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Neuntes Kapitel

Ein junges Herz

Die eingeladenen Herren hatten ihren Besuch ausgeführt und nach vierzehntägigem Fischen, Reiten, Schießen und Hofmachen schickte sich Kapitän Dorsay zur Abreise an. Zuvor aber forderte ihn Lady Ewell im Beisein ihres Gatten dringend auf, an Weihnachten wieder zu kommen.

»Sie sind sehr gütig, gnädige Frau,« erwiderte der Kapitän, »und nichts auf der Welt könnte mir größere Freude machen, aber, wie Sie wissen, habe ich eine Einladung des Herzogs von Martyrdom für die Festzeit bereits angenommen.«

»Ich kann nicht recht verstehen, wie du den Kapitän für diese Zeit auffordern kannst, Lena,« wandte Sir Wilfrid ein, »wir werden ja ebenfalls Weihnachten bei deinem Großvater zubringen.«

»Allerdings wünscht es der Großvater, da du aber erklärt hast, Rosie nicht allein hier lassen zu können, gab ich den Plan auf. Sie wissen ja, Jack, wie der Großvater Kinder und Tiere haßt, sie mitnehmen ist undenkbar.«

Kapitän Dorsay, der Rosie bis jetzt nicht ganz unter diesem Gesichtspunkt betrachtet hatte, war kühn und ritterlich genug, einen Widerspruch gegen seine schöne Wirtin zu riskieren.

»Aber, verehrte Frau, Lord Martyrdom könnte doch Miß Ewell in dem Sinne kaum ein Kind nennen, und so wunderlich er auch durch sein Alter geworden ist, wird er doch nicht unempfänglich sein für die Anziehungskraft der aufblühenden jungen Schönheit.«

Sir Wilfrid erwiderte nur ein kurzes »Danke« auf dieses Kompliment, aber Dorsay wußte, daß er erfreut war. Lady Ewell dagegen schien fast beleidigt.

»Nun, ja, Rosie kann ja ganz hübsch werden, wenn sie erwachsen ist; mit fünfzehn Jahren läßt sich darüber gar nichts sagen.«

»Sie ist sechzehn geworden,« bemerkte ihr Gatte.

»Fünfzehn oder sechzehn ist doch ganz einerlei. Ich weiß nur, daß ich in diesem Alter noch in der Kinderstube war, wohin man gehört.«

»O, Wilfrid, hast du denn ganz vergessen, daß du mit mir ausreiten wolltest?« rief Rosie,, die plötzlich im Reitkleide, schlank wie eine Nymphe, rosig und blühend auf der Schwelle stand, schmerzlich enttäuscht.

»Das thut mir sehr leid, Rosie, ich muß mich wahrhaftig schuldig bekennen. Ich hatte es vergessen, und habe sogar etwas andres verabredet; ich will mit Lena nach Maple Grove fahren.«

»O bitte, denke doch nicht an mich, wenn du lieber mit deiner Schwester ausreitest,« fiel Lady Ewell spitzig ein.

»Darf ich Miß Ewell meine Begleitung anbieten?« warf sich der Kapitän ins Mittel, »Wollen Sie sie mir anvertrauen, Sir Wilfrid? Sie können sich auf meine Vorsicht und Sorgfalt verlassen.«

Bei diesem Vorschlag leuchteten des Mädchens dunkle Augen vor Erwartung und ihre Wangen erglühten. Sie war sich längst klar, daß Kapitän Dorsay der schönste und interessanteste Mann sei, den sie je gesehen, und nun war er auch der gütigste. Sie blickte schüchtern auf ihren Bruder, äußerst gespannt, wie sein Bescheid ausfallen werde, und war sehr beglückt, als er, dem Kapitän die Hand schüttelnd, sagte: »Danke Ihnen herzlich, Dorsay. Es ist sehr freundlich von Ihnen, sich dieses Wildfangs annehmen zu wollen. Sie ist höchst unbändig, Angst kennt sie nicht, hat aber keinen sicheren Sitz und schießt über den Kopf des Pferdes weg, ehe man sich's versieht.«

»Das soll sie unter meiner Aufsicht hübsch bleiben lassen,« versicherte der Kapitän. »Kommen Sie, Miß Ewell, wir wollen nach unsern Pferden sehen und keine weitere Minute von diesem köstlichen Morgen verlieren.«

Ohne ein Wort zu Lady Ewell, führte er Rosie aus dem Zimmer, was zur Folge hatte, daß Sir Wilfrid auf der Fahrt nach Maple Grove keiner Silbe gewürdigt wurde und daß Kapitän Dorsay bei seiner Rückkehr einen sehr frostigen Empfang fand, nach dessen Ursache er sich erkundigte, sobald er mit Lady Ewell, allein war.

»Wenn Sie mir so deutlich zu verstehen geben, daß Ihnen an mir und meinen Wünschen nichts gelegen ist, so müssen Sie sich ja selbst sagen, daß ich mich verletzt und beleidigt fühlen muß,« sagte sie.

»Auf was bezieht sich diese Bemerkung?«

»Darauf, daß Sie die Gesellschaft dieses Kindes der meinigen vorziehen. Am letzten Tage, den Sie hier sind, galoppieren Sie mit ihr umher.«

»Lena – weshalb bin ich denn nach Lambscote gekommen, wenn nicht um Ihretwillen? Und wie glauben Sie, daß ich wiederkommen soll, wenn ich mich nicht mit Ihrem Gatten auf guten Fuß stelle? Ich hatte meine guten Gründe, die Reiterei mit Miß Ewell anzubieten. Sir Wilfrid war tief verletzt von der Art und Weise, in der Sie von seiner Schwester sprachen, und ich goß Oel auf die Wunde. Hätte ich mich auf Ihre Seite gestellt, so würde er seine Einladung nie und nimmermehr wiederholt haben. Und wissen Sie, daß meine kleine List schon den gewünschten Erfolg hatte, daß Ihr Herr und Meister mir eben vorhin in der Halle nachlief, mir noch einmal für meine Aufmerksamkeit dankte und mich herzlich bat, nach Weihnachten wiederzukommen? Sehen Sie jetzt ein, wozu es gut war, Sie närrisches Kind? Und trotzdem mißtrauen Sie mir noch! O, Weiber, Weiber! Dankbarkeit kennt keine!«

»Wofür soll ich Ihnen denn dankbar sein?« fragte Lady Ewell mit halbem Lächeln, »etwa dafür, daß Sie versprechen, wiederzukommen?«

»Nein, aber für meine Treue und Ergebenheit, die unentwegt fortdauern, nachdem Sie mich aufgegeben und einen andern beglückt haben,«

»O, Jack! Ich habe Sie nie aufgegeben, das wissen Sie sehr gut. Die Ehe ist nicht Ihr Geschmack, heiraten wollten Sie weder mich noch eine andre. Und schließlich ist es für uns beide besser, daß ich verheiratet bin.«

»Gewiß, Lena, vollkommen einverstanden, aber gerade deshalb müssen Sie doch einsehen, daß ein freundliches Verhältnis zwischen mir und Ihrem Eigentümer unumgänglich nötig ist. Er war anfangs voll Mißtrauen und ich kann seiner Eitelkeit mit nichts so sehr schmeicheln, als indem ich der Schwester Aufmerksamkeit schenke.«

Der Sturm war vorüber und am folgenden Morgen nahm Dorsay Abschied. Lenas Zuneigung für Rosie wurde eben nicht wärmer durch den Umstand, daß sie die Veranlassung eines Mißverständnisses zwischen ihr und ihrem alten Freunde geworden war. So oft sie mit dem jungen Mädchen allein war, pflegte Lena ganz unvorhergesehen den Namen Kapitän Dorsays zu nennen, und sobald auf Rosies Wangen die verräterische Röte erschien, fing Lady Ewell an, in einer Weise Uebles von ihm zu reden, daß jeder, der ihre Beziehungen zu dem Kapitän kannte, sehr erstaunt gewesen wäre. Sie sagte Rosie – natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, daß er ein gefährlicher Mensch sei, dem man nicht trauen dürfe, daß er spiele, trinke und andre entsetzliche Dinge thue und daß niemand, namentlich keine Frau, ihm ein Wort glauben dürfe. Und wenn dann Rosie mit weit geöffneten, verwunderten Augen fragte, warum sie denn unter diesen Umständen ihm ihre Freundschaft schenke, so erwiderte Lena, daß er eben von jeher mit ihrem Vater und ihrem Großvater befreundet gewesen sei, namentlich aber, daß seine Bekanntschaft für Sir Wilfrid von großem Wert sei, und sie deshalb auch ihrem Bruder kein Wort von alledem wiederholen dürfe.

Jung, unschuldig und unerfahren, nahm Rosie alle diese Mitteilungen gläubig hin (dieselben waren ja auch nur zu richtig!) und stieß leise Seufzer aus darüber, daß ein so reizend aussehender, liebenswürdiger Mann so wenig Vertrauen verdiene. Es ging sie ja gar nichts an, aber er that ihr so leid, so von Herzen leid und sie hätte ihn so gern anders gemacht. Was ihre Schwägerin ihr gesagt hatte, um sie mit Abscheu und Entsetzen zu erfüllen, erfüllte ihre reine, junge Seele mit innigem Mitleid für den Sünder und machte sie tief unglücklich. Bei seinem nächsten Besuch begegnete sie deshalb dem Kapitän mit großer Befangenheit, aber weich und innig; er fühlte oft ihre Blicke sanft und traurig auf sich ruhen und beobachtete ihr heißes Erröten, wenn sein Auge denselben begegnete, und dies Interesse schmeichelte ihm und er versuchte, es sich zu erklären. In Gegenwart ihres Bruders war er viel zu klug, ihr mehr als die schickliche Aufmerksamkeit zu bezeigen, wenn er ihr aber zufällig auf der Treppe begegnete oder im Garten verstohlen ein paar Minuten mit ihr plauderte, wußte er sich in ihr Vertrauen zu schleichen, und als er sie bei einer dieser Begegnungen der Kälte angeklagt hatte, faßte sich Rosie ein Herz und gestand ihm mit Thränen in den Augen, was Lady Ewell ihr anvertraut habe, und beschwor ihn, von seinen Leidenschaften zu lassen und ein guter Mensch zu werden, solange es noch Zeit sei.

Kapitän Dorsay durchschaute Lenas Taktik sofort; während er innerlich einen kräftigen Fluch ausstieß über die Rachsucht des eifersüchtigen Weibes, sagte er zu Rosie nichts als: »Und nehmen Sie denn wahrhaftig so großen Anteil an einem so unwürdigen Menschen, daß Ihnen sein Zustand Kummer bereitet?«

»O, Herr Kapitän! Was für eine Frage! Ist es denn nicht meine Pflicht? Sollen wir denn nicht Anteil nehmen an unserm Nächsten?«

»Und doch, so eingebildet es klingt, ich glaube nicht, daß Sie sich um jeden Ihrer Nebenmenschen Sorge machen; ich zweifle, daß Ihnen der Seelenzustand jedes Landstreichers Kummer bereitet, und ich glaube, daß Ihre Trauer um mich bedeutet, daß Sie angefangen haben – mir ein klein wenig gut zu sein, wie ich es Ihnen bin.«

»Sie – sind mir gut?« fragte sie staunend.

»O, Kind! Wer könnte anders als Ihnen gut sein – Sie bewundern, Sie von Herzen lieb haben, meine süße Rosie!«

»O, Herr Kapitän! Ich bin ja noch so jung!«

»Für den Fehler erteil' ich Ihnen Absolution, mein Lieb! Aber sagen wollen wir es keinem Menschen – jetzt nicht!«

»O, nein, nein! Das vermöchte ich gar nicht.«

»Nicht einmal Ihrem Bruder oder Lady Ewell. Es soll ganz unser eigen bleiben, das selige Geheimnis, daß wir uns lieb haben, nicht wahr, meine Rosie? Und dann eines Tages, wenn mein süßes Mädchen mich fromm und gut sein gelehrt hat –«

»Das brauchen Sie nicht zu lernen – Sie sind es,« fiel sie ihm mit einem seligen Blick aus ihren Kinderaugen ins Wort.

»Nun dann, laß mich so sagen: Wenn wir uns näher kennen gelernt haben, dann wollen wir deinen Bruder ins Vertrauen ziehen; bis dahin hüten wir unser Geheimnis, mein Herzenslieb!«

Ach, er war wohl vorsichtig genug; er hatte Uebung im Bewahren von derlei Geheimnissen und verbarg seine Gefühle meisterhaft, aber bei der armen kleinen Rosie stand es anders; wenn er sie anredete, so war sie wie in Glut getaucht, in ihren Augen schimmerte es feucht und eine Antwort brachte sie nicht über ihre Lippen. Sir Wilfrid war es, der zuerst diese Veränderung in ihrem Wesen gewahr wurde und die Aufmerksamkeit Lenas darauf lenkte, die von nun an Rosie scharf beobachtete und bald zu der Ueberzeugung gelangte, daß zwischen ihr und dem Kapitän geheime Beziehungen existierten. Sie bemerkte nach einigen Tagen, daß Rosie nachmittags, während sie und Lady Otto plaudernd beisammen saßen, regelmäßig unsichtbar war. Auf ihre Frage, wo diese sich herumtreibe, erfuhr sie, daß Rosie im Park spazieren gehe, und als sie ihr dies als unschicklich untersagte, war Rosies Widerspruch so leidenschaftlicher Art, daß es ihren Verdacht nur bestätigte. Ihr Denken und Sinnen war nun nur darauf gerichtet, Beweise zu entdecken, denn mit bloßen Vermutungen konnte sie nicht vorgehen.

Rosie war in höchster Aufregung über Lenas Vorwürfe zu ihrem Bruder geeilt, und nachdem sie dessen Erlaubnis für ihre »einsamen« Parkspaziergänge ohne große Schwierigkeiten errungen hatte, lief sie mehr als sie ging in den Park, wo sie nach kurzer Zeit mit Kapitän Dorsay zusammentraf.

»Weißt du, daß ich seit länger als einer Stunde hier auf und ab gehe, Rosie; was hielt dich so lange auf?« fragte er.

»Ach, ich sprach mit Wilfrid und Lena, Jack. Denke dir, sie ist so boshaft und wollte, daß mein Bruder mir das Spazierengehen verbieten sollte – es sei gefährlich, meinte sie. Kann sie erfahren haben, daß wir uns treffen, Liebster?«

Der Kapitän pfiff mit einigem Unbehagen vor sich hin; gleich darauf schüttelte er aber den Kopf.

»Nein, Rosie, das ist höchst unwahrscheinlich. Selbst wenn jemand von der Dienerschaft uns gesehen hätte, so wäre es wohl keinem aufgefallen, daß ein Herr mit einer Dame spazieren geht.«

»Gewiß nicht! – nur – Jack – ach, ich wollte, ich dürfte meinem Bruder alles sagen – du weißt nicht, wie gut er ist!«

»Mein Herzenskind,« sagte Dorsay, seinen Arm um sie schlingend, »ich habe dir ja gesagt, daß das vorderhand ganz unmöglich ist. Kannst du das alles nicht mit vollstem Vertrauen mir überlassen? Ich bin nicht in der Lage, dir ein Heim bieten zu können, mein süßes Mädchen. Sir Wilfrid würde meinen Antrag keinesfalls annehmen, ja er würde mir jeden Verkehr mit dir untersagen – und das würde mir das Herz brechen, das könnte ich nicht ertragen.«

»Aber müßte er denn das thun?« fragte Rosie innig. »Wenn deine Armut das Hindernis bildet, Jack, ach, wir können ja warten, solange es sein muß. Ich will ja nicht heiraten, Liebster, nur möchte ich, daß Wilfrid um unsre Liebe wüßte und sich über mein Glück freuen könnte.«

»Glaubst du, daß er sich freuen würde, daß du einen Mann liebst, der kein Vermögen hat und noch einmal so alt ist als du?«

Tiefe Traurigkeit, aber kein Vorwurf, kein Groll malte sich auf Rosies Zügen. »Ich weiß ja, daß du das alles viel besser beurteilen kannst, aber dies Verheimlichen macht mich so elend, ich komme mir immer wie eine Lügnerin vor –« das arme Kind fing zu weinen an und Jack Dorsay zog sie an seine Brust und suchte sie zu trösten. So standen sie, eng aneinander geschmiegt, ganz in sich versunken, als sie plötzlich durch eilig näherkommende Fußtritte aufgeschreckt wurden.

»Trockne deine Augen, rasch, rasch!« flüsterte der Kapitän, und während sie eilig gehorchte, stand Lady Ewell schon mit blitzenden, zornfunkelnden Augen vor ihnen.

»Du erbärmliches Geschöpf,« rief sie, »ich ahnte wohl, um was es sich handelt. Sofort kommst du mit mir zu deinem Bruder!«

Sie faßte Rosie am Arm, aber diese riß sich los und rief, näher zu Dorsay tretend: »Wag es nicht, mich anzurühren! Du hast kein Recht, so zu mir zu sprechen! Sprechen Sie, Jack, sagen Sie ihr, daß es kein Unrecht war!«

»Kein Unrecht! In der That!« wiederholte Lady Ewell bebend. »Kann es etwas noch Schlimmeres geben, als daß ich dich hier allein mit dem Kapitän finden muß? Du ehrvergessenes Mädchen!«

»Ruhe – Ruhe – Lady Ewell, Sie gehen zu weit!« sagte Dorsay. »Ich glaube, daß Sir Wilfrid selbst nichts dagegen einzuwenden hat, daß ich seine Schwester auf einem Spaziergang begleite.«

»Glauben Sie vielleicht, daß ich nicht gesehen habe, wie Sie sie im Arm hielten und küßten, als ob sie Ihr Weib wäre?« versetzte sie scharf. »Versuchen Sie nicht, mich zu täuschen, Jack; ich werde nicht dulden, daß Sie Schande über die Familie bringen, indem Sie zu Ihrem Zeitvertreib dies Mädchen zum Narren haben – das erkläre ich Ihnen.«

»Schande! Wie wagst du das Wort auszusprechen in Bezug auf – auf Jack und mich?« rief Rosie flammenden Auges. »Wir werden uns heiraten – später – wenn er mehr Geld hat –«

»Heiraten!« lachte Lady Ewell mit schneidendem Hohn. »Ein nettes Märchen für die Kinderstube! Als ob Kapitän Dorsay heiraten wollte oder könnte

»Lady Ewell,« rief Dorsay rasch, »ich muß Sie bitten, zu schweigen. Dies Geheimnis wurde Ihnen anvertraut; wenn Sie es verraten, brechen Sie ein heiliges Gelöbnis!«

»Ich will schweigen – unter einer Bedingung: Sie erklären Miß Ewell in meiner Gegenwart, daß ein nicht zu beseitigendes Hindernis Ihnen eine Heirat unmöglich macht und daß Sie bei all Ihren Liebesschwüren keinen Augenblick eine solche im Sinne hatten.«

»Miß Ewell weiß dies,« versetzte er nach einigem Zögern, »ich habe es ihr erst heute wiederholt.«

»Und du kamst dennoch hierher und ließest dich küssen, Rosie – o du Ausbund von Tugend!«

» Jetzt nicht, sagtest du, Jack,« stammelte das arme Kind nach Atem ringend, »das wußte ich, daß du mich jetzt nicht heiraten kannst, aber später – du sagtest doch, später – Jack –«

»Kapitän Dorsay, ich warte darauf, daß Sie meine Bedingung erfüllen, oder ich werde Miß Ewell belehren, weshalb Sie keine Ehe eingehen können.«

»So niedrig könnten Sie sein, Ihren Eid zu brechen?«

»Weshalb mußte ich denn diesen Eid schwören?« unterbrach sie ihn mit schriller Stimme. »Warum vertrauten Sie mir denn das Geheimnis Ihres Lebens an, nur weil Sie gezwungen waren, mir zu erklären, warum Sie mich nicht heiraten konnten, nachdem Sie mir so lange und so leidenschaftlich –«

»Lena, setzen Sie Ihre Selbstachtung und die Achtung für Ihren Gatten nicht ganz aus den Augen!«

»Achtung für meinen Gatten! Weil Sie so große haben! Besitze ich nicht Dutzende von nach meiner Verheiratung geschriebenen Briefen? –«

»Rosie, ich bitte und beschwöre Sie, verlassen Sie uns!«

»Nein, ich bleibe. Ich will alles erfahren!«

»Und du sollst auch alles erfahren,« fuhr Lena außer sich fort, »du sollst sie kennen lernen, des Mannes ganze Verräterei und Falschheit. Er war mein Geliebter seit Jahren und behauptete es noch zu sein, und wenn jenes Hindernis nicht bestanden hätte, so wäre ich sein Weib und nicht das deines Bruders. Aber er soll keine mehr betrügen –«

»O, ist es denn wahr, was sie sagt, daß Sie – Sie – Lena lieben?« fragte Rosie mit einem Blick voll Todesangst.

»Lady Ewell, es ist weder großmütig noch klug, daß Sie dies Thema berührt haben, und ich weiß nicht, wie ich als Mann von Ehre diese Frage beantworten soll –«

»O seien Sie nicht allzu besorgt um Ihre Ehre,« sagte Lady Ewell höhnisch, »und auch nicht um die meinige. Ich habe Beweise genug für die Wahrheit meiner Worte; wenn Sie männlich handeln wollen, so gestehen Sie es frei,«

»O, bitte, thun Sie es,« bat Rosie, »ich muß alles wissen.«

»Ich kann nicht leugnen, daß ich so glücklich war, die Gunst von Miß St. Blase zu besitzen,« sagte der Kapitän. »Seit sie Lady Ewell geworden, ist das natürlich vorüber.«

»Es ist nicht vorüber – gestern abend versicherten Sie mich, daß es nie vorüber gehen würde!«

»Sie sind erbarmungslos –«

»Es ist genug – mehr will ich nicht hören,« schluchzte Rosie, »ich war sehr thöricht und sehr leichtgläubig, aber das, wofür Lady Ewell mich hält, war ich nie.«

»Gewiß nicht. Ich allein trage alle Schuld und ich erbitte Ihre Vergebung, für alles, was Sie dadurch erlitten, Miß Ewell,« sagte der Kapitän. Er lüpfte den Hut und entfernte sich – glühend vor Beschämung und Rachedurst. Einen Blick sandte Rosie ihm nach und dann schritt sie in entgegengesetzter Richtung davon. Lena, die nicht sicher war, was für Enthüllungen sie Sir Wilfrid zu machen im Begriff stand, eilte ihr nach.

»Was willst du thun, meine arme Rosie? Du mußt Sir Wilfrid nichts von dem Vorgefallenen erzählen. Die Männer sehen solche Dinge ganz anders an; er würde immer glauben, daß du zu weit gegangen seiest und den Kapitän ermutigt habest.«

»O, Lena, erlaß mir das! Ich will es keinem Menschen sagen; ich will ja nichts als alles vergessen, wenn ich nur könnte.«

»Ich war wohl ein wenig hart, Rosie, aber ich war so entrüstet über ihn, nicht über dich, mein armes Kind. Wenn du es ruhig überdenkst, wirst du einsehen, wie gut es war, daß ich meine Augen offen hielt und dich vor noch größerem Elend bewahrte!«

»Ja, ja, ich sehe es ja ein – und ich will ja nichts als fort – fort – fort von Lambscote.«

»Ich glaube auch, daß es am besten sein wird, wenn du für eine Zeitlang zu deiner Mutter zurückkehrtest. Du kannst ja wiederkommen, wenn Jack fort ist.«

»Ich werde nie wiederkommen,« rief das verzweifelnde Mädchen, »nie, nie, denn ich hasse dich – ich könnte eher ihn wiedersehen als dich nach den gräßlichen Dingen, die ich vernommen.«

Lady Ewell erschrak. »Was willst du damit sagen?«

»O, glaube nicht, daß ich es nicht verstanden oder es vergessen habe! Ich könnte nicht hierbleiben! Ich könnte nicht Tag für Tag Zeuge sein von meines armen Bruders Liebe und Ergebenheit, und ihm nicht die Augen öffnen – das wäre unmöglich –«

»Dann gehe, je eher, desto besser! Und merke dir, daß wenn du anfangen würdest, Geschichten über mich zu erzählen, du vielleicht finden würdest, daß ich dir mehr als gewachsen bin. Dein Wort gegen das meinige – wir wollen sehen, welche Liebe bei Wilfrid siegt!«

»Von mir soll er nichts erfahren! Es würde ihn zu unglücklich machen – aber deshalb muß ich fort.«

»Unter allen Umstanden; doch was für einen Grund willst du angeben?«

»Keinen andern, als den, daß ich nicht unter einem Dach mit dir leben kann,« rief Rosie heftig, eilte die Treppe hinaus und verschloß die Thür ihres Zimmers hinter sich.

Als Lady Ewell erkannte, daß eine Krisis unvermeidlich war, setzte sie ihre Mutter von dem Vorgefallenen in Kenntnis, um sich die Hilfe dieser streitbaren Macht zu sichern, wenn es zum Kampf kommen sollte.


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