E. Marlitt
Das Heideprinzeßchen
E. Marlitt

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30.

Eine blendende Helle breitete sich jetzt über die weiten Gärten; wie aus klingendem Silber geschnitten, schwebte die Mondscheibe scharf abgegrenzt am kalt gläsernen Himmel. Ich schritt über die Brücke. Drunten lag schlangenhaft gleißend der erstarrte Fluß zwischen dem blätterlosen Ufergebüsch, und im Boskett stäubte silbernes Geflimmer von den Zweigen. Die steinernen Titanen des Teiches lagen nicht mehr auf blauer Samtdecke – ein riesiger Eisbrillant trug sie in seiner Mitte, und sie hatten Schneeturbane über den bärtigen Gesichtern, und das leichtgeschürzte Florgewand der frierenden Diana säumte dicker, weißflockiger Winterpelz. Und alle Konturen des architektonischen Schmuckes auf dem Rokokoschlößchen hatte Frau Holle mit ihrem Federweiß zart und weich nachgemalt und auf dem Balkon vor den Glasthüren ein hochschwellendes, fleckenlos weißes Polster niedergelegt ... Wie kindlich harmlos war meine erste Vorstellung von dem Geheimnis der versiegelten Zimmer gewesen – ich hatte das Märchen drinnen wandeln sehen! Und nun waren es eine Handvoll Papiere, die da spukten, und von denen zwei schrankenlos ehrgeizige Menschen erwarteten, daß sie ihnen in der That das goldene Zauberthor öffnen sollten, aus welchem ihnen mühelos die Schätze der Welt in den Schoß fielen.

Ich sah hinauf nach dem Fenstern der Bibliothek. Die Lampe brannte noch auf dem Schreibtische, aber über den Plafond hin flog ein hastig auf- und ablaufender Schatten – das war mein Vater – er schien unruhiger und aufgeregter als je. Beklommen stieg ich die Treppe hinauf – die Bibliothek war verschlossen. Zwischen die unaufhörlich das Zimmer durchmessenden Schritte klang dumpfes Gemurmel, und hier und da schlug mein Vater mit knöcherner Faust auf die Tischplatte, daß sie dröhnte.

Ich klopfte und bat ihn, zu öffnen.

»Laß mich in Ruhe!« rief er rauh und heftig drinnen, ohne sich der Thür zu nähern. »Gefälscht, sagt ihr?« – Er stieß ein gellendes Gelächter aus. – »Kommt her und beweist! ... Aber thut eure Stecken weg! ... Was schlagt ihr mich denn auf den Kopf? ... Oh, mein Gehirn!«

»Vater, Vater!« rief ich angstvoll.

Ich wiederholte meine Bitte, mich einzulassen.

»Gehe – quäle mich nicht!« rief er ungeduldig und wanderte wieder tiefer in das Zimmer hinein.

Ich mußte gehorchen, wollte ich ihn nicht noch mehr reizen, und entfernte mich für den Augenblick. Drunten brannte ich die Lampe an und ging in sein Zimmer, um für die Nacht alles vorzurichten ... Da lagen die Zeitungen, die er heute erhalten, auf dem Tische, aufeinandergeschichtet und scheinbar unberührt, nur eine hatte er, zu einem Klumpen zerknüllt, auf den Boden geschleudert. Ich entfaltete sie und sah alsbald einen bezeichnenden roten Strich neben einem langen Artikel herablaufen. Wie ein Funke sprang mir der Name Sassen aus dem Buchstabengetümmel entgegen und erfüllte mich mit einem ahnungsvollen Schrecken. Ich überflog den Anfang und verstand ihn nicht; er wimmelte von technischen Ausdrücken. Aber nun kam es, und ich schlug niedergeschmettert die Hand vor die vergehenden Augen. Da stand:

»Mit diesem Münzenschwindel hat der Autoritätsglaube abermals einen empfindlichen Schlag erhalten – einer unserer ersten Namen ist für alle Zeit kompromittiert. Doktor von Sassen hat in unbegreiflicher Verblendung den Fälscher und seine Münzen, von denen auch nicht eine echt ist, an alle Höfe und Universitäten empfohlen ... Allerdings sagt Professor Hart in Hannover, welcher dem Betrug zuerst auf die Spur gekommen ist, die Fälschung sei eine meisterhafte –«

Professor Hart in Hannover. Das war der Fremdwörterprofessor am Hünengrab, der Mann mit dem guten Gesicht und der rasselnden Blechbüchse auf dem Rücken ... Ich hatte ihn liebgewonnen, weil er in so gütiger Weise meine Heide verteidigte, und nun war dieser fast kindlich milde Greis ein so gewappneter Gegner meines Vaters und stieß ihn aus dem Sattel, wie heute Dagobert sagte ... Und das waren die Münzen gewesen, zu deren Ankauf ich so ungebärdig mein Vermögen von Herrn Claudius gefordert – und um seiner nur zu wohl begründeten Weigerung willen hatte ich ihn dann bei Hofe als anmaßenden Besserwisser angeklagt ... Jetzt sah ich ihn wieder vor seinem Münzenschatz stehen, so weise und bescheiden, aber auch so ruhig fest in seinem Urteile. Und weil es der Kenntnisreiche verschmähte, sein Wissen prunkend auf dem großen Markte auszubreiten, so mußte er sich von Dagobert unverschämt schelten lassen, und ich hatte als dankbares Echo dieses häßliche Wort wiederholt ... Wie glänzend gerechtfertigt stand der stolze schweigende Mann nun da! ... Gerade diese Münzengeschichte führte den Sturz meines Vaters bei Hofe herbei – das war's, was der charakterlose, erbärmliche Dagobert mir heute abend in dunklen, spöttischen Worten hingeworfen hatte ... Armer Vater! Dieser eine Irrtum schleuderte ihn von seiner Höhe herab unter die Füße seiner Feinde und Neider ... Das mochte freilich genügen, um den armen Kopf des kränklich schwachen Mannes, der Tag und Nacht im Interesse der Wissenschaft angestrengt arbeitete, zu verwirren.

Wie ohnmächtig stand ich junges, unerfahrenes Geschöpf seinem Mißgeschick gegenüber! Ich begriff sehr wohl, saß dem Manne in solchen Stunden selbst die geliebteste Stimme keinen Trost zu geben vermag – und was konnte ich ihm auch sagen? ... Aber allein lassen durfte ich ihn nicht; er mußte die stillwaltende Liebe doppelt fühlen, ohne daß sie ihm in Worten beschwerlich fiel.

Eiligst verließ ich sein Zimmer, um hinaufzueilen und mit Bitten nicht abzulassen, bis mir das Bibliothekszimmer geöffnet wurde. Da blieb ich plötzlich stehen und horchte – aus meiner Schlafstube drang ein Geräusch, als ob Möbel gerückt würden – ich riß die Thür auf; der Mondschein flutete mir blendend entgegen, denn beide Fenster standen noch offen – in meiner Aufregung über die Ankunft der Tante hatte ich vergessen, sie zu schließen und die Läden vorzulegen. Mit einem Aufschrei prallte ich zurück – ein Mann hielt den verhängnisvollen Schrank umklammert und schob ihn mit einem abermaligen Rucke seitwärts, so daß die Tapetenthür vollständig freigelegt war. Er fuhr herum – Dagoberts weiße Stirn leuchtete mir entgegen, und seine Augen sprühten mich an. Mittelst eines einzigen Sprunges kam er herüber, schlug die Thür hinter mir zu und zog mich tiefer in das Zimmer hinein.

»Seien Sie jetzt einmal vernünftig, und bedenken Sie, daß mein und auch Ihr Lebensglück von diesem einen Augenblicke abhängt!« flüsterte er. »Charlotte hat die Sache geradezu verrückt angefangen – sie hat der Prinzessin das Geheimnis mitgeteilt und ist mit der Thür ins Haus gefallen. Das Allerschlimmste, das uns passieren konnte, ist eine plötzlich wie vom Himmel fallende wahnwitzige Liebe der alten Hoheit, die meinen Vater selbst im Grabe keiner andern gönnen will! ... Jetzt haben wir zwei Gegner zu bekämpfen, die sich möglicherweise heimlich verbünden – solch einer verrückt gewordenen alten Jungfer traue der Teufel! ... Wer bürgt uns dafür, daß nicht eines Nachts das Gerichtssiegel von einer der Thüren fällt? Das hat dann der Onkel nicht gethan – bewahre – die ganze Welt weiß, daß er gerade die Siegel streng hütet. Es kann ja zufällig abgestoßen worden sein; und wenn dann die Papiere aus dem Schreibtische verschwunden sind, wer in der Welt erfährt das je? ... Seien Sie kein Kind! ... Hier in der Thür steckt der Schlüssel, ich brauche ihn nur umzudrehen – es ist kein Einbruch, wenn ich hinaufgehe und das in Sicherheit bringe, was mir von Rechts wegen gehört.«

Ich weiß selbst nicht, wie es mir in jenem Augenblicke möglich geworden ist, so blitzschnell und aalglatt hinter ihm wegzugleiten, mit einem einzigen Griff den Schlüssel aus der Tapetenthür zu reißen und in meine Tasche zu stecken.

»Schlange,« stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Sie wollen sich teuer verkaufen! Sie meinen, mit diesem Schlüssel in der Tasche sind Sie noch begehrenswerter für mich!«

Damals verstand ich den Sinn dieser abscheulichen Worte nicht im entferntesten; wie hätte ich sonst den Elenden auch nur noch eines Wortes, eines Blickes würdigen können?

»Ich will Sie von einem Unrecht abhalten!« sagte ich und lehnte mich entschlossen mit dem Rücken gegen die Thür. »Seien Sie offen und wahr gegen Herrn Claudius; Sie werden damit weit eher zum Ziele kommen, als wenn Sie das Schloß droben erbrechen ... Ich will mit Ihnen gehen – wir wollen ihm noch in dieser Stunde alles sagen –«

Ich verstummte, denn seine Augen glitten in beleidigender Weise langsam musternd über mich hin, und ein spöttisches Lächeln zuckte um seinen Mund. »Schön sind Sie, Barfüßchen! Die schlanke Eidechse mit dem Prinzessinnenkrönchen ist in wenigen Monaten geradezu sirenenhaft geworden ... wo aber ist die Eidechsen klugheit geblieben?« – Er lachte laut auf. – »Eine reizende Situation, beim Zeus! Wir treten in corpore vor das hehre Angesicht des Onkels, bringen ihm unser kostbares Geheimnis auf dem Präsentierteller und ziehen mit langer Nase wieder ab!« – Er kam näher an mich heran, so daß ich mich angstvoll und noch fester als vorher gegen die Wand drückte. – »Nun lassen Sie sich eins sagen: Noch halte ich an mich und berühre Sie nicht – das danken Sie meiner grenzenlosen Schwäche, meiner geheimen Abgötterei für Sie! Ich will Sie grundsätzlich nicht reizen, denn ich weiß, daß Sie ein kleiner Teufel an Bosheit sind – ich glaube, in solchen Augenblicken unbezähmbarer Widerspenstigkeit sind Sie imstande, mir abzuleugnen, was ich Beglückter längst weiß!«

Was sollte das heißen? Ich mochte ihm wohl ein sehr erstauntes Gesicht zeigen, denn er lachte abermals. »Ei, thun Sie doch nicht, als sei ich der Wolf und Sie das Rotkäppchen, das den Bösewicht mit großen, unschuldig fragenden Augen verständnislos ansieht!« rief er. »Die Situation ist mir allerdings mit heute sehr erschwert worden – Ihre unbegreiflich geschwätzige kleine Zunge, die ich in unserem beiderseitigen Interesse bereits geschult zu haben meinte, hat den Makel des Judentums auf Ihre Abkunft geworfen; desgleichen hat sich Ihr Papa bei Hofe unmöglich gemacht – allein meine Leidenschaft für Sie überwindet alles; auch meine ich, der Fürstenmantel meiner Mutter vermag Vieles zuzudecken« – er berührte mit seinen Lippen fast mein Ohr – »und ich will den sehen, der meine reizende kleine Lenore –«

Jetzt hatte ich ihn begriffen – ach, wie hart und bitter wurde in diesem Augenblick der blinde Enthusiasmus gestraft, mit welchem ich mich bedingungslos den Geschwistern hingegeben hatte! Außer mir, wandte ich mein Gesicht weg und hob drohend den Ellenbogen über den Kopf – ich glaube, ich habe in einer Art Fechterstellung ihm gegenüber gestanden.

»Ah, da ist er ja wieder, der Dämon! Wollen Sie nicht wieder nach mir schlagen, wie?« höhnte er zwischen den Zähnen hervor. »Hüten Sie sich! ... Ich habe Ihnen schon einmal gesagt –«

»Ich weiß es wohl, daß Sie mich mit einem einzigen Druck Ihrer Hände erwürgen können – thun Sie es doch!« rief ich unerschrocken. »Freiwillig gebe ich den Schlüssel nicht heraus! ... Sie sind ein Ehrloser! ... Ich bin das blöde Kind nicht mehr, das darin« – ich zeigte auf seine im Mondschein funkelnden Epauletten – »lediglich einen Schmuck sieht – ich weiß, daß sie nur in Ehren getragen werden dürfen! Und da kömmt nun der stolze Offizier bei Nacht und Nebel als Einbrecher und bedroht ein wehrloses Mädchen.«

»Ah, die kleine Viper versucht zu stechen?« knirschte er und schlug seine Arme um mich; aber meine Geschmeidigkeit kam mir zu Hilfe – aufschreiend entschlüpfte ich ihm und stand mit einem Sprunge auf der Fensterbrüstung.

»Um Gottes willen, was ist denn das?« rief draußen der alte Schäfer – er war auf dem Weg nach Hause und kam jetzt über das helle Schneefeld hergelaufen.

»Kommen Sie herein – ach, schnell, schnell!« stammelte ich, zwischen einem Thränenausbruch und dem Jubel des Erlöstseins schwankend.

Mit einem Fluch sprang Dagobert durch das andere Eckfenster, während der alte Gärtner die Hausfront entlang lief und gleich darauf eintrat.

»Was hat's denn gegeben?« fragte er, sich erstaunt im Zimmer umsehend. »Du lieber Gott, Fräulein, Sie sehen ja so erschrocken aus wie mein Kanarienvögelchen, wenn die Katze in der Stube gewesen ist! ... Hat's vielleicht rumort im alten Hause? Fürchten Sie sich nicht – das sind nur die Mäuse, Fräulein. Gespenster gibt's nicht, und wenn die Leute zehnmal sagen, es sei nicht richtig in der Karolinenlust.«

Ich ließ den guten Alten, dessen Stimme mich so sanft zu beschwichtigen suchte, in dem Wahn, daß eine Art Phantom mich erschreckt habe, und bat ihn nur, die Fensterläden so fest wie möglich zu verrammeln, dann schloß ich alle Thüren ab und ging hinauf in das Bibliothekzimmer ... Ich fühlte mich so kampfmüde – der letzte Rest der bedeutenden Dosis von Trotz und Widerstandsfähigkeit, mit welcher ich der neuen Welt entgegengetreten, war erschöpft – und ich war noch so jung! ... War das ganze Menschenleben solch ein Kampf mit den unerbittlichen Konsequenzen, die das eigene Irren heraufbeschworen? Und sollte meine bange, geängstigte Mädchenseele nun fort und fort, auf ihr eigenes Ringen angewiesen, hilf- und stützelos in Nacht und Sturm auf- und niedertaumeln? ... Ich schüttelte mich vor Grauen – ich mußte versinken in Angst und Not, wenn nicht eine starke Hand nach mir herübergriff ... »Mit meinem Mantel vor dem Sturm – beschützt' ich Dich!« – Ach ja, geborgen sein! Wer doch mit lahmen Flügeln unter die Hut des Stärkeren flüchten und dort ausatmen durfte! ... Wie hatte ich die Kraft der »Kinderhände« überschätzt, weil sie sich lustig durch den Frühlingssturm der Heide hindurchgekämpft! Wie sanken sie schon jetzt ermattet nieder und tasteten nach Halt und Stütze! ...

Das Bibliothekzimmer war noch verschlossen, als ich hinaufkam, und soviel ich auch klopfen und rütteln mochte, ich erhielt keine Antwort. Im ersten Augenblick meinte ich, mein Vater sei fortgegangen – es war totenstill drinnen. Aber nun hörte ich von fern herüber ein dumpfes Gepolter, dem ein kicherndes Auflachen folgte – der Lärm kam aus dem Antikensaal, dessen Thüren jedenfalls weit offen standen. Mir klang es, als würden schwere, harte Massen niedergeworfen, und das Lachen war ein so seltsam unheimliches, daß sich mir unter einem Angstschauer leise die Haare sträubten ... Und jetzt flog ein Gegenstand in die Bibliothek herein und zersprang auf dem Fußboden klirrend in tausend Scherben. – Ein wahres Triumphgeschrei folgte dem Geschmetter ... Ich schlug mit den geballten Händen auf die dröhnende Thür und rief verzweiflungsvoll unaufhörlich den Namen meines Vaters.

Da ging jenseits des weiten Treppenhauses eine Thüre auf, und Herr Claudius trat aus seiner Sternwarte – fast tageshell floß das Mondlicht mit ihm heraus. Ich eilte zu ihm hin und teilte ihm unter krampfhaftem Ringen mit den hervorstürzenden Thränen meine Seelenangst und Not mit. Während in der Bibliothek auf meinen Lärm hin eine unheimliche, tiefe Stille eingetreten war, erzählte ich mit niedergeschlagenen Augen flüsternd von der Münzengeschichte.

»Ich weiß es,« unterbrach mir Herr Claudius ruhig.

»Der Kummer macht meinen Vater wahnsinnig – ach, wie leide ich um ihn!« rief ich. »Er ist gebrandmarkt und hat über Nacht seinen berühmten Namen verloren!«

»Glauben Sie das nicht! Es wäre traurig, wenn ein einziger Irrtum ein ganzes Leben voll angestrengter Geistesarbeit aufheben sollte ... Herr von Sassen hat ungeheure Verdienste um die Wissenschaft, die kann ihm niemand rauben, und gerade deshalb suchen ihn die Mücken in einem Augenblick der Schwäche um so empfindlicher zu stechen ... Das geht vorüber. Seien Sie ruhig, Lenore, und weinen Sie nicht.« Er hob unwillkürlich die Hand, als wolle er die meine tröstend fassen, aber sie ebenso rasch sinken lassend, trat er an die Thüre der Bibliothek und rüttelte an dem Drücker.

In demselben Augenblick schlug es drinnen krachend und fortrollend auf die Dielen nieder.

»Du bist ja kein Agasias!« schrie mein Vater – ach, ich erkannte diese kreischende Stimme kaum wieder! – »Sassen hat gelogen! Fragt nur den Hart in Hannover, der weiß es! ... Fort mit dir, du bist auch gefälscht!« – Man hörte, wie er nach dem zu Boden geschmetterten Gegenstand stieß.

»Ach, das ist der schlafende Knabe, sein Abgott, über den er ganze Bände schreibt, um zu beweisen, daß es ein Werk des Agasias ist!« stieß ich zitternd heraus. »Gott im Himmel, er zertrümmert die Antiken!«

Herr Claudius klopfte mit starkem Finger an die Thüre.

»Wollen Sie mir nicht öffnen, Herr Doctor?« rief er laut, aber mit völlig beherrschter Stimme.

Mein Vater stieß ein gellendes Gelächter aus. »Und es steht geschrieben – ha, ha, ist alles Lüge gewesen vom Anfang an! Wehre dich doch, wenn du von Gottes Gnaden unsterblicher Geist bist! Siehst du, wie dich die gelben Flammen fressen? ... Hei, da wirbelt sie hinauf an die Decke, die Lügenbrut des Geistes, auf die der berühmte Mann stolz war! –- Rauch, nichts als Rauch!«

Herr Claudius fuhr entsetzt zurück – aus dem Schlüsselloch und den Thürfugen quoll dicker Qualm und ein erstickender Geruch – wollene Stoffe brannten.

»Er verbrennt sein Manuskript, und das Feuer hat die Vorhänge ergriffen!« schrie ich auf. Ich brach in lautes Jammern aus und warf mich verzweiflungsvoll gegen die Thüre – ach, was vermochten meine armen, kleinen Hände und Füße gegen die dicken Bohlen, die sich nicht rührten!

Herr Claudius sprang in die Sternwarte zurück, und jetzt dachte ich auch an die kleine, kaum sichtbare Tapetenthür in der Bibliothek; sie führte in einen weiten, dunklen Raum voll Gerümpel, der das genannte Zimmer von der Sternwarte trennte. Und wenn die Thüre auch verschlossen war, zwei harte Fußtritte genügten, um das leichte Brettergefüge zu sprengen. Aber es bedurfte dessen nicht einmal; rasches Laufen drinnen und ein zorniger Schrei meines Vaters belehrten mich, daß Herr Claudius, ohne Widerstand zu finden, eingedrungen sei. Der Schlüssel wurde umgedreht und die Thüre aufgerissen. Welch ein Anblick! ... Rauch und Qualm, und dazwischen hochaufschießende Flammenfratzen, von knisterndem Funkenregen umstiebt, wogten um die traute Schreibecke meines Vaters . An den sehr schweren, dicken Wollvorhängen fraßen sich »die gelben Zungen« nur langsam empor; desto lustiger und begehrlicher leckten sie bereits über die Stöße alter Broschüren hin, die ein zwischen den Fenstern stehendes Regal füllten. Mein Vater schrie und gebärdete sich wie ein Rasender – er floh vor Herrn Claudius, der ihn zu fassen und aus dem Zimmer zu ziehen suchte. Unter den Füßen der Laufenden knirschten und krachten unaufhörlich Scherben – der Boden war bedeckt mit Trümmern kostbarer antiker Thongefäße.

Ich lief hinein.

»Zurück, Lenore! Hinaus! Denken Sie an Ihre feuerfangenden Kleider!« rief Herr Claudius angstvoll herüber, indem er meinem Vater, der sich auflachend in die Flammen zu werfen suchte, den Weg vertrat. »Laufen Sie in das Vorderhaus um Hilfe!«

Ich sah im Davoneilen, wie mein Vater, über die am Boden liegende Marmorfigur strauchelnd, niederfiel, von Herrn Claudius erfangen und, trotz seiner wütenden Gegenwehr, auf kraftvollem Arm nach der Thüre getragen wurde; aber kaum hatte ich die Halle betreten, als ich hörte, wie die Ringenden droben im unausgesetztem Kampfe die Treppe erreichten.

»Mörder, elender Mörder!« schrie mein Vater, daß die marmorbekleideten Wände gellten – dann erfolgte ein entsetzliches Gepolter.

Wie ich mit meinen versagenden Füßen die Bel-Etage wieder erreicht habe, kann ich bis heute nicht sagen; ich weiß nur, daß mir war, als sei ich plötzlich von einem Wirbel erfaßt und da hingeschleudert worden, wo ein dunkler Knäuel droben vor der untersten Treppenstufe lag.

Herr Claudius stand bereits wieder auf seinen Füßen; er hielt sich mit der Hand am Treppengeländer fest und wandte mir sein vom Mond beschienenes Gesicht zu – es war mit einer fahlen Blässe bedeckt.

»Wir sind unglücklich gefallen,« sagte er, noch atemlos von der Anstrengung, und deutete auf meinen Vater. »Er ist bewußtlos, und ich kann ihn nicht weiterbringen. Arme, arme Lenore, Ihre Füße tragen Sie nicht, und doch müssen Sie mir Hilfe holen ...«

Nun rannte ich durch die Gärten – hinter mir schlugen die feurigen Zungen aus den Fenstern der Bibliothek und schwarze, dick aufschwellende Rauchwolken zogen über die Baumwipfel hin, mir nach.

»Feuer in der Karolinenlust!« schrie ich in die Hausflur hinein.

Im Nu war das ganze Vorderhaus rebellisch. Allgemeines Entsetzen, als die Herbeilaufenden in den Hof traten und über der Pappelwand den rotglühenden Dampf in das ruhige, stete Silberlicht des Himmels hineinlohen sahen. Wer Hände hatte, ergriff Kübel und Eimer und aus der Remise wurden zwei große Handspritzen gehoben. Man hatte auch in der Seitenstraße den Brand bemerkt; durch das Thor stürmte ein Menschenhaufe um den andern – in wenigen Minuten wimmelten die Gärten und der Platz vor der Karolinenlust von Rettenden, die das Eis auf Teich und Fluß einschlugen und Wasser in das brennende Stockwerk schleppten.

Als ich zurückkehrte, lehnte Herr Claudius am Treppengeländer; mit seiner Rechten drückte er den linken Arm gegen die Brust. Ich konnte nicht sprechen vor Jammer und bog mich über meinen Vater, dessen Kopf auf der untersten Treppenstufe lag. – Herr Claudius hatte ihm seinen Shawl als Polster untergeschoben. Die Augen waren geschlossen, und das eingefallene Gesicht sah so blutleer und wächsern aus, daß ich meinte, er sei tot – aufstöhnend schlug ich die Hände vor das Gesicht.

»Er ist nur betäubt, und soviel es mir möglich war, zu untersuchen, hat er auch kein Glied gebrochen,« sagte Herr Claudius – wie lernte ich diese ruhig gelassene Stimme, um derentwillen ich ihn einst einen Eiszapfen gescholten, in den Augenblicken unaussprechlicher Angst und Seelenqual schätzen! An ihr richtete ich mich sofort auf.

»Hinunter in Herrn von Sassens Zimmer!« gebot er den Leuten, die den Gestürzten vom Boden aufnahmen. »Es liegt weit ab – das Haus ist massiv und Wasser und rettende Hände sind genug da – bis dahin dringt die Feuersgefahr nicht mehr!«

Ein Menschenstrom wogte an uns vorüber, die Treppe hinauf.

»Und Sie?« sagte ich zu Herrn Claudius, während wir seitwärts traten, und die zwei Männer, von Fräulein Fliedner geleitet, meinen Vater nach unserer Wohnung trugen. – »Ich sehe es wohl, Sie haben Schmerz, Sie haben sich wehe gethan! ... Ach, Herr Claudius, wie schwer müssen Sie dafür leiden, daß Sie meinen Vater und mich in Ihr Haus aufgenommen haben!«

»Meinen Sie!« – Ein fast sonniges Lächeln verdrängte für einen Augenblick den Zug des Leidens, der seine Brauen faltete. »Ich rechen anders, als Sie denken, Lenore. Ich kenne die weise Einrichtung sehr gut, nach welcher wir erst verschiedene Stadien durchlaufen müssen, ehe wir in den Himmel eingehen dürfen – mit jedem kommen wir dem Ziele näher, und dafür sei er gesegnet.«

Er stieg in das brennende Stockwerk hinauf, und ich eilte zu meinem Vater. Er lag still und unbeweglich auf seinem Bett; nur als eine Feuerspritze drüben donnernd über die Brücke fuhr und unter heftigem Getöse vor dem Hause hielt, hob er die Lider und sah mit einem umschleierten, völlig verständnislosen Blick umher. Von diesem Augenblicke an flüsterte er unaufhörlich vor sich hin, ganz sanft und sacht. Fräulein Fliedner legte ihm kalte Tücher um den Kopf, das schien beruhigend auf ihn zu wirken. Hilfe und Beistand fehlten mir nicht. Auch Frau Helldorf, die den Claudiusgarten seit jenem verhängnisvollen Sonntagmorgen nicht wieder betreten, hatte die Angst und Scheu vor einer Begegnung mit ihrem Vater überwunden und war zu mir herübergekommen.

Ich saß neben dem Kranken und hielt seine glühende Hand in der meinen. Sein gespenstisches Murmeln, das auch nicht für einen Augenblick abriß, der Anblick seines Leidensgesichtes, von welchem jede Spur eines selbständigen Denkens für immer weggewischt schien, dazu die folternde Angst um Herrn Claudius, den ich droben in den brennenden Räumen wußte – das alles versetzte mich in einen Zustand stiller Verzweiflung.

In der Zimmerecke brannte ein verdecktes Nachtlicht – tiefe Schatten webten um das Krankenbett; desto heller breitete sich der Platz vor den Fenstern hin. Ueber die versilberte Baumwand drüben wogten wie flatternde Fahnen die Schatten der Rauchwolken; zischend fuhr der funkelnde Wasserstrahl der Feuerspritze aus dem Menschengewimmel hinauf – sie zerstoben und duckten nieder, um sich gleich darauf zu meinem bangen Schrecken majestätisch wieder aufzublähen ... »Habt acht!« scholl es fort und fort aus dem Gemurmel und Gebrause – gerettete Gegenstände, Vasen, Spiegel, Marmorfiguren wurden vorübergetragen und bei der Diana niedergelegt – hohe Bücherstöße reckten sich an der Göttin empor, und die umstehenden Polstermöbel und glänzenden Tischplatten sahen wunderlich genug aus in der schneefunkelnden Winterlandschaft.

Allmählich verdünnten sich die intensiv schwarzen Rauchstreifen schleierartig vor meinem starr hinausgerichteten Blick – der Lärm, treppauf, treppab, klang gedämpfter – es wurden keine geretteten Sachen mehr vorübergetragen.

»Das Feuer ist nieder,« sagte Frau Helldorf tief aufatmend, und ich vergrub meine überströmenden Augen in die Bettkissen.

Charlotte kam herein. Ihr Kleidersaum schleppte zerfetzt am Boden hin, und die schweren Zöpfe hingen ihr unordentlich in den Nacken – sie hatte beim Retten wie ein Mann geholfen.

»Das ist ja ein schöner Abend für uns, Prinzeßchen,« sagte sie tonlos und setzte sich neben mich erschöpft auf ein Fußbänkchen. Sie legte die Stirn auf meine Kniee. »Ach, mein armer Kopf!« flüsterte sie, während die beiden Damen für einen Augenblick in das Nebenzimmer gingen. »Kind, wenn Sie wüßten, wie es in mir aussieht! ... Glauben Sie wohl, daß mir droben der verzweifelte Gedanke gekommen ist, ob es nicht besser wäre, der Feuerstrom packe meine Kleider und mich mit, und die ganze Qual hier drinnen« – sie preßte die Hände auf das Herz – »nähme plötzlich ein Ende ... Und an den versiegelten Thüren bin ich vorübergelaufen und habe gemeint, es müsse sich eine aufthun und meine Mutter die Arme herausstrecken, um ihr unglückliches Kind aus dem vorbeibrausenden Menschenschwarm hineinzuziehen ... Heute zum erstenmal kann ich's meinem Vater nicht vergeben, daß er uns so bedingungslos, so auf Treu und Glauben in die Hände seines Bruders geliefert hat! ... Und wenn er noch so furchtbar litt, er durfte nicht sterben, er mußte für uns leben – er hat feig gehandelt!«

Draußen verlief sich allmählich die Menschenmenge, es wurde stiller, und das Zischen der Wasserstrahlen, die noch von Zeit zu Zeit hinaufgeschickt wurden, drang schärfer an das Ohr. Und jetzt endlich kam auch der so heißersehnte Arzt. Während er den Kranken untersuchte und schweigend beobachtete, klang draußen eine gewaltige Stimme durch den hallenden Korridor und herein in das stille Zimmer.

»Habe ich's nicht gewußt, Herr Claudius, daß dieses Hervorzerren der von Ihren Vorfahren wohlweislich vergrabenen heidnischen Götzenbilder dem Herrn ein Greuel sein müsse?« fragte der alte Buchhalter in seinem breitesten Prophetenton.

»Er ist unverbesserlich, der alte Fanatiker!« murmelte Charlotte ärgerlich.

»Habe ich nicht vorhergesagt, daß das Feuer vom Himmel fallen würde?«

»Es ist nicht vom Himmel gefallen, Herr Eckhof,« unterbrach ihn Herr Claudius hörbar ungeduldig.

»Sie mißverstehen das absichtlich, lieber Herr,« sagte eine andere Stimme sanft.

»Ach, das ist der Muckerdiakonus, der schlimmste Seelenhetzer der ganzen Residenz – die beiden kommen eben aus der Andacht, man hört es! Für die ist das Feuerunglück in der Karolinenlust das größte Gaudium,« flüsterte Charlotte.

»Bruder Eckhof weiß sehr gut, daß der Herr in unseren Zeiten seine Strafen nicht mehr so direkt vom Himmel niederschickt, wie ehemals,« fuhr die Stimme fort. »Aber sein Walten bleibt immer ein sichtbarliches – es kommt nur darauf an, daß wir es verstehen ... Ja, Herr Claudius, es schmerzt mich in der Seele, daß Sie so heimgesucht worden sind; aber ich kann nicht umhin, den Herrn zu preisen, der in seiner unerschöpflichen Gnade so deutlich zu Ihnen spricht ... Er hat es in seiner Weisheit und Gerechtigkeit geschehen lassen, daß die heidnischen Greuel – ich habe eben gesehen, daß diese sogenannten Wunderwerke vom Rauch geschwärzt und zertrümmert draußen im Garten liegen – vertilgt wurden –«

Er kam nicht zu Ende mit seinem Zelotensermon; denn Herr Claudius öffnete, ohne noch ein Wort zu verlieren, die Thüre meines Wohnzimmers, und ich hörte ihn drüben eintreten. Der Arzt ging zu ihm. Herr Claudius stand neben der Lampe, die auf dem Tische brannte und sein Gesicht hell beleuchtete – er drückte noch in der eigentümlichen Weise mit der Rechten den linken Arm gegen die Brust. Ich sah von meinem dunklen Platz aus, wie sich seine Züge bei dem geflüsterten Bericht des Arztes sehr verdüsterten.

»Sie leiden auch, Herr Claudius,« hörte ich schließlich den Doktor lauter zu ihm sagen.

»Ich habe mir den Arm verletzt,« versetzte Herr Claudius ruhig, »und werde mich nachher im Vorderhause Ihren Händen überliefern.«

»Ist recht – und die Augen werden wir auch für einige Zeit in ein dunkles Verlies stecken müssen, wie ich bemerke,« sagte der Doktor bedeutsam.

»Still, still – Sie wissen, das ist der Punkt, wo ich verwundbar bin, wo Sie mir bange machen können!«

Mir stockten die Pulse – wenn er blind wurde? ... Ich meinte, so viel Jammer und Elend sei noch nie über ein Menschenherz hereingebrochen, wie heute über das meine.

Charlotte erhob sich rasch und ging hinüber. Fast zugleich wurde die Thür meines Wohnzimmers aufgerissen, und hastige Männerschritte kamen herein.

»Herr Claudius, Herr Claudius! ... O, über diese Verruchtheit!« hörte ich den alten Buchhalter stöhnen. Er kam in das Bereich meiner Blicke – wie weggewischt war alle Salbung, das breit wohlgefällige Gepräge eines frommen Wandels vor Gott und den Menschen aus diesem fassungslosen, verstörten Gesicht.

Herr Claudius winkte ihm mit der Hand, seine Stimme zu mäßigen, aber er war viel zu aufgeregt, um diese Bewegung zu beachten.

»Mir, mir das!« rief er grimmig, in tiefster Indignation. »Herr Claudius, ein Elender hat die allgemeine Verwirrung beim Brande benutzt, ist in meine Wohnung eingebrochen und hat mir eine Kassette mit meinen geringen Ersparnissen geraubt ... Ach, ich kann mich kaum auf den Füßen halten! Ich bin dermaßen alteriert – geben Sie acht, das ist mein Tod!«

»Das ist unchristlich und sündhaft gesprochen,« verwies ihm der Diakonus sanft den heftigen Ausspruch. »Bedenken Sie, daß es sich um irdischen Mammon handelt ... Uebrigens ist ja die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß der Verbrecher entdeckt wird und Sie wieder zu Ihrem Gelde kommen – und wenn nicht, nun, dann heißt es ja: ›Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher in das Reich Gottes komme.‹« – Ich sah deutlich, wie er dabei Herrn Claudius fixierte. – »Ist das nicht ein köstlicher Trost für den, der durch den Verlust der irdischen Habe heimgesucht wird?«

»Aber in der Kassette waren ja auch die tausend Thaler Missionsgelder, die in diesen Tagen abgeschickt werden sollten!« ächzte verzweiflungsvoll der Buchhalter, und fuhr sich mir beiden Händen an den sauber frisierten Kopf.

Jetzt war die Reihe zu erschrecken an dem Herrn Diakonus.

»Oh, das ist freilich sehr, sehr fatal, lieber Herr Eckhof!« rief er bestürzt. »Aber ich bitte Sie, wie konnten Sie auch diese Ihnen anvertrauten Gelder so – verzeihen Sie – so unverantwortlich leichtsinnig verwahren? Sie wissen doch, daß an jedem Groschen das Seelenheil anderer hängt! ... Was sollen wir nun anfangen? ... Das Geld muß in diesen Tagen abgeliefert werden. Unser Verein gilt als ein Muster von Pünktlichkeit, er darf seinen Ruf um Ihretwillen nicht einbüßen – das werden Sie doch einsehen ... Es thut mir unsäglich leid, aber ich kann Ihnen mit dem besten Willen nicht helfen, Sie müssen das Geld zu der festgesetzten Frist schaffen!«

»O mein Gott, wie soll ich denn das ermöglichen? Ich bin augenblicklich ein Bettler!« – Er hielt seine weißen vollen Hände gegen die Lampe. – »Nicht einmal über meinen Brillantring, das kostbare Geschenk meines vormaligen Chefs, habe ich zu verfügen, er lag auch in der Kassette – ich thue stets den eitlen, weltlichen Schmuck von mir, wenn ich zur Andacht gehe. O du, mein Herr und Gott, womit habe ich, dein getreuester Knecht, dieses Schicksal verdient!«

Der Diakonus trat ihm näher und legte ihm tröstend die Hand auf seinen Arm. »Nun, nun, verzweifeln Sie nicht, mein lieber Herr Eckhof ... Die Sache ist allerdings ernst genug, und man kann sie nicht schwer genug auffassen; aber ich will Ihnen sagen – wer, wie Sie, solch einen mächtigen Gönner hat, der darf schon mutig sein ... Herr Claudius ist ein edler Mann, ein reicher Mann; für ihn ist es eine Kleinigkeit, Abhilfe in Ihrer Bedrängnis zu schaffen. Er riskiert ja nichts dabei – er hat Sie und Ihr Gehalt in Händen und kann sich leicht durch Abzüge bezahlt machen.«

»Das werde ich mir denn doch sehr überlegen, Herr Diakonus,« sagte Herr Claudius ruhig. »Einmal lasse ich mich grundsätzlich auf derartige Abzüge niemals ein, und dann – Sie haben vorhin behauptet, der Allmächtige habe es in seiner Weisheit und Gerechtigkeit geschehen lassen, daß die schönsten Denkmäler des edlen von ihm erschaffenen Menschengeistes, die Blüten einer herrlichen Kultur, elend umgekommen sind – nun denn, ich will mich auch einmal auf den Standpunkt der Gläubigen stellen, will in Ihrer anmaßenden und einseitigen Weise das göttliche Walten auslegen und denken, der Herr habe es in seiner Weisheit und Gerechtigkeit geschehen lassen, daß das Geld abhanden gekommen ist, mit welchem eine Heidenseele – tausend Thaler kostet ja wohl so ein zweifelhaft Bekehrter? – in das Christentum hineingepreßt werden sollte – er habe ferner Ihnen, Herr Eckhof, die Lehre geben wollen, wie die Kirche, der Sie selbst das Heiligste, die Familie geopfert haben, in Geldsachen die unerbittlichste Gläubigerin ist.«

Er sah stolz und gelassen über die Schulter nach dem kleinen Diakonus hin, der giftig auf ihn zusprang. »Wir müssen unerbittlich sein – es ist unsere heilige Pflicht,« eiferte er. »Wo käme die Kirche hin, wenn wir nicht als treue Wächter Zions sammelten und sparten und wirkten, solange es Tag ist ... Und je saurer die Scherflein geworden, je mehr Schweiß und Blut der Arbeit und Armut daran hängen, desto wohlgefälliger sieht sie der Herr an ... Sie sind ja einer der Unseren, Herr Eckhof, Sie wissen, welchen Gesetzen wir uns unterwerfen müssen, und werden alles aufbieten, das Geld herbeizuschaffen ... Ich wasche meine Hände! Ich habe mehr als meine Schuldigkeit gethan – ich habe mich vor den Ungläubigen erniedrigt!«

Er schritt mit steifem Nacken der Thür zu.

Da stand plötzlich Frau Helldorf neben ihrem in sich zusammengesunkenen Vater.

»Vater,« sagte sie mit bebender Stimme, »ich kann dir helfen. Du weißt, ich habe siebenhundert Thaler von der seligen Mutter, und das übrige gibt mir gewiß mein Schwager, der sich ein kleines Kapital erspart hat.«

Eckhof fuhr herum, als seien diese lieblichen Töne niederschmetternd und zermalmend, wie der Donner des Jüngsten Gerichts. Er sah wie versteinert in das Gesicht seiner Tochter, dann aber stieß er mit den Händen nach ihr.

»Fort, fort mit dir! Ich will dein Geld nicht!« schrie er auf und taumelte dem Diakonus nach, zur Thür hinaus.

»Seien Sie ruhig, kleine Frau,« tröstete Herr Claudius die Weinende. »Es hätte noch gefehlt, daß Sie Ihr letztes Scherflein in diesen unersättlichen Schlund würfen! ... Ich war gezwungen, hart zu sein – dieser anmaßenden Kaste gegenüber kann man nicht streng genug auftreten ... Aber fassen Sie Mut – es soll noch alles gut werden.«

Während alle entrüstet durcheinandersprachen, kam er herüber in das Krankenzimmer, wo ich im Halbdunkel neben dem Bett saß. Er bog sich lauschend über meinen Vater, der, unberührt von allem, was um ihn her vorging, fort und fort eintönig murmelte.

»Er ist glücklich in seinen Phantasien, er ist im sonnigen Griechenland,« flüsterte mir Herr Claudius nach einer Pause zu ... Er stand dicht neben mir – da griff ich mit beiden Händen rasch nach seiner Rechten und drückte sie an meine Lippen – mein Vergehen, meine einstige Rauheit gegen ihn war gesühnt.

Er taumelte förmlich zurück – kein Wort kam über seine Lippen; aber er legte seine Hand auf meinen Scheitel, bog mir den Kopf in den Nacken und sah mir tief und forschend in die Augen – ach, wie schwer lagen die Lider über seinen schönen, blauen Augensternen!

»Ist nun alles gut zwischen uns, Lenore?« fragte er endlich in halberstickten Lauten.

Ich neigte lebhaft bejahend den Kopf, ohne daran zu denken, daß ja noch das finstere Geheimnis zwischen uns lag.


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