Kurt Martens
Roman aus der Décadence
Kurt Martens

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IX.

Gegen Ende Juni kamen unerträglich heiße Tage. Wochenlang war kein Regen gefallen. Zwischen dem wolkenlosen Himmel und den Dächern der Stadt lag eine graue Schicht von Ruß und allen möglichen Dünsten, undurchdringlich für die matten Abendwinde. Von den asphaltierten Straßen stiegen giftige Gerüche auf. Wo Pflaster lag, wurden die Gas- und Wasserröhren aufgerissen. Arbeiter, in Schweiß gebadet, ließen das Trottoir entlang ihre Hacken ertönen und warfen mit den Schaufeln Erdschollen in die Höhe, deren Staub dann den Vorübergehenden in Hals und Augen flog. Wer sich irgend los machen konnte, der zog schon aufs Land. Zeitiger als sonst waren die Wohnungen ausgestorben.

Da raffte ich mich schnell noch auf zu dem Besuch bei Alicens Eltern. Aber zu spät. Sie waren bereits, wie ich vom Portier erfuhr, abgereist, nach ihrer Villa am Vierwaldstätter See, wo sie regelmäßig bis zum Herbste blieben. Ich gab zwei Karten ab und war eigentlich zufrieden, daß ich sie nicht angetroffen. Ich versäumte zehn Minuten steifer Unterhaltung, die doch nur den 249 Zweck hatten, andere Formen meines Verhältnisses einzuleiten. Nun leisteten die Karten denselben Dienst.

Und doch schmerzte es mich, daß ich Alice wieder auf Monate hinaus nicht sehen sollte. Ja, ich hatte mich wirklich darauf gefreut, wenigstens ein paar Augenblicke ihr gegenüber zu sitzen und mit den selbstgefälligen Blicken des Eigentümers ihre Schönheit zu betrachten. Vielleicht hätte sie einige Worte zu mir gesprochen, aus denen hervorging, daß wir doch noch in gute Bahn gelangen würden. Vielleicht hätte sie einen verstohlenen Händedruck für mich gehabt, der deutlicher als Worte das Mißverständnis löst und neue Herzlichkeit ankündigt. Wenn ich unsere Beziehungen, wie sie jetzt standen, ruhig überdachte, so durfte ich mir eigentlich ohne Optimismus sagen, daß so reiflich und so wohlerworbene Rechte, wie die meinigen, nur verloren werden, wenn man sie lässig geltend macht. Und mit dem Teufel müßte es zugehen, wenn dieses zutrauliche Kindel, das seine glücklichsten Stunden mit mir verlebte, die lebendigsten Eindrücke, ja das Maßgebende seiner Anschauungen, Kenntnisse, seines ganzen Wesens von mir empfangen hatte, nicht noch ein Fünkchen Liebe oder andere zärtliche Neigungen für mich übrig haben sollte!

Ich hatte wieder einmal arg Sehnsucht nach ihr und wäre am liebsten nachgereist, um dort in der Schweiz 250 die Vorteile des vertraulichen Umgangs zu genießen. Doch hätte sie mir diesen Streich wohl übel vermerkt. Die Eltern wären stutzig geworden und gute Chancen mir verlorengegangen.

Zudem gab es da noch einen anderen Plan, den ich nicht gern fallen lassen mochte. Dimitri hatte mich aufgefordert, die nächsten Monate mit ihm am Jasmunder Bodden zu verleben, wo er alljährlich eine Fischerhütte bezog, um Netze zu legen und in den Buchenwäldern der Stubbenitz auf wilde Kaninchen zu jagen. Auch Doktor Tönnies und Esther mit ihrem Bruder sollten ihn diesmal begleiten. Aber mir vor allem, meinte er, würde in meiner derzeitigen Verfassung solch Aufenthalt heilsam sein. Immer hatte er Absichten auf meine Entwicklung und machte formlose Vorschläge, hinter denen ich bedeutsame Folgen nicht erraten konnte. Gern hätte ich noch Erich bei der Partie gesehen. Doch hatten meine radikalen Freunde in der letzten Zeit eine Abneigung gegen ihn gefaßt, die ich mir nicht recht erklären konnte. Ob es nur, wie ich anfangs vermutete, ein natürlicher Rasseninstinkt gegen den germanischen Adelstypus war– der Slawe Teniawsky und Esther, die Jüdin, machten niemals ein Hehl daraus – oder ob sie von seinem persönlichen Werte nicht genug hielten, kurz, sie vermieden seine Gesellschaft und erwähnten ihn nicht anders als mit einer leichten Ironie.

251 Übrigens hatte Erich bereits ganz andere Dinge vor. Als ich mich von ihm verabschiedete, war er fieberhaft aufgeräumt, erzählte krauses Zeug von Kunststudien und Berliner Abenteuern und schloß mit der höhnischen Selbstkritik, er sei auf dem Punkte angelangt, wo man im »Genuß verschmachte nach Begierde«. In Berlin besaß er einen Vetter bei den Gardeulanen. Den hatte er aufgesucht und unter seiner Leitung pikante Klubs mit Zubehör kennengelernt, hatte auch gejeut und Gewinn und Vergnügen dabei gefunden. Dann hatte er einen Vormittag im Salon Gurlitt – natürlich ohne den Vetter – und einen im Salon Schulte zugebracht.

»Ich fand die Bilder langweilig,« sagte er mit verbittertem Lachen, »obwohl ich genau wußte, daß sie vorzüglich waren: Werke von Uhde, Thoma, Liebermann, Studien von Carrière und Besnard. Aber wie soll jemand Schönheiten entdecken, wenn er nicht sehen kann? Woher soll ich's auch gelernt haben? Das ist gerade so, als wollt' ich mit meinem Abiturium den Plato verstehen! – Nun, da bin ich denn wieder mit meinem Vetter zu Dressel gegangen und habe gefrühstückt. Ja, um Trüffeln in Burgunder zu goutieren, dazu reicht mein Bildungsgang gerade noch aus.«

»Nun, ich sollte doch denken,« erwiderte ich ihm, »daß du jetzt, wo du frei bist, genügend Zeit hast, nachzuholen, was du willst.«

252 »Das ist eben der Irrtum, mein Lieber. Bei jedem Versuche wird es mir klarer, daß ich mit meiner ganzen Art zu denken und zu fühlen schon so tief in der abschüssigen Bahn drinstecke, daß mir kein Freund, kein Lehrer und kein Gott jemals wieder in die Höhe helfen kann. Ich bin nun einmal von Anbeginn gründlich verpfuscht. Jetzt kommt es nur noch darauf an, die paar Genüsse zusammenzukratzen, auf die sich meine minderwertigen Organe wenigstens verstehen.«

»Das wäre also der üblichste Materialismus.«

»Meinetwegen schachtle es in deine Kategorien ein. Mir behagt es nicht mehr anders. Ist jedenfalls für den bedeutungslosen Menschen noch die passendste Aufgabe.«

»Der man aber nur allzubald überdrüssig wird.«

»Wahrscheinlich. Doch vorläufig kenne ich so gut wie nichts von den vielen guten Dingen. Und ich möchte vom Leben nicht gern Abschied nehmen, ohne mir die Lebewelt etwas näher angesehen zu haben. Daß sich die Erfahrungen jetzt drängen, liegt nun einmal in meinen Verhältnissen. Bisher hatte ich, Gott sei's geklagt, einen monatlichen Wechsel von hundert Talern. Mein guter Vater war an diese Summe von früher her gewöhnt, und meiner Mutter konnte ich mit solchen Gehaltsaufbesserungsanträgen doch nicht gut kommen. Nun hab ich's plötzlich in Hülle und Fülle. Sieh dort, das langt noch für einige Monate!«

253 Er wies auf den Schreibtisch, wo ein ansehnliches Bündel von Wertpapieren ausgebreitet lag, mit deren Sortierung Erich sich offenbar, bevor ich kam, aufs angenehmste beschäftigt hatte.

»Die Geschäfte sind schlecht gegangen,« erklärte er mir spöttelnd. »Mein sparsamer Rechtsanwalt war in Verzweiflung, daß ich sofort verkaufen wollte. Nun hat er die Güter um den halben Preis losschlagen müssen und unser altes Haus sogar auf Abbruch. Immerhin sind es noch ein paar hunderttausend, mit denen sich schon etwas anfangen läßt. – Was, meinst du, soll ich eine Agentur oder ein Privat-Detektivinstitut damit gründen? Das wäre so etwas für einen verkrachten Assessor.«

»Erich, tu mir die Liebe . . .«

»Nein, nein, beruhige dich! Es wird schon seine Verwendung finden. Zunächst mal geht's damit auf Reisen. Aber nicht nach eurem Jasmunder Bodden, sondern nach Paris oder sonstwohin unter Menschen, die einen nach dem Beutel und Namen schätzen und nicht erst nach der Legitimation vom ›innern Wert‹, von der ›geistigen Bedeutung‹ fragen. Damit kann ich eben nicht dienen. Will's auch gar nicht mehr. Teufel auch! Ich bin ein Kavalier, ja wahrhaftig, ein echter Kavalier. Nur etwas weniger Selbsterkenntnis, und ich hätte sogar meine Karriere gemacht!«

254 Ich wußte nicht, womit ich ihm weiter zusprechen sollte. Er hätte weder auf Gründe, noch auf Bitten gehört. Denn es war schon der äußerste Trotz in seinen Leiden, und er gehörte zur Klasse jener unglücklich Überstolzen, die, wenn die höchsten Ziele ihnen verschlossen werden, lieber den Weg der Zerrüttung gehen, als den der Mittelmäßigkeit.

Wenige Tage später reiste ich mit den anderen zusammen nach Rügen ab. Wir fanden sofort die freundlichste Unterkunft, ein paar helle, saubere Feiertagsstuben, in denen altertümliche Laden standen und Schiffsmodelle von der Decke hängen. Unmittelbar vor den Türen breitete der Strand sich aus, der stille, sonnenbeglänzte Bodden und ferne drüben als bläuliche Wellenlinien das Ufer der Gegend um Bergen. Zwischen den kreidigen Kieseln und dem Tang, dessen salziger Duft weit über das Land hinstrich, lagen Netze ausgespannt, waren Boote verankert; den äußersten Kiel umspielten, unhörbar fast, kleine, verirrte Wellen.

Vereinzelte Frauen wuschen und rieben an den Uferblöcken ihre Leinwand, während die Kinder mit bloßen Füßen draußen im flachen Wasser plätscherten. Die Männer gingen tagsüber ihrem Fischfang nach. Mit den schimmernden Segeln zogen sie früh hinaus gegen Nordwesten ins offene Meer und kreuzten an der Hiddens-Oie oder jenseits von Arcona bis ins 255 Tromperwiek. Abends aber saßen sie vor den Häusern nebeneinander, blickten der untergehenden Sonne nach und rauchten wortkarg ihre tönernen Pfeifen.

Dimitri kannte sie alle und redete sie in ihrem Plattdeutsch öfters an. Mit ernsten, überlegten Mienen sprachen sie Erfahrungen und Ansichten aus, die unerschütterlich waren. Gebärden gaben sie sparsam. Doch wenn sie sich bewegten, so geschah es mit Nachdruck und Bedeutung. So sicher, so zurückhaltend vornehm traten sie auf, von einem solch bescheidenen Stolze war ihr ärmliches Dasein getragen, daß die Abkunft reiner, die Erziehung edler erschien als die von königlichen Geschlechtern.

Wir Freunde waren nicht allzu oft beisammen. Man suchte sich gegenseitig zu den Mahlzeiten auf, teilte dabei Fisch und Brot und die besonderen Leckerbissen, die von der Stadt herüberkamen. Im übrigen ging jeder seinen eigenen Weg und ergab sich dem Genusse der Abgeschiedenheit von aller Welt.

Des Morgens stieg ich hinauf nach der Stubbenkammer, wo ich mich herumtrieb wie ein vernunftloses, fröhliches Tier auf der Weide. An den Stämmen der uralten Bäume warf ich mich nieder, überschlug mich im Moos, spielte mit dem raschelnden Laub. Alles, alles vergaß ich, was hinter mir lag und was mich noch erwartete, meine kleinen Freuden und meine 256 Befürchtungen, mein ganzes fragwürdiges Ich, selbst meinen neuen Glauben mit den unvermeidlichen Andachtsübungen. Und gerade deshalb, weil ich von diesem hier nichts hören wollte, ward mir so wohl und frei zumute. Die wenigen Monate Gottesfurcht, hauptsächlich die letzten kirchlichen Erfahrungen, hatten schon genügt, mich das Erquickende, das in der rechten Gottlosigkeit liegt, ahnen zu lassen. Wie gewann doch die arme Erde an Schönheit, sobald man sie hinnahm, ohne strafende Dämonen, als die nackte Natur! Früher war mir das nie aufgefallen. Jetzt ward ich mit einem Male dankbar gestimmt. Und doch war ich nicht eigentlich mit der Absicht hergekommen, mich um meinen kärglichen Naturgenuß zu bemühen. Ich horchte nicht auf merkwürdige Vogelstimmen, zerfaserte nicht mehr die Gräser, um Gerüche zu kombinieren. Einzelheiten wurden von meinen Sinnen nicht mehr erspäht. Wohl sah und hörte ich alles ringsumher. Aber das Rauschen des Windes in den Zweigen, das Gezwitscher der Vögel, das Murmeln der Quelle verschwamm zu einer mächtigen Harmonie, die nur mit sanften Modulationen wie der Akkord einer Äolsharfe in mir widerhallte. Und dieser Laut wieder ward eins mit allen Farben, mit dem flimmernden Äther und mit dem Dufte der Scholle, auf der ich ruhte, ich selber nur eine winzige Krume vom All. Die schwarze Fläche des 257 Herthasees mit ihrem Märchengeflüster, die Zeugnisse der Runensteine und die von Schlinggewächs überwucherten Mauerreste aus vorgeschichtlichen Zeiten, die mächtigen Kreidefelsen, die schroff und zackig ins Meer abfallen: ich wußte und bedachte wenig davon; ordnende, waltende Mächte konnte ich nicht darin entdecken; ich hätte mich dadurch ihrem Atem nur entzogen und wäre doch am liebsten ganz darin aufgegangen. Ich fand, daß es jetzt wohl möglich wäre, mir ein neues Naturgefühl zu begründen, doch nur dadurch, daß ich von vorn anfing, und gesunde Instinkte wieder reifen ließ, »das dunkle Gefühl des Einklangs, welches den ewigen Wechsel des stillen Daseines der Natur beherrscht«. So empfinden die kindlichen Völker – wie ich im »Kosmos« des Alexander von Humboldt las – beim ersten Erwachen ihres Bewußtseins. Nun wohl, auf diesen Standpunkt kehrte ich gern zurück, damit nur die Natur mir nicht ganz verlorengehen sollte. Das Meer, das sich vom Nordstrand aus grenzenlos, unermeßlich dem Blick, unergründlich in seinen Tiefen, ausbreitete, lockte mich wie ein Schoß der Mutter Erde, auf dem sich's, wenn sie freundlich wiegt, gar wunderbar ruhen läßt. Wenn ich dann rudernd oder schwimmend das Ufer weit hinter mir gelassen hatte, konnte ich mir wohl vorstellen, daß ich dem Boden, auf dem die Menschen wohnen, nicht mehr angehörte, 258 sondern zum unbewußten Atom geworden wäre, zwischen Sand und Schaum, ein unveränderliches Teil vom Ewigen. Bisweilen blieb ich zu Nacht oben im Gasthof und erwartete in der Morgendämmerung den violetten Schein, der sich über Himmel und Meer ergoß und das Nahen der Sonne verkündete. Bis die Herrliche selbst aus den Fluten aufstieg, die Göttin aller Schönheit, die trostreiche Anadyomene unserer lichtarmen Welt. Ihren Strahlen gab ich mich hin mit ausgestreckten Gliedern; vor den geschlossenen Augen tanzten dann die bunten Arabesken, und unersättlich trank mein Fleisch von ihren milden Gluten.

So fand mich Dimitri einmal vor. Er stand hinter mir, mit dem Gewehr über der Schulter und streckte den Arm aus gegen Osten.

»Dort, genau in der Richtung, wo die Sonne aufsteigt, liegt auch das heilige Rußland.«

»Das heilige?«

»Ja, mir sogar heilig. Denn ich glaube doch an seine Sendung.«

»An den Ansturm eurer Kosaken, meinst du. Ich fange an zu glauben, daß es im faulen Westen noch genügend Leute gibt vom Schlage unserer braven Fischer hier, die dem Widerstand leisten können.«

»Das wohl kaum! Dafür aber werden sie diejenigen sein, die neu und anders aufbauen, was wir zertreten. 259 Ja, sie können einem schon imponieren mit ihrer wundervollen Frische. Nur liegen die Kräfte noch brach. Unmöglich dürfen wir jetzt schon damit rechnen.«

»Ach, lassen wir Berechnung und Händel ruhen; gucken wir lieber der Sonne ins Gesicht, solange sie scheint!«

»Recht hast du. Laufen wir vorläufig noch den Kaninchen nach! Guten Morgen, mein Just!«

»Guten Morgen, Dimitri!« Und lachend trennten wir uns.

Ebenso geschah es zuweilen, daß ich mich an irgendeinem stillen Fleck Waldes plötzlich Tönnies und Gottfried gegenüber sah, die, Arm in Arm, schweigend nebeneinander schritten, jeder seinen Gedanken nachhängend, den gesunden oder den irrsinnigen. Sie liebten sich wie Brüder, obwohl sie einander in Worten nicht verstanden, sondern nur mit den Fühlern ihres überempfindlichen Herzens sich betasten konnten. Tönnies ging langsam, bedächtig Schritt vor Schritt gesetzt und schien gleichgültig gegen all das blühende, sonnige Leben rings um ihn her. Oder vielleicht war es schon längst in ihm, ohne daß er es erst mit den Augen zu ergreifen brauchte. Gottfried dagegen bewegte sich voller Lebendigkeit. Oft riß er sich los, um einem Falter nachzuspringen, Blumen zu pflücken oder einen Käfer aufzunehmen, den er dann mit den Fingerspitzen sanft 260 liebkoste. Darauf wieder hing er sich an seinen Gefährten und trällerte leise vor sich hin, wie Kinder tun, wenn sie, versunken in ihre Betrachtungen, den Gefühlen dabei Ausdruck geben müssen. Fragte ich ihn: »Gottfried, wie geht's?«, so breitete er die Arme weit aus gegen den Himmel und lallte wie im Dankgebet: »Ich bin sehr glücklich, sehr glücklich!« Und sein Aussehen strafte ihn nicht Lügen. Breitschultrig und sehnig, mit vollen, roten Wangen und strahlendem Feuerblick, mit dem lockigen Haupthaar und dem wehenden Bart, täglich stolzer, sicherer, fröhlicher, hörte er schon auf, den Menschen ähnlich zu sein. Einem antiken Götterbildnis glich er, etwa dem des Kroniden. Denn er stand jenseits der Menschheit wie ein Überwinder, wie der verwöhnteste Sohn des Schicksals.

Um Esthers Gesellschaft wurde viel gestritten. Besonders Tönnies hätte sie gern mit Beschlag belegt. Er sah es ungern, wenn ich ihm die Freundin entführte. Aber ich war eitel genug, mir einzubilden, daß sie sich besser mit mir unterhielte, der ich ein guter Zuhörer war und an jedem ihrer Gedanken meine helle Freude hatte, während Tönnies sich den Anschein gab, als hielte er sie für geistig nicht ganz ebenbürtig. Er liebte es, das Weib in ihr zu betonen. Zwar vermied er es nicht, allgemeine Fragen ernstlich mit ihr zu besprechen, doch quälte er sie, wie mir schien, mit Lehren und 261 Berichtigungen, ging dann unvermittelt in steifleinene Scherze über, die ihm nicht recht standen, und machte ihr in seiner täppischen Weise eigentlich den Hof.

»Was mag er wohl für Absichten haben?« fragte ich meine Begleiterin indiskret. »Will er Sie heiraten, Esther?«

»Dafür würde ich mich bedanken,« antwortete sie voll komischer Entrüstung. »Solch gesetzmäßige Ideen traue ich ihm auch gar nicht zu.«

»Na, er hat doch im Grunde etwas recht Bürgerlich-Solides.«

»Das ist bei einem Manne von seiner Bedeutung weiter kein Unglück, zumal er gerade in der Beziehung unermüdlich an sich arbeitet. Sie kleiner, fauler Snob könnten sich ein Beispiel daran nehmen.«

»An seiner Bedeutung, meinetwegen.«

»Nun ja, worauf kommt es denn sonst wohl an? Oder verlangen Sie etwa, daß seine Hosen Bügelfalten haben? Wenn er mich nicht zur Freundin hätte, ich kann Ihnen sagen, er würde aussehen wie ein Räuberhauptmann.«

Ich machte ein bestürztes Gesicht. Wahrhaftig, dergleichen störte bei Männern von Wert meinen Geschmack nicht im geringsten. Aber bei Tönnies ging die Sorglosigkeit schon etwas weit.

»Glauben Sie mir,« fuhr Esther fort, »daß ich ihm die regelmäßige Morgenwäsche hier erst angewöhnt 262 habe? Dafür ist er nun rührend dankbar und entschuldigt sich immer, wenn auch nicht gerade mit Zerknirschung. ›Sehen Sie‹, sagt er ›sobald mir vor dem Waschbecken etwas Wichtiges einfällt, so schreib ich's auf. Nun kommt noch dies und jenes und immer mehr hinzu. Der Vormittag geht drüber hin, und die Beendigung der Toilette lohnt sich überhaupt nicht mehr!‹ Natürlich sag' ich ihm, daß er lieber den Gedanken vorläufig vergessen soll. Aber eigentlich ist das nicht einmal recht von mir. Denn ein Gedanke von Tönnies ist mehr wert als seine frischgewaschenen Hände.« –

»Sie haben ihn lieb?« fragte ich, nicht ohne eine eifersüchtige Regung.

»Wie kommen Sie auf diese Frage?« Mit großen Augen sah sie mich an. Vielleicht war ihr mein allzu warmer Ausdruck aufgefallen.

»Ach, ich meine das in keinem verwegenen Sinne.«

»Nun, über die verwegene Liebe bin ich auch hinaus. Ich habe genügend davon genossen und auch genügend darunter gelitten. Aber es gibt so unendlich viele Arten von Liebe zwischen Nymphomanie und Karitas, daß ich wohl eine davon für Tönnies übrig haben werde.«

»Und für mich?« Ich wußte selbst nicht, woher diese törichte Frage. War ich so vereinsamt, daß ich einen armen Schlucker um seine Genossin beneidete und ein Teil von ihr für mich erbettelte?

263 Sie aber nahm es mit gewohnter Güte auf. Gleichsam ermutigend klopfte sie meine Schulter und drückte mir die Hand:

»Mit dem Platz, den Sie in meinem Herzen haben, können Sie schon zufrieden sein. Und je froher ich Sie jeden Tag sehe, desto lieber werden Sie mir. Übrigens scheint auch Ihre Konversion eine recht erfolgreiche Pferdekur gewesen zu sein.«

»Oho,« rief ich, »noch bin ich mitten drin.« Indessen mußte ich selbst schon darüber lachen. –

Von Erich kam ein Brief für mich an, aus Ostende:

»Alter, lieber Junge! Wie Du aus dem Poststempel ersiehst, bin ich ein Mann von Welt geworden. Seit drei Wochen hat es mir Vergnügen bereitet, als Dandy den Damen zu Wasser die Cour zu schneiden und ihren Liebhabern zu Lande im Jeu die Groschen abzunehmen. Ich hoffe, daß dies Vergnügen auf weitere drei Wochen vorhalten wird. Sodann dürften noch größere Aufgaben an mich herantreten. Vor mir liegt der Strand, wie ein Ballsaal glatt und von lüsternen Menschen wimmelnd. In den Strandkörben dürfen Ehegatten die Gesetze übertreten. So frei ist es hierzulande! Auch gibt es junge Frauen, welche für mich schwärmen. Am gierigsten aber verfolgt mich eine junge Witwe. Ihr Mann war Börsenmakler und ist an der Völlerei gestorben. Sie lebt in Berlin, verfügt über Millionen und 264 eine stattliche Figur und leidet an Wallungen. Nicht fünf Minuten darf ich schwimmen, ohne daß sie auf mich zutreibt wie ein Ballon. – Ich wollte Dir erzählen, was ich sonst hier treibe; doch es ekelt mich. Ich wollte auf diesen Bogen mein ganzes Elend ausweinen vor Dir. Aber ich habe nicht gelernt, von dem zu reden, was mich bewegt und quält. Nicht einmal das habe ich gelernt! Ach Just, dies eine nur: ich schwöre Dir, die Keime zum Besten, zum Höchsten haben in mir gelegen; wenn ich in meinen schlaflosen Nächten unter alten Trümmern wühle, so finde ich die verdorrten Wurzeln. – Aber nun stille! Das Leben ist zu läppisch, als daß man ernst darüber reden sollte. Man muß es so leicht als möglich nehmen, so leicht als möglich, und danach faßt man den Entschluß . . .« – – – – –

 

Regentage! – Wir sitzen alle beisammen um den großen, rohgezimmerten Tisch, der die Hälfte einer Stube ausfüllt. Ich rauche meine leichtesten Zigaretten und zähle die Ringe, die Dimitri aus seiner Terrakottapfeife bläst. Tönnies liest die Korrekturen seiner Zeitschrift, an der er nach wie vor hängt, mit unwandelbarer Treue und in der Zuversicht ihrer nahen Blütezeit. Esther, ihm gegenüber, schreibt geheimnisvolle Manuskripte für ihn ab, seine Dichtungen, von deren Inhalt sie nichts zu verraten gelobt hat. 265 Gottfried studiert das Abgeschriebene. Obwohl ihm der Sinn verschlossen bleibt, zeigt er Bewunderung dafür. Er nickt befriedigt und lächelt Tönnies zu, der sich darüber freut.

Es ist unmöglich, vor die Tür zu treten; denn die Erde ist in Sumpf verwandelt. Die schwüle Atmosphäre trieft von Nebel, bald von stillem rieselnden Landregen, bald von prasselnden Wolkenbrüchen. Und doch erscheint mir unser Boden unzerstörbar schön wie eine Heimat.

Gewitter stehen am Himmel. Sie verdunkeln den Horizont, ziehen langsam herauf und erregen mir eine freudige Spannung. Dann, mit einem Schlage, bricht es los. Der Donner, wie eine Symphonie maßlosen Zornes, rollt über die See hin, die unter eintönigem Gebrüll mit ihren Wogenkämmen die alten Uferblöcke peitscht. Und Hagelkörner werfen sich gegen die Scheiben, machtlos klappernd wie eine Travestie auf den Groll der Elemente.

Woher jetzt mein Entzücken an diesem Treiben der fast vergessenen Natur? Weshalb mit meinem Herzen mitten hinein in diesen Kampf von unbeseelten Kräften? Weshalb so eins mit ihnen, so voll Sehnsucht, voll Vergötterung ihnen zugetan? – Nicht daran denken, daß Blitze zünden können und den, der ihnen entgegenjauchzt, zerschmettern . . .! Das Schreckhafte, das 266 Drohende in ihnen nicht sehen wollen, nur das Herrliche, das in der Entladung liegt . . .! O, wenn es das wäre, wenn es mir ein Zeichen bedeutete der Fähigkeit, wieder zu fühlen, mich hinzugeben an das Elementare des Menschen –!

Dimitri beginnt zu plaudern, und mit einiger Mühe gelingt es mir, ihn zu reizen, daß er erzählt. Das tut er selten genug. Deshalb legt jetzt auch Esther die Feder hin, und Tönnies schiebt seine Bogen ineinander; selbst Gottfried horcht auf, indem er sein Gesicht andächtig auf die gefalteten Hände stützt.

Nun muß man hören, wie Dimitri erzählt! Kein Griffel kann es wiedergeben, wie seine Augen dabei mitreden, alles erklären und glossieren, wie er in den Ausdruck seiner beweglichen Lippen stets Urteil und Empfindung des Erlebten kleidet und seine Worte damit oft ins Gegenteil umprägt, so daß Bonmots wie Schmerzensrufe klingen und Todeskämpfe komisch werden.

Also, er berichtet zum Beispiel von den militärisch-sozialen Studien, die er in einem preußischen Dragonerregiment getrieben hat. Mit vierundzwanzig Jahren, nicht lange nach seinem Abfall vom Kommunismus, war er als Avantageur dort eingetreten. Er war zu dem Zwecke ein veritabler Preuß und der bescheidene junge Mann geworden, um in aller Stille das Material 267 zu sammeln, das ihm für seine Ziele wertvoll schien. Und er schildert nun mit zwerchfell-erschütternder Laune, wie er, Dimitri Teniawsky, im Kasino sehr artig am unteren Ende des Tisches gesessen, den gönnerhaften Herren Leutnants Honneur gemacht hat, wie er in schicklicher Schweigsamkeit die bei aller Komik so einflußreichen Anschauungen und Gebräuche der mächtigsten sozialen Klasse belauschen, Dokumente auf Dokumente häufen und die wunden Punkte finden konnte, auf die er dann die Pfeile richten würde. Wie er danach auf der Kriegsschule mit Fleiß das höhere Waffenhandwerk lernte; »denn man kann ja nie wissen, wozu man wider Willen mal gezwungen wird. Da ist Fortifikationskunde eine gute Wissenschaft.« Nachdem er dann noch zwei Monate Leutnant gewesen, hat er sich wieder aus dem Staube gemacht und seine »militärischen Tabellen« angelegt, auf die er noch heute sehr stolz ist.

Ganz anders spricht Tönnies. Der kann sich noch immer die sittliche Entrüstung nicht abgewöhnen. Wenn er auf den Literaten Worms gerät, dessen wahres Wesen ihm allmählich aufgegangen ist, so schüttelt er sich, ruft pfui, pfui, pfui! und spuckt auf die Dielen.

»Denkt euch!« rief er aus, »jetzt hat der Gauner in Berlin sein Unternehmen faktisch ins Werk gesetzt und mit seinem literarischen Bureau zum Überfluß noch eine 268 Bühne verbunden, die von dem Mammon reicher Dilettanten ausgehalten wird unter der Bedingung, daß Worms ihre Stücke darauf spielt!«

»Na, ruhig Blut!« sagte lachend Dimitri. »Sie kollern ja wie der reine Zionswächter. Ich glaube, wenn die Moral noch nicht erfunden wäre, Sie hätten das Talent dazu.«

Nun wollte Tönnies seinen Grimm auf das Gebiet vom guten Geschmack hinüberleiten. Doch waren wir an diese Eselsbrücke schon gewöhnt, so daß er endlich klein beigab und sich zu bessern versprach.

Wieder trat unsere liebe Stille ein. Es wurde gelesen, geschrieben und geraucht. Draußen hatten Sturm und Hagel sich gelegt; nur der Regen plätscherte noch leise auf Dächer und Wege nieder.

Mancherlei ging mir durch den Kopf, was mir vor kurzem noch als sehr beschränkt erschienen wäre, alte Lieder fingen an zu klingen, sentimental und doch erquickend. Damit zog ich lange Fäden kreuz und quer und wob daraus ein Netz, in dem alle Weisheit und höhnischer Widerspruch sich verstrickten, bis sie ganz ausgesogen waren von einer jungen Herzensfröhlichkeit.

Wozu das Leben immer als System erfassen wollen? Das ist ein frevelhaftes Unterfangen; nur einem Genius mag es gelingen oder dem Pedanten. Ist es nicht schon so viel, das Leben betrachten zu dürfen? 269 Mag es denn auch ein trauriges Narrenspiel bleiben, so reichlich hübsche Züge finden sich darin, daß es sich wohl verlohnt, langsam mitten durchzuschlendern und an reizvollen Stellen zu verweilen. Wie tröstlich allein, Menschen um sich zu sehen, die vorwärtsdrängen und mir aufmunternd winken, das Lachen des Dimitri zu hören und den milden, heilsamen Druck von Esthers Hand zu spüren!

Es war rührend anzuschauen, wie sie unseres Tönnies aussichtslose Dichtungen entzifferte und sauber abschrieb, gewiß keine amüsante Beschäftigung. Und doch nahm sie es sehr ernst damit und lebte darin, nicht als ob sie sich hätte aufopfern und ein gutes Werk damit verrichten wollen, sondern einfach, weil es ihrem Wesen entsprach, ein Vertrauen, das ihr geboten wurde, aufzunehmen, mit dem Guten zu teilen, was er für sein Bestes hielt, in dessen Ausgestaltung ihn zu unterstützen.

Ja, ich hätte sie wirklich gern für mich allein gehabt. Solch eine Freundin tat mir not. Immer mußte ich ihre stille Anteilnahme um mich fühlen; jeden meiner Blicke würde sie verstehen, auf bange Fragen Antwort finden und bald die heitere Ruhe ihres Gemütes in mich selber überströmen. Doch das waren unfruchtbare Wünsche. Solange der Bruder ihrer bedurfte, dachte sie nicht daran, sich einem anderen mit ihrer 270 Treue hinzugeben, selbst wenn sie ihn deren wert befunden hätte. Sonst allerdings . . . ich glaubte, sie würde nicht schlecht mit mir fahren; hatte sie mir doch selbst schon gesagt, daß ich duldsame, gesellige Lebensformen besäße, die einer Ehe mit mir alles Kerkerhafte nehmen würden. Esther aber war das einzige Weib, an das ich mich, gerade weil sie den Mann in mir nicht reizte, gern gefesselt hätte. Vielleicht eine Vernunftehe in der besten Bedeutung, gegründet auf Zuneigung und herzliches Verstehen, zur gegenseitigen Förderung und Erleichterung des Lebens. Und so wahr es möglich ist, daß Mann und Weib geschlechtlich sich verschmähen, so wahr können sie auch Freundschaft miteinander pflegen. Darin ward ich bestärkt, je näher mir in jenen Wochen Esther trat.

Im September kehrten wir zusammen nach Leipzig zurück.

Hier erfuhr ich, daß Erich bereits nach mir gefragt habe und mich bitten lasse, ihn doch recht bald in seiner neuen Wohnung zu besuchen.

Er hatte sich eine abgelegene Villa gemietet, die schwer zu finden war, hinter Bäumen versteckt in einem parkähnlichen Garten lag und dadurch, daß ein Groom vor den niedergelassenen Jalousien Wache hielt, einen verschanzten Eindruck machte. Der Groom war in eine enge, schwarze Livree gekleidet. Er hatte ein lasterhaft 271 hübsches Gesicht wie die Petit-Jésus der Pariser Hotels.

Meinen Eintritt in das Vestibül mußte ich unwillkürlich mit jenem in das alte Dresdener Haus der Lüttwitz vergleichen, das in allen Stücken den Gegensatz zu diesen Luxusräumen bildete. Alles war darin nach dem letzten englischen Geschmacke stilisiert. Dekorative Extravaganzen, bekannt aus den internationalen Ausstellungen und den Heften des »Studio«, waren mit französischen Übertreibungen nachgebildet. Ein großblumiges, primitives Lilienmuster breitete sich über die Kacheln des Bodens und der Wände aus. Längs der Decke zog sich ein Fries mit Sgraffitomalereien hin. Im Mittelpunkt der Halle stand, wie um die Raumverschwendung noch zu unterstreichen, als einziges Möbel eine winzige Kreisottomane mit hellgrünem Lederüberzug. Betäubende Düfte von Blumen und Parfüms, Iris und Eßbukett erweckten mir Vorstellungen von Damenboudoirs und Sterbezimmern.

Erich selbst fiel nicht aus dem Rahmen seiner Einrichtung. Doch fand ich ihn anders vor, als ich mir eingebildet hatte, keineswegs überreizt noch körperlich verfallen, hohläugig oder neurasthenisch. Vielmehr beherrschte ihn ein blasiertes Phlegma; sein Gesicht war voller als sonst, leicht gedunsen und schlaff in den Muskeln, von gelblicher Farbe; seine hohe Gestalt 272 ungebeugt, nur fetter geworden. Er freute sich offenbar, mich zu sehen. Aber der Ausdruck dafür war nachlässig und matt.

»O, Erich, Erich, sage und erkläre mir, was dies alles heißen soll.«

»Nun, ich versuch' es auf meine Weise, merkwürdige Zustände zu erleben,« antwortete er, indem er halb trotzig, halb zerknirscht beide Hände in die Taschen seines grauen Flanellanzuges steckte.

»Und aus demselben Grunde verhängst du deine Fenster und zündest rote Lampen an, während draußen die herrlichste Sonne scheint?«

»Ich probiere das so auf einige Zeit. Wenn ich der Lampen überdrüssig bin, kommen neue Lichteffekte dran. Die Sonne kenne ich seit sechsundzwanzig Jahren und habe eigentlich wenig Freude an ihr erlebt.«

»Was hast du dir denn da für Bilder angeschafft?«

Ringsherum, an den Wänden und auf Staffeleien hingen Skizzen und Studien, in Öl oder Aquarell, aus allen möglichen Schulen und Richtungen, viele von großer Meisterschaft, andere schlimmes Stümperwerk. Bevorzugt waren die Impressionisten und die Fanatiker des Ultravioletts.

»Die hab' ich alle in Paris gefunden. Auf dem Rückweg hielt ich mich dort zehn Tage auf. Ein Mäzen aus 273 Ostende führte mich durch die Ateliers. Was ich bekommen konnte, hab' ich mir gekauft oder wenigstens geliehen.«

»Aber, nimm mir's nicht übel, es sind doch darunter ganz unmögliche Sachen! Was soll zum Beispiel diese Symphonie in Weiß und Scharlachrot bedeuten?«

»Das ist eben eine Symphonie in Weiß und Scharlachrot.«

»Eine Mystifikation ist es; darauf kannst du dich verlassen.«

»Meinetwegen,« lachte Erich melancholisch; »daß sich die Maler über mich lustig machen, hab' ich wohl bemerkt. Haben auch allen Grund dazu dort in ihrem Quartier Montmartre, wo sie arbeiten, für ihre Ziele und zu ihrem Vergnügen; da ich von hoher Kunst doch einmal nichts verstehe, so halte ich jetzt für richtig, alles schön zu finden. Und das ist gar nicht so schwer, als man glauben möchte. Ich stelle mich einfach hin vor solch einen Schinken und rede mir dies und jenes ein. Dann nach Verlauf von drei Minuten bin ich befriedigt von dem Eindruck und gehe zum nächsten über.«

Ich sah mir das Zimmer noch etwas näher an. Ursprünglich mit einem zierlichen Mobiliar von Mahagoni eingerichtet, war es nachträglich mit persischen Teppichen und türkischen Goldstickereien, mit italienischen Bronzen und Majoliken überladen worden. 274 Nargilehs und imitierte Japonnerien standen auf Spiegelschränkchen und Etageren, alles schon etwas verstaubt und verwahrlost und nicht immer vom besten Geschmack.

Einige Andeutungen und Ratschläge konnte ich nicht unterdrücken. Erich aber fiel mir zugleich gereizt ins Wort: er wünsche nicht, belehrt zu werden. Das sei jetzt aussichtslos. Die letzten paar Illusionen, die er noch habe, solle man ihm, wenn sie auch lächerlich seien, nicht zerstören.

Er führte mich alsdann durch die übrigen Räume, die anscheinend unbewohnt blieben und deshalb einen kalten, wenn auch stilgerechten Eindruck machten. Er hatte sie fertig aus der Pariser »L'art nouveau« bezogen. Niedrige Polster standen neben kleinen, leeren Tischen; nur die Kamine waren breit, mit Ornamenten verschwenderisch ausgestattet, durch einen Halbkreis von Armsesseln und Sofas, vor denen Fußkissen lagen, zum »fire-place« erweitert.

»Das ist alles sehr hübsch,« bemerkte ich.

Erich sah mich zweifelnd an:

»Wenigstens ist es Mode; deshalb macht es mir gerade noch Spaß.«

Als wir nach dem ersten Stock aufstiegen, wurden die Irisdüfte stärker und schienen jeden freien Atemzug vergiften zu wollen.

275 Einen Augenblick hielt Erich mich zurück und sagte mit zynischem Lächeln:

»Hier oben befinden wir uns an den äußersten Grenzen meiner Lebensfreude: Bijouterien der Liebe in entsprechender Fassung! Darf ich damit vor dir prahlen?«

»Ja, tu das immerhin! Ich bin schon so neugierig, daß mir davor graut.«

Er öffnete ein Zimmer, das lang und niedrig, im Stil der deutschen Renaissance gehalten war. Auf schwerem Eichenholztisch eine Lampe, deren Gazeschirm alles auf Meergrün stimmte. An diesem Tische saß eine große, blonde Frauensperson. Sie hatte die Ellbogen aufgestemmt und las in einem Kolportageheft.

»Das ist Thusnelda,« sprach Erich, »ein Typus, den ich eigentlich schon überwunden habe. Erhebe dich, Thusnelda, und begrüße uns.«

Träge schob die Gestalt sich in die Höhe, grinste verdrossen und sagte: »Guten Abend, die Herren.«

»Sei brav und nett!« gebot ihr Erich; »solange du noch hier bist, sollst du die Freudige sein. Dazu hab' ich dich eingeladen. – Aber,« wandte er sich zu mir, »sie scheint uns nicht zu gefallen. Gehen wir also weiter.«

Darauf gelangten wir in ein kleineres Zimmer, das von dem Lichte zweier Reflektoren in Himmelblau 276 erstrahlte. Ein überschlankes, elegantes Wesen warf sich Erich, sobald er eintrat, an die Brust.

»Du liebst mich nicht, nein, du liebst mich nicht!« rief sie unter krampfhaftem Schluchzen. »Ich weiß es, du willst mich von dir stoßen.«

Da strich er ihr begütigend die Löckchen aus der Stirn und schwor, daß er sie lieben würde bis zu seinem Tode.

Sie dankte ihm mit dem leidenschaftlichen Aufschlag ihrer weiten, hellen Augen und begrüßte dann auch mich, verschämt und kokett.

»Womit hast du dich beschäftigt, meine teuere Elvira?« fragte Erich.

»Ich habe für dich gehäkelt,« antwortete sie, »Deckchen mit Sternen.«

»Das ist rührend, Geliebteste. Doch mein Freund drängt zum Abschied. Lebe wohl, Elvira!« Und wir verließen sie.

Jetzt betraten wir einen dritten Raum, eng und sechseckig wie ein Turmgemach. Drei Milchglaskugeln mit elektrischem Licht tauchten von oben her das Zimmer in Weiß und leuchteten wie Sonnen über einer Landschaft Schnee. Weiß waren auch die Teppiche von Kaschmir, mit weißer Seide die Wände bekleidet und die Polster bezogen, weiß gebeizt das Holz der Sessel und der Tische mit den gewundenen Füßen.

277 Ein Kind mit dunklen Locken, ganz in Brüsseler Spitzen gehüllt, sprang uns entgegen.

Kaum hatte sie mich erblickt, so faßte sie mit einem Jubelschrei nach meinen beiden Händen, schwenkte sie hin und her und lachte wie ein ausgelassener Knabe.

Es war Amaryllis, die Bettlerin.

Erich zeigte sich verblüfft, doch ohne Eifersucht. Ich erklärte ihm die Freude der Begegnung, und Amaryllis fügte hinzu, daß sie mir gar viel zu verdanken habe.

Als ich sie auf Stirn und Augen küßte, ging mir ein Schauder übers Herz. Noch empfand ich ein wenig von ihrer Süßigkeit; aber ängstliche Bedenken gesellten sich dazu und Spuren einer gewöhnlichen Reue; dann auch ein Gefühl der Erleichterung, daß sie für mich nicht mehr gewesen war als ein Abenteuer und kein Sinnbild, wie jetzt für Erich, kein Symptom.

O, welch unheimliche Handlung der Freundschaft ging wider Wissen mit ihm vor, daß er eintrat an meine Stelle und die abschüssigen Pfade weiterschritt, von denen ich mich langsam rückwärts wandte, und daß ich bei jedem seiner gefährlichen Schritte mehr Sicherheit für mich selbst gewann! –

Erich betrachtete die Amaryllis, als ob sie sich verändert hätte. Doch seine Gedanken verließen sie bald. Ihre Finger entglitten ihm, und er liebkoste zerstreut seine eigene Hand. Dann sagte er: 278 »Es freut mich eigentlich, daß es kein anderer gewesen ist als du. Das gibt Vertraulichkeit. Ich denke, darauf hin könnten wir hier bleiben und den Tee zusammen nehmen.«

Ein Diener brachte den Samowar und einen schweren braunen Kasten, in dem das Cello stand.

Amaryllis entzündete die Flammen unter dem Kessel und bereitete den Tee, à la Dubelloy, mit doppeltem Aufguß. In jedes Glas schüttete sie einen Löffel Sherry-Brandy und wußte schon dabei die außerordentlichen Reize ihrer Bewegungen mit Kunst und Takt ins rechte Licht zu setzen.

»Wer von euch beiden hat mich lieber?« fragte sie.

»Zurzeit wohl Just,« antwortete Erich, »entschuldige.«

»O,« sagte bedauernd Amaryllis, »mit wem bist du mir untreu?«

»Ich bin verliebt in einen Poeten, den ich kennenlernen möchte. Zwar weiß ich nicht, wie er heißt, noch wie er aussieht. Aber ich liebe ihn mit einer wahren körperlichen Sehnsucht, aus einem einzigen seiner Gedichte.«

Ich fragte, ob es gut sei, das Gedicht.

»Nein, mir scheint sogar, daß es schlecht ist. Aber der ganze Mensch muß darin enthalten sein, ein ganz unsagbar kompliziertes, empfindsames Kerlchen, in dessen Armen ich zugrunde gehen möchte.«

279 Er begann zu rezitieren. Dabei legte er die Hände vor seine Augen. Wirklich schien er uns zu vergessen; denn er sprach sehr gut:

»Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,
Und viel zu grauenvoll, als daß man klage,
Daß alles gleitet und vorüberrinnt.

Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt,
Herüberglitt aus einem kleinen Kind,
Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.

Dann, daß ich auch vor hundert Jahren war
Und meine Ahnen die im Totenhemd
Mit mir verwandt sind wie ein eignes Haar

So eines mit mir als wie mein eignes Haar . . .«

Amaryllis klatschte in die Hände, weniger um Beifall zu spenden, als zur Unterbrechung.

»Ist das alles?« fragte sie enttäuscht. Vielleicht war sie auch eifersüchtig auf den Poeten.

»Ja, nicht wahr, das ist etwas wenig?« Er hatte seine Augen rot gedrückt und die Haare zerzaust. Deshalb blickte er verstört und übernächtig drein.

Ich meinte, es sei ziemlich kühn, um einiger Verse willen sich in den Dichter zu verlieben. Erich gab zu, daß es bewußte Einbildung gewesen wäre, und ich erzählte ihm zur Abkühlung, daß auch ich einmal einen jungen Wiener Dichter aus seinen entzückenden Skizzen zu erkennen glaubte, bis ich seinen intimsten Freund persönlich kennenlernte und die Skizzen mir danach zuwider wurden.

280 Dann erwähnte er im Laufe des Gesprächs noch einen französischen Autor; von dem hätte er einmal ein Buch gelesen, dessen Held den klugen Gedanken gehabt, seinem Leben noch eine kurz bestimmte Frist zu setzen und seine Gelder sowie die übrigen Bedingungen des Lebens bis zum Tage des Gerichts derart einzuteilen, daß ihm das vis-à-vis de rien zum Fallbeil werden mußte.

»Den Plan hab' ich jetzt für mich selber akzeptiert. Und um der Sache ein Relief zu geben, werde ich am Totensonntag meine letzten Stunden feiern.«

Nun, vorläufig wagte ich die Ausführung noch zu bezweifeln. Auch Amaryllis lachte nur schelmisch vor sich hin.

»Er will uns fürchten machen,« kicherte sie, »damit wir immer toller auf ihn werden. Er ist ein kleiner Schäker mit seinen Sterbegedanken.«

»Ja, eigentlich habt ihr recht,« antwortete Erich; »wer davon spricht, der tut es nicht. Wir wollen es also dahingestellt sein lassen –. Ich schlage vor, ein wenig zu musizieren.«

Damit begann er auf seinem Cello ein Potpourri zu geigen, dessen Dissonanzen Amaryllis komisch fand. 281

 


 


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