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Neuntes Kapitel.
Allerlei Enttäuschungen

Sechow war am nächsten Vormittag richtig mit Theo auf Wohnungssuche. An der Hand einiger Zeitungsinserate begannen sie eine Wanderung durch die Quartiere NW, SW und W der großen Metropole. Theo wurde allmählich müde und ungeduldig; denn bald war dem Doctor die Aussicht nicht recht, bald ihm selbst das Licht nicht in Ordnung; dann schien die Nachbarschaft zweifelhaft oder das vis-à-vis unpassend; hier machte die Vermietherin einen verwahrlosten Eindruck, dort fehlte es an Sauberkeit der Wäsche und Betten – kurz, die ganze Geschichte nahm in Theos Augen bereits den beliebten Mumpitzcharakter an. Aber Sechow drängte: »Noch das letzte Inserat, das ich ausgeschnitten habe! Wir werfen uns in eine Droschke, Theo, und fahren nach dem Kurfürstendamm zu Wittwe Ollivier, die ›drei elegant ausgestattete Zimmer an solide Herren aus bessern Ständen‹ zu vermiethen hat.«

»Ich will nicht bei einer Französin wohnen.«

»Vielleicht ist nur der Name französisch. Hier in Berlin gibt es ja viele Emigranten und Réfugiés. Und wenn die Dame auch Französin ist – Sie hätten dann auf jeden Fall eine liebenswürdige und reinliche Hausfrau.«

»Ich bleibe bei der Piesecke.«

»Theo, mir zulieb schauen Sie sich noch die Zimmer der Wittwe Ollivier an!«

»Erst muß ich etwas frühstücken. Der Mumpitz macht ja einen wahren Jagdappetit.«

»Gut, gehen wir drüben in das Pschorrbräu!«

Das Bierlocal war ziemlich voll und die kleinen Tische standen dicht aneinander. So kam es, daß die beiden Freunde, ohne es zu wollen, folgende Unterhaltung ihrer nächsten Nachbarn verstehen konnten: »Aber die Frau von Pechtler kann ihrem Manne doch nicht einfach fortgelaufen sein!«

»Verlassen Sie sich darauf! Jahrelang hat Erich sie, wie alle Welt weiß, in der brutalsten Weise behandelt. Während seiner Abwesenheit von Wien hat sie sich einfach mit ihren zwei Töchtern aufgemacht und ist zu ihrem Vater hier nach Berlin zurückgekehrt. Man kann der armen Frau eigentlich nur recht geben; denn Erich hatte es einzig auf die Millionen des alten Barband abgesehen.«

»Und seine Rosa lockte das ›von‹.«

»Nun ja. Aber die Gerichte, denke ich …«

Dann sprachen sie wieder leiser, so daß Sechow und Theo nur noch hörten: »Die Frau von Moriz Pechtler, die geborene Gräfin Hohnitz, soll sich geweigert haben, die Commercienrathstochter bei Hofe vorzustellen. Damit fing der Krieg zwischen den beiden Schwägerinnen an: die eine hatte den Geldbeutel, die andere den alten Wappenschild …«

Sechow sagte zu Theo: »Wie viel Elend gibt es auf der Welt! Sie erinnern sich doch des Legationsrathes von Pechtler auf Helgoland?«

»Gewiß; sollten die zwei ihn meinen?«

»Ich zweifle nicht daran. Der alte Seebär prophezeite damals schon, das werde schwerlich ein glückliches Paar werden. Und ich weissagte auch bei dem Dünenfest nicht viel Gutes. Sie erinnern sich noch?«

»Ja, das Dünenfest! Was haben Sie als Meergreis mir nicht alles aufgebunden!«

»Aufgebunden? Ist nicht der ›hohe Rang‹ so ziemlich eingetroffen? Damals hätten Sie nicht gedacht, daß Sie noch mal Baron werden sollten. Und das ›Glück im Familienkreise‹, erwarten Sie es nicht von dem Besitze Ethels? Und der ›Glaube‹! Wird sich dieser Theil der Prophezeiung nicht viel herrlicher erfüllen, als wir erwartet? Sie dachten oft, wie Sie inmitten des gesellschaftlichen Hocuspocus wieder zum Glauben an die Ehrlichkeit der Menschen gelangen möchten. Nun wird es klar, daß es sich um den wahren Christenglauben handelt. Theo, Sie sind ein ganz besonderes Lieblingskind der Vorsehung!«

Aber der junge Mann sann über düstere Dinge nach. »Lassen Sie uns gehen, Doctor – das heißt, wenn Sie fertig sind.«

»Gut, ich wartete nur auf Sie.«

Draußen sagte Theo: »Wenn die Vorsehung es so gut mit mir meint, warum liegt dann mein Lebensweg voller Felsblöcke und Baumklötze?«

»Damit Ihre Dichterseele aus dem Lande der Träume ab und zu in das Reich der nackten Wirklichkeit versetzt werde.«

»O, ich wollte, ich wanderte noch wie einst mit Hans über die Klippe und hörte die Meereswogen rauschen statt dieses wüsten Berliner Wagengerassels!«

»Damit Sie weiter träumen könnten, nicht?«

»Es war eine selige Zeit.«

»Jene Jünglingsjahre sind freilich eine Epoche zauberhafter Romantik, wenn man so eine Theodorseele im Busen wohnen hat; aber mein Freund, Sie sollen jetzt nicht träumen, sondern handeln! Umsonst hat es Gott nicht gefügt, daß Sie das Mädchen, welches Sie lieben, erst nach harten Kämpfen Ihr christliches Weib nennen werden.«

»Und wenn alle diese Kämpfe vergeblich wären?«

»Haben Sie doch mehr Vertrauen zu der wunderbaren Vorsehung, die fast sichtbar wie eine Mutter all Ihre Schritte bewacht!«

»Sie besitzen freilich ein riesenhaftes Vertrauen.«

»Etwa ohne Grund? Theo, Theo! Sie sind wieder in Ihrer Blaumontagslaune. Wenn Sie doch an die besondere Führung Gottes glauben könnten!«

Sechow winkte einer leeren Droschke und gab dem Kutscher beim Einsteigen die Adresse der Wittwe Ollivier auf dem Kurfürstendamme an. Unterwegs waren die Freunde höchst einsilbig, bis der Wagen nach einer Fahrt von etwa zwanzig Minuten vor einem stattlichen Etagenhause hielt. Man schellte am Parterre-Eingange. Der Portier zog die Thüre offen und wies die Herren auf Befragen in den zweiten Stock.

»Etwas hoch!« schalt Theodor.

»Wie? Wohnen Sie bei der Piesecke etwa bequemer?«

Im zweiten Stock öffnete ein sauberes Stubenmädchen. Gleich darauf erschien in dem halbdunkeln Corridor eine in Schwarz gekleidete Dame, welche das Begehren der Herren vernahm und dann erklärte: »Die drei Zimmer liegen nach vorn hinaus. Luise, öffnen Sie die Vorhänge! Bitte, meine Herren, die zweite Thüre rechts. Treten Sie gütigst näher!«

Das Dienstmädchen lief voran, um zu öffnen. Dann überschritt Theo die Schwelle des mit solider Einfachheit ausgestatteten Wohnzimmers und ging sofort an eines der Fenster, um zu constatiren, wie es mit der Aussicht und dem Lichte stehe. Er war sehr befriedigt und wollte Sechow heranrufen, den er unmittelbar hinter sich vermuthete. Daher wandte er sich um: »Doctor, das ist einmal ein schöner, freier Blick … aber wo sind Sie denn?«

Ja, was war mit Sechow passirt? Der lehnte bleich an einem der Thürpfosten, und ihm gegenüber stand die Dame in Schwarz, gleichfalls aufs äußerste bestürzt oder erschrocken. Das Stubenmädchen riß die Augen auf und schaute bald auf die zwei, bald auf Theo. Aber schon faßte sich der Doctor ein wenig und sagte: »Also hier finden wir … sind Sie … sehe ich Sie wieder, Georgine!«

»Herr von Sechow!« lispelte die Dame kaum hörbar.

»Verzeihen Sie, gnädige … Frau, ich …«

»Treten Sie ein, Herr von Sechow, es ist kalt auf dem Corridor.«

Da begriff Theodor im Nu, was sich ereignet hatte. Was sollte er thun? Er bat schnell das Stubenmädchen: »Bitte, zeigen Sie mir die zwei andern Zimmer!«

»Gewiß, Herr, hier geht es in das eine Schlafzimmer.«

Theo trat ein und schloß dann, als Luise ihm gefolgt war, die Thüre, um zu fragen: »Ist die Dame Frau Ollivier?«

»Jawohl, Herr. Der alte Herr kennt sie, scheint's.«

»Es scheint. Ist Frau Ollivier in Trauer?«

»Jawohl, Herr. Herr Ollivier ist erst ein paar Monate gestorben.«

»Hier in Berlin?«

»Doch nicht, Herr. Madame ist auch erst einige Wochen hier. Sie lebte früher in Genf.«

»So, so.«

»Oder einerwärts in der Schweiz.«

»Hm!« machte Theo lächelnd, drehte sich nachdenklich einige Male im Zimmer um und forschte darauf weiter: »Wohnen noch andere Miether bei Ihnen?«

»Keine Miether, Herr. Nur der Sohn von Madame aus ihrer ersten Ehe, Herr Doctor Mediciner Georg Brewer.«

»So, der junge Brewer?«

»Kennen der Herr den jungen Herrn?« fragte das Dienstmädchen vorlaut.

»Jawohl, ein wenig.«

»Er ist verlobt.«

»Ich weiß.«

»Er ist jetzt nicht zu Hause. Um fünf kommt er zu Tisch.«

»Hm! Ein nettes Zimmer. Wo ist das dritte?«

»An der andern Seite des Salons. Wir können aber auch über den Vorplatz gehen.«

»Gut, führen Sie mich über den Vorplatz!«

In dem dritten Zimmer occupirte Theo zum Erstaunen der neugierigen Luise sofort einen Fauteuil, warf seinen Hut auf die Fensterbank, stützte den rechten Ellenbogen auf das Knie und das Kinn auf die rechte Hand und versank in Nachdenken. Als er das Mädchen kurze Zeit darauf noch dastehen sah, erklärte er: »Gehen Sie nur! Ich überlege mir etwas … es ist gut, ich komme gleich; ich werde mich bei Madame Ollivier entscheiden, ob ich die Wohnung nehme. Haben Sie die Güte, mich einen Augenblick allein zu lassen!«

Kopfschüttelnd gehorchte das Mädchen.

Theodor saß eine ganze Weile da und ließ sich allerlei krause Gedanken durch den Kopf gehen. Ab und zu wurde es ein wenig lichter; dann aber zogen die Phantasiebilder aus seinem und des Doctors Leben wieder in wirrem Taumel an seinem Geiste vorbei, als ob sie ihn necken und höhnen wollten. Gesichter, Personen, Scenen, ja Worte nach Art sichtbarer Gestalten umringten ihn, tanzend, schwebend, hin und her schießend, auftauchend und vergehend. Endlich aber kam doch Ordnung in die bunte Schar. Die Ereignisse und die Menschen stellten sich wie in Reihe und Glied; aus dem tollen Durcheinander formirte sich eine regelmäßige Procession, und Theo begann, sich selbst zu begreifen und das zu verstehen, was mit ihm seit seiner frühesten Kindheit vorgegangen war. Leise sprach er mit sich selber: »Ja, es gibt eine weise, unergründliche Vorsehung, Theo. Wie einen Zauberkreis zieht sie ihre wundersamen Fügungen um dich zusammen, damit du dein Schicksal ihr ganz gefangen gebest. Wenn du ihre Hand jetzt nicht walten siehst über deinem Haupte und über Sechow, dann willst du blind sein. Und wenn du das willst, so darfst du dich nicht beklagen, wenn die Vorsehung deinen Wunsch erfüllt und dich vielleicht fortan im Dunkeln läßt.«

Mittlerweile hatten auch die zwei im Nebenzimmer ernste, vorsichtige Worte zu einander gesprochen, und es dauerte geraume Zeit, bis Sechow sich an seinen Freund erinnerte. Das herbeigerufene Stubenmädchen erklärte: »Der junge Herr wartet allein nebenan.«

Sechow öffnete die Thüre. Theodor fuhr aus seinen Betrachtungen auf und blickte in das tiefbewegte Antlitz des Doctors, hinter welchem die Gestalt der Wittwe sichtbar ward. Georgine war noch nicht ergraut, trotzdem sie zwei erwachsene Söhne hatte; ihre Gestalt machte sogar einen jugendlichen Eindruck. Aber auf der Stirne und um den Mund lag doch der Ausdruck herben Seelenschmerzes und bitterer Enttäuschung, gemildert freilich durch die sichere Freundlichkeit und jenes allzeit bereite, sanft verbindliche Lächeln, das Frauen der höhern Gesellschaftskreise auch noch in Noth und Unglück verbleibt, gleich dem nie ganz verschwindenden Metallglanz vergessener, bestaubter Poesie-Albums, die ehedem in Goldschnitt auf dem Tische eines Salons geprangt haben. Religiösen Frauen verleiht zwar das Leiden oft eine zweite, höhere, himmlische Schönheit; aber der Weltsinn, den selbst das Unglück nicht zu brechen vermag, entstellt und verändert des Menschen Herz und Antlitz.

Gut conservirt; aber wie kalt ist ihr Auge, wie hart sind ihre Züge! dachte Theodor, als der Doctor mit kaum merkbarer Bewegung sagte: »Georgine, ich muß Ihnen meinen besten Freund vorstellen; er ist es, der diese geschmackvolle Wohnung besehen wollte: Baron Theodor von Göhring – Theodor, Sie befinden sich im Heim einer Dame, die ich gekannt habe, ehe Sie das Licht der Welt erblickten, und seitdem nicht wieder gesehen habe.«

Theodor verbeugte sich höflich.

Georgine reichte ihm die Hand: »Ich heiße Sie doppelt willkommen, Herr Baron: als Freund des Herrn von Sechow, meines Jugendbekannten, und als Verwandten meiner zukünftigen Schwiegertochter.«

»Es ist in der That ein seltsamer Zufall, gnädige Frau, daß ich die Ehre habe, bei dieser Gelegenheit der Mutter meines Vetters in spe vorgestellt zu werden.«

Die Wittwe lächelte: »Ja, es gibt sonderbare Zufälle im Leben. Ich bedaure, daß Sie meinen Sohn nicht zu Hause treffen. Sie kennen Georg doch bereits, nicht wahr?«

»Von früher her, gnädige Frau, von Hamburg.«

»Ach ja, Hamburg! Nun, Herr Baron, Sie wußten lange von dem Schicksal, das so plötzlich über die Familie Brewer hereinbrach; jetzt sehen Sie es sozusagen mit eigenen Augen: ich bin gezwungen, chambres garnies zu vermiethen.«

»Sie haben eine allerliebste, helle, gemüthliche Wohnung, gnädige Frau.«

Georgine lächelte wieder, als sie unbeirrt fortfuhr: »Mein zweiter Gatte, ein Musiker, hat den größten Theil meines Vermögens verloren, und meine Verwandten in Lübeck verläugnen mich seit der Scheidung von dem Präsidenten Brewer. So muß ich mir selbst helfen. Ich habe Herrn von Sechow bereits meine Schicksale erzählt, nicht wahr? Was meine Wohnung hier angeht – nun ja, Bernsloh ist es nicht, das können Sie selbst beurtheilen, Herr Baron!«

Theo wurde geradezu verletzt durch die Worte Georginens. Sechow senkte den Blick und war beschämt und traurig. Er meinte: »Wir dürfen all die alten Erinnerungen nicht wieder auffrischen, Georgi –, Frau Ollivier.«

»Sagen Sie nur ›Georgine‹, nicht ›Frau Ollivier‹,« scherzte die kleine Person unbekümmert weiter; »ich hoffe. Sie besuchen mich öfters, gerade damit wir von alten Tagen plaudern.«

»Morgen verlasse ich Berlin.«

»Morgen? Heinrich, heute finden Sie Ihre alte Freundin wieder, und Ihr erster Gruß ist zugleich ein Lebewohl?«

»Vorläufig muß es so sein. Vielleicht kann ich später meinen Freund Theodor hier treffen. Dann aber, Georgine, lassen wir die Vergangenheit begraben sein! Wozu die Schatten der Todten wieder heraufbeschwören? Es harren unser in der Gegenwart Aufgaben genug.«

»Früher waren Sie nicht sentimental, verehrter Freund.«

»Ich bin zu ernst, um es etwa jetzt zu sein.«

»Denken Sie,« sagte Georgine zu Theo, »es gab eine Zeit, da ich beinahe Frau von Sechow geworden wäre. Mein Gott, welch ein Jahrmarkt ist doch das Leben!«

Theo war ganz empört über solche Frivolität. Es war ihm klar, daß diese Frau den Freund nie geliebt hatte. Aber der arme Doctor that ihm leid. Wie erstaunte er darum, als Sechow ganz gelassen versetzte: »Es ist gut, Georgine, daß es so kam. Ich nehme, Sie wissen es, an Ihrem Geschick herzlichen Antheil; aber zu Ihrem Gatten hätte ich schwerlich gepaßt.«

»Sie waren zu ernst; nicht wahr, das ist es?«

»Nein, Georgine, ich – ich bin Katholik.«

Frau Ollivier lachte hell auf: »Sie sind katholisch geworden, Heinrich? Unmöglich! Damals waren Sie …«

»Auch katholisch; aber nur dem Namen nach. Heute sehe ich es als eine Fügung des Himmels an, daß … daß alles kam, wie es gekommen ist.«

»Ist es möglich? Nicht im Traume habe ich das geahnt. Aber Sie müssen mir mehr erzählen, Heinrich. Ihre Schicksale haben für mich das größte Interesse. Sie wußten damals schon ausgezeichnet zu unterhalten – Sie müssen bei mir zu Tische bleiben, Heinrich. Herr Baron, mein Sohn kommt zum Essen …«

Sechow erklärte: »Vergeben Sie mir, Georgine, wenn ich ablehne. Dieses unerwartete Wiedersehen hat mich zu sehr angegriffen, als daß ich so bald in Ihrem Hause verkehren könnte …«

»Jetzt, da wir beide alt und vernünftig sind …«

»Georgine, ich kann nicht dafür, daß ich weicher gestimmt bin, als Sie es zu verstehen scheinen. Wir haben unsere Bekanntschaft erneuert, ja … aber lassen Sie einige Wochen vergehen, bis wir die rechte Form gefunden haben, in der wir uns gegenübertreten können. Theo, wenn Sie sich entschließen sollten, diese hübsche Wohnung zu beziehen …«

»Gnädige Frau,« sagte Theo, »ich lasse Ihnen heute Abend ein Billet mit der Rohrpost zukommen.«

»O, das hat keine Eile, Herr Baron. Ich reservire Ihnen die Zimmer auch länger. Aber wollen Sie wirklich nicht bleiben?«

»Ein Freund erwartet mich, gnädige Frau. Aber ich werde, sobald ich morgen Zeit finde, meinen künftigen Vetter aufsuchen. Er ist ja, wie ich gehört habe, tagsüber in der Klinik.«

»Sie träfen ihn heute hier am sichersten.«

Theo zögerte, jedoch Sechow drängte zum Fortgehen. Schließlich mußten sie doch noch ein Glas Sherry annehmen. So saßen sie eine halbe Stunde im Eßzimmer Georginens. Die kleine Wittwe erzählte von ihrem Sohne Paul, der in Chicago sei und schon seit fast einem Jahre nicht geschrieben habe. Dann erwähnte sie mit der größten Kaltblütigkeit, wie sie gehört, ihr geschiedener Gatte sei ein paar Mal mit seiner Schwester Klothilde in Berlin gewesen und habe in einem Hotel zweiten Ranges am Dönhoffsplatz logirt. Auch erkundigte sie sich bei Theo nach vielen Hamburger Bekannten, die sie einst in ihrem fürstlich eingerichteten Hause empfangen hatte. Das einzige, was ihr ein wenig nahe zu gehen schien, war, daß Göhrings jetzt in den Besitz von Bernsloh gekommen. Theo suchte das Thema zu vermeiden, doch die ehemalige Präsidentin fragte ihn selbst nach tausend Einzelheiten. Sie hatte niemanden vergessen, aber wohl nur wenige von den alten Bekannten geliebt. Konnte sie sich so gewandt verstellen, oder war ihr Herz in kalter Selbstsucht erstarrt? Theo, der warm empfindende, gefühlvolle junge Mann, mußte sich fast zwingen, höflich zu bleiben, und er athmete erleichtert auf, als Sechow sich empfahl.

Noch auf der Haustreppe bemerkte der Doctor: »Wenn ich je eine Illusion gehabt habe, so bin ich kurirt.«

Sein Begleiter antwortete nichts. Unterwegs fragte Sechow: »Und wie finden Sie Georgine?«

»Ich glaube, Doctor, Sie errathen meine Gefühle.«

»Mir ist nur eines unklar: habe ich diese Frau wirklich geliebt, oder war es eine Täuschung, die mehrere Decennien hindurch andauerte. Ich bin enttäuscht, gewiß – aber ich bin sicher, daß mir Georgine fortan gleichgiltig ist. Nein, Theo – wahrhaftig, ich bemitleide sie, herzlich und aufrichtig. Ich kann wirklich noch wünschen, aus dem tiefsten Grunde meiner Seele, daß sie glücklich werde. Wieder glücklich, ja. Oder ist sie es noch nie gewesen? Schwer zu sagen. Ich kann nicht in ihr Herz blicken; ich weiß nur, daß ich sie bedaure.«

»Sie denken immer edel.«

»Nein, es ist etwas anderes. Es thut mir merkwürdig weh, daß … nun, kurz und gut, ich habe dieser Frau einst nahe gestanden und bin nicht oberflächlich genug, um das zu vergessen. Sie sollten die Wohnung nehmen, Theo, wäre es auch nur, um ein gutes Werk zu thun! Denken Sie: diese Frau spielte einst als Präsidentin Brewer eine hervorragende Rolle in der Gesellschaft; ihre Equipagen, ihre Toiletten, ihre Diners und Soireen galten als Muster des Geschmackes. Der Reichthum war ihr Abgott, und nun hat dieser Gott sie verlassen, Theo. Wie schwer muß die einst so gefeierte Frau ihre Schuld büßen! Oder ist es nicht eine harte Buße, der Güter dieser Welt beraubt zu werden und dabei die himmlischen Reichthümer nicht zu kennen? Georgine hat mir ehrlich alles erzählt. Sie kannte Ollivier bereits als Präsidentin Brewer. Als es zur Scheidung kam, sprach das Gericht ihrem Gatten die Kinder zu; aber sehen Sie: Georg ist zu seiner Mutter gezogen – Georgine muß also doch noch gute, liebenswürdige Eigenschaften besitzen. Es spricht für sie, daß ihr Sohn zu ihr hält. Warum antworten Sie mir nichts, Theo? Ich habe wohl bemerkt, daß Georgine Ihnen unsympathisch ist; Sie können sich nicht verstellen. Aber glauben Sie mir, sie hat sich sehr verändert. Damals, als ich sie – – als ich sie kannte, Theo, war sie nicht kalt, nicht herzlos, nicht selbstsüchtig, nicht – – was lächeln Sie? Glauben Sie mir nicht?«

»Wenn Sie es sagen, muß ich es wohl glauben.«

»Sie denken aber anders. Zweifeln Sie an der Aufrichtigkeit meiner Neigung …?«

»Nicht Ihrer damaligen Neigung, Doctor.«

»Aber an der Neigung Georginens?«

»Da Sie mich fragen: ja. Und Sie selbst fühlen das lange, Doctor.« Damit war das Gespräch vorläufig zu Ende.

Sechow dachte und grübelte den ganzen Tag, und Theodor hielt es für das beste, ihn nicht zu stören. Er wußte, daß der religiöse, kluge Mann bald sein seelisches Gleichgewicht wieder erlangen würde. Am nächsten Morgen packte der Doctor für Plinkenau. Dankbar drückte er Theo die Hand, als dieser sagte: »Ich habe mich entschlossen, Ende der Woche mit Luigi nach dem Kurfürstendamm zu ziehen. Heute Mittag suche ich Georg Brewer auf.«

»Und wie steht es mit Ihrem religiösen Leben, Freund?«

»Ich bin ebenfalls entschlossen, bei einem Dominikanerpater ein paar Wochen Unterricht zu nehmen. Um Pfingsten hoffe ich Ethel zu besuchen, und dann, Doctor, muß Gott weiter helfen.«

»Er wird es thun. Was wir miteinander bereits erlebt haben, ist die beste Garantie dafür. Auch etwas anderes muß noch geschehen, Theo.«

»Und was wäre das?«

»Georgine muß sich mit ihrem ersten und einzigen Gatten versöhnen!«



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