Guy de Maupassant
Zwei Brüder
Guy de Maupassant

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Siebentes Kapitel.

Die Herren beschäftigten sich, mit einziger Ausnahme von Hans, auf der Heimfahrt mit Schlafen. Alle fünf Minuten sank Rolands oder Beausires Kopf auf eine freundnachbarliche Schulter, wurde aber immer ziemlich kräftig zurückgestoßen. Dann erlitt das Schnarchen eine kleine Unterbrechung, die Augen wurden aufgerissen und eine geistvolle Bemerkung, wie: »Sehr schöner Abend,« zum besten gegeben, worauf der Kopf dann sofort wieder nach der andern Seite hinübernickte.

Als man in Havre anlangte, hatten beide große Schwierigkeit, sich aus ihrer Betäubung aufzurütteln, und Beausire weigerte sich entschieden, noch an dem Thee bei Hans teilzunehmen, und bestand darauf, vor seinem Hause abgesetzt zu werden.

Der junge Advokat sollte heute nacht zum allererstenmal in seinen eignen vier Wänden schlafen, und eine unendliche, fast ein wenig kindische Freude, seiner Verlobten gerade an diesem Abend die Räume zu zeigen, die bald die ihrigen werden sollten, erfüllte ihn ganz und gar.

Frau Roland, welche aus Angst vor Feuergefahr die Dienstboten nie gern allein wachen ließ, hatte dem Mädchen gesagt, daß sie zu Bett gehen könne, sie wolle den Thee allein bereiten.

Außer den Handwerksleuten, ihr selbst und ihrem Sohne hatte noch niemand die Schwelle überschreiten dürfen. Alle sollten überrascht werden durch das vollendete Werk.

Im Vorsaale bat Hans seine Gäste, sich ein wenig zu gedulden. Er wollte sämtliche Lampen und Kerzen festlich anstecken und ließ Vater und Bruder, sowie Frau Rosémilly im Dunkeln stehen: dann machte er die große Flügelthür weit auf und rief: »Bitte, einzutreten!«

Die mit Glas geschlossene Galerie, von einem Kronleuchter und buntfarbigen Lampen, die in reichen Gruppen von Palmen, Gummibäumen und blühenden Pflanzen versteckt waren, erleuchtet, machte zuerst den Eindruck einer glänzenden Theaterdekoration. Einen Augenblick blieben alle ganz verblüfft stehen, und Vater Roland, den dieser Luxus einigermaßen überwältigt hatte, murmelte: »Deixel noch einmal!« und verspürte Lust, Beifall zu klatschen, wie es sich bei den Triumphen des Theatermaschinisten ziemt.

Man trat nun in den ersten Salon, einen kleinen, niedlichen Raum, der mit dem Altgoldstoff der Möbelbezüge ausgeschlagen war. Der große, eigentliche Empfangsraum war sehr einfach, in dunkler Lachsfarbe gehalten und wirkte ungemein großartig.

Hans setzte sich in den breiten Lehnstuhl vor seinem mit Büchern bedeckten Schreibtisch und fing mit ernster, etwas angestrengter Stimme an: »Ja, gnädige Frau, das Gesetz ist über diese Frage sehr eingehend und klar und gewährt mir nicht nur die Ueberzeugung, daß meine Auffassung die richtige, sondern auch die vollkommene Gewißheit, daß wir in Zeit von drei Monaten die neulich besprochene Angelegenheit zu befriedigendem Abschluß führen werden.«

Er sah Frau Rosémilly strahlend an, diese lächelte und warf Frau Roland einen Blick zu; die Mutter ergriff ihre Hand und drückte sie herzlich.

Glückselig sprang Hans auf, machte ein paar sehr schuljungenmäßige Sätze und rief: »Wie die Stimme trägt! Das wäre ein Saal zum Plädieren!«

Er warf sich in die Brust und begann mit höchstem Pathos: »Meine Herrn Geschwornen! Wenn Menschlichkeit allein, wenn das angeborne Gefühl der Sympathie mit menschlichem Leid allein es wären, in deren Namen wir Sie um Freisprechung bitten, so würden wir uns an Mitleid, an Ihre Barmherzigkeit, an Ihr Herz wenden, aber auf unsrer Seite steht das Recht, und nur im Lichte des Gesetzes wollen wir Ihnen die Frage darlegen. . . .«

Peter sah sich aufmerksam in den Räumen um, die er beinahe zu den seinigen gemacht hätte, und ärgerte sich dabei über die Kindereien seines Bruders, der ihm gar zu läppisch und geistlos vorkam.

Frau Roland öffnete eine Thür zur Rechten.

»Hier ist das Schlafzimmer,« sagte sie.

Auf die Ausschmückung dieses Raumes that sich das Mutterherz besonders viel zu gute. Als Tapete diente Creton von Rouen, eine vortreffliche Nachahmung der Gobelinweberei; das Rokokomuster zeigte kleine Medaillons mit Schäfergruppen, deren Rahmen ein sich schnäbelndes Vogelpaar bildete, und der Stoff gab Wänden, Vorhängen, Bett und Stühlen etwas Fröhliches, Luftiges und Anmutiges.

»O, wie reizend!« rief Frau Rosémilly – aber mit dem Betreten dieses Raumes kam ein gewisser Ernst über sie.

»Gefällt es Ihnen?« fragte Hans.

»Außerordentlich!«

»Wenn Sie wüßten, wie glücklich mich das macht!«

Sie war ein wenig verlegen, und es mochte ihr etwas beklommen zu Mute sein in diesem Raum, der ihr Brautgemach werden sollte. Auf den ersten Blick hatte sie gesehen, daß Frau Roland, die ihres Sohnes baldige Vermählung ohne Zweifel gewünscht und vorausgesehen hatte, ihm ein breites Doppelbett angeschafft hatte, und diese mütterliche Fürsorge that ihr wohl, schien ihr zu sagen, daß man sie in der Familie erwarte.

Als man in den Salon zurückgekehrt war, öffnete Hans eilig die Thür zur Linken, und man erblickte das dreifenstrige, runde, als japanische Laterne dekorierte Speisezimmer. Hier hatten Mutter und Sohn ihrer Phantasie die Zügel schießen lassen und des Guten ein wenig zu viel gethan. Das Zimmer machte mit seinen Bambusmöbeln, Vasen, Pagoden, golddurchwirkten Seidenstickereien, den durchsichtigen japanischen Vorhängen, den Fächern, welche die Stoffdraperien an der Wand festhielten, den Waffen, Fratzen, Vögeln mit echten Federn und all den tausenderlei Kleinigkeiten aus Porzellan, Holz, Elfenbein, Bronze und Bernstein einen sehr gesuchten und anspruchsvollen Eindruck und zeigte, was ungeschickte Hände und ungeübte Augen anrichten, wenn sie sich an Dinge wagen, zu welchen künstlerischer Geschmack, Feingefühl und Bildung nötig sind. Natürlich wurde diese Schöpfung am meisten bewundert, und nur Peter war zurückhaltend und machte einige ziemlich bitter klingende ironische Bemerkungen, die seinen Bruder sehr verletzten.

Auf dem Tisch stand eine Pyramide von Früchten und ein monumentaler Kuchenaufbau.

Große Eßlust hatte niemand; man naschte ein wenig an den Früchten und zerbröckelte das Backwerk mehr, als man es aß, und nach einer Stunde etwa bat Frau Rosémilly um die Erlaubnis, sich zurückzuziehen.

Es wurde beschlossen, daß Roland Vater sie nach Hause begleiten sollte, während Frau Roland in Ermanglung des Dienstmädchens ihr mütterliches Auge noch einmal auf alles werfen wollte, um ganz sicher zu sein, daß ihrem Liebling nichts fehlte.

»Soll ich dann wieder herkommen und dich abholen?« fragte Roland.

»Nein, Alter, gehe du nur in dein Bett,« erwiderte sie nach einigem Zögern. »Ich habe ja Peter, der wird mich heimbringen.«

Sobald die beiden fort waren, blies sie die Kerzen aus, verschloß Kuchen, Zucker und Likör in einen Schrank, dessen Schlüssel dem neugebackenen Hausherrn eingehändigt wurde, und ging dann ins Schlafzimmer, deckte das Bett auf, sah nach, ob frisches Wasser in der Karaffe und ob das Fenster richtig schloß.

Peter und Hans waren in dem kleinen Salon zurückgeblieben, dieser noch verletzt über die höhnische Kritik seines Geschmacks, jener mehr und mehr erbittert, den Bruder in dieser Behausung zu sehen.

Beide saßen schweigend da und rauchten. Mit einemmal stand Peter auf.

»Teufel, hat die Witwe heute abend verblüht ausgesehen,« sagte er, »Landpartieen bekommen ihr offenbar nicht.«

Hans fühlte eine Wut in sich kochen, wie gerade der gutmütige Schwächling, wenn man ihn an einer empfindlichen Stelle trifft, von ihr befallen wird.

Der Atem stockte ihm vor Zorn und Aufregung, und mühsam stieß er hervor.

»Ich verbitte mir, daß du von Frau Rosémilly hinfort als ›der Witwe‹ sprichst.«

»Ich glaube, du willst mir Befehle geben,« sagte Peter, sich mit hochfahrender Miene nach ihm umwendend. »Bist du zufällig verrückt geworden?«

»Verrückt bin ich nicht, aber dein Betragen gegen mich habe ich satt,« gab Hans, der sich ebenfalls erhoben hatte, heftig zurück.

»Gegen dich? Bist du etwa ein Teil der schönen Frau?« fragte Peter mit höhnischem Lachen.

»Ja, denn Frau Rosémilly wird meine Frau werden – daß du es weißt.«

Der andre lachte hellauf.

»Haha! Vortrefflich! Jetzt begreife ich, weshalb ich sie nicht mehr ›die Witwe‹ nennen soll! Das läßt sich hören! Eine originelle Art, dem Bruder seine Verlobung anzuzeigen.«

»Ich verbitte mir deine Witze . . . hörst du . . . ich verbitte mir . . .«

Bleich, mit bebenden Lippen war Hans, den diese höhnische Kälte, die sich gegen die Frau kehrte, die er liebte, die er erwählt hatte, vollständig außer sich brachte, auf den Doktor zugetreten.

Nun packte auch diesen der Zorn. Alles, was von ohnmächtigen, wuterstickten Rachegelüsten, mühsam bezwungenem Groll und schweigender Verzweiflung seit einiger Zeit in ihm gärte, stieg in ihm auf, seine Vernunft betäubend wie ein heißer Blutstrom, der das Hirn schwindeln macht.

»Du wagst . . . du wagst . . .« knirschte er. »Und ich befehle dir, zu schweigen, hörst du, ich befehle es dir!«

Verblüfft über diese Heftigkeit, schwieg Hans einige Sekunden, in dem Sturm der Leidenschaft das Wort, den Ton, den Satz suchend, um den Bruder ins Herz zu treffen.

Er rang nach Selbstbeherrschung, nur um mit sicherer Hand zu zielen, er sprach langsam, um seine Worte schneidender wirken zu lassen.

»Ich weiß es ja längst, daß du neidisch auf mich bist, ich weiß es seit dem Tage, da du angefangen hast ›die Witwe‹ zu sagen, nur weil du wußtest, daß es mir weh thun mußte.«

Peter brach in sein gewohntes hartes, verächtliches Lachen aus.

»Mein Gott! . . . Wie komisch! . . . Neidisch . . . ich – auf dich! Ich? . . . Und auf was in aller Welt? Auf dein Gesicht oder vielleicht auf deinen Geist?«

Trotz dieser erkünstelten Ruhe wußte Hans, daß er die empfindliche Stelle getroffen.

»Ja, du bist neidisch auf mich, bist es von Kindheit an gewesen, neidisch und eifersüchtig, und du bist wütend geworden, als du mit ansehen mußtest, daß diese Frau mich dir vorzieht und sich nichts aus dir macht.«

Außer sich über diese Voraussetzung, stammelte Peter: »Ich . . . ich . . . eifersüchtig auf dich? Und wegen dieser dummen Person, dieser Pute, dieser gestopften Gans?«

Hans sah, daß seine Pfeile trafen, und fuhr fort: »Erinnerst du dich vielleicht jener Fahrt in der ›Perle‹ und wie du mich beim Rudern ausstechen wolltest? Und weshalb wendest du denn so viel Worte auf, um dich vor ihr ins schönste Licht zu stellen? Du platzest ja vor Eifersucht! Und als mir dies Vermögen zufiel, bist du wütend geworden, hast einen Haß auf mich geworfen und mir denselben auf jede Art gezeigt, hast uns allen das Leben verbittert und Gift und Galle gespieen Tag für Tag.«

Peter ballte die Fäuste; er konnte sich nur mit Mühe zurückhalten, den Bruder an der Kehle zu packen.

»Jetzt aber schweige!« kreischte er. »Sprich kein Wort von diesem Geld!«

»Die Eifersucht sieht dir zu den Augen heraus, nicht ein Wort sprichst du weder mit dem Vater, noch mit der Mutter, noch mit mir, in dem sie nicht ausbräche. Mich zu verachten, gibst du vor, weil du neidisch bist, mit Gott und der Welt fängst du Streit an, weil du eifersüchtig bist. Und jetzt, da ich reich geworden, kannst du nicht mehr an dich halten, giftgeschwollen gehst du umher, du quälst und marterst unsre Mutter, als ob es ihre Schuld wäre!«

Peter war bis zum Kamin zurückgetreten; den Mund halb geöffnet, das Auge stier und gläsern, war er in einem jener wahnsinnigen Wutanfälle, die den Menschen zum Verbrecher machen.

Mit leiser, heiserer Stimme, nach Luft ringend, zischte er zwischen den Zähnen hervor: »So schweige doch! So schweige doch!«

»Nein, ich werde nicht schweigen. Seit langer Zeit gehe ich damit um, dir zu sagen, was ich denke; jetzt hast du mir den Anlaß dazu gegeben, um so schlimmer für dich! Ich liebe! Du weißt es und du bespöttelst in meiner Gegenwart die Frau, der mein Herz gehört, das sollst du mir bezahlen. Ich werde dir die giftigen Schlangenzähne ausbrechen, das laß dir gesagt sein! Ich werde mir Achtung erzwingen!«

»Achten . . . dich!«

»Ja, mich!«

»Dich achten . . . dich, der uns alle entehrt hat durch seine Geldgier!«

»Was soll das heißen? Erkläre dich deutlicher!«

»Das soll heißen, daß man eines Mannes Vermögen nicht annimmt, wenn man für den Sohn eines andern gilt.«

Regungslos stand Hans da, ohne klares Verständnis für die in diesen Worten enthaltene Beschuldigung und doch Entsetzliches ahnend.

»Wie meinst du das? . . . Du sagst . . . sag es noch einmal . . . noch einmal . . .«

»Ich sage, was alle Welt sich in die Ohren tuschelt, einander zuträgt, was in aller Blicken zu lesen ist: daß der Mann, der dich zum Erben eingesetzt, dein Vater ist. Nun denn – ein anständiger Sohn weigert sich, ein Vermögen anzunehmen, das seiner Mutter Ehre schädigt.«

»Peter . . . Peter . . . Peter . . . weißt du, was du da sagst? . . . Dein Mund ist es . . . du bist es . . . der eine solche Niederträchtigkeit ausspricht?«

»Ja . . . ich . . . ich bin es! Du siehst also nicht, daß ich seit einem Monat fast zu Grunde gehe vor Jammer, daß ich mich ruhe- und schlaflos, der Verzweiflung nahe, des Nachts umherwälze, daß ich mich am Tage verberge wie ein wildes Tier, daß ich nicht mehr weiß, was ich sage, nicht mehr weiß, was ich thue, nicht weiß, was aus mir werden soll, daß ich wahnsinnig bin vor Schmach und Schmerz – was ich anfangs geahnt, ist mir jetzt zur Gewißheit geworden.«

»Peter . . . sei still . . . die Mutter ist im Nebenzimmer . . . bedenke, daß sie uns hören kann, uns hören wird!«

Aber er war einmal im Zug, er mußte sein Herz ausschütten! Er sprudelte alles hervor, seinen Verdacht, seine Beweisführung, sein Ringen, seine Kämpfe, seine Gewißheit und die Geschichte des abermals verschwundenen Bildes.

In kurzen, abgehackten Sätzen, ohne Zusammenhang, wie ein Nachtwandler sprach er.

Er schien alles um sich vergessen zu haben: Hans und die Mutter im Nebenzimmer. Er sprach, weil er sprechen mußte, weil er zu viel gelitten hatte, weil die zugedrückte Wunde ausbluten mußte – daß ihn jemand hörte, wußte er nicht mehr. Wie ein bösartiges Geschwür hatte es sich in ihm angestaut, und jetzt war das Geschwür geplatzt und bespritzte die Umgebung mit seinem Gift. Mit großen Schritten ging er auf und ab, wie es seine Art war; die Augen starr ins Weite gerichtet, gestikulierend, im Zustand höchster Verzweiflung, mit halberstickter Stimme, in der es wie Schluchzen klang, mit leidenschaftlicher Selbstanklage, sprach er, wie wenn er von seinem Elend und dem der Seinigen Zeugnis ablegen, seine Qualen der fühllosen, tauben Luft, in der sie verklangen, preisgeben müßte.

Hilflos und durch die blinde Sicherheit seines Bruders fast sofort von der Wahrheit seiner Anklagen überzeugt, hatte sich Hans mit dem Rücken gegen die Thür gelehnt, hinter welcher er seine Mutter als Zeugin dieser Scene wußte.

Verlassen konnte sie das Zimmer nicht haben; es hatte nur den Ausgang durch den Salon. In diesen zurückgekehrt war sie nicht; sie hatte also nicht den Mut dazu gehabt.

Plötzlich stampfte Peter wild auf den Boden und mit dem Ruf: »Scheusal, das ich bin, weshalb konnt' ich nicht schweigen!« stürzte er davon, barhäuptig die Treppe hinunter.

Das geräuschvolle Insschloßfallen der großen Hausthür schreckte Hans aus der Betäubung auf, in die er versunken gewesen. Es war das Werk weniger Sekunden, die ihm freilich lang, wie endlose Stunden erschienen, ihn in den Zustand einer an Blödsinn grenzenden Stumpfsinnigkeit zu versetzen. Er fühlte dumpf, daß er jetzt, jetzt gleich handeln und denken müsse, aber er wollte nichts mehr verstehen, wissen; aus Angst, Feigheit und Schwäche drängte er Erinnerung und Bewußtsein zurück. Er gehörte zu der Sorte von Zauderern, die alles auf den kommenden Tag verschieben und die, wenn sie einmal zum raschen Entschluß gezwungen werden, alles daran setzen, wenigstens noch ein paar Minuten zu gewinnen.

Allein das tiefe Schweigen, das nach Peters wildem, leidenschaftlichem Reden seltsam und unheimlich wirkte und sich allen Gegenständen mitzuteilen schien, dazu das grelle Licht von zwei Lampen und sechs Kerzen, das alles erschreckte ihn so sehr, daß er sich am liebsten auch Hals über Kopf davongemacht hätte.

Er rüttelte sich auf, suchte seine Gedanken zusammen, weckte sein Herz aus der Dumpfheit und wollte überlegen.

Noch nie im Leben hatte er eine Schwierigkeit zu überwinden gehabt. Es gibt Menschen, die sich treiben lassen, wie das Wasser bergabwärts fließt. In der Schule hatte er aus Furcht vor Strafe seine Pflicht gewissenhaft gethan, dann hatte er seine juristischen Studien regelrecht, in angemessener Frist zu Ende geführt, sein äußeres Leben war so ruhig verlaufen wie sein inneres. Was er sah, was ihm begegnete, fand er ganz natürlich; nichts erweckte seine besondre Aufmerksamkeit. Ordnung, Vernunft, Ruhe liebte er aus angebornem Instinkt, verborgene Falten in seiner Seele gab es nicht. Heute stand er dieser Katastrophe gegenüber, in der Lage eines Menschen, den man ins Wasser geworfen hat und der nicht schwimmen kann.

Anfangs wollte er sich verleugnen, daß es sich um eine solche handle. Konnte der Bruder aus Haß und Eifersucht nicht gelogen haben?

Und doch, so erbärmlich konnte er nicht sein, eine solche Anklage gegen ihre Mutter auszusprechen, wenn ihm nicht wirklich Verzweiflung den Sinn verwirrte. Und dann hörte er noch immer, sah, fühlte er mit jedem Nerv gewisse Worte, gewisse Schmerzenstöne, Bewegungen und Seufzer Peters, die sich ihm unauslöschlich eingeprägt und deren wildes Weh unwiderstehlich überzeugend war, unabweisbare Gewißheit enthielt.

Er war zu gebrochen, um sich nur von der Stelle zu rühren, irgend einer Willensäußerung fähig zu sein. Sein Jammer wuchs ins Unerträgliche, und er fühlte, daß hinter dieser Thür seine Mutter war, die alles gehört hatte und nun seiner harrte.

Was mochte sie thun? Keine Bewegung, kein Atemzug, kein Tritt, kein Seufzer verriet, daß hinter diesen Brettern ein lebendes Wesen sei. Sollte sie entflohen sein? . . . Aber wie? Wenn sie nicht mehr hier war . . . konnte sie nur zum Fenster hinausgesprungen sein!

Jetzt packte ihn Entsetzen und schnellte ihn in die Höhe, so rasch und so gebieterisch, daß er die Thür mehr einstieß als öffnete und in das Zimmer stürzte.

Es schien leer zu sein. Eine einzige, auf einer Kommode stehende Kerze erhellte den großen Raum.

Hans flog nach dem Fenster; es war geschlossen, die Läden fest verriegelt. Er wandte sich um und sein angstvoller Blick drang forschend in die schwach beleuchteten dunkeln Ecken. Da entdeckte er, daß die Bettvorhänge zugezogen waren; er trat rasch hinzu und schlug sie auseinander. Auf dem Bett lag seine Mutter, das Gesicht verdeckt von dem Kissen, in das ihre Hände gekrampft waren und das sie über den Kopf gezogen haben mußte, um nichts mehr zu hören.

Erst glaubte er sie erstickt. Er faßte sie an den Schultern und zog sie in die Höhe, ohne daß sie das Kissen losgelassen hätte, das ihr Gesicht verbarg und in das ihre Zähne sich eingruben, um das Schreien zu unterdrücken.

Die Berührung dieses steifen Körpers, dieser krampfhaft gebogenen Arme brachte ihm die unsagbaren Qualen, die dies Wesen litt, zum Bewußtsein. Die Energie und Kraft, womit ihre Finger und Zähne die federngeschwellte Leinwand gegen Lippen, Augen und Ohren hielten, damit er sie nicht sehen, nicht zu ihr sprechen solle, ließ ihn verstehen, was ein Mensch erdulden kann.

Und sein Herz, sein einfältiges Herz blutete vor Mitleid. Er war nicht ihr Richter, auch nicht ein barmherziger Richter; er war nichts als ein schwacher Mensch und ein liebender Sohn. Alles, was der andre ihm gesagt, war ausgelöscht, er rechtete nicht, er tüftelte nicht an Ehr- und Rechtsbegriffen, er umschlang nur den leblosen Körper seiner Mutter, und weil er ihr das Kissen nicht vom Gesicht ziehen konnte, küßte er ihr Kleid und rief: »Mama, meine arme Herzensmama, so sieh' mich doch nur an!«

Durch die todsteifen Glieder lief ein fast unmerkliches Zucken, wie wenn ein elektrischer Strom sie berührt hätte.

»Mama, Mama, so höre mich doch,« bat er wieder. »Es ist nicht wahr; ich weiß, daß es nicht wahr ist.«

Ein Krampf erschütterte sie; es war, wie wenn sie ersticken wollte, denn plötzlich schluchzte sie hinter dem Kissen. Die starren Muskeln lösten sich, die Nervenanspannung wich, die Finger thaten sich auf und gaben die Leinwand frei; er zog ihr die Hülle vom Gesicht.

Sie war sehr bleich, ganz weiß und unter den festgeschlossenen Lidern drangen große Tropfen hervor. Er hatte den Arm um ihren Hals geschlungen, er drückte die Lippen, die von ihren Thränen feucht wurden, immer wieder auf diese Augen, die sich nicht öffnen wollten, und wiederholte sein inniges: »Mama, Herzensmama! Ich weiß ja, daß es nicht wahr ist! Weine doch nicht, ich weiß es ja! Es ist nicht wahr!«

Sie richtete sich frei auf, setzte sich zurecht, sah ihn an und sagte mit einer gewaltigen Willensanstrengung und einem Mut, wie man ihn zum Selbstmord braucht: »Doch – es ist wahr, mein Kind!«

Wortlos verharrten dann beide. Das Haupt zurückgebogen, den Hals gestreckt, kämpfte sie wieder mit dem Ersticken, ward von neuem Herr über ihre Stimme und fuhr fort: »Es ist wahr, mein Kind! Wozu die Lüge? Es ist wahr. Du würdest mir nicht glauben, wenn ich leugnen wollte.«

Ihr Ausdruck war der einer Wahnsinnigen. Von Schrecken erfaßt, sank er vor dem Bett auf die Kniee und flüsterte: »Sprich nicht weiter, Mama, sprich nicht weiter!«

Mit unheimlicher Entschlossenheit und Energie hatte sie sich erhoben.

»Ich habe dir auch nichts mehr zu sagen. Leb wohl, mein Kind!«

Sie wandte sich der Thür zu.

Mit beiden Armen hielt er sie fest und rief: »Was willst du thun, Mama? Wohin willst du gehen?«

»Ich weiß es nicht . . . wie soll ich das wissen . . . ich habe nichts mehr zu thun auf der Welt . . . ich bin ja jetzt ganz allein.«

Sie suchte sich von ihm loszumachen. Sie mit allen Kräften festhaltend, fand er immer nur das eine Wort: »Mama . . . Mama . . . Mutter . . .«

Und während sie mühsam nach Freiheit rang, stieß sie hervor: »Nein, nein . . . ich bin jetzt nicht mehr deine Mutter, ich bin dir nichts mehr, bin keinem Menschen mehr etwas . . . nichts . . . nichts mehr! Du hast jetzt weder Vater noch Mutter, mein armes Kind! Leb wohl.«

In dieser Sekunde wußte er, daß, wenn er sie jetzt von sich ließe, er sie niemals wiedersehen würde; er umfaßte sie, trug sie zu einem Lehnstuh! und drückte sie mit Gewalt hinein. Dann kniete er vor ihr nieder und sprach, mit den Armen eine feste Kette um sie bildend: »Du wirst diese Schwelle nicht überschreiten, Mama! Ich habe dich lieb und ich halte dich fest. Ich lasse dich nicht; du gehörst mir!«

Mit müder Stimme flüsterte sie: »Nein, mein armer Junge, das ist jetzt nicht mehr möglich. Heute abend beweinst du mich, morgen würdest du mir die Thür weisen. Auch du würdest mir nicht verzeihen.«

»Ich, Mutter – ich – ich? O wie wenig kennst du mich.«

Es lag eine so schlichte, so tiefe Wahrheit und Liebesfülle in seinem Tone, daß sie einen Schrei ausstieß, ihm in die blonden Haare griff, seinen Kopf heftig an ihre Brust drückte und sein ganzes Gesicht über und über mit Küssen bedeckte.

Dann blieb sie unbeweglich, ihre Wange fest an die seinige geschmiegt, daß die Wärme seiner Haut sie durchdrang, und ganz, ganz leise sagte sie ihm ins Ohr: »Nein, mein kleiner Hans, morgen würdest du mir nicht verzeihen. Du glaubst es wohl, aber du irrst. Heute abend hast du mir vergeben und deine Verzeihung hat mich am Leben erhalten, aber jetzt darfst du mich nicht mehr sehen.«

»Sag das nicht, Mama,« wiederholte er, sie fest umschlingend.

»Doch, mein kleiner Hans, ich muß gehen. Wohin, das weiß ich nicht; wie ich's angreifen werde, was ich sagen werde, weiß ich nicht, aber es muß sein. Ich hätte ja nicht mehr den Mut, dich anzusehen, dich zu küssen, begreifst du das?«

Ebenso leise, die Lippen an ihr Ohr gepreßt, flüsterte er: »Nein, Mütterchen, du wirst bleiben. Du wirst bleiben, weil ich es will, weil ich dich brauche. Und jetzt gleich gelobst du mir, daß du mir gehorchen wirst.«

»Nein, mein Kind.«

»O, Mama, du mußt . . . Hörst du? Du mußt!«

»Nein, mein Kind; es kann nicht sein. Es hieße uns allen miteinander das Leben zur Hölle machen. Ich weiß, was Folterqualen sind, ich kenne sie seit vier langen Wochen. Jetzt bist du gerührt, aber wenn diese weiche Stimmung vorüber sein wird, wenn du mich ansehen wirst mit den Augen, mit denen Peter mich ansieht, wenn du an das denken wirst, was ich dir gesagt. . . . O! . . . Mein kleiner Hans, bedenke . . . bedenke, daß ich deine Mutter bin! . . .«

»Ich lasse dich nicht von mir, Mama; ich habe nur dich!«

»Aber denke daran, mein Sohn, daß wir uns nicht mehr ansehen können, ohne zu erröten, du wie ich, ohne daß ich vor Schande vergehen muß und die Augen niederschlagen, so oft sie den deinigen begegnen!«

»Das ist nicht wahr, Mama!«

»O ja, ja, es ist wahr! Ach sieh, ich habe ja vom ersten Tage an alle Qualen und Kämpfe deines armen Bruders verstanden. Und wenn ich jetzt seinen Schritt von weitem vernehme, pocht mein Herz, als ob es mir die Brust zersprengen wollte; wenn ich seine Stimme höre, ist mir's, als ob mir die Sinne schwänden. Und bisher hatte ich doch dich noch, dich! Jetzt hab' ich dich nicht mehr! O, Hans, glaubst du denn, daß ich so zwischen euch beiden fortleben könnte?«

»Ja, Mama! Ich werde dich so lieb haben, daß du alles andre vergißt.«

»Wenn das möglich wäre!«

»Es ist möglich.«

»Wie könnte ich vergessen, neben deinem Bruder und dir? Könntet ihr vergessen?«

»Ja, ich, ich kann es!«

»Und wirst jeden Tag und jede Stunde daran denken.«

»Nein, nein, ich schwöre es dir! Mutter, höre noch eins: Wenn du gehst, so lasse ich mich anwerben und mich totschießen.«

Diese etwas kindliche Drohung genügte, sie aufs tiefste zu bewegen, und sie überschüttete den Sohn, den sie noch enger an sich zog, mit leidenschaftlichen Liebkosungen.

»Ich habe dich viel lieber, als du glaubst,« fuhr er fort, »viel, viel lieber. Höre mich an, sei vernünftig. Acht Tage wenigstens versuche es mit dem Hierbleiben. Willst du mir acht Tage versprechen? Das kannst du mir ja nicht abschlagen.«

Sie legte ihm die Hände auf die Schultern, und ihn auf Armeslänge von sich haltend, sprach sie nachdrücklich: »Mein Kind . . . wir wollen versuchen, unsre Lage ruhig ins Auge zu fassen und einander nicht weich zu machen. Laß mich zuerst sprechen. Wenn ich ein einzigesmal von deinen Lippen hören müßte, was ich seit Wochen täglich aus dem Munde deines Bruders vernehme, wenn ich ein einzigesmal in deinem Auge lesen müßte, was immer und immer in den seinigen geschrieben steht, wenn ein Wort, ein Blick von dir mir verriete, daß ich dir ein Gegenstand des Abscheus bin, wie ihm . . . dann . . . versteh mich recht, würde ich eine Stunde darauf für immer von euch gegangen sein.«

»Mama, ich schwöre dir . . .«

»Laß mich zu Ende sprechen. Seit einem Monat habe ich gelitten, was eine Menschenseele zu leiden vermag. Von dem Augenblicke an, als ich begriff, daß dein Bruder, daß mein andrer Sohn, diesen Verdacht gegen mich im Herzen trug, und daß er von Minute zu Minute der Wahrheit, der schrecklichen Gewißheit näher rückte, seither ist jeder Augenblick, jeder Atemzug eine Folterqual gewesen, die ich dir zu schildern keine Worte habe.«

In ihrer Stimme lag eine solche Allgewalt des Schmerzes, daß Hans die Thränen in die Augen traten: er empfand, wie namenlos elend sie war.

Er wollte sie umschlingen, aber sie wehrte ihn ab.

»Laß mich, Kind . . . höre mich an . . . ich muß dir ja noch so vieles sagen, wenn du mich verstehen sollst . . . und doch . . . du wirst mich nicht verstehen . . . denn, mein Sohn . . . wenn ich bleiben soll . . . dann müßte . . . nein, ich kann nicht!«

»Sprich, Mama, sprich!«

»Nun denn, es sei! Wenigstens werde ich dich dann nicht getäuscht haben. Wenn es möglich sein soll, daß ich bleibe, daß wir uns ferner sehen, sprechen, den ganzen Tag uns auf Schritt und Tritt im Haus begegnen – ach, ich habe ja nicht mehr den Mut, eine Thür aufzumachen, aus Angst, dein Bruder könnte hinter derselben stehen! – wenn diese Möglichkeit geschaffen werden soll, so muß ich nicht deine Verzeihung haben – Verzeihen ist das tiefste Weh, das ein Mensch dem andern zufügen kann – sondern die Ueberzeugung, daß du mir mein Thun in der That und Wahrheit nicht zur Schuld anrechnest. Du mußt stark genug sein, frei genug vom Urteil der Menschen, um bei dem Gedanken, daß du Rolands Sohn nicht bist, weder zu erröten, noch mich zu verachten! Ich, ich habe genug gelitten . . . zu viel gelitten, meine Kraft ist erschöpft, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr! Ach, und nicht erst jetzt, glaube mir, längst, längst, . . . Aber das wirst du ja nie verstehen können, nie! Wenn wir miteinander weiter leben, uns in die Augen sehen, uns lieb haben sollen, wie bisher, mein kleiner Hans, dann mußt du wissen, daß, wenn ich die Geliebte deines Vaters war, ich doch weit mehr sein Weib, sein Weib in Wahrheit gewesen bin und daß ich mich im innersten Herzen dessen nicht schäme, daß ich nichts bereue, daß ich ihn über den Tod hinaus liebe und allezeit lieben werde, daß ich nur ihn geliebt habe, daß er mein Leben, mein Glück, meine Hoffnung, mein Trost, alles, alles, alles gewesen ist, was ich mein Eigen nenne, und ach so lange mir alles gewesen ist. Höre mich, mein Kind – ich spreche zu dir, als ob ich vor Gott stünde, und sage dir, daß, wenn ich auf meinem Lebenswege ihm nicht begegnet wäre, mein Dasein ohne Glück, ohne Liebe, ohne Inhalt, ohne eine einzige jener Stunden, um die zu leben es sich lohnt und die uns das Altwerden schwer machen, verflossen wäre! Ihm dank' ich alles! Er ist alles, was ich auf der Welt besessen, er und dann ihr beide, du und dein Bruder. Ohne euch drei wäre mein Leben leer, leer und öde und dunkel wie die Nacht. Ich würde nicht geliebt, nichts ersehnt, nichts erlebt, nicht einmal geweint haben, und ich habe viel geweint, mein kleiner Hans. O ja! Ich habe geweint, seit wir hier sind. Ich hatte mich ihm zu eigen gegeben mit Leib und Seele, und zehn Jahre lang ist er vor Gott, der uns füreinander geschaffen, mein Gatte gewesen und ich sein Weib. Dann – dann fühlte ich, daß er mich nicht mehr so lieb hatte. Er blieb sich gleich an Güte und Rücksicht, aber ich war ihm nicht mehr, was ich gewesen. Es war vorüber! O! Wie habe ich geweint! . . . Wie elend und trügerisch ist das Leben! . . . Alles vergeht, nichts dauert. . . . Und dann sind wir hierher gezogen, und ich habe ihn nicht wiedergesehen; er ist nie gekommen. . . . In jedem Brief versprach er es . . . ich habe ihn erwartet, täglich, stündlich, immer, immer . . . er ist nicht gekommen . . . und jetzt ist er tot! Aber er hat uns doch noch lieb gehabt, denn er hat ja an dich gedacht. Ich, ich werde ihn lieben bis zum letzten Atemzuge, das werde ich nie verleugnen, und ich habe dich lieb, weil du sein Kind bist; und vor dir kann ich mich seiner nicht schämen! Begreifst du das? Ich kann es nicht! Wenn du willst, daß ich bleibe, so mußt du willig in ihm den Vater sehen, und wir müssen manchmal von ihm sprechen, und du mußt ihn ein wenig lieb haben, und wenn wir uns ansehen, müssen wir an ihn denken. Willst du das nicht, kannst du das nicht, dann muß ich gehen, mein Kind, dann können wir jetzt nicht mehr beisammen bleiben! Dir stelle ich die Entscheidung anheim!«

»Bleibe, Mutter!« erwiderte Hans innig und leise.

Sie schloß ihn in die Arme, und ihre Thränen flossen aufs neue. Dann fuhr sie, Wange an Wange geschmiegt, fort: »Ja, aber Peter? Was soll zwischen ihm und uns werden?«

»Wir werden einen Ausweg finden,« flüsterte Hans. »Mit ihm zusammenleben kannst du nicht mehr.«

Bei dem Gedanken an ihren Aeltesten krampfte ihr die Angst wieder das Herz zusammen.

»Nein, ich kann nicht mehr, nein, nein!«

Und sich leidenschaftlich an Hans' Brust werfend, rief sie in tiefstem Jammer: »Schütze mich vor ihm, rette mich, rette du mich, mein Kind, es muß irgend etwas geschehen . . . ich weiß nicht was . . . besinne dich . . . rette mich!«

»Ja, Mama, ich werde Hilfe schaffen!«

»Aber auf der Stelle . . . sofort . . . es muß sein . . . verlaß mich nicht! Ich habe solche Angst vor ihm . . . solche Angst!«

»Gewiß, Mama, ich werde Mittel und Wege finden! Ich verspreche es dir!«

»O! Aber schnell, schnell! Du ahnst nicht, was in mir vorgeht, wenn ich ihn sehe!«

Dann flüsterte sie ihm ganz, ganz leise ins Ohr: »Laß mich hier bleiben, bei dir! Behalte mich!«

Er zögerte ein wenig, dachte nach und erkannte mit seinem fest in der Wirklichkeit wurzelnden, gesunden Menschenverstande sofort die Gefährlichkeit dieses Ausweges.

Allein er mußte lange Vernunft predigen, manchen Einwand widerlegen und gegen diese ins Krankhafte gesteigerte Bangigkeit triftige Gründe ins Feld führen.

»Nur heute,« bat sie immer wieder, »nur diese Nacht. Morgen früh kannst du Roland sagen lassen, ich sei krank geworden.«

»Das geht nicht; Peter ist nach Hause gekommen. Komm, Mütterchen, fasse nur ein wenig Mut! Ich werde alles ins reine bringen, ich verspreche es dir, gleich morgen. Um neun Uhr morgen früh bin ich bei dir. Komm, setze deinen Hut auf. Ich führe dich nach Hause.«

»Ich will alles thun, was du willst,« sagte sie willenlos wie ein Kind, das sich ängstigt und dankbar jede Leitung annimmt.

Sie machte einen Versuch aufzustehen, aber der Sturm war zu heftig gewesen; sie war nicht imstande, sich auf den Beinen zu halten.

Hans gab ihr Zuckerwasser zu trinken, ließ sie Riechsalz einatmen und wusch ihr die Schläfen mit Essig. Matt und gebrochen wie nach schwerer Krankheit, ließ sie alles mit sich geschehen.

Endlich fühlte sie wieder Kraft zu gehen und hing sich an seinen Arm. Als sie am Rathaus vorübergingen, schlug es drei Uhr.

An ihrer Hausthür schloß er sie wieder in die Arme, küßte sie innig und sagte: »Gute Nacht, Herzensmutter; fasse Mut!«

Mit unhörbaren, vorsichtigen Schritten ging sie in dem schweigenden Hause die Treppe hinauf, trat in ihr Schlafzimmer, kleidete sich aus und schlüpfte rasch in ihr Bett. Roland schnarchte laut.

Peter schlief nicht; er hatte sie heimkommen hören.

 


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