Kurt Martens
Roman aus der Décadence
Kurt Martens

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II.

Mein Amtsrichter kratzte sich. Von seinem Haupte fielen die Schuppen auf den fettigen Rockkragen wie Schnee. Vor der Verhandlung sprach er noch rasch ein Urteil mit mir durch, auf dessen Gründe er sich nicht mehr recht besinnen konnte. Deshalb kratzte er sich, verlegen und ärgerlich. Indessen war es neun Uhr geworden. Die beiden Schöffen traten ins Zimmer, ein Hauptmann a. D., der die Hacken zusammenschlug, und ein Schuhwarenhändler en gros, der zum Gruße mit dem Oberkörper nickte. Darauf fuhr der Amtsrichter knurrend in seinen Talar, der ebenfalls von Fett und Staub ein wenig schimmerte. So konnte man nicht sagen, daß der Talar Anmut und Würde des Amtsrichters hob, aber er verhüllte wenigstens den Rock, die Weste und die zerknitterten Hosen.

»Zwölf Sachen heute,« meinte der Hauptmann, der das Bedürfnis fühlte, eine Konversation zu beginnen.

Der Amtsrichter fluchte vor sich hin: jawohl, zwölf Sachen und an die dreißig Zeugen. Das könne wieder bis Nachmittag dauern. Dazu noch Stöße rückständiger Akten. Und überhaupt . . .

35 Er schien sich gar nicht recht extra zu fühlen, der wohlbeleibte Herr. Entweder hatte er gestern abend im Skat verloren, oder die Verdauung war ausgeblieben. Anderes Unheil konnte seinem stillen Dasein doch kaum widerfahren.

Schließlich nahm er die Akten unter den Arm und schlürfte mißvergnügt hinüber nach dem Verhandlungssaal. Hinter ihm her die Schöffen, als letzter ich, der Protokollant, mit meinen Formularen.

Immer wenn ich die geduldigen Bogen vor mir ausbreitete und die Feder ansetzte, um zwischen die ewig gleich gedruckten Worte des Gesetzes das jeweilige Vergehen einzutragen, überfiel mich das Bewußtsein, der Gesellschaft als notwendiges Glied zu dienen und meine Pflicht zu erfüllen als Staatsbeamter und als Mensch. Dies Bewußtsein hätte mich erheben sollen. Doch war es leider nicht an dem. Vielmehr ärgerte ich mich der erfüllten Pflicht und mußte über sie lachen. Möglich, daß es meine Kollegen, die Karriere machen wollten, lockte, auch im kleinen getreu zu sein. Bei mir fehlte dieser Ansporn. Der Name meines Amtsrichters, den ich wohl hundertmal die Woche zu schreiben hatte, ödete mich bereits dermaßen an, daß ich die Buchstaben zu bizarren Bildern verschnörkelte, um wenigstens seine Linien zu verändern.

Die Verhandlung begann wie gewöhnlich mit einigen 36 Fällen von Bettelei, Landstreichen, schüchternem Diebstahl und anderen Hungerdelikten. Alte verwahrloste Weiber wurden hereingeführt in zerfetzten, schmutzstarrenden Röcken, heimatlose Dirnen, die der Gendarm von der Landstraße aufgelesen, Pennbrüder, Taschendiebe, Strolche.

Vor jeder Sache las der Richter mechanisch den Eröffnungsbeschluß herunter, stellte Personalien und Vorstrafen fest, aus denen immer nur wieder eines hervorging: gehungert, gesessen und wieder gehungert.

Ich blieb hart und gelangweilt bei diesem ausgesungenen alten Liede, hart wie der Richter, hart wie der Gendarm, der die erforderlichen Eide dazu schwört. Nur zuweilen, wenn dort hinter den Schranken ein Mann stand, dessen Kraft noch nicht gebrochen schien, der auf breiten Schultern sein jammervolles Hundeleben durch Hunger und Gefängnis weiterschleppte, kam es mir wie ängstliche Verwunderung, daß dieser Kerl nicht schon mit einem Sprunge über die Planke setzte, das Protokoll mir aus den Händen riß und es den Richtern um die wackelnden Köpfe schlug. Und während meine Feder eintönig weiterkritzelte, erwog ich bei mir in beschaulichem Sinnen die Frage, ob ich wohl selbst als solch Enterbter mich entschließen würde, unter Verübung möglichst bedeutsamer Rachetaten mein Dasein tobend zu verlassen. Fast wollt' ich mich dessen 37 rühmen. Aber vielleicht erstickte auch das Elend die Lust auf originelle Pläne.

Alle diese Leute waren wie mit Blödsinn geschlagen; kein vernünftiges Wort aus ihnen herauszubringen. Es interessierte sie gar nicht, ob man ihnen drei Monate anbot oder das Doppelte. Mit Vorliebe heulten sie. Wenn der Richter an ihnen herumfragte, hielten sie es nicht der Mühe wert, ihm zu antworten, sondern legten die breiten, rissigen Hände vor das Gesicht, schluchzten und winselten.

Da war zum Beispiel eine Mutter. Zwölfmal hintereinander hatte sie in der Markthalle Äpfel gestohlen. Der Richter fragte sie, ob sie die Äpfel sofort verzehrt habe. Dann wäre es nämlich bloßer »Mundraub« gewesen, und es wäre ihr noch leidlich ergangen. Aber nein, sie hatte die Äpfel jedesmal mit nach Hause genommen, aufbewahrt und ihre Kinder damit gefüttert. Also Diebstahl, ganz gemeiner Diebstahl nach Paragraph zweihundertundzweiundvierzig. Nun fragte der Richter sie weiter, ob sie sich ein für allemal entschlossen habe, Äpfel zu stehlen. Dann wäre es nur ein »fortgesetztes Verbrechen« gewesen, und das ging auch noch an. Aber zu diesem einmaligen Entschlusse wollte sie sich durchaus nicht bekennen. Sie schüttelte den Kopf und fing an zu heulen. – Also jedesmal hatte sie es nicht wieder tun wollen und hatte es dann doch immer 38 wieder getan? Sie nickte und heulte. – Also Geständnis der »Realkonkurrenz«! Kostete »eine Gesamtstrafe, welche in einer Erhöhung der verwirkten schwersten Strafe« besteht.

»Ha'm Se noch 'was ze Ihrer Verdeidchung anzefiehren?« schloß der Amtsrichter.

Offenbar nein, denn sie winselte nur.

Darauf zogen wir uns ins Beratungszimmer zurück. –

Mein Amtsrichter hatte sich inzwischen in seinem Beruf wieder zurechtgefunden und wurde gemütlich.

»Na, Gott sei Dank,« sagte er, »der halwe Vormiddach is schon rum. Nu kenn' 'mer uns ämal mit guten Gewissen schtärgen.«

Dabei zog er seine angebissene Morgensemmel aus der Tasche und kaute behaglich mit vollen, schmatzenden Backen. Auch die Schöffen widmeten sich ihrem Frühstück, der Hauptmann seinem Schinkenbrötchen, der Schuhwarenhändler seiner Wurst.

Ich saß abseits vom Beratungstische, an einem Pult, wo ich behufs juristischer Ausbildung von ferne zuzuhören pflegte. Gern hätte ich ebenfalls gefrühstückt. Doch es schickte sich nicht für den Referendar.

»Na, Herr Hauptmann,« fragte der Amtsrichter, als er sich satt gegessen, »was gämer denn dem Frauchen?«

Der Hauptmann hatte keine Ahnung, was das Frauchen verdiente, und räusperte sich.

39 »Schlimm is die Sache ja nicht,« sagte er endlich.

»Nee, schlimm is se nich,« bestätigte sein Kollege.

»Wie wär'sch denn, wenn mer sagten: eene Woche?« schlug der Richter vor. Mit großer Behendigkeit gab er dafür die juristischen Gründe und fragte, ob die Herren Schöffen etwas dagegen einzuwenden hätten? Nein, sie wußten natürlich nichts gegen den Herrn Amtsrichter einzuwenden. Es blieb also bei einer Woche Gefängnis.

Als die Frau dann ihr Urteil vernommen hatte und abgeführt wurde, schien es ihr wahrhaftig noch zuviel. Denn sie krümmte sich und wimmerte wie ein junger Hund.

Nun, derartige Szenen kannte ich. – Nichts weiter als eine Erscheinung des sogenannten Pauperismus, der bekanntlich sehr alt ist und an dem sich nicht viel ändern läßt. »Arme und Reiche hat es immer gegeben«, pflegte unser Religionslehrer sehr richtig zu bemerken. Übrigens hat man ja auch die soziale Reform . . .

Aber eine andere Sache kam noch an diesem Vormittag, ein Sittlichkeitsdelikt, begangen von einem hübschen, blassen Jungen, der kaum sechzehn Jahre alt war. Bewegungslos stand er in dem hölzernen Verschlag und blickte mit starren, verängstigten Augen seine Richter an. Als Zeugen waren drei Dienstmädchen erschienen, die ihn angezeigt hatten und nun 40 beschwören sollten, daß sie den Angeklagten abends unter einem Torweg getroffen und dort an seinem entblößten Zustande Ärgernis genommen hätten. Die Mädchen saßen auf der Zeugenbank nebeneinander, stießen sich mit den Ellbogen in die Seite und kicherten verstohlen. Der Junge aber starrte nur immer seine Richter an mit weit aufgerissenen, verzweifelten Augen, aus denen der ganze Jammer seiner ratlosen Jugend sprach.

Das Verhör des Angeklagten ward oberflächlich und trocken heruntergewickelt wie bei all den Fällen, wo der Richter fürchtet, durch eindringliche Fragen die Wohlanständigkeit zu verletzen. Es genügte ihm das Geständnis der an öffentlichem Orte begangenen unzüchtigen Handlung. Der Angeklagte gab auch das Bewußtsein der Strafbarkeit zu. Er habe gewußt, daß die Mädchen jeden Abend vorüberkommen und erschrecken würden, wenn sie ihn sähen. Er habe es nicht tun wollen und habe es doch immer wieder tun müssen aus irgendeinem unbestimmten Drange, gegen den er sich vergebens sträubte.

Nur das gesetzlich vorgeschriebene »Ärgernis« war noch festzustellen. Eines der Dienstmädchen schwur, daß sie es jeden Abend von neuem genommen habe. Der Amtsanwalt stellte den Strafantrag; der Verteidiger, ein Referendar mit verkatertem Couleurgesicht, bat, die Einsamkeit des Ortes strafmindernd in Betracht zu 41 ziehen. Der blasse, zitternde Junge aber, halb irrsinnig vor Angst, stammelte hilflose Worte:

»Ich konnte ja nicht . . . ich wußte ja nicht . . . wahrhaftigen Gott, ich wußte mir gar nicht zu helfen!«

Als ich die Tür des Beratungszimmers hinter mir schloß, hörte ich noch immer dies jammervolle Stammeln:

»Ich konnte nicht anders, ich wußte mir gar nicht zu helfen!«

Mir kam die Erinnerung, daß ich selbst in jenem Alter, nachts, im Schlafsaal des Alumnats mein Gesicht in die Decken wühlte, mir die Lippen zerbiß und das Fleisch zerkratzte, weil ich nicht aus noch ein wußte vor den fremden gärenden Gefühlen.

Und nun setzten diese behäbigen Richter sich hin und warfen den Jungen ins Gefängnis, gegen Natur und Recht.

O, ich empörte mich selten, ich hütete mich wohl, lebendige Worte an stumpfe Petrefakte zu verschwenden. Diesmal aber nahm ich mir doch die Freiheit, meinen Amtsrichter mit einem Gedanken zu belästigen:

»Verzeihen Sie, Herr Amtsrichter,« sagte ich, »verzeihen Sie, wenn ich mir eine Bemerkung erlaube, die vielleicht zur Sache gehört. Wäre es nicht angebracht, einen ärztlichen Sachverständigen herbeizuziehen?«

»Wie? – Was winschen Se, Herr Räfrendar?«

42 »Ich meine, es könnte hier leicht der Paragraph einundfünfzig in Frage kommen. Man möchte glauben, daß der Angeklagte sich in ›krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, wodurch seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war‹.«

»Ich waiß wirglich nich, Herr Räfrendar . . . mer ha'm diese Fälle immerwähr'nd, un' niemals dängt doch jemand d'ran . . .«

»Gerade deshalb erlaubte ich mir, darauf hinzuweisen. Vielleicht ist Ihnen bekannt, daß diese Angeklagten von den Ärzten sehr oft als Nervenkranke, als Exhibitionisten bezeichnet werden.«

»Se woll'n mer wohl mit d'n Deorieen von Herrn Lomproso un Genossen komm'n? Herr Räfrendar, das muß 'ch ablähnen.«

»Nein, Herr Amtsrichter, nur mit unserm Strafgesetzbuch selbst . . .«

»Äs is gud; ich danke Ihnen. Maine Härr'n Scheffen, entschuld'chen Se de Stärung.«

Somit war der Fall erledigt und zwei Monate Gefängnis wohl verdient.

Der Amtsrichter übertrug mir die Ausarbeitung des Urteils, und ich habe diese Gefängnisstrafe mit mancher Gesetzesstelle artig zu begründen gewußt. –

Die Luft im Verhandlungssaale wurde von Stunde zu Stunde stickiger. Ein widerwärtiger Dunst von 43 Armut, Schmutz und Aktenstaub lag wie eine Wolke in dem getünchten Raum.

Als wir endlich unsere zwölf Sachen erledigt hatten, eilte ich mit der alltäglichen Empfindung eines fast physischen Ekels hinüber nach meiner Amtsstube, um Hut und Pelz zu holen. Wie ein flüchtender Arrestant sprang ich im Flur die Stufen hinab. Ich konnte es gar nicht erwarten, draußen zu sein, obwohl es taute und regnete und auch der Straßenkot nicht gerade verlockend war.

Ich ging den Peterssteinweg entlang über den Königsplatz. Dort stieß ich auf die niedrigen schwarzen Verkaufsbuden, an denen man erkennt, daß in Leipzig Messe ist. Vor und hinter den Tischen stampften die Händler hin und her und überboten sich kreischend im Lob ihrer Waren. Fliegende Wursthändler standen an den Ecken und phantastisch gekleidete Konditoren, die in Glaskasten fragwürdige Brezeln boten. Die frierenden Gassenbuben wärmten sich an diesen Herden, lauschten dem Strom ihrer Rede und kosteten mit den Blicken.

Schmerzlich vermißte ich jetzt, im Winter, die Schaubuden und die Karussells. Denn das Bild vom Treiben unseres Volkes ist unvollständig, wenn seine Freuden dabei fehlen. Man muß die halbwüchsigen Burschen sehen, wenn sie in das Zelt der Riesendame stürmen, 44 und die aufgeputzten Damen, die auf der Rutschbahn vor zahlungsfähigen Studenten Parade fahren; man muß sich das betrachten, um die Natur des Volkes zu verstehen und mit nationalem Stolze sich daran zu weiden. Denn die Heiterkeit unseres Volkes ist urwüchsig und harmlos. Sein gesunder Geschmack bedarf nicht der verdorbenen Künste.

Vor dem Denkmal Friedrich Augusts des Gerechten – er sieht in seinem antiken Gewande sehr klein und komisch aus, pietätvoll hat man ihn so gelassen –, vor diesem Denkmal also fand ich eine Gruppe Menschen furchtbar interessiert und ausgelassen lustig. Ein Käufer lag mit seinem Lieferanten um zwei Groschen im Streite und sprach zu ihm unter dem Johlen des Publikums übelduftende Worte. Schließlich einigten sich die beiden auf eine Zahlungsklage vor dem Zivilgericht und eine Beleidigungsklage vor den Schöffen. Ich beglückwünschte sie zu ihrem Entschlusse, wenn es auch für sie vielleicht praktischer gewesen wäre, um das Recht zu würfeln. Denn sie konnten ja nicht wissen, ob nicht in ihrem Punkte gerade das Gesetz eine Lücke hatte oder, wenn auch nicht dies, ob es richtig ausgelegt war, endlich, ob der Richter in der Stimmung sein würde, ein Urteil zu »bauen«. Der Richter konnte sagen: ›Herr Rechtsanwalt, machen Sie doch die Sache tot!‹ Und der Rechtsanwalt, der mit dem Richter seinen 45 Stammtisch hatte, konnte gern zu Willen sein und einen gerichtlichen Vergleich abschließen, weil doch wohl nichts zu machen sei. Dann gab es zum Ärger noch die Kosten. Deshalb wäre es vielleicht besser gewesen, zu würfeln. –

Nun ging ich weiter und wollte, unter einem Bedürfnis nach Ruhe, Einkehr halten bei mir selbst. Da war es schon lange ganz still gewesen, still und etwas trübe wie auf einem Kirchhof, aber, abgesehen von kleinen Verstimmungen, doch immer stilisiert und menschenwürdig. Indes bemerkte ich auch heute wieder, daß seit der letzten Zusammenkunft mit Alice mein altes Gleichmaß immer noch verloren war. Die Seele, die sich spiegelte, fand ein unruhig flackerndes Zerrbild.

Aus quälenden Träumen, die gegen Morgen mir das Blut erhitzten, war die Gestalt der Freundin zurückgeblieben und begleitete mich lauernd auf allen Wegen. So oft ich zu mir selber kam, sah ich den Rhythmus ihrer flüchtigen Bewegung, wie von einer Tänzerin, die locken, oder einer Gazelle, die entweichen will.

Ich war in sie verliebt wie ein Schwärmer in den ersten Jahren seiner Reife; schmückte sie wie eine Heilige mit Lilien und züchtigen Schleiern, um sie anzubeten, und verwünschte den Übermut, mit dem ich sie mir entfremdet. Dazu die entsetzliche Furcht, daß es bereits zu spät sei, daß ich sie nicht mehr halten könne, 46 weil sie schon nach der Kraft des Mannes tastete, der sich auf Mut und Eroberung verstand . . . Was half da noch die Kunst der kleinen Mittel! Die Zeit reizvoller Spiele und der Tändelei war nun vorüber. Einst half mir wohl der Satz: Wissen ist Macht; jetzt aber galt es, kunstlos mannhaft sein, kampflustig und siegesgewiß, wie ein Feldherr oder auch nur – wie ein strammer Unteroffizier . . .

Und das allein fehlte mir. In allen Posen war ich wohlbewandert, nur nicht in der naiver Kraft.

Daß die Geliebte zu mir sagte: »Ja, ich gehöre dir. Nimm mich doch hin! Behalte mich!« – das hätte ich jetzt nicht mehr erreichen können. Deshalb war ich ratlos, wie ich sie halten sollte. Ich sann und rechnete mit Möglichkeiten. Meine Unruhe wuchs, und die gereizten Schläge meines Herzens, die mich mit Angst und Ermattung unaufhörlich peinigten, erpreßten mir Seufzer, die wie ein bettelndes Gebet um Frieden klangen.

In der Kurprinzstraße lag die kleine Weinstube, wo ich mit ein paar Freunden täglich zu Mittag aß. Dort blieb ich gern; denn es war eng und einsam da. Selten versuchte ein Fremder sich einzunisten oder zog sich doch bald wieder zurück vor den wilden, unverständlichen Gesprächen, die unsern Tisch zum Greuel aller Gäste machten.

Als ich eintrat, fand ich nur Erich Lüttwitz vor, der 47 heute zum erstenmal gekommen war, um Dimitri kennenzulernen. Jeder, dem ich von Dimitri erzählte, wünschte sich das, jeder wenigstens, der unzufrieden war mit sich selbst. Erich streckte mir die Hand entgegen und zog mich neben sich nieder. Sein Wesen war stets, vor allem in letzter Zeit, von überquellender Herzlichkeit. Doch schmiegte sich diese in die abgemessen glatten Formen einer vollendeten Courtoisie, die ihn selbst mir, seinem intimsten Freunde, gegenüber nie verließ. Auch sprach er leise mit jener bescheidenen, fast schüchternen Zurückhaltung, in die sich junge Offiziere vor alten Damen so angenehm zu kleiden wissen. Trotz seiner fünfundzwanzig Jahre war er bereits Assessor an der Kreishauptmannschaft, mit der Aussicht auf glänzendste Karriere.

Er wollte sofort alles mögliche von mir wissen: ob die Reclamausgabe des Schopenhauer zu empfehlen sei, ob er wohl Max Klinger in seinem Atelier besuchen dürfe; er fragte nach der neuesten Belletristik; alles Dinge, für die sich Assessoren sonst nicht zu interessieren pflegen. Aber es war mit Erich, seit vor einem halben Jahre sein Vater gestorben, eine merkwürdige Wandlung vorgegangen. Ähnlich wie mich selbst trieben ihn unstete Zweifel sprunghaft von Gedanken zu Gedanken, gaben ihm für seine Lebensführung allerlei fremdartige Entschlüsse ein, die er mit mir besprach und dann 48 verwarf. Es war auch bei ihm eine Leidenschaft, mit der er rang, aber nicht zum Weibe, sondern zum großen, vollen Leben selbst, zu einem Leben, vor dem er zu schaudern begann. –

Bald kam auch Dimitri Teniawsky. Sein schwerer weit ausgreifender Schritt ließ den Boden erdröhnen und die Gläser auf den Gesimsen klirren. Lüttwitz stand auf und stellte sich vor. Nicht ohne Respekt drückte er die Hand, die Dimitri freundlich und formlos ihm reichte.

»Wir brauchen heut' wohl niemand mehr zu erwarten,« sagte Dimitri und bestellte beim Küfer das Essen und den Wein.

Dann wandte er sich wieder an Lüttwitz:

»Sie sprachen von Schopenhauer, hörte ich eben. Lesen Sie den noch – oder schon?«

Erich bemerkte den scharfen, ausforschenden Blick, auch den sarkastischen Zug, der halb wie ein Lächeln, halb wie eine Narbe stets die Lippen Dimitris zusammenkniff.

»Ich fange an,« sagte er etwas empfindlich. »Ich fange mit Schopenhauer an. Sie haben ihn gewiß schon überwunden. Ich hatte noch keine Zeit dazu!«

»Ja, ich weiß, daß Sie Beamter sind.« Das Lächeln blieb, aber es nahm einen so offenen, liebenswürdigen Ausdruck an, daß Erich sich damit versöhnte.

49 »Vielleicht haben Sie auch ganz recht,« fuhr Dimitri fort. »Vielleicht brauchen Sie Schopenhauer. Wenigstens meint Just, daß er auch sein Gutes habe.«

»Das ist ein alter Streitpunkt zwischen uns,« erklärte ich. »Teniawsky schwört auf die Worte gewisser Philosophen. Er schwört sogar auf die Logik des Aristoteles.«

»Nur auf Wahrheiten, die ich an mir selbst erlebe,« bemerkte Dimitri trocken.

»Da hörst du es, Erich; Teniawsky erlebt Wahrheiten!«

»Ja!« sagte Dimitri, und sein Lächeln schien mich zu verachten. In dieser Miene von verschlossenem Hochmut mit den gütigen blauen Augen unter den Brauen, die er in die Höhe zog, glich er ganz dem Bilde des Zaren Nikolaus, seines Spielgenossen aus der Kinderzeit.

»Ich merke schon,« begann Erich wieder, »Sie wollen mir Nietzsche vorhalten.«

»O, nein, ich halte gar nichts vor. Was geht mich Nietzsche an! Ich bin kein Deutscher, der Zarathustra wie einen Mediziner konsultiert, weil ihm nicht wohl zumute ist. Dazu war euer Nietzsche, soviel ich ihn verstehe, selbst kein Deutscher, sondern ein Slawe oder zum mindesten ein Europäer.«

»Du streichst ihn also doch heraus,« warf ich dazwischen; denn es machte mir Freude, zu sehen, wie prächtig er sich noch ereifern konnte.

50 »Ja, den Deutschen gegenüber allerdings. Denn sie möchten am liebsten Kommentare zu seinen Büchern schreiben und sie in gereimte Jamben gießen. Und dann mühen sie sich, sein Lachen und seinen Prophetengang ihm abzugucken. Keinen Stümper gibt es, der sich nicht stolz von ihm beeinflußt fühlte. Und sind doch im Grunde alle elend und verzweifelt gerade wie er selbst. Nur daß er zuerst auf den Gedanken kam, den Grund des ganzen Elends bloßzulegen und zu träumen von einer Menschenart, die es überwindet. Das ist der Unterschied.«

»Und du? Du bist der Starke von Anbeginn, meinst du?«

»Ich bin Slawe und Barbar, und ob ich stark bin, schert mich ebensowenig wie eure Kultur. Jedenfalls aber macht es mir Spaß, zu sehen, wie sie durcheinanderpurzelt.«

Seine Augen blitzten, während er so sprach, und das Blut stand ihm glühend im Gesicht, so daß er gar nicht das Aussehen eines Mannes hatte, dem gleichgültig ist, was da geschieht.

Erich aber, der keinen Blick von ihm gewendet hatte, nahm sein Glas und stieß an das Dimitris.

»Herr von Teniawsky,« sagte er, »ich trinke auf Ihre Pläne!«

Überrascht sah ihn Dimitri an. Dann trank er schweigend den Wein auf einen Zug.

51 Seine Augen strahlten, verschmitzt und überglücklich wie die eines lachenden Erben. Ich beneidete ihn. –

Nun aber gab er dem Gespräch wohlweislich eine andere Richtung:

»Sie kommen nachher auch mit zu Esther?«

»Ja, wenn ich wirklich dort willkommen bin.«

»Aber gewiß,« beruhigte ich ihn. »Sie hat ausdrücklich um dich gebeten; das heißt, den Erich Lüttwitz will sie kennenlernen, nicht irgendeinen Assessor, der mit ihr flirten sollte.«

Erich betrachtete trübselig sein tadelloses Exterieur:

»Was bin ich denn mehr als irgendein Assessor?«

»Na, du wirst schon noch was Eigenes bei dir finden.«

»Ach, nichts, womit ich glänzen könnte.«

»Das sollen Sie auch nicht,« rief Dimitri fast entrüstet. »Überhaupt gibt es dort nichts von dem, was man einen ›angenehmen Familienverkehr‹ nennt, nicht etwa solch ein ›nettes Haus‹, wo die jungen Leute mit schwachen Scherzen sich am Zwerchfell kitzeln und die älteren Herrschaften an der Eitelkeit. Es geht dort gar nicht lustig zu; es wird dort weder geschäkert noch geklatscht, wird auch kein Tennis gespielt. Also werden Sie es im besten Falle anders finden als comme il faut. Und darin liegt für mich wenigstens der Hauptreiz von Esther Bernheims Abenden.«

Erich erklärte, daß er sich eben vor jener Geselligkeit 52 am liebsten in alte Spelunken flüchten möchte. Mit grimmigem Humor erzählte er uns von den Orgien der Langenweile, an denen er von Jugend auf hatte teilnehmen müssen, worauf auch wir uns dieser guten Schule und ihrer kläglich-komischen Episoden erinnerten und, froh des Überwundenen, sie uns wieder schilderten.

Dann brachen wir auf und bestiegen den Wagen, der uns hinaus nach Plagwitz zu Esther Bernheims Villa fuhr. Die Villa lag in einem Gartengrundstück hinter Tannen, die sie vor der Straße versteckten. Der Kiesweg führte vom Gittertor an Rasenflächen und Fliedergesträuch vorbei. Auch ein Springbrunnen plätscherte dort im Sommer. Jetzt aber war das alles mit schwarzem Reisig und rußigem Schnee bedeckt.

Die Haustür wurde uns von dem alten Diener geöffnet, der schon länger als Esther selbst mit seiner Frau hier wohnte. Er besorgte die Gartenarbeiten und zugleich die Pflege von Gottfried, Esthers krankem Bruder. Mit einer gewissen vertraulichen Ergebenheit grüßte er uns, indem er die Mütze von seinem kahl gewordenen Schädel zog. Nur auf Erich warf er einen kurzen, mißtrauischen Blick, ob er auch würdig sei, die Räume zu betreten, die er heilig hielt wie ein Priester den Tempel seines Gottes.

Der Salon war, wie gewöhnlich, von mehreren hohen Lampen erleuchtet, die indes, sämtlich mit grünen 53 Schirmen verhängt, nur mattes Licht verbreiteten. Die Einrichtung stammte noch aus der Mode der sechziger Jahre: die Tapeten waren hell mit kleingeblümtem Muster, die Stühle und Sofas, die vereinzelt an den Wänden standen, von rissigem Mahagoni, mit verblichenem Kretonne überzogen.

Esther empfing uns, voll der sanften, gelassenen Heiterkeit, die sofort jeden für sie einnahm. Sie war schön durch die bezaubernde Güte ihres Ausdrucks, obwohl ihre körperlichen Reize schon zu welken begannen und sie auf Gang und Kleidung wenig hielt. In ihrer langsam nachdenklichen Rede und dem verträumten Fingerspiel, von dem diese begleitet wurde, herrschte eine achtlose Natürlichkeit, die keiner Rücksicht bedurfte. So kam es oft, daß sie zerstreut Mitteilungen überhörte, die ihr gleichgültig waren, oder daß sie sich selbst unterbrach, weil ihr einfiel, es verlohne sich nicht, den Gedanken fortzuspinnen. Ich glaube, daß es vor allem dieser große Zug von Natürlichkeit war, der mich Esther so liebhaben ließ wie eine fromme Erinnerung aus der Kinderzeit.

Außer uns waren als regelmäßige Gäste noch Doktor Tönnies und Frau Anna Möhn zugegen. Beide ließen sich durch unsere Ankunft in ihrer Unterhaltung nur flüchtig stören.

Frau Möhn, eine fast siebzigjährige alte Frau mit 54 weißem, glatt gescheiteltem Haar, war Esthers Beraterin seit deren frühester Jugend. Einst hatte sie vier Kinder gehabt, kluge Söhne und schöne Töchter; aber sie waren schon lange gestorben und hatten die verwitwete Mutter allein gelassen als einen zwecklosen Überrest der Gattung. Seit zwanzig Jahren wußte die Frau nicht mehr, was mit dem Leben beginnen, und eine überquellende, unklare Liebe, von der ihr Herz noch voll war, irrte unter den Menschen umher wie eine heimatlose Waise. Sie saß ganz frisch und aufrecht in dem unbequemen Lehnstuhl, an den sie sich nun einmal gewöhnt, und hörte aufmerksam zu, wie Doktor Tönnies ihr von der neuen Dichtung sprach.

Er war Schriftsteller und gab eine Zeitschrift »Atlantis« heraus, die in der zünftigen Literatur für »verrückt und ledern« galt und doch, man wußte nicht wo und von wem gelesen wurde. Man erzählte auch, daß er abends, wenn er die eingesandten Manuskripte gelesen und seine Zeitungskritiken erledigt hatte, noch dichtete, Verse und Tragödien für sich allein; denn niemand würde diese Sachen drucken lassen wollen, die vielleicht schön, aber dem Publikum kein Vergnügen waren.

Er sprach schwerfällig und stockend, mit einem Tonfall, der immer nach verschluckten Tränen klang. Wenn man diesen Ton nur hörte und den Poeten in seinem 55 ungeschickten Ernst so linkisch gestikulieren sah, konnte man darauf schwören, daß er's in unserer Literatur niemals zu etwas bringen würde.

Vor dem Kamin aber saß Gottfried Bernheim. Er kehrte sich an niemand, sondern drehte uns den Rücken zu und stierte auf die blauen Flämmchen, die über dem verglimmenden Holz noch zitterten.

Murmelnd sprach er zu ihnen allerhand unverständliche Worte; neugierig schien er sie zu befragen, vielleicht nach ihrer Herkunft oder nach den letzten Zwecken des Verlöschens. Er sprach überhaupt mit keinem Menschen mehr. Nur das unbewußte Leben reizte noch seine absterbenden Sinne. Den kleinen Singvögeln und den Blumenstöcken, die er in seinem Zimmer pflegte, war er ein treuer Kamerad geworden; mit ihnen spielte er stundenlang unter fröhlichem, sinnlosem Geplauder. Unter den Menschen aber blieb er stumm und gedrückt. Sie dünkten sich alle klüger, ohne doch zu wissen, ob sich nicht diesem Gemüte, das den quälenden Verstand nun endlich losgeworden, große Geheimnisse offenbarten. –

Esther nahm unter einer der hohen Lampen Platz und zog uns neben sich zu gemeinsamer Unterhaltung. Es wurde Tee gereicht. Die Frau des Dieners, ein sauberes, altes Weiblein, stellte artig knixend jedem seine Tasse hin. Nur Gottfried blieb allein vor dem Kamin 56 und ließ sich im Zwiegespräch mit den verlöschenden Gluten nicht stören.

Wir erfuhren, daß Doktor Tönnies für den Abend eine spiritistische Sitzung vorbereitet habe. Er hatte mit viel Studium und Geduld eine Geliebte zum Medium ausgebildet, und Esther, die auf den Gebieten des Okkultismus klare und sachliche Kenntnisse besaß, hatte ihn gebeten, den ersten öffentlichen Versuch in ihrem Hause vorzunehmen.

Dann ging die Unterhaltung vorläufig auf andere Dinge über mit einer leichten, kühlen Lebendigkeit. Alles ward gestreift, was drüben, in der guten Stadt, und draußen, in der weiten Welt, passierte; was die Leute malten und musizierten, die Entdeckungen der Philosophen und die Erfindungen der Ärzte; selbst der Straßenbauten, der Unglücksfälle und der Hoffestlichkeiten wurde freundlich gedacht. Kurz, man plauderte; nur ging durch das Geplauder ein leiser, doch deutlicher Unterton, gestimmt auf schmerzliche Verneinung, auf Überlegenheit und müden Spott.

Erich fühlte sich etwas fremd und unbehaglich in dem Kreise. Er verhielt sich noch steifer als gewöhnlich; seine spärlichen Fragen klangen unsicher, seine Bemerkungen wie Komplimente. Deshalb war Esther bemüht, ihn vor allen auszuzeichnen, indem sie ihm manches erklärte, was wir hatten erraten müssen.

57 So sprach sie von ihrem Bruder. Sie begründete seine Anwesenheit, ohne sie zu entschuldigen.

»Er gehört zu uns,« sagte sie, »wenn er auch ungesellig ist und unsre Worte nicht mehr versteht. Aber ich kann Sie versichern, daß es ihm wohltut, bei uns zu sein. Und ganz gewiß hat er uns lieb, jeden einzelnen von uns. Er kann nicht mehr denken; deshalb werden die natürlichen Instinkte wieder lebendig in ihm, ganz wie bei einem treuen Tier.«

»Ist er schon lange leidend?« fragte Erich.

»O ja, es hat ziemlich früh begonnen. Die Arbeit hat ihn zugrunde gerichtet. Oder vielmehr, daß keine Freude bei der Arbeit war. Er ist Naturforscher; aber sein Forschen ist immer vergebens gewesen. Er hat niemals das gefunden, was er suchte.«

»Welches waren denn seine Gebiete?«

»Er hatte kein Gebiet im einzelnen; das war vielleicht das Gefährliche. Seine Bücher handelten immer nur von den großen, grundlegenden Fragen, von Erkenntnis, Theorie und Methode, von der Vorstellung des Makrokosmus. Dann hat er lange versucht, nachzuweisen, daß alles in der Welt, selbst das Gestein, selbst das Staubkorn organisches Leben in sich trage. Und endlich hatte er noch mathematische Probleme; er wollte die Unendlichkeit bestimmen, wissen Sie, die unendliche Zahl. Daran, glaub' ich, ist er zugrunde gegangen.«

58 »Aber ist er sich wenigstens nicht klar über seinen Zustand?«

»Nein, das ›klar sein‹ hat er Gott sei Dank verlernt. Ja, Gott sei Dank! Denn seitdem ist er stark und blühend geworden; das kann ich getrost behaupten. Früher hab' ich ihn über jede kleine Widerwärtigkeit stöhnen und jammern hören; da war er immer verzweifelt und lebensmüde. Jetzt aber kennt er keine Sorge mehr; jetzt lacht und spielt er und kann sogar laut jauchzen, wenn er seine Vögel singen hört. Er versorgt sie ganz allein, ganz regelmäßig, wie es sich gehört. Von früher her ist er das so gewöhnt und hat auch nichts davon verlernt.«

Gottfried erhob sich und kam auf uns zu. Er schien zu bemerken, daß von ihm die Rede war; in seinen Augen lag der aufmerksame Ausdruck, den kluge Hunde haben, wenn sie ihren Namen verstehen. Er trat hinter Esthers Stuhl und reichte ihr die Hand. Sie wandte den Kopf nach ihm zurück und nickte ihm zärtlich zu, unverwandt, mit ernstem Tierblick starrte er auf ihr Gesicht.

»Nun, Gottfried, wie geht es Ihnen?« fragte Frau Möhn, die ihn noch am häufigsten traf.

Er machte eine kurze Bewegung; fast wie ein Achselzucken sah es aus; aber er gab keine Antwort. Vielleicht verstand er nicht, vielleicht wollte er nicht verstehen, weil ihm doch jedes Wort zwecklos vergeudet schien.

59 Esther erzählte uns weiter von seinen bunten, seltenen Vögeln. Sie behielt seine Hand in der ihrigen und sah sich zuweilen, wie aufmunternd, nach ihm um.

Eine wunderbar helle Schönheit war um sie gegossen, jener sonnige Zauber, der Mädchen schmückt, die den Menschen kennen und dennoch lieben. Wo aber die Schwester über dem Bruder den Bräutigam vergaß, da ist der Zauber ihres Liebens wie ein Heiligenschein.

Und Esther diente noch immer mit ihrem reichen Herzen allein dem geisteskranken Bruder, den sie bewunderte.

Als die Uhr auf dem Kamin fünf schlug, erhob sich Esther und führte uns hinüber nach ihres Bruders ehemaligem Zimmer. Gottfried selbst öffnete die Tür. In der Haltung des Wirtes, der Gäste bei sich willkommen heißt, ließ er uns eintreten, verschloß dann und lud zum Sitzen ein, all das mit wortlosen, stereotypen Bewegungen, Überresten einer jahrelangen Gewohnheit.

Ein enges Studierzimmer, das niemand mehr bewohnte. An den Wänden hohe Bücherregale, angefüllt mit schwarz gebundenen gelehrten Werken und übereinandergeschichteten Broschüren. Der Staub wirbelte auf, wenn man sie streifte. Auf den obersten Brettern waren rings alle Arten wissenschaftlicher Instrumente aufgestapelt, Wäge- und Meßapparate, Hohlspiegel, Pendel, Mikroskope; alles verstaubt und 60 verrostet, durcheinandergeworfen wie in einer Bodenkammer. Das Schreibpult war verkehrt in die Ecke gerückt, so daß die Mitte des Zimmers völlig frei blieb für den kleinen, runden Tisch mit Marmorplatte und für den Rohrstuhl, der dahinter stand.

Das Medium, ein blasses, schüchternes Kind von kaum achtzehn Jahren, war bereits unter uns. Wir hatten ihre Ankunft kaum bemerkt. Es nahm hinter dem Tische Platz, und nachdem wir uns selbst auf den in Halbkreis gestellten Sesseln niedergelassen hatten, nahmen die Experimente ihren Anfang.

Zunächst wendete Doktor Tönnies die Hypnose an, konstatierte dann durch Nadelstiche die Empfindungslosigkeit des Körpers, sowie den somnambulen Zustand und ging endlich zur Erwartung von Materialisationen über.

Niemand von uns regte sich. Wie in den Bänken der Kirche, gebeugt, die Hände gefaltet oder vor das Gesicht gelegt, so warteten wir auf Seltsamkeiten, die wir ersehnten, ohne doch an sie zu glauben. Ungewohnte Gefühle von Andacht und Ehrfurcht beherrschten uns, vielleicht war ich selbst derjenige, der sie am inbrünstigsten empfand.

Feiertagsstimmung zog bei mir ein; sanftes, einschläferndes Rauschen ging durch meine Sinne, wie wenn auf dem Friedhof der Abendwind die Zypressen 61 streift. Das war die flüsternde Mahnung einer Welt, die dem Leben feindlich ist. Deshalb liebte ich sie. Wenn ich willfährig darauf horchte, so glaubte ich Trost und Verheißung aus ihr zu vernehmen. Fast mochte ich glauben, daß es der Zuspruch einer Gottheit war.

Ein hoher, allgütiger Geist war mir in jenem Augenblick nahe. O, daß er sich doch zu erkennen gäbe als Gott, der Anteil an mir nimmt, der Gott, an dem ich längst verzweifelte! Ich sehnte mich, vor ihm nieder in den Staub zu fallen und ihn anzubeten, daß er mich errette vor mir selbst, vor meiner Narrheit und Schurkerei und vor den Menschen rings umher, die als meinesgleichen, als Narren und Schurken, sich gebärdeten, lächerlich oder gemein.

Und warum sollte ich nicht vertrauensselig diesen Gott annehmen, wo ich doch mit der gleichen grundlosen Unvernunft eben auf eine Stimme wartete, die von seinem unsichtbaren Reiche erzählte! Weshalb sollten mir noch die Offenbarungen der Kirche weniger glaubhaft erscheinen als die eines Mediums! Sie konnten mich betrügen hier wie dort. Aber was lag daran! Ich wollte so gern der Getäuschte sein, wenn man mich nur hinwegtäuschte über die Wirklichkeit!

Solcherlei Gedanken lenkten mich endlich ab von den Phänomenen, die da vor sich gehen sollten. Blieben es doch immer nur allzu schwächliche Versuche, 62 gleichgültig für den, der einzig den Zusammenhang der Dinge sucht.

Wie meist bei diesen Sitzungen, gelang das Leichtere, während das Resultat im Stiche ließ. Man hörte die Klopftöne, irgendein Geist offenbarte sich als anwesend, verschwand aber wieder unter Versprechungen, die wie Ausflüchte klangen. Man war dankbar für das Gebotene, aber doch im Grunde enttäuscht. Eine Anregung wie tausend andere, niemals aber, niemals eine Lösung!

Da waren mir die Erörterungen, die nun drüben, im Salon, sich daran schlossen, immer noch am liebsten. Gern verirrte ich mich in die verschiedenen Theorien okkultistischer Rätsel aus Abscheu vor dem Lebendigen. Da gab es unentdeckte Länder, in denen ich vielleicht einst Zuflucht finden durfte vor der häßlichen Wirklichkeit und der eigenen Verderbnis; nach diesem heiligen Hintergrund zu spüren, war mir ein Trost.

Aber auch Dimitri, der frohe Lebenskünstler, verschmähte es nicht, den Dingen, die jenseits seiner Sphäre lagen, unermüdlich aufzulauern, weil er glaubte, daß bald wohl Zeiten kommen könnten, in denen es wertvoll ist, sich auf diese neuen Kräfte zu verstehen. Er war zu Aksakow in persönliche Beziehungen getreten und hatte dessen Werke sowie die ganze wissenschaftliche Literatur des Spiritualismus aufs gründlichste 63 studiert. Und gerade, weil er noch immer versuchte, die Phänomene der Geisterwelt mit der herrschenden Naturwissenschaft in Einklang zu bringen, geriet er in einen heillosen Zorn, wenn Ignoranten die Forschungen belächelten, denen er manche kostbare Stunde geopfert hatte.

Erich dagegen, der neuerdings darauf brannte, all das in sich aufzunehmen, was er als sein verlorenes täglich Brot bezeichnete, hatte noch ganz die Befangenheit des Zweiflers, der sich überzeugen möchte.

»All diese Forschungen und Versuche,« sagte er, »sind doch noch nicht imstande gewesen, sich das Ansehen einer Wissenschaft zu erringen. Sie werden mit allzuviel Leidenschaft und Gemüt betrieben, fast immer aus irgendeinem Wunsche heraus, dem jede Ermittlung einer negativen Wahrheit zuwider ist.«

»Ja, leider scheint es vielfach so,« bestätigte Frau Möhn sehr lebhaft. »Aber gerade ich möchte Ihnen darin widersprechen. Man hat mir so oft vorgeworfen, daß ich durch den Tod meiner Kinder zum Spiritismus gelangt wäre. ›Sie will mit ihren Kindern wieder in Beziehung treten‹, sagt man; ›weil sie um jeden Preis etwas von ihnen zu hören wünscht, deshalb bildet sie sich Offenbarungen ein, wo es gar keine gibt.‹ Gegen diesen Vorwurf kann ich mich nicht oft genug verteidigen. Ich bin keine gelehrte Frau und habe mich als 64 Zuhörerin immer still zurückgehalten, aber so unverständig bin ich denn doch nicht, daß ich Rätsel, die noch niemand recht ergründet hat, schon für meine persönlichen Wünsche ausnutzen möchte. Und dann maße ich mir auch gar nicht an, Seelen, die früher einmal meine Kinder waren, aus ihrem neuen Dasein in meinen engen Winkel zurückzurufen und sie mit neugierigen Fragen zu verfolgen. Mögen die Gelehrten mit denen reden, die kommen. Mir gehört doch niemand mehr von meinen Toten. Das Einzige, was bleibt, ist die Erinnerung. So waren sie früher und so werden sie mir bleiben. Anders würde ich sie ja doch nicht mehr verstehen, geschweige denn lieb haben können. – Nein, ich höre wahrhaftig aus keinem anderen Grunde zu, als nur für mich zu lernen. Denn für die alten Leute ist es besonders gut, sich mit dem zu beschäftigen, was nachher kommt.«

Niemand wußte mehr zu widersprechen. Die Unterhaltung ward stiller und schwerer. Oft wurden nur Stichworte von Gedanken noch gewechselt. Das Wesentliche blieb im Herzen zurück und suchte sich dort seine eigenen Bahnen.

Dann gingen die Gäste, einer nach dem anderen, bis ich mit meiner Freundin und dem kranken Bruder allein zurückblieb.

Ich fragte Gottfried, ob wir uns am Kamin neben 65 ihm niederlassen dürften. Freundlich nickte er Zustimmung und schob seinen Sessel beiseite. Es freute ihn, wenn man seine Gesellschaft suchte und ihn als den großen Gelehrten behandelte, den er vorzustellen wähnte.

Esther setzte sich gegenüber und betrachtete mich wie einen netten Gegenstand, für den man keine rechte Verwendung hat. Dann sagte sie:

»Just, ich hab' in letzter Zeit viel über Sie nachgedacht.«

Wie fröhlich mein trockenes Herz wurde, als ich das vernahm!

»Was haben Sie denn gefunden?« forschte ich.

»Gute Lehren, über die Sie sich doch nur lustig machen.«

»Alte Lehren also. Vielleicht die Predigt von der Pflicht oder vom starken Willen?«

»Wenigstens von der Pflicht gegen sich selbst.«

»Kann mir auch nicht helfen, Esther. Müßten mich erst überzeugen, daß es eine gibt. Außerdem streitet man darüber, worin sie besteht. Alles wird bestritten. Recht behält immer nur der, der zuletzt gesprochen hat.«

»Dann benutzen Sie Ihre Triebe wenigstens! Denken Sie daran, daß Betätigung einen Lustwert besitzt. Nehmen Sie eine Arbeit vor, die Ihnen Freude macht!«

66 »Für wen soll ich arbeiten? Für die Menschheit oder für mein biederes Volk?«

»Für sich selbst.«

»Das soll heißen: für die eigene Bildung oder Vervollkommnung oder Zukunft. Lockt mich aber nicht. Lockt mich gar nicht, auch nur einen Nerv zu rühren für solch ein fragwürdiges Atom, das morgen schon ins Nichts zurückgeblasen wird. Oder können Sie mich von meinem Werte überzeugen? Sofort wird Ihnen ein anderer beweisen, daß ich ganz ohne Wert und Zweck, so wie ich bin, hier vegetiere. Und wer behält dann recht? – Wüßte auch nicht, warum ich für mich selber Wert besitzen sollte. Wahrhaftig, ich mache mir selber nicht den geringsten Spaß! Immer, wenn ich etwas für mich tun will, verdirbt mir das Bewußtsein meiner Bedeutungslosigkeit alle Schaffenslust.«

»Wenn Sie nun jemand liebten, für den würden Sie doch leben wollen?«

»Ja, wenn ich wieder lieben könnte, ohne verliebt zu sein.«

»Kinder sollten Sie haben.«

»Das wünschte ich mir auch zuweilen. Aber ich glaube, nicht einmal die . . .«

»Sie sind abscheulich, Just,« rief sie mit komischem Entsetzen. »An Ihren eigenen Kindern könnten Sie Verbrecher werden.«

67 »Die Vernunft würde mich abhalten. Aber einen kategorischen Imperativ gibt es nicht in meinem Herzen. Die berühmte ›Stimme der Natur‹, die gut und böse so unfehlbar unterscheidet, habe ich bei mir noch nicht entdecken können.«

»Ihr ganzes Wesen ist wider die Natur.«

»Geworden!«

»Woher?«

»Nun, von der Erkenntnis.«

»Nein, Just, die Erkenntnis macht gesund. Man muß nur den Mut haben, sie zu ertragen. Sehen Sie doch uns Frauen an! Wie wir aufleben, jetzt, wo wir endlich lernen, unsere Kräfte zu erkennen. Jetzt sind wir unseres Geschlechts eigentlich erst froh geworden. – Ihr redet immer noch von Frauenfrage. Die besseren unter uns haben sie längst schon, jede für sich selbst, gelöst. Aber nachher dürfte wohl noch eine ›Männerfrage‹ kommen, Ihre Frage, Just, nämlich: wie ihr mit der Erkenntnis fertig werdet, wenn das Denken eure Empfindungen erstickt.«

Sie erhob sich und nahm Gottfried an der Hand, um ihn zu Bett zu bringen.

Ich griff nach einem Buche, das auf dem Schreibtisch lag . . . Esthers Handschrift.

»Darf ich das lesen?« fragte ich.

Sie wendete den Kopf, lachte und rief:

68 »Immerzu! Es sind dumme Träume, die ich mir von der Seele schreibe, wenn sie mich quälen.«

Irgendwo schlug ich auf und las:

». . . Ein Gebirge, ganz steinig und kahl. Die Felsen sind zerrissen. Zwischen den Trümmern die Schluchten.

Ihre Zacken ragen gegeneinander und sind wie Speere gekreuzt. Darunter strömen Wasserbäche, die zerstäuben, wenn sie an den Abhang prallen und niedersprühen in das Meer.

Eine Sonne steht am Himmel, grün wie Smaragd. Mit ihren Strahlen erleuchtet sie diese Welt und füllt sie ganz mit grünem Lichte. Als wenn die Landschaft durch farbiges Glas betrachtet würde.

Vorn aber, vor den schäumenden Wellen ist alles glatt; da liegt eine Art von hellem Sand, eine weite, unendliche Fläche bis zum äußersten Horizont.

Aus den Tiefen, über die Berge steigen Geister. Aus verdeckten Höhlen kommen sie hervorgekrochen.

Ein langer Zug von Seelen, von Menschen, die gestorben sind. Der tote Leib hängt locker an den letzten Fäden. Deutlich sind noch die Linien und die Schatten zu erkennen.

So steigen sie langsam auf, gebückt und ermattet wie von langer Wanderschaft, Männer und Weiber, verwelkte Greise und kleine, magere Kinder.

Auf allen Gesichtern ist noch vom letzten Augenblick 69 des Lebens die ratlose Angst, und jämmerliches Stöhnen geht von ihnen aus, klägliches Wimmern, verzweifeltes Gelächter und alle Laute der innerlichsten Schmerzen.

Sie gehen, wahllos nebeneinandergedrängt, jeder in die eigene Qual versunken; sie wandern ohne Blick für die, welche neben ihnen leiden.

Es gibt Männer unter ihnen von starkem, wildem Aussehen, die klaffende Wunden tragen, Wunden von Hieb und Stich aus der Schlacht, und Jünglinge, die mit gekrallten Fingern in der Luft nach flüchtenden Phantomen tasten.

Dann gibt es Mädchen mit dem Ausdruck gieriger, enttäuschter Liebe. Die jungen, kaum erblühten, weinen und pressen die Hände auf das zermarterte Herz. Andere, deren Fruchtbarkeit mit dem Alter verkümmerte, schütteln ihre flachen Brüste, während der Speichel ihnen von den Lippen rinnt.

Viele trotten dahin wie Herdenvieh, wenn es von der Weide getrieben wird, in Mißmut und stumpfer Unzufriedenheit. Ähnlich die Greise und die alten Weiber, die murrend und keifend ihre Straße ziehen.

Am erbarmungswürdigsten aber erscheinen die Kinder. Ihre schwachen Körperchen sind gekrümmt von Mißhandlung, und ihre Gesichter verzerrt von unaufhörlicher Angst.

70 Das steigt nun alles hervor aus den Nebeln der anderen Welt und klettert durch die felsige Einöde hinab dem Wasser zu.

Doch am Gischt der Gefälle schaudern die Menschen zurück. Der letzte Rest von Mut und Kraft geht da verloren. Niemand wagt freiwillig den ungewissen Schritt.

Aber gewaltsam werden sie hineingestoßen. Eine unerbittliche Macht, die hinter ihnen steht, treibt an und drängt und schleudert endlich die Wankenden von Fels zu Fels in die Tiefe, bis die breiten Ströme sie verschlingen und das Gebrüll der Wogen ihr Winseln erstickt.

Nun brausen die Fälle noch mächtiger empor. Von allen Seiten stürzen sie aufeinander, umschlingen sich mit hochgeschwungenen Strahlen und wallenden Güssen, daß Luft und See eins wird, ein Ungetüm, das zwischen Bergen lagert und Millionen klarer Perlen nach der Sonne wirft.

Und so verschlingt das Element die abgestorbenen Leiber, schleudert sie von Fels zu Fels, schleift und zermalmt wertlose Fetzen eines überwundenen Lebens, bis sie zu Atomen auseinanderstäuben und die vom Fleisch befreiten, nackten Seelen untertauchen im unendlichen Meer.

Dann allmählich läßt die Wut der Gewässer nach. Eintönig rauschen sie ihre alten Bahnen weiter.

71 Aus den Fluten aber, aus dem klaren Spiegel der besänftigten See heben sich langsam neue Wesen, helle schaumgeborene Leiber, die mit den Wogen auf- und niedergehen und sich auf den Kämmen schaukeln wie badende Tritonen.

Sie treiben dem Ufer zu. Sie steigen ans Land. Indem sie staunend einander betrachten, reichen sie sich die Hände, stützen und führen sich, als hätten sie so liebe Gefährten nie zuvor gesehen.

Junge Körper von unbeschreiblicher Schönheit, die kein Makel und kein Gebrechen mehr schändet, sind den verwandelten Seelen zum Geschenk geworden, Glieder in ebenmäßiger Vollendung, deren zarte Linien wie Silberfäden leuchten, frei von Zwang, befreit von jedem Alter und vom Geschlecht.

Wie ein Zug seliger Kinder, voll Ehrfurcht und reiner Freude betreten sie die fremden Welten. Anbetend werfen sie sich nieder und küssen den heiligen Sand.

Dann blicken sie einander wieder und wieder an, als wolle jedes schon den Genossen seiner neuen großen Liebe suchen. Zu Gruppen gelagert, in süßer Schlaffheit ausgestreckt, beginnen sie zu reden eine fremde, stille Sprache voll sanfter Gebärden.

Doch ich erkenne eine Seele, die einsam bleibt. Niemand beachtet sie, obwohl sie an Formen edler und vollkommener erscheint als alle übrigen. Ich habe sie 72 zuvor im Zuge nicht entdeckt und weiß nicht, ob sie früher Jüngling oder Mädchen war.

Noch immer liegt sie auf den Knien, die feinen Hände vor der Brust gefaltet. In sich versunken, neigt sie das Gesicht tief über ihre schmalen Schenkel, so daß das lange, lockige Haar wie ein Mantel um die schimmernden Hüften fällt.

Nun richtet sie sich doch empor und lauscht, als ob weit in der Ferne jemand nach ihr riefe. Dabei nimmt ihr Auge ein seltsames Leuchten an, und die Anmut des verklärten Leibes entfaltet sich zu einer hohen verführerischen Pracht.

Aber sie bleibt allein, in unverstandenem Reize. Es mag wohl niemand geben, der ihr sich ebenbürtig fühlt.

Ach, wer doch folgen könnte, wenn diese Schönste einsam ist und ruft!

Inzwischen erwacht bei all den anderen die Erinnerung. Das überwundene Leid und auch die spärlichen Genüsse des vergangenen Daseins beleben schattenhaft, wenn sie erzählen, ihre Züge.

Und immer strahlender wird der Ausdruck ihrer Seligkeit, je mehr sie dessen gedenken, was hinter ihnen liegt, jenseits des Wassers und der finsteren Schluchten.

Doch jetzt steigt unvermutet am Horizont der weiten sandigen Fläche ein gelber Schein empor wie das Licht einer anderen Sonne, die den Smaragd erbleichen läßt.

73 Die Schar der Verklärten erhebt sich und wendet sich dem neuen Glanze zu. Eine Stimme geht aus von der Welt, die hinter dem Sande liegt, und ruft die Seelen zu einer Wanderschaft, die mehr verheißt als Ruhe und Erinnerung.

Darum fassen sie sich freudig bei den Händen und gehen der neuen Sonne entgegen als Wanderer hoher Ziele. Sie reden nicht mehr von dem, was war. Aber mit hellen, jauchzenden Stimmen singen sie ein Lied voll übermütiger Zuversicht.

Nur die Schönste, die einsam blieb, geht zögernd und still.

Zuweilen blickt sie sich um nach einem Freunde, der noch immer nicht kommen will.« 74

 


 


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