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Im grünsten Winkel des grünen Chelsea, einer Vorstadt Londons, bewohnte vor etlichen zwanzig Jahren Mrs. Warner mit ihrer Tochter Hanna ein altväterisches, weiträumiges Haus. Sie war die Witwe eines Marineoffiziers, den sie so sehr geliebt hatte und auf den sie so stolz gewesen war, daß bei seinem plötzlichen Tode – er war zur See verunglückt – ihr ohnehin nie sehr klarer Verstand gestört wurde, und sie von da an in einem unzurechnungsfähigen Zustande, der aber völlig harmlos war, hinvegetierte. Hanna war beim Tode des Vaters ein vernünftiges, besonnenes Mädchen von fünfzehn Jahren und nach Ansicht sämtlicher Verwandten gänzlich befähigt, der Mutter die spärliche Pension, auf die sie nun ausschließlich angewiesen waren, etwas vermehren zu helfen. Mutter und Tochter wurden in dem behaglichen alten Hause installiert, wo Hanna heranwuchs, ohne andre Bildungsmittel als Bücher und ihre eigne Gedankenwelt, und die Führung eines Haushalts ebenso praktisch erlernte, wie die Kunst, aus einem Schilling deren zwei zu machen.
Das obere Stockwerk des Hauses ward möbliert vermietet und stand selten leer, denn es war ein liebliches kleines Anwesen und Hanna machte es ihren Mietern so wohnlich, daß keiner an ein Wegziehen denken mochte. Zur Zeit hatten sie drei ständige Hausgenossen, die alle das alte Haus als ihre Heimat ansahen. Eine Treppe hoch wohnte Mr. Wilfrid Ewell, der in Somersethouse eine bescheidene Anstellung hatte; über ihm Mr. Cobble, der in den Spitälern Studien machte, und ein Zimmer zu ebener Erde hatte Miß Prosser, eine Lehrerin, inne, welche die Mahlzeiten mit der Familie einnahm. Hanna war froh, daß dieselbe ihrer Mutter häufig Gesellschaft leistete, denn diese war nur glücklich, wenn sie mit irgend jemand über den verstorbenen Lieutenant plaudern konnte. Das Wohnzimmer war ringsum mit Trophäen ihres Helden geschmückt – Büchern, Photographien, Muscheln, ausgestopften Vögeln und andern Ungeheuerlichkeiten – die er von seinen Reisen zur Erbauung der Seinigen heimgebracht hatte. Hanna selbst hatte nicht Zeit, die sich endlos wiederholenden Erzählungen von ihres Vaters Ritterlichkeit, Güte und Tapferkeit anzuhören. Sie hatte die Geschichte seiner Werbung und jedes zärtlichen Wortes, das er bei dieser oder jener Gelegenheit gesprochen, unzähligemal gehört, und die Arbeit in Haus und Küche, bei der nur ein einziges Dienstmädchen sie unterstützte, nahm sie vollauf in Anspruch. Ueberdies hatte das Mädchen ihre eignen, ernsten Gedanken; Gedanken, an denen ihre arme kindische Mutter keinen Anteil haben konnte. Die Zurechnungsfähigkeit der guten Frau ging nicht weiter als bis zu Einkäufen von Gemüsen oder Eiern im Wert von ein paar Schilling, in allem übrigen mußte sie behütet werden wie ein Kind und oft war sie recht schwer zu behandeln. So war es gekommen, daß Hanna mit neunzehn Jahren in allen Geschäfts- und Geldangelegenheiten eine Sicherheit und Klarheit erlangt hatte, die weit über ihre Jahre ging, während sie in allem, was ihre eigensten Angelegenheiten betraf – in alledem, wo es sich um ein Frauenherz und Schicksal handelt, so unerfahren war wie ein Kind. Hier schöpfen wir unsre Weisheit aus den Erfahrungen unsrer Mütter, und Hanna hatte keine Mutter gehabt, die sie zu leiten und zu warnen gewußt hätte; sie war aufgewachsen mit ihren eignen Träumen und lebte in einer Phantasiewelt, die sie mit selbstgeschaffenen Wesen bevölkerte; sie hatte nie in Gesellschaft verkehrt und niemals Welt und Menschen kennen gelernt.
Das alte, winkelige Haus, um welches rings eine Veranda lief, die im Sommer von Geißblatt, Clematis und Schlingrosen fast verdeckt war, stand mitten in einem ebenso altväterischen, labyrinthischen Garten. Wie hing Hannas Herz an diesem Garten! Ihre glücklichsten Stunden hatte sie darin verlebt, im Mondschein in den versteckten, lauschigen Wegen zwischen dem Gebüsch umherwandelnd, und welche Seligkeit war es nicht, auch nur für fünf Minuten der heißen, dunstigen Küchenatmosphäre zu entfliehen und in der lieblichen Umgebung ihren eignen Gedanken nachzuhängen. Gibt es etwas Stimmungsvolleres als so einen altmodischen, unregelmäßig angelegten Garten, in dem nicht zwei Beete symmetrisch sind? Dieser hatte dazu noch einen stattlichen, von zwei Maulbeerbäumen beschatteten Rasenplatz, denn er hatte einst zum Park des Kardinals Wolseley gehört und über einer jetzt zugemauerten Thüre war noch das bischöfliche Wappen zu sehen. Hanna war nicht reich genug, ihren Garten alljährlich mit prunkenden Geranien, Calceolarien und Lobelien zu bepflanzen, und das kam vielleicht gerade der Erhaltung seiner eigenartigen Schönheit zu gute. Er war reichlich mit perennierenden Blumen geschmückt, die Jahr um Jahr wieder blühten und Hanna mit jedem Jahr lieber zu werden schienen. Die Maiblumen längs der Mauer, die blauen Schwertlilien, die aus dem gestreiften türkischen Grase hervorzuwachsen schienen, die prächtigen Nelken und die blaßgelben Theerosen, wie sorgfältig band sie eine jegliche auf und sah sie nach allen!
Es war Hanna, als ob sie sich nie im Leben von dem Fleck Erde trennen könnte, und doch – glücklich war das Mädchen nicht. Selbst in ihren frohesten Augenblicken schien eine gewisse Bangigkeit über ihrem Wesen zu liegen; sie war ruhig, heiter, voll Selbstbeherrschung, aber sie sang nie bei ihrer Arbeit, wie man es mit neunzehn Jahren zu thun pflegt, und sie zeigte keinerlei Verlangen nach den Vergnügungen, die ihrem Alter zukommen. Ihr Leben ging auf in der Sorge für ihre Mutter und das Behagen ihrer Mieter, dann kam noch ihr Garten und vielleicht – wer weiß? – die Träume, die sie in demselben träumte.
Es war ein Juniabend, still und heiter wie sie selbst, an dem Hanna nach des Tages Arbeit ihre geliebten Blumen begoß; sie trug ein schwarz und weißes Kattunkleid, eine leinene Schürze und einen großen mit Musselin bezogenen Hut. Es war ein hübsches Bild als sie so dastand mit der Gießkanne in der erhobenen Hand – die Schwertlilien reichten fast bis an ihre Kniee, im Hintergrund stand ein Jasminstrauch mit duftigen Blüten überschneit, während ein Zweig dunkelroter Rosen, welchen der Wind letzte Nacht von dem Bogengitter losgerissen hatte, auf ihren Hut herabhing und sich in die Musselinschleife einhakte. Das Hübscheste in dem Bilde war aber das Mädchen selbst – hübsch und anmutig und wunderbar frei von aller bewußten Gefallsucht. Gerade und ehrlich blickte sie ihren Freunden ins Gesicht aus einem Paar tiefblauer Augen mit dunklen Wimpern, von dichten Augenbrauen überspannt; ihr Haar war lichtbraun mit einem goldenen Ton, viel heller als die Wimpern, und ihre Hautfarbe zart, ohne blaß zu sein. Das Charakteristischste aber war ihr Mund; ein hübscher Mund mit festgeschlossenen Lippen und einem kräftigen Kinn; es lag neben aller Lieblichkeit viel Stetigkeit und Willenskraft darin, die sie wahrhaftig nicht von ihrer schwachen Mutter überkommen.
Plötzlich trat eine kleine, phantastisch gekleidete Gestalt aus dem verschlungenen Wege und Mrs. Warner stand neben ihrer Tochter. Es war schwer zu glauben, daß sie Mutter und Kind waren; Hanna überragte ihre Mutter um mehrere Zoll und ihre regelmäßigen Züge zeigten auch nicht die entfernteste Aehnlichkeit mit Mrs. Warners aufgestülpter Nase und runden Vogeläugchen. Die kleine Dame trug ein sehr buntes Kleid und eine wunderbare, selbstfabrizierte Haube. Hanna hatte lange versucht, ihre Toilette in normaler Verfassung zu halten und sie nicht auffallend werden zu lassen, da sie aber fand, daß die Mutter dabei unzufrieden und unglücklich wurde, ließ sie ihr den Willen. Heute erschien sie in einem hellblauen, mit Rot garnierten Kleide, das durch einen abenteuerlichen Spitzenkragen verschönt wurde. Ihre Haube war mit jeglicher gemachten Blume und jedem Bandrestchen verziert, deren sie habhaft werden konnte, und vorne stak eine ungeheure Brosche daran – eine auf Elfenbein gemalte Ansicht des Tempels von Tanjora. Es war dies eins der letzten Geschenke des verstorbenen Lieutenants gewesen und die arme Frau sah einen Talisman darin, den sie unverbrüchlich an irgend einem Teil ihres Anzugs trug. Seit einiger Zeit behauptete sie, daß, sobald sie sich auch nur für eine Stunde von demselben trennen würde, dem Lieutenant ein Unglück zustoßen müßte – es war ihr glücklicher Wahn, an seinen Tod nicht zu glauben und unentwegt seine Rückkehr zu erwarten.
Als sie an diesem Juniabend auf ihre Tochter zutrat, wußte Hanna aus der Art, wie sie, den Finger auf den Mund legend, um sich blickte, sofort, daß sie irgend einen neuen Einfall in ihrem armen Kopfe hatte.
»Hanna,« begann sie geheimnisvoll, »Miß Prosser ist nicht nach Hause gekommen.«
»Nun, Mama, und was dann?«
»Es ist sechs Uhr; der Thee ist auf dem Tische; Sarah hat ihn gebracht.«
»Und du möchtest deinen Thee haben, Mütterchen,« sagte das junge Mädchen zärtlich, »weshalb hast du mich nicht schon lange gerufen? Du brauchst doch nicht auf Miß Prosser zu warten.«
»Aber es ist sechs Uhr, Hanna; du solltest nicht mit dieser Gleichgültigkeit über so ernste Dinge sprechen. Hast du denn vergessen, daß ich deinen Vater jeden Augenblick erwarte – daß er heute abend noch ankommen kann? Und Miß Prosser kommt nicht! Möglicherweise holt sie ihn ab – der Gedanke regt mich fürchterlich auf. Ich bin sehr gütig gegen sie gewesen und habe ihr viel von deines Vaters Schönheit und Güte erzählt – Hanna, glaubst du, daß man sich in jemand verlieben kann, den man nur vom Hörensagen kennt?«
»Ich glaube nicht, Mamachen,« versetzte Hanna lächelnd, »ich habe noch nie von einem derartigen Fall gehört.«
»Es würde mir aufrichtig leid thun, wenn ich Miß Prosser verleitet hätte, sich in deinen Vater zu verlieben; es könnte ja nur eine schmerzliche Enttäuschung für sie werden. Dein lieber Vater ist ein Ehrenmann und mir so treu ergeben. Als er mich fragte, ob ich sein Weib werden wolle – das Geißblatt blühte –«
»Du kannst mir das ein andermal erzählen, jetzt komm zu deinem Thee! Die Nachtluft ist nicht gut für deine Brosche!«
Dies stärkste aller Argumente drang durch und die kleine Frau trippelte eilig ins Haus. Als sie nun an ihrem Theetisch saß, wurde sie etwas vernünftiger; in solch lichten Momenten pflegte sie dann ihrer Tochter gegenüber einen diktatorischen, überlegenen Ton anzunehmen, was sehr belustigend hätte sein können, wenn es nicht so tief traurig gewesen wäre.
»Wo ist Mr. Ewell, Hanna?« fragte sie plötzlich.
»Ich weiß es nicht, Mama.«
»Du weißt es nicht? Du solltest es aber wissen! Der junge Mann ist schon seit zwei oder drei Tagen abwesend.«
»Morgen werden es vierzehn Tage, daß er fort ist,« bemerkte Hanna seufzend. »Vielleicht ist er bei seinen Verwandten.«
»Das glaube ich nicht! Er hat das Haus verlassen, weil du ihm frische Betttücher gegeben hast.«
»Aber, liebe Mama –«
»Ganz gewiß; ich habe es ja selbst gesehen. Und die feinste Leinwand überdies – weshalb hat Mr. Ewell leinene Betttücher und Mr. Cobble nur baumwollene?«
Das junge Mädchen lachte ein wenig unsicher.
»Ich nahm die besten Betttücher für die besten Zimmer; in Zukunft will ich meine Gunst gleichmäßiger verteilen.«
»Und seine Socken stopfst du auch,« fuhr die Mutter vorwurfsvoll fort, »und wann arbeitest du je etwas für deinen Vater? Er wird das erwarten, wenn er heimkommt, Hanna! Du glaubst doch, daß er kommen wird? Du glaubst doch, daß ich deinen teuren Vater, wenn nicht heute, so doch morgen, wiedersehen werde?«
In diesem Augenblick pochte der Briefträger und Hanna eilte an die Hausthüre, um einen Brief in Empfang zu nehmen, den sie in ihrer Schürzentasche verbarg, ehe sie ins Eßzimmer zurückkehrte. Es wäre nicht nötig gewesen, Mrs. Warners flüchtige Neugier war schon entschwunden und sie war eifrig beschäftigt, die Muscheln und ausgestopften Vögel abzustäuben, wobei sie mit den Photographien ihres Gatten wie mit lebendigen Wesen plauderte. Hanna konnte also mit Leichtigkeit in den Garten entschlüpfen, um dort den Inhalt ihres Briefes ungestört zu verschlingen. Derselbe war nicht lang, aber äußerst überraschend.
»Liebste Hanna!
»Ich war in der letzten Woche so sehr beschäftigt, daß ich keine Zeit fand, Dir zu schreiben, werde aber morgen oder übermorgen nach Hause kommen, wenn auch nur auf eine Stunde. Ich habe Dir eine sehr unerwartete Neuigkeit mitzuteilen. Mein Vetter, Sir Robert, und sein Knabe starben letzte Woche binnen wenigen Stunden an Diphtheritis. Infolge dieses Ereignisses fallen, wie Du Dir denken kannst, Titel und Gut mir zu, aber ich bitte Dich, niemand etwas darüber mitzuteilen, ehe ich Dich gesprochen habe.
Treu Dein
Wilfrid Ewell.«
» P. S. Nebenbei, wenn Kowles, der grobe Kerl, wieder wegen seiner Rechnung brummt, so verweise ihn an Mr. Parfitt, 33, Comentary Inn. Und schicke mir per Droschke ein paar reine Hemden etc nach dem Albany-Hotel, so rasch als möglich – ich werde Dir sehr dankbar sein.«
Hanna überlas die wenigen Zeilen mehr als einmal, ehe sie die ihr gemachte, erstaunliche Mitteilung völlig begriff.
»Ein Baronet!« wiederholte sie wieder und wieder, während Nachtschmetterlinge um sie herflatterten und die Schrift in der rasch zunehmenden Dunkelheit unlesbar ward. »Sir Wilfrid Ewell – auf Lambscote leben – auf dem herrlichen Gute, von dem er mir so viel erzählt hat! Und alles sein eigen! Und Sir Roberts Equipagen und Pferde und Gewächshäuser haben! Ich kann es nicht glauben – es wäre zu schön!«
Und dann weilten ihre Gedanken mit inniger Teilnahme bei dem Verstorbenen, den sie nie gesehen hatte, und bei seiner jungen Witwe, und ihre Augen waren feucht, als sie vor sich hinflüsterte: »Armer Sir Robert! Wie traurig für Lady Ewell, ihn und ihren Knaben an ein und demselben Tage verlieren zu müssen. Wie unglücklich wird sie sein! Warum Will nur so wenig darüber sagt? Wahrscheinlich thut es ihm so weh, daß er gar nicht darüber sprechen kann – sein Herz ist ja so weich. Ach wie gern möchte ich die arme Lady Ewell trösten können.« Nun fiel aber dem praktischen Mädchen das Verlangen des Briefschreibers nach reiner Wäsche wieder ein und sie eilte ins Haus, packte die Sachen zusammen und trug sie selbst nach dem nächsten Droschkenstand, damit das Dienstmädchen die neue Adresse nicht lesen und ausplaudern sollte. Und als sie in der Dunkelheit heimwärts schritt, leuchtete ein neuer, freudiger, fast triumphierender Glanz in ihren Augen und sie wiederholte sich fort und fort: »Sir Wilfrid Ewell auf Lambscote! Sir Wilfrid und Lady Ewell auf Lambscote! O, es ist ja unmöglich! Es kann nicht wahr sein! Das wird Jahr und Tag dauern, bis ich's fassen kann!«