal vor Chios ertrunken war. Er schilderte seine Sensationen als Libellenmensch, das leise Krachen der Holzverschalung, das Rauschen der großen Leinenflügel, das Getöse des Motors und der pfeifenden Luft, das unvermutete Einsetzen der Gegenwinde, die nackte Einsamkeit in den Höhen, die Trunkenheit des Flugs, die keiner andern gleicht, die an die Raserei des Lebens erinnert und an den Taumel des Todes. Als Karriere vermochte er offenbar dieses hitzige Spiel, diesen großartigen Sport sich nicht zu wählen; doch wenn er nur die Bejahung seines Willens und das Bewußtsein seines Wagetriebs dadurch gewann, so war ihm das eine herrliche Schulung für die Zukunft. Die Tat in ihrer schönen Energie und mit ihrem betörenden Zauber war ihm erschlossen worden. Hinfort konnte er sich nicht in unfruchtbaren Fieberträumen verzehren; er wollte Leben schaffen, ein Mann sein, er war es schon. Mit schweigendem Beifall hörte der andere ihm zu.

»Aber«, fuhr Florent fort, »jetzt haben wir genug von mir gesprochen ...« Le Jas fragte ihn weiter aus, begierig, ihn von seiner Familie, von Val-Montoir reden zu hören. Zum Unglück wußte Florent nichts mehr, außer daß Simone litt, ohne es zu sagen. »Und nun, Freund, erzählen Sie mir von sich!« Le Jas blickte ihn an: »Auch ich leide; doch – wollen Sie es glauben? – seit ich die Möglichkeit eines Auswegs sehe, habe ich die Hoffnung nicht verloren. Vielleicht ist meine Freiheit, die nur eine Frage der Zeit ist, für Ihre Schwester von guter Bedeutung.« Er fügte nähere Angaben hinzu. Das Verfahren bei den vatikanischen Gerichten war eingeleitet; er trug die moralischen und die prozessualen Kosten. In sieben Monaten durfte die Ehe für ungültig erklärt, drei Monate später die Scheidung verkündet werden. Zu Ausgang des Sommers würde er seiner Ketten, die so zerbrächen, ledig sein. Florent fragte ihn: »Warum wollen Sie mich nicht nach Val-Montoir begleiten? Alle wären froh, Sie zu sehen.« Doch Le Jas wehrte die Versuchung ab; er wolle sich nicht aufdrängen, die Lage Simones erfordere Rücksichten. In Wahrheit hatte er Furcht vor sich selbst, Furcht, nutzlose Leiden in ihnen beiden wiederzuerwecken. Sein Zartgefühl vor allem hielt ihn zurück, das Versprechen, das er der Geliebten gegeben hatte, sie nicht mehr an der Stätte ihrer Qual, von der es noch keine Befreiung gab, aufzusuchen. Unerwartet kamen abends Herr Luce und Frau im Automobil zum Hotel; sie wünschten Florent kennen zu lernen, einen jener Fabrecé, von denen Le Jas ihnen so viel berichtet hatte, und sie luden ihn ein, mit ihnen einen Tag in Brüssel zu verbringen. Florent, den die ernste Milde von Frau Luce gewann, lehnte unter Hinweis auf die Ungeduld seiner Familie ab; die Depeschen seines Vaters und seines ältesten Bruders beriefen ihn zurück.

Tags darauf reiste er nach Paris, und trotz seiner Bitten war Le Jas standhaft genug, sich ihm nicht anzuschließen. Lange sah er vom Bahnsteig aus dem verschwindenden Zuge nach und erwiderte mit der Hand Florents Abschiedsgruß. Seltsame Traurigkeit bedrückte sein Herz, die mit ohnmächtiger Hoffnung wechselte. Wozu sollte er einem nutzlosen Schmerz entgegengehn, da doch zu Simones Ungemach ihr Gatte lebte und mit seinem Leib den Weg versperrte?

 

Um halb 7 Uhr abends kam Polotzeff nach Val-Montoir. Die Umstände waren ihm hold; das Gittertor war angelehnt. Des Sonntags wegen war der Portier nicht da, seine Frau hatte im Schloß zu tun, die Hunde waren noch nicht los. Von einem Gebüsch zum andern sprang Polotzeff dem Hause zu. Er kannte es gut. In zwei Sätzen stürmte er über die Freitreppe. Vom Speisesaal schallten Stimmen; man saß gerade bei Tisch. Niemand begegnete ihm auf der Treppe und den Gängen. Ungehemmt gelangte er zu Simones Stube; er versteckte sich in einer Kleiderkammer. Eine geraume Zeit verrann. Mit listiger Geduld horchte er auf jede Regung. Jemand betrat das Waschkabinett; es war wohl ein Hausmädchen. Jenseits des Verschlages schnitt eine helle Scheibe den oberen Teil der Wand ab; er hörte die Stimme der Amme, die Iwan schalt, dann ein Geräusch von Porzellan und Wasser; der Knabe wurde zur Ruhe gebracht. Betty schlief gewiß im Zimmer der Mutter. Wiederum verrann Zeit. Plötzlich erlosch das Licht hinter der Scheibe, die Amme ging. Polotzeff überlegte, ob er nicht seine Kinder unverzüglich töten solle. Er sah Bettys runden, dicken Hals, Iwans magere Brust vor sich, und er sagte sich, in dieses zarte Fleisch werde das Messer dringen wie in schmelzendes Wachs.

Die Tür zwischen Simones Gemach und dem Kinderzimmer krachte. Er erkannte den leichten Schritt seiner Frau. War jemand mit ihr? Stimmengeflüster: Simone und Isabelle? Nichts mehr. Simone mußte allein sein. Er wartete, bis sie in das Waschkabinett ging. Aber sie las oder schrieb wohl, denn eine Stunde, zwei Stunden verstrichen, ehe sie aufstand. Er hatte sein Messer hervorgeholt, er strich über die Schärfe und verletzte sich mit der Spitze den Finger; ein Tropfen salzigen Blutes quoll, den er mit Behagen einsog. Jetzt endlich – ein gelber Streifen unter der Tür. Simone war im Waschkabinett. Er preßte mit der Linken den Türgriff nieder, mit der Rechten schwang er, jäh erscheinend, das Messer. Sie drehte ihm den Rücken zu, und so sah sie ihn im Spiegel; in ihrem Schreck wandte sie sich nicht sofort um. Das rettete sie. Von ihren nackten Schultern gebannt, ging Polotzeff vor, ohne auf seine Füße zu achten. Er stolperte gegen einen Schemel, und Simone, die wieder zur Besinnung kam, stürzte in ihr Zimmer, indem sie mit aller Kraft die Tür zuhieb. Aber ihre Hände bebten so, daß sie weder den Schlüssel umdrehen noch den Riegel vorstoßen konnte; sie stemmte sich gegen den Türflügel, den Polotzeff mit krummer Schulter bereits einstieß. Sie hielt sich für verloren. Nirgends eine Waffe, und die Glieder von Furcht gelähmt! Wie unter nächtlichem Alpdruck, wenn man außerstande ist, um Hilfe zu rufen, kämpfte sie stumm, mit gewürgter Kehle, den Todeskampf. Da hatte sie einen Einfall; sie glitt fort. Von seiner Wucht mitgerissen, rannte Sergius im Zimmer gegen einen Wandschrank. Den kurzen Aufschub benutzte Simone, um zur Flurtür zu laufen. Sie wollte fliehen und so die Gefahr, die über den Häuptern ihrer Kinder schwebte, von ihnen ablenken; wenn er zustieß, dann starb sie allein. Er raste hinter ihr her, und sie galoppierte unter furchtbarem Schreien weiter: »Mörder! Feuer! Rettet mich!«

Einem Instinkt folgend eilte sie Jean-Marcs Wohnung zu, hinter sich den Atem und das Gebrüll des Wahnsinnigen. Eine Treppe – sie raste hinab. Als sie unten war, hörte sie das Poltern eines Sturzes, neben ihr zuckte ein Blitzstrahl, das Messer, das aus Sergius' Hand sich gelöst hatte. Er hatte zwei Stufen verfehlt, mit dem Fuß sich in der Rampe verfangen und lag nun mit dem Kopf abwärts da, indes er toll sich zu befreien strebte. Der Lärm sich nähernder Frauen klang mit dem Schreien Simones zusammen, die geistesschnell genug war, das Messer zu haschen. Herr Fabrecé und Bernard, die aus ihren Zimmern herauskamen, stürzten sich auf Polotzeff; Bernard packte seine Hände, der Vater hielt seine Füße fest. Jedoch der kauernde Polotzeff reckte sich empor. Mit einem Fußtritt schüttelte er Bernard ab, mit der Faust drängte er Herrn Fabrecé zurück, und durch den Gang im Erdgeschoß lief er zum Billardsaal, dessen Fenster er aufriß, um in den Garten zu springen. Die Menschenjagd begann. Mit dröhnender Stimme rief Jean-Marc: »Die Hunde! Die Hunde loslassen!« In einem letzten Gefühl weiblichen und mütterlichen Erbarmens flehte Simone: »Tut ihm nichts!« Polotzeff sprang wie ein Hase; die angeketteten Hunde heulten vor verzweifelter Wut. Er stieß an das Gitter, das nun verschlossen war. Er versuchte, das Dach der neuen Garage zu erklimmen, und als er davon abstehen mußte, lief er die Mauer entlang, als hoffe er, eine Bresche zu finden. Jean-Marc, der ihm behend zuvorkam, trieb ihn auf Bernard zurück, indes der Gärtner, mit einer Gabel bewaffnet, ihm die Umkehr verstellte. In jähem Bogen warf Polotzeff sich wieder gegen das Haus. Er verschwand an einer Ecke und stürmte am Ufer des Flüßchens dahin. Als er die ländliche Brücke passieren wollte, strauchelte sein Fuß über den Rand des großen Beckens, dessen Wasser wie ein Abgrund strudelte. Jean-Marc hielt ihm eine Stange hin, die er lieber auf seinem Kopfe zertrümmert hätte. Der Gärtner versuchte ihn an seinen Kleidern hochzuhaken. Aber Polotzeff klammerte sich nicht an und erwiderte die Zurufe nicht. Von Kälte erfaßt, sank er, nachdem er mit Arm und Bein rasend um sich gehauen hatte, und nach dumpfen Röchellauten in die Tiefe.

Einst hatte Simone sich in dieses Becken gestürzt, vor Verzweiflung, daß sie ihn nicht heiraten sollte. Nun gab in tragischer Wiederholung das Wasser ihm den Tod. Einige Minuten darauf wurde er bei fahlem Laternenschein, triefend, mit gräßlichem Antlitz, im Beisein zweier Irrenwärter, die angekommen waren, herausgefischt. Dr. Sol hatte, da er erriet, daß Polotzeff in Val-Montoir einen verhängnisvollen Besuch abstatten würde, sie nachgesandt. Sie kamen zu spät. Unauffällig schaffte ihr Auto den in eine Decke gewickelten Leichnam fort.

Am nächsten Morgen traf Florent ein. Sobald es ihm möglich war, telegraphierte er an Le Jas: »Sergius ist tot. Kommen Sie!«

IX.

Henri Le Jas reiste nicht ab. Scheu hielt ihn zurück, nun da der Mann tot war, mit dessen Verschwinden die Knebelung Simones ein Ende hatte. Mußte er ihr nicht Zeit lassen, so furchtbare Erschütterungen zu überwinden? Hatte er ein Recht, durch seine zu frühe Anwesenheit sie zu vermehren? Er wollte, daß Simone in besonnenem Einverständnis, nicht in wirrem Taumel die seine würde; aber während langer Wochen war sein Leben kein Leben mehr. Sein Herz tobte, sein Inneres war aufgewühlt. Durch das nie erhoffte Unglück gerettet, war Simone der Welt der Lebendigen wiedergewonnen. Er selbst konnte in ein paar Monaten frei sein. Ein Jahr noch, und in demselben November erlaubten, wenn sie bereit war, Gesetz und Sitte ihnen die Ehe, deren zärtliches Traumbild ihn umgaukelte. Er durfte dann der Führer sein, der Beschützer, der Gefährte, der zu werden jener Unselige außerstande gewesen war. Mit dem ganzen Vermögen seines Geistes, von ganzer Seele wollte er sich der Erziehung der Kinder widmen, denen eine höhere Aufsicht fehlte. Und wenn sie andere Kinder bekämen, sollten die ersten diesen nicht geopfert werden; denn für ihn blieben sie der Sohn und die Tochter nicht eines hassenswerten Mannes, sondern der schwärmerisch geliebten Simone. Er sehnte sich nach einem Wort von ihr. Aber sie schrieb nicht. Sie gehorchte dem gleichen Bedenken des Zartgefühls, und sie war ihrer gegenseitigen Liebe gewiß. Florent hatte ihm kein Lebenszeichen mehr gegeben. Er war wieder nach Pau gefahren, wo er nach seinem Aeroplan zu sehen hatte. Nach fünf Wochen entschloß Le Jas sich, auf einen kurzen Brief Jean-Marcs hin, der als Familienoberhaupt, von den Eltern ermächtigt, ihm das tragische Ereignis meldete und ihm mitteilte, daß man wie einst in Val-Montoir ihn freundschaftlich empfangen würde. Schnell packte er seinen Koffer. Jean-Marc schrieb nichts von einem Umschlag in den Empfindungen seiner Schwester. Sie erwartete ihn also. Frau Firmin Luce und ihr Gatte nahmen an seinem verhaltenen Glück teil. Er machte in Paris nicht erst Station und stürzte von einem Bahnhof zum andern, um zu später Nachtstunde in Fontainebleau auszusteigen. Er ging ins Hotel, und morgen wollte er Simone wiedersehen.

Kaum war er eingeschlummert, als durch die Fensterläden ein violetter Schein drang, der dem Nordlicht glich. Lärm von der Straße, Schritte in den Gängen weckten ihn auf. Er eilte ans Fenster. Dragoner trabten vorbei, Dampfspritzen rollten, und in einer nahen Kaserne bliesen die Trompeten Alarmsignale. Ein Kellner, den er fragte, gab ihm Bescheid: »Ach, die Fabrecé-Werke brennen!« Hastig zog Henri Le Jas sich an und erkundigte sich weiter. Man wußte nicht recht. Widerspruchsvolle Gerüchte gingen um; Brandstiftung oder unglücklicher Zufall. Die gesamte Garnison war auf den Beinen, aber das Feuer wuchs, und an Wasser fehlte es. Jetzt war der Himmel rot. Schwere Rauchwolken wälzten sich über ihn, die der Wind in Spiralen zu Boden drückte oder in Büschen aufflattern ließ. Le Jas sprang in einen vom Unterpräfekten, vom Staatsanwalt und mehreren Amtspersonen bestellten Hotelomnibus, in den man seines Titels und seines Namens wegen ihn aufnahm. Mit schmerzlich zusammengekrampftem Herzen näherte er sich dem Ort der Katastrophe. Jedes Wort, jede Nachricht war unheilschwanger. Der Brand hatte die Schuppen der kinematographischen Anstalt erfaßt, die voll entzündlicher Stoffe war. Dort war die Verheerung reißend gewesen. Schon brannten die drei Hauptflügel der Maschinenhalle, der Druckerei und der Lithographie, ein purpurroter Glutherd, hohe Flammenmauern mit funkenknisternden Kämmen. Die unerträgliche Hitze versengte das Gesicht und blendete. Dumpfe Explosionen tönten in ein schreckenerregendes Murren; an dem weißglühenden Krater wurden hier und dort gelbe und blaue Farben sichtbar. Henri Le Jas fand die Behörden bei einer Konferenz. Der Dragoneroberst und zwei Infanteriekommandanten erteilten nutzlose Befehle. Soldaten und Feuerwehrleute versuchten die Arbeiterwohnungen zu retten, Dragoner halfen, die vor Angst sich bäumenden Pferde aus den Ställen zu ziehen. Pioniere fällten, von Waldhütern unterstützt, zum Schutze des Waldes die Bäume. Aber die Dampfspritzen hatten keinen Druck, die Wasserleitungen waren geborsten, die Löschgranaten waren bei der Ausdehnung des Brandes wirkungslos. Von weitem kenntlich, eilten Jean-Marc und Herr Fabrecé hin und her, schwarze Schatten auf gluthellem Grunde. Oefters mußte man, durch Ueberredung oder mit Gewalt, sie entfernen; denn die Dächer wankten, und es war gefährlich, an sie heranzukommen.

Herr Fabrecé, der sich mehr beherrschte, erkannte Le Jas und reichte ihm die Hand: »Welche Prüfung, Freund!« Seine Augen standen voll Tränen, und zum erstenmal beugte sich seine hohe Gestalt unter der Wucht des Schicksalsschlages. Er sah die Zerstörung seines sichtbaren Lebenswerkes. Vierzig Jahre seines Daseins waren diese Stadt aus Stein und Eisen mit ihrem ungeheuren Arbeitsmaterial, die mit menschlichem Geist durchtränkten Papierlager, alles, was da in feuriger Schlacke versank, wie glühende Schlangen sich rollte, als ungezählte Schmetterlinge entflog, um in einem Regen dunkler Flammenpfeile zurückzufallen. Neben ihm stand der Faktor Gibal mit dem Spitznamen »der Bulle«. Stumpfsinnig, mit gespreizten Armen und Beinen, wie ein Tier im Schlachthaus, sah er der unermeßlichen Verwüstung zu. Verzweifelt rang Jean-Marc, der herankam, die Hände: »Da, Henri, da gehen die Fabrecé-Werke in ein Nichts auf!« Brüderlich umarmte ihn Le Jas. »O,« rief Jean-Marc – er war barköpfig, seine Augenbrauen waren verbrannt, sein Rock war zerrissen – »wir haben noch Glück dabei! Kein Tod ist zu beklagen!« »Weiß man, wie es geschah?« »Nichts. Vielleicht wird die Untersuchung ermitteln, wer schuld ist. Das Feuer ist in dem Essenz- und Petroleumlager entstanden, das Tag und Nacht bewacht und sorgfältig abgesperrt wird. Der Wächter sah, wie die Flammen aus einer Dachluke aufzüngelten. Er hat das Alarmsignal gegeben. Mit unglaublicher Schnelligkeit hat das Feuer sich in den Werken verbreitet.« Und über den Gram seines Vaters betroffen, setzte er hinzu: »Bleibe doch nicht mehr hier, es ist nichts mehr zu wollen!« Herr Fabrecé lächelte und antwortete nicht. Einmütige Sympathie umgab den Greis. Rauhe Männer weinten; die Offiziere nahmen die Kopfbedeckung ab, als seine Töchter, Isabelle und Sophie, schwarzgekleidet, ihn aufsuchten und mit sich führten, der Unterpräfekt und der Staatsanwalt begleiteten ihn zum Wagen. Er wehrte sich nur schwach. »Komm', Vater,« sagten die Töchter, »komm', Mama zu beruhigen!« Es brauchte dieser Worte, um ihn endlich zu bestimmen. »Gehn Sie mit ihm, Freund,« bat Jean-Marc Le Jas. »Ihre Gegenwart ist hier nutzlos und wird ihnen wohltun.«

Jean-Marc kehrte auf seinen Posten zurück. Aber er konnte nur die Vergeblichkeit seiner Anstrengungen feststellen. Zwei Stunden lang hatte er seine ganze Umsicht entfaltet, sich vervielfacht, sich unablässig Gefahren ausgesetzt. Es war nicht möglich, die nun gleichfalls brennenden Arbeiterhäuser zu retten, die von tragischen Silhouetten in Hast geräumt wurden; Fetzen und Matratzen warfen sie auf die Steine. Man hoffte, die angrenzenden Wälder, den Forst vor der Lohe zu bewahren; das war alles. Von den Werken blieb nichts; sie wurden das Opfer weniger Stunden. Mit gespanntem Antlitz, mit zusammengezogenen Brauen und stumm sah Jean-Marc den Brand, gegen den umsonst die dünnen Strahlen aus den Dampfspritzen zischten, triumphieren. Zum erstenmal zermalmte ihn das trostlose Gefühl einer Niederlage, die Demütigung des Besiegten. Nie hatte seine machtgewohnte Hoffart einen solchen Zusammenbruch geahnt. Hinter ihm drängten sich in unruhigen Gruppen, ängstlich und ratlos, die Abteilungschefs und die Faktoren, oder sie standen in regungsloser Bestürzung da. Man wagte ihn nicht mehr anzureden, man achtete seinen stolzen Gram. Eine kleine Hand schob sich unter seinen Arm: er erkannte Armande. Zum drittenmal war sie, die er ausdrücklich nach Val-Montoir geschickt hatte, in leidenschaftlicher Hingabe unbotmäßig. Sie kehrte zu ihm zurück und bat ihn flehentlich, sich von diesem Schauspiel loszureißen. »Nein, nicht eher, als bis die letzte Glut erloschen ist.« »Dann verlasse ich dich nicht mehr.«

Plötzlich spähten der und jener zum Himmel empor, und man tuschelte: »Ein Aeroplan!« Seltsame Ueberraschung; vom fernen Horizont schien eine Riesenlibelle herzufliegen, als zöge das Feuer sie magisch an. Man sah die Formen eines Monoplans. Der ungeheure rote Glanz umgab ihn mit hellem Schein und umriß den Piloten wie im Licht der Sonne mit klaren Strichen. Es war zu befürchten, von der Hitzwelle hochgehoben und vielleicht ohnmächtig, seinen Flug zu lenken, werde er in das feurige Viereck hinabtaumeln und lebend darin verbrennen. Doch nach einer oder zwei Schwankungen, deren Ursache wohl der furchtbare Anblick war, beschrieb der Monoplan eine Schraubenlinie und landete auf dem freien Platz, wo man die Bäume gefällt hatte. Die Menge rannte hin. Ein kleiner Mann streckte nach Jean-Marc und Armande heftig die Arme aus. Es war Florent. Seine waghalsige Kühnheit führte ihn den Seinigen wieder zu, die er unangemeldet hatte heimsuchen wollen, und die er nur wiederfand, um sie in ihrem Leid zu trösten und ihnen diesen Trost umsonst zu spenden. Jean-Marc dachte an die Abwesenden, an Olivier, Jacques, Antoine, an die drei Brüder, deren Gegenwart in dieser bitteren Stunde ihnen eine Erleichterung gewesen wäre. Er öffnete Florent die Arme, und nun erst schluchzte er.

Hinter ihm stand Bernard, der eilends von Val-Montoir kam. Er vermochte die neue Unglücksbotschaft nicht zu bestellen. Niedergeschmettert, schaute er mit den Augen eines treuen Hundes, der eine unmögliche Hilfe heischt, von einem zum andern. Im Hause hatten Herr Fabrecé und seine Töchter Frau Siglet-du-Salt und Frau Fabrecé allein in deren Zimmer gefunden. Beide schliefen sie in Sesseln einander gegenüber. Sie waren von der Erregung zerbrochen, unsagbar müde von all der Angst. Die Großmutter hatte, als sie sie hörte, ihre hellen Augen wieder aufgemacht. Die Mutter, deren schönes Antlitz der Feuerschein bestrahlte, blieb unbeweglich. Herr Fabrecé erfaßte ihre Hand und seufzte. Sie schlief, schlief für immer. Ein Herzschlag hatte sie in den großen Schlaf hinübergeleitet, von dem niemand erwacht.

 

Zwei Tage nach dem Begräbnis kam Antoine. Er fand die Familie in Tränen. Man umfing ihn mit nicht mehr erhoffter Zärtlichkeit, und nur die herbe Trauer, die über Val-Montoir lag, hinderte ihn, die Süßigkeit dieser Aufnahme zu empfinden. Mit Mühe erkannte er seinen Vater; er war um zwanzig Jahre gealtert, verfallen und gebrechlich. Dem Schlag, der sein Werk zerstörte, hätte Herr Fabrecé standgehalten, aber der Tod seiner Gefährtin vernichtete ihn. So groß war seine stumme Verzweiflung, daß seine Kinder ihn keine Minute allein ließen, in Angst, er werde sich töten. Man erinnerte sich an seine Worte, man wußte, daß er das Scheitern seines Glückes kaum überleben würde; unlösliche Gemeinschaft hatte ihn mit der geliebten, hochgesinnten Gattin verbunden. Die Begegnung mit Antoine flößte ihm wieder Interesse ein: »Wir sind unglücklich, Kind. Recht, daß du zu uns zurückgekehrt bist!« Gerührt und achtungsvoll küßte Antoine ihm die Wangen, und alle traten hinzu. Warum waren Jacques und Olivier nicht hier, Nénette und Mimi? In solchen Stunden wird eine große Familie sich ihres Zusammenhangs bewußt; Not eint die Seelen mehr noch als Freude. Herr Fabrecé richtete auf Antoine einen gütigen, matten Blick und sagte: »Sind deine Frau und dein Kind nicht da?« Antoine entgegnete: »Ich hätte mir nicht erlaubt, Vater, sie ohne dein Geheiß zu bringen.« »Wo sind sie denn?« »Auf der Straße, vor dem Tor.« Er hatte sie draußen gelassen wie Arme, die im Staub zu dem ihnen verschlossenen, schönen Landgut hinüberspähen. Friedlich, ohne falschen Stolz und falsche Demut, gab Jenny-Rose, an der Böschung sitzend, ihrem Kinde die Brust. Sie so vor ihrem Hause anrufen zu müssen – sie, die doch die Gattin ihres Bruders war – das tat allen weh. Das Unglück hatte die rauhesten Herzen erweicht; Jean-Marc zitterte, Armandes Wimperhaar zuckte, als wollte sie aufschluchzen, während Sophie mit rotgeweinten Augen sich schneuzte. Da sprach der Vater: »Deine Mutter, lieber Antoine, hatte sich nochmals für dich verwendet. Ihren Wunsch erfülle ich; und heute ist es auch der meinige, wenn ich dir sage, daß der Platz deiner Frau und deines Sohnes hinfort in Val-Montoir sein wird. Du sollst Jenny-Rose heiraten und dein Kind legitimieren. Hole sie!« Einige Minuten später betrachteten Sophie, Isabelle, Simone gerührt Armande und Michette, die in lächelndem Tausch jede das Kind der anderen auf den Knien hielten, Michette die kleine Madeleine, Armande den pausbackigen Jungen, der (was allgemein bemerkt wurde) den Kinderbildnissen des Vaters erstaunlich glich. Er hieß Pierre wie sein Großvater.

Jean-Marc sprach nunmehr zum Familienoberhaupt, zum Meister, um den alle einträchtigen Herzens sich scharten: »Vater, der Schmerz, der uns befallen hat, ist unheilbar. Nicht mehr wird die Frau, die wir beweinen, unser Gewissen mit ihrem schönen, guten Blick erleuchten. Aber ihre Seele, das bezeuge ich, weilt mitten unter uns. Vater, sie rät uns zur Entsagung und zur Kraft des Willens. Sie trägt uns auf, dein Werk wieder erstehen zu lassen und es fortzusetzen. Hilf uns, wir wollen tapfer sein. Wir können – es ist wenig und viel – die Werke neu begründen. Morgen wird der verbrannte Boden umgegraben werden; in sieben Monaten steigt der neue Bau aus der Erde. Wir wollen den Arbeitern durchhelfen, die unsre bescheidenen, emsigen Genossen waren. Den Verlust wird die Versicherung decken. Ich verpflichte mich, Freunde, in einem Jahr leben die Fabrecé-Werke, ragend wie zuvor, wieder auf. Und du, Vater, sollst es erleben. Das bist du uns schuldig, unserm Namen, deiner Vergangenheit, unsrer Mutter!«

Sanft erwiderte Herr Fabrecé: »Ich werde versuchen, bis dahin am Leben zu bleiben.« Aber er glaubte es nicht, und instinktiv wandten die tränenfeuchten Blicke aller sich den Neugeborenen zu. Armande hatte ihre Tochter wiedergenommen, Miche ihren Sohn. Olivier war fern, Jacques noch ferner, Thérèse ruhte im Kirchhof. Aber diese zarten und kraftvollen Geschöpfe lebten und ergänzten schon die Lücken. Ueber das unvermeidliche Leid hinaus, über den Tod hinweg führten diese Kinder den Stamm fort. In ihnen wie in ihren größeren Brüdern, Schwestern und Vettern bildete sich zu dieser tiefen Stunde das künftige Schicksal der großen Familie, der gebeugten, doch starken Fabrecé.

 


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