Guy de Maupassant
Zwei Brüder
Guy de Maupassant

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Achtes Kapitel.

In seine Wohnung zurückgekehrt, sank Hans müde und zerschlagen auf einen Diwan. Kummer und Sorge, die den Bruder rastlos, wie ein gehetztes Wild durch die Straßen und ans Meer hinaustrieben, wirkten auf sein trägeres Temperament in entgegengesetzter Weise und raubten ihm den Gebrauch seiner Glieder. Er fühlte sich so schlaff, so kraftlos, daß er sich nicht von der Stelle rühren, nicht in sein Bett schleppen zu können glaubte; an Leib und Seele vernichtet und verstört, lag er müde hingestreckt da. Nicht in der Reinheit seiner Sohnesliebe, nicht in jener unbewußten Würde, die jedes stolze Herz wie eine Wolke umhüllt, fühlte er sich tödlich verwundet, wie es Peter geschehen war; er war zu Boden geworfen von einem Schicksalsschlage, der zugleich seine liebsten Wünsche und Interessen gefährdete.

Als sein Gemüt sich endlich etwas beruhigt, seine Gedanken sich gesammelt und geglättet hatten wie eine Wasserfläche, die ein Steinwurf aufgewühlt und getrübt hat, faßte er die ihm so plötzlich enthüllte Sachlage fest ins Auge. Hätte er das Geheimnis seiner Geburt auf irgend eine andre Weise erfahren, so würde er sicher tiefe Empörung und heißen Schmerz darüber empfunden haben, aber nach dem Auftritt mit seinem Bruder, nach dessen rohen, gewaltsamen Beschuldigungen, die sein ganzes Nervensystem in Aufruhr gebracht, hatte er dem erschütternden Bekenntnis seiner Mutter gegenüber nicht mehr die Kraft, sich aufzubäumen, Entrüstung zu fühlen. Das Mitleid, das er für sie empfand, war stark und mächtig genug, um alle Vorurteile, alle berechtigte, heilige Verletzbarkeit angebornen Rechts- und Moralbewußtseins zum Schweigen zu bringen, und nur eine unwiderstehliche Rührung hervorzurufen. Ueberdies war er ja nicht der Mann des Widerstandes. Er liebte es nicht, gegen irgend jemand zu kämpfen, am wenigsten gegen sich selbst; er fand sich also einfach mit der Thatsache ab, ergab sich darein und bei seinem instinktiven, aus dem innersten Wesen kommenden Ruhebedürfnis, seiner Liebe zu einem friedlichen, geregelten Dasein beschäftigte er sich ausschließlich mit den Störungen und Umwälzungen, die in seiner Umgebung entstehen und auch ihn beeinträchtigen mußten. Die Unvermeidlichkeit derselben fühlte er deutlich, und um sie abzuwenden, raffte er sich zu einem übermenschlichen Aufwand an Thatkraft und Entschlossenheit auf. Und zwar mußte alles, was geschehen sollte, am nächsten Morgen geschehen, die Uebelstände mußten auf der Stelle beseitigt werden, denn auch er hatte zuweilen jenes gebieterische Bedürfnis des unmittelbaren Entschlusses, in welchem die Kraft der Schwachen, die dauernder Willensanstrengung nicht fähig sind, besteht. Als Jurist hatte er gelernt, verwickelte Lagen zu überblicken und zu klären, Fragen vertraulichster Art in gestörten Familienverhältnissen zu schlichten, und die nächsten Folgen des Seelenzustandes seines Bruders traten ihm mit voller Deutlichkeit vor die Seele. Unwillkürlich stellte er sich auf seinen Berufsstandpunkt und überdachte alles, was entstehen konnte und mußte, als ob es sich nach einer Katastrophe sittlicher Art um die Regelung der künftigen Lebensbeziehungen eines Klienten handelte. Daß eine fortgesetzte Berührung zwischen ihm und Peter fortan unmöglich war, stand fest. Allerdings konnte er einer solchen leicht ausweichen, indem er einfach zu Hause blieb, allein an ein Weiterleben der Mutter unter einem Dache mit ihrem älteren Sohne war ebensowenig zu denken.

Unbeweglich in die Kissen geschmiegt, dachte und sann er lange nach, entwarf und verwarf Plan auf Plan, ohne etwas finden zu können, was ihn befriedigt hätte.

Plötzlich drängte ein Gedanke sich ihm so gewaltsam auf, daß es ihm ordentlich den Atem benahm; konnte, würde ein ehrenhafter Mensch dies Vermögen, das er in Empfang genommen, behalten?

Die erste Antwort lautete: »Nein,« und er beschloß, die Summe den Armen zuzuwenden. Es war hart für ihn, aber was hatte das zu sagen. Er würde diese Einrichtung verkaufen und arbeiten, arbeiten wie jeder mittellose Anfänger auch. Dieser männliche, gewiß nicht leichte Entschluß entflammte seine Lebenskraft; er stand auf und preßte die Stirn gegen die Fensterscheiben. Arm war er gewesen, arm sollte er von neuem sein; schließlich stirbt man ja daran nicht. Mechanisch starrte er zu den Gasflammen hinüber, die auf der andern Seite der Straße noch brannten; eine einzelne Frau, die entweder sehr spät oder sehr früh unterwegs sein mochte, ging mit raschen Schritten auf dem Trottoir vorüber; der Gedanke an Frau Rosémilly durchzuckte ihn, und er empfand mit fast körperlichem Schmerzgefühl jene gewaltige Erregung, die unser eigner grausamer Wille in uns hervorzurufen vermag. Alle unseligen Folgen dieser Vermögensentäußerung standen in grellem Lichte vor ihm. Er mußte auf die Hand dieser Frau, auf das Glück, auf alles verzichten. War er frei, das zu thun, nachdem er ihr sein Wort verpfändet? Sie hatte ihm ihr Jawort gegeben, in der Voraussetzung, daß er ein reicher Mann sei. Daß sie ihn auch mittellos nicht abweisen würde, durfte er annehmen, aber hatte er das Recht, solches von ihr zu fordern, ihr dies Opfer aufzuerlegen? War es nicht richtig, die Nutznießung zu behalten und nur das Kapital selbst dereinst den Armen zurückzuerstatten?

In seiner Seele, wo der Egoismus es stets verstanden hatte, sich ein höchst ehrenwertes Mäntelchen umzuhängen, nahmen nun mehr oder weniger verhüllte Interessen den Kampf auf. Die Gefühlsskrupel wurden durch scharfsinnige Vernunftgründe verdrängt, traten dann wieder an die Oberfläche und erlitten abermals eine Niederlage.

Er legte sich wieder auf den Diwan; er suchte nach einem entscheidenden Grunde, einem ausschlaggebenden Vorwand, um sein natürliches Rechtsgefühl verstummen zu machen und die Ungewißheit zum Abschluß zu bringen. Schon ein paar dutzendmal hatte er die Frage so gefaßt: »Wenn ich der Sohn dieses Mannes bin, wenn ich das weiß und mich darein ergebe, ist es dann nicht selbstverständlich und naturgemäß, auch sein Erbe zu sein?« Aber diese sophistische Weisheit reichte nicht hin, sein Gewissen zu überzeugen, das leise, aber bestimmt sein »Nein!« wiederholte.

»Aber,« sagte er sich dann, »wenn ich nicht der Sohn dessen bin, den ich bis heute für meinen Vater gehalten, so kann ich auch nichts mehr von ihm annehmen, weder jetzt, noch nach seinem Tode. Das wäre weder ehrenhaft, noch billig; es hieße ja meinen Bruder bestehlen.«

Diese neue Lesart enthielt viel Erhebendes und Gewissenberuhigendes, und er kehrte an seinen Platz am Fenster zurück.

»Ja,« sagte er sich, »auf mein Familienerbteil muß ich verzichten, das muß ich Peter ungeteilt überlassen, da ich nicht der Sohn seines Vaters bin. Das ist recht und billig. Allein ist es dann nicht ebenso recht und billig, wenn ich meines Vaters Vermögen für mich behalte?

Mit der Erkenntnis, daß er sich Rolands Geld nicht aneignen dürfe, und dem Entschlusse, dasselbe unberührt zu lassen, begnügte er sich und gab sich drein, Marschalls Hinterlassenschaft zu behalten. Beide Erbschaften von sich zu weisen, hätte ihn ja einfach zum Bettler gemacht.

Nachdem diese heikle Frage endgültig erledigt war, trat der Gedanke an Peters Anwesenheit im Elternhause wieder in den Vordergrund. Wie ihn entfernen? Schon verzweifelte er, eine ausführbare Lösung dieser Schwierigkeit zu finden, als der scharfe Pfiff eines Dampfschiffes wie ein Wink des Schicksals vom Hafen herüberdrang und ihm einen Ausweg zeigte.

Darauf warf er sich in den Kleidern aufs Bett und versank bis zum Morgen in einen unruhigen Schlummer.

Etwas vor neun Uhr machte er sich auf den Weg, um sich zu vergewissern, daß und ob sein Plan sich ausführen lassen werde. Nachdem er einige Erkundigungen eingezogen, einige einleitende Schritte gethan, begab er sich in das Haus seiner Eltern. Die Mutter war noch nicht heruntergekommen, sondern erwartete ihn in ihrem Schlafzimmer, wo sie sich eingeschlossen hatte.

»Wenn du nicht gekommen wärest,« sagte sie, »hätte ich niemals den Mut gehabt, hinunter zu gehen.«

Plötzlich hörte man Vater Roland auf der Treppe rufen: »Donnerwetter! Kriegt man denn heute nichts zu essen!«

Keine Antwort erfolgte, und nun brüllte er: »Josephine, zum Henker! Was treiben Sie denn?«

Aus den Tiefen der Unterwelt erklang die Stimme der Köchin: »Da bin ich, Herr, was soll's?«

»Wo ist die Frau?«

»Die Frau ist oben mit Herrn Hans.«

Nun wandte sich der Angriff nach oben und mit Donnerklang erschallte es: »Luise!«

Frau Roland öffnete eine Thürspalte und fragte: »Was willst du, Alter?«

»Essen will ich, in Kuckucks Namen!«

»Gleich, gleich; wir kommen auf der Stelle.«

Sie ging hinunter, Hans folgte ihr.

Als er des jungen Mannes ansichtig wurde, rief Roland: »Na, da bist du schon wieder! Dir wird die Zeit wohl lang in deinem Zauberschloß?«

»Nein, Vater, aber ich mußte heute früh mit Mama etwas besprechen.«

Hans streckte ihm die Hand entgegen, und als er dieselbe von den runden Fingern des alten Mannes kräftig umschlossen fühlte, überkam ihn eine seltsame Empfindung und schnürte ihm die Kehle zusammen – er hatte das Gefühl, einen Abschied zu nehmen, bei dem kein Wiedersehen zu hoffen.

»Ist Peter nicht unten?« fragte Frau Roland.

»Nein,« erwiderte ihr Mann achselzuckend. »Ist seine Sache; er kommt ja immer zu spät. Sehe nicht ein, weshalb wir auf ihn warten sollen.«

»Du solltest ihn holen,« wandte sich die Mutter an Hans. »Es kränkt ihn, wenn man nicht auf ihn wartet.«

Der junge Mann ging hinaus.

Mit der fieberhaften Entschlossenheit eines furchtsamen Menschen, der sich schlagen muß, stieg er die Treppe hinauf.

Auf sein Anklopfen rief Peter: »Herein!«

Er trat ein.

Ueber den Tisch gebeugt saß Peter und schrieb.

»Guten Morgen,« sagte Hans.

Der andere stand auf.

»Guten Morgen!«

Und sie reichten sich die Hand, als ob nichts geschehen wäre.

»Du kommst nicht zum Frühstück?«

»Doch . . . das heißt . . . ich habe zu arbeiten.«

Die Stimme des Aelteren war unsicher und sein Blick ruhte fragend und ängstlich auf dem jüngeren Bruder, als ob er von ihm hören möchte, was geschehen solle.

»Man wartet auf dich.«

»Ach so . . . ist denn . . . ist unsre Mutter unten?«

»Ja; sie selbst schickt mich, dich zu holen.«

»O dann . . . dann komme ich.«

Vor dem Speisezimmer zögerte er einen Augenblick; er scheute sich, zuerst einzutreten, dann riß er die Thür hastig auf und sah Vater und Mutter einander gegenüber an dem Tische sitzen.

Ohne die Augen vom Boden zu erheben, ohne ein Wort zu sprechen, ging er erst auf die Mutter zu, beugte sich herab und bot ihr die Stirn zum Kuß. Das war seit einiger Zeit seine Gewohnheit; früher hatte er sie immer auf die Wange geküßt. Er fühlte, daß ihr Mund sich seiner Stirn näherte, eine Berührung ihrer Lippen konnte er nicht wahrnehmen, und klopfenden Herzens richtete er sich nach dieser Vorspiegelung einer Zärtlichkeit wieder auf.

»Was ist zwischen den beiden nach meinem Weggehen vorgegangen?« fragte er sich.

Hans sagte sehr häufig »Mütterchen«, »liebe Mama«, legte zärtliche Sorgfalt an den Tag, bediente sie und war bemüht, ihr jeden Wunsch an den Augen abzusehen. Sie mochten also miteinander geweint haben, dachte Peter, aber wie sie die Lage der Dinge auffaßten, blieb ihm unklar. Hielt Hans seine Mutter für schuldig, oder seinen Bruder für ein Ungeheuer?

Von neuem überwältigte ihn die Gewissensqual, machte er sich Vorwürfe, so entsetzliche Worte gesprochen zu haben; es schnürte ihm den Hals zu und preßte ihm die Lippen zusammen; er konnte weder essen noch sprechen.

Ein übermächtiges Verlangen, dies Haus, das nicht mehr das seine war, zu verlassen, ein Drang, diese Menschen zu fliehen, an die keine Bande ihn mehr knüpften, erfüllte seine ganze Seele. Augenblicklich, in dieser Stunde hätte er fort mögen, einerlei wohin, nur fort. Er fühlte, daß alles aus war, daß er nicht mehr in ihrer Nähe leben konnte, daß er schon durch seine bloße Gegenwart sie quälen und martern würde, selbst wenn er absichtliches Wehethun vermeiden wollte, und daß ihre Nähe ihm unerträglich, peinlich war und bleiben würde.

Hans führte ein lebhaftes Gespräch mit Roland. Peter merkte nicht auf, hörte nicht, wovon die Rede war, erst als er nach einiger Zeit im Tone seines Bruders eine gewisse Absichtlichkeit wahrzunehmen glaubte, gab er sich die Mühe, den Sinn der Worte zu verstehen.

»Es wird offenbar,« sagte Hans, »das schönste Schiff ihrer Flotte sein. Man spricht von sechstausendfünfhundert Tonnen. Im nächsten Monat wird es seine erste Fahrt machen.«

Roland legte sein Erstaunen an den Tag.

»Schon! Ich hätte nicht gedacht, daß es dieses Jahr überhaupt schon auslaufen könnte.«

»Doch, Vater; man hat die Arbeiten ungeheuer beschleunigt, um vor Herbst die erste Ueberfahrt machen zu können. Ich bin heute früh am Bureau der Gesellschaft vorübergegangen und habe mit einem von den Administratoren gesprochen.«

»Wahrhaftig? Mit welchem denn?«

»Mit Herrn Marchand, dem speziellen Freund des Vorsitzenden ihres Verwaltungsrates.«

»Wirklich? Du kennst ihn also?«

»Ja. Ueberdies hatte ich ihn um einen kleinen Dienst zu bitten.«

»So. Aber nicht wahr, dann wirst du mir die Erlaubnis verschaffen, die ›Lothringen‹ ganz genau zu besichtigen, sobald er von der Reede in den Hafen eingelaufen?«

»Gewiß, nichts leichter als das!«

Hans zögerte; er schien nach einer passenden Einleitung zu suchen, nach einem Uebergang zu dem, was er eigentlich auf dem Herzen hatte.

»Ich muß sagen,« fuhr er fort, »das Leben auf solch einem großen Transatlanter ist höchst annehmbar. Mehr als die Hälfte jeden Monats bringt man auf festem Lande zu und zwar in zwei Städten, die wahrhaft nicht zu verachten sind: New York und Havre, und die übrige Zeit schwimmt man in liebenswürdiger Gesellschaft auf hoher See und knüpft unter den Passagieren Bekanntschaften an, die sehr häufig nicht nur angenehm, sondern im höchsten Grad nützlich und förderlich für die Zukunft sind. Wenn man bedenkt, daß solch ein Kapitän mit dem, was er an den Kohlen profitiert, sich mit Leichtigkeit auf fünfundzwanzigtausend Franken im Jahr, wenn nicht mehr, stellt . . .«

Roland warf »Potz Blitz« dazwischen, was, durch ein Lippenschnalzen verstärkt, den Ausdruck seiner ganz besondern Hochachtung für diese Summe und diesen Kapitän enthielt, und Hans berichtete weiter: »Der Kommissär an Bord kann es bis auf zehntausend bringen und der Schiffsarzt hat fünftausend Franken festen Gehalt, dabei Wohnung, Kost, Beleuchtung, Heizung, Bedienung etc. etc. Das beläuft sich natürlich mindestens auch auf zehntausend, was immerhin eine anständige Summe ist.«

Peter, welcher längst die Augen aufgeschlagen hatte, begegnete dem Blick seines Bruders, und sie verstanden sich.

Nach einigem Zögern fragte er: »Ist es sehr schwierig, eine solche Schiffsarztstellung auf einem Transatlanter zu bekommen?«

»Ja und nein. Es kommt da alles auf die Verhältnisse an, und ob man Verbindungen und Empfehlungen hat.«

Ein längeres Schweigen folgte, dann nahm der Doktor das Gespräch wieder auf: »Im nächsten Monat läuft die ›Lothringen‹ aus?«

»Ja, am siebenten.«

Wieder schwiegen alle.

Peter überlegte. Kein Zweifel, daß, wenn er sich als Arzt auf diesem Dampfer einschiffen könnte, für jetzt jede Schwierigkeit gelöst wäre. Später konnte man ja dann weiter sehen; vielleicht würde er nicht für immer auf dem Boot bleiben. Einstweilen aber konnte er sich auf diese Weise eine Existenz schaffen, ohne seine Familie in Anspruch zu nehmen, und das war viel wert. Vorgestern hatte er sich gezwungen gesehen, seine Uhr zu verkaufen, denn jetzt konnte er sich natürlich nicht mehr an die mütterliche Hilfe wenden und sich ein Geldstück in die Hand stecken lassen. Andre Hilfsquellen aber hatte er nicht, notgedrungen mußte er das Brot dieses für ihn unleidlich gewordenen Hauses essen und unter diesem Dach schlafen, das ihn zu erdrücken drohte. Etwas unsicher und zaudernd sagte er nach einer Weile: »Ich würde mit Vergnügen dies Reiseleben unternehmen, wenn ich eine solche Stelle erhalten könnte.«

»Und weshalb sollst du das nicht können?« fragte Hans.

»Weil ich kein Mitglied der Transatlantischen Gesellschaft kenne.«

Vater Roland sah äußerst verblüfft drein.

»Und all deine schönen Pläne, dir hier eine glänzende Praxis zu gründen, was wird denn aus denen?« sagte er.

»Es gibt entscheidende Stunden im Leben,« erwiderte Peter mit gepreßter Stimme, »in denen es gilt, alles zu opfern und den liebsten Hoffnungen zu entsagen. Ueberdies sollte mir dies nur ein Anfangsposten sein und die Möglichkeit gewähren, mir ein paar tausend Franken für eine spätere Etablierung zu erwerben.«

Der Vater war auf der Stelle überzeugt und für den Plan gewonnen.

»Was das betrifft, hast du ganz recht. In zwei Jahren kannst du sechs- oder siebentausend Franken zurücklegen, die dir dann, wenn du sie praktisch zu verwenden weißt, weit helfen. Was hältst du davon, Luise?«

»Ich glaube auch, daß Peter recht hat,« sagte sie so leise, daß man Mühe hatte, die Worte zu verstehen.

»Da werde ich doch sofort mit Herrn Poulin sprechen,« rief Roland, »ist ja ein ganz genauer Bekannter von mir! Er ist beim Handelsgericht und hat immer viel mit den Angelegenheiten der Gesellschaft zu thun. An Herrn Lenient, den Reeder, kann ich mich ebenfalls wenden, der ist mit dem Vizepräsidenten sehr befreundet.«

»Ist es dir lieb, wenn ich heute noch Herrn Marchand ein wenig aushorche?« fragte Hans seinen Bruder.

»Gewiß, das würde mir sehr lieb sein.«

Nach kurzer Ueberlegung setzte der Doktor hinzu: »Das Beste wäre wohl, an die Professoren der medizinischen Fakultät in Paris zu schreiben, an meine Lehrer, die große Stücke von mir hielten. So häufig drängen sich höchst mittelmäßige Leute auf diese Schiffe. Wenn Mas-Roussel, Rémusot, Flache und Borriquel mich warm empfehlen, so nützt das mehr als alle zweifelhaften Gefälligkeiten andrer Leute und bringt die Geschichte sofort zur Entscheidung. Wenn dein Freund, dieser Herr Marchand, dann dem Verwaltungsrat ihre Briefe vorlegen will, so ist alles im reinen.«

Hans billigte dies Vorhaben höchlichst. »Ein ganz vortrefflicher Gedanke, ganz ausgezeichnet!«

Und dabei lächelte er beruhigt, fast vergnüglich, und zweifelte keinen Augenblick am Erfolg seines Unternehmens. Er war nicht imstande, Sorge und Kummer lang festzuhalten.

»Du schreibst doch heute noch, nicht wahr?« sagte er.

»Auf der Stelle. Ich gehe gleich hinauf. Kaffee mag ich ohnehin nicht trinken, ich bin zu nervös diesen Morgen.«

Er stand auf und ging.

»Und du, Mama, was hast du vor?« fragte Hans, sich an die Mutter wendend.

»Nichts . . . ich wüßte nichts.«

»Willst du mit mir zu Frau Rosémilly kommen?«

»Allerdings , . . . aber . . . he, gewiß.«

»Du weißt, es ist unumgänglich nötig, daß ich jetzt hingehe.«

»Ja . . . ja wohl . . . das ist wahr.«

»Weshalb ist denn das so unumgänglich nötig?« mischte sich Vater Roland ins Gespräch; er war übrigens daran gewöhnt, daß man in seiner Gegenwart von Dingen sprach, von denen er nichts wußte.

»Weil ich es ihr versprochen habe.«

»So, ja dann ist es etwas andres. Dann mußt du freilich hin.«

Und während Mutter und Sohn die Treppe hinaufstiegen, um sich zum Ausgehen fertig zu machen, stopfte er gemächlich seine Pfeife.

In der Straße angelangt, fragte Hans: »Soll ich dich führen, Mama?«

Das geschah in der Regel nicht; sie pflegten sonst einfach nebeneinander herzugehen; heute nahm sie seinen Arm an und stützte sich auf ihn.

Eine Zeitlang sprach keins von beiden; dann sagte Hans: »Du siehst, Mama, daß Peter sich ganz willig von uns trennt.«

»Der arme Junge!«

»Weshalb arm? Er wird nichts weniger als unglücklich sein auf der ›Lothringen‹!«

»Nein, das weiß ich wohl. Ich denke dabei an so vieles.«

Das Haupt gesenkt, regelrecht mit dem Sohn Schritt haltend, ging sie eine Weile in tiefes Sinnen verloren weiter. Dann sagte sie in dem eigentümlichen Ton, in dem wir zuweilen einen langen, unausgesprochenen Gedankengang zum Abschluß bringen: »Ein häßlich Ding, das Leben! Bringt es uns einmal ein Stückchen Seligkeit, so wird es zur Schuld, sie zu genießen, und wir müssen es hinterdrein teuer bezahlen.«

»Sprich nicht mehr davon, Mama!« bat er sehr leise.

»Wie sollte ich nicht? Ich denke ja doch unaufhörlich daran.«

»Du wirst vergessen lernen.«

Sie schwieg wieder, dann sprach sie mit einem langen, glühenden Blick: »Ach! Wie glücklich hätte ich werden können, wenn ich eines andern Mannes Frau gewesen wäre!«

Sie befand sich jetzt in höchster Erbitterung gegen Roland; seine Häßlichkeit und Geistlosigkeit, Ungeschicktkeit, Schwerfälligkeit an Körper und Geist, die Gewöhnlichkeit seiner Erscheinung und seines Wesens machte sie für ihre Schuld und für ihr Unglück verantwortlich. Daß sie ihn betrogen, lag nur an seiner Niedrigkeit, daß sie einen ihrer Söhne an Gott und Menschen verzweifeln machte und dem andern das schmerzlichste Bekenntnis hatte ablegen müssen, an dem so ein Mutterherz verblutet, dafür klagte sie ihn an.

»Es ist so abscheulich, wenn ein junges Mädchen die Frau eines solchen Mannes werden muß,« flüsterte sie vor sich hin. Hans machte keine Bemerkung. Er dachte an den, für dessen Sohn er sich bisher gehalten, und möglicherweise mochten das unbestimmte Gefühl von der Mittelmäßigkeit dieses Mannes, der spöttische, höhnische Ton, in welchem der Bruder immer mit demselben verkehrte, die wegwerfende Gleichgültigkeit aller, bis auf die verächtliche Miene, mit welcher die Köchin Roland behandelte, das Ihrige dazu beitragen, ihn das Geständnis der Mutter mit Fassung tragen zu lassen. Es ward ihm dadurch weniger schwer, in einem andern seinen Vater zu finden, und wenn nach der weichen Stimmung von gestern abend kein Rückschlag erfolgte, Empörung, Zorn, Auflehnung nicht, wie Frau Roland gefürchtet hatte, die Oberhand gewonnen hatten, so mochte das zum guten Teil darin liegen, daß er unbewußt schon längst darunter gelitten hatte, sich als Kind dieses gutmütigen, schwerfälligen Tölpels zu fühlen.

Sie waren an Frau Rosémillys Haus angelangt.

Dieselbe bewohnte am Wege nach Saint-Adresse den zweiten Stock eines großen, ihr gehörigen Wohnhauses, von dessen Fenstern aus man die ganze Reede von Havre vor sich hatte.

Als Frau Roland, ihrem Sohn vorangehend, eintrat, streckte die junge Witwe ihr nicht wie sonst die Hände entgegen, sondern eilte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu und küßte sie, den Zweck ihres Kommens erratend, aufs herzlichste.

Die Salonmöbel aus gepreßtem Plüsch steckten stets in Ueberzügen. An den mit geblümten Tapeten bekleideten Wänden hingen vier von dem ersten Gatten angeschaffte Stahlstiche, welche sentimentale Scenen aus dem Leben des Seemannes darstellten. Auf dem ersten derselben sah man eine Fischersfrau an der Küste eifrig mit ihrem Tuch winken, während das Segel, das ihren Mann entführt, schon am fernen Horizont verschwindet. Auch das zweite Bild zeigte die nämliche Küste und die nämliche Frau, die aber diesmal, auf den Knieen liegend und die Hände ringend, hinausblickt und unter einem Gewitterhimmel auf einer wild erregten See mit höchst unwahrscheinlichen Wellen nach dem Boot späht, mit dem der Gatte wohl untergehen wird.

Die beiden andern Stiche stellten ganz ähnliche Scenen dar, nur um eine gesellschaftliche Oktave höher.

Eine junge, blonde Frau lehnt auf dem Verdeck eines großen Passagierdampfers an der Brüstung und blickt thränenumflorten Auges voll Abschiedsweh nach der mehr und mehr entschwindenden Küste zurück.

Wen hat sie dort zurückgelassen?

Dann liegt die nämliche junge Frau ohnmächtig in einem Lehnstuhl, durch das weitgeöffnete Fenster erblickt man das Meer; ein Brief ist ihrer Hand entglitten und liegt auf dem Boden.

Er ist also tot – welche Schreckenskunde!

In der Regel waren die Besucher von diesen außerordentlich leicht verständlichen, poetischen Schildereien gerührt, von der Alltagstraurigkeit des Gegenstandes gefesselt. Man bedurfte keiner Erläuterungen, keines Nachdenkens, und man bemitleidete die armen Frauen, wenn man auch bei der höher Gestellten nicht so genau wissen konnte, weshalb; ja, daß dies zweifelhaft blieb, gab dann Gelegenheit zu allerhand Vermutungen und Träumereien, und meist wurde angenommen, daß sie ihren Verlobten verloren habe! Sobald man das Zimmer betrat, wurde das Auge unwiderstehlich auf diese vier Darstellungen hingelenkt und wie durch eine Art von magnetischer Kraft dabei festgehalten. Man richtete wohl den Blick auf irgend etwas andres, aber nur, um sofort wieder zu den Bildern zurückzukehren und den vierfachen Ausdruck der beiden Frauen zu studieren, die sich wie Schwestern glichen. Von der glatten, peinlich sorgfältigen, säuberlichen Behandlung des Stiches, wie von den glänzenden, staublosen Rahmen übertrug sich der Stempel von Reinlichkeit und Rechtlichkeit auf die ganze Umgebung und fand auch in der übrigen Einrichtung seinen Ausdruck.

In unveränderlicher Ordnung und Regelmäßigkeit standen die Stühle teils an der Wand, teils um den ovalen Salontisch. Die Falten der tadellos weißen Gardinen waren so korrekt, gleichmäßig und kerzengerade, daß man wirklich in Versuchung kam, sie ein wenig zu zerknüllen, und nie trübte ein Stäubchen die Glasglocke, unter der die goldne Standuhr im Empirestil, eine von dem knieenden Atlas getragene Weltkugel vorstellend, wie eine Zimmermelone zu reifen schien.

Die beiden Frauen brachten, indem sie sich setzten, ihre Stühle ein wenig aus der gewohnten, ordnungsmäßigen Linie.

»Sie sind heute nicht ausgegangen?« fragte Frau Roland.

»Nein; ehrlich gestanden, bin ich ein wenig müde,« erwiderte die junge Witwe und zählte nun, gleichsam um Hans und seiner Mutter für das Vergnügen des gestrigen Ausfluges zu danken, auf, wie viele Freude ihr derselbe gemacht habe.

»Und Sie müssen wissen, daß ich meine Krebse heute früh verspeist habe, und daß sie ganz vortrefflich gewesen sind. Wenn Sie Lust hätten, könnten wir bald wieder solch eine Partie unternehmen . . .«

»Ehe wir eine zweite planen,« fiel ihr der junge Mann ins Wort, »sollten wir die erste zum Abschluß bringen, meinen Sie nicht auch?«

»Wieso? Ich dächte, die wäre zu Ende?«

»O, gnädige Frau! Auch ich habe gestern in den Felsen von Saint-Jouin einen Fang gethan, und auch ich möchte denselben in meinem Haus in Sicherheit bringen.«

Sie setzte eine kleine, schelmische Unschuldsmiene auf.

»Sie? Ja, was denn? Was haben Sie denn da aufgegabelt?«

»Eine Frau! Und Mama und ich sind hier, um diese Frau zu fragen, ob sie über Nacht nicht andern Sinnes geworden.«

»Nein, mein Herr,« versetzte sie lächelnd. »Andern Sinnes zu werden, ist eben nicht meine Art.«

Darauf streckte er ihr die weitgeöffnete Hand hin, und sie legte die ihrige rasch und entschlossen hinein.

»So bald als möglich, nicht wahr?« sagte er bittend.

»Wann Sie wollen.«

»In sechs Wochen?«

»Ich habe keine eigne Meinung. Wie denkt meine künftige Schwiegermama darüber?«

Frau Roland erwiderte mit einem Lächeln, das etwas wehmütig ausfiel: »O, ich! Ich bin mit allem einverstanden und danke Ihnen nur von ganzem Herzen, daß Sie meinem kleinen Hans ein wenig gut sind. Ich weiß, daß sie ihn sehr glücklich machen werden.«

»So gut ich es eben vermag, liebe Mutter.«

Zum erstenmal kam etwas wie Rührung über Frau Rosémilly, sie stand auf, schlang beide Arme um Frau Roland und küßte sie lang und herzlich wie ein Kind, und bei dieser ihr so neuen Liebkosung schwoll das wunde Herz der armen Frau von mächtiger Empfindung. Einen Namen hätte sie ihrem Gefühl schwerlich geben können, es war unsäglich traurig und wohlthuend zugleich. Sie hatte einen Sohn, einen erwachsenen Sohn verloren und nun ersetzte man ihr den Verlust durch eine Tochter.

Als beide auf ihre Plätze zurückgekehrt waren, hielten sie sich an der Hand fest, sahen sich herzlich in die Augen und lächelten; Hans schien fast vergessen zu sein.

Dann aber folgte eine eingehende Besprechung der hunderterlei großen und kleinen Dinge, welche für die nahe bevorstehende Hochzeit zu beschaffen und zu bedenken waren, und als schließlich alles durchgesprochen und abgemacht war, fragte Frau Rosémilly, sich plötzlich einer bisher übersehenen Kleinigkeit erinnernd: »Sie haben doch Papa Roland um seine Einwilligung gebeten?«

Mutter und Sohn stieg die dunkle Röte ins Gesicht. Die Mutter übernahm die Antwort.

»O nein! Das ist ganz überflüssig.«

Sie zögerte ein wenig und setzte, eine eingehendere Erklärung dieses Umstandes doch für nötig erachtend, hinzu: »Wir besprechen nie etwas mit ihm; es genügt, ihm nachher mitzuteilen, was wir beschlossen haben.«

Frau Rosémilly, für welche diese Mitteilung durchaus nichts Ueberraschendes hatte, lächelte freundlich; sie fand dieses Verfahren selbstverständlich: der Biedermann zählte ja nicht.

»Könnten wir nicht in deine Wohnung gehen?« meinte Frau Roland, als sie mit dem Sohn wieder auf der Straße war. »Ich möchte gern ein wenig ausruhen.«

Sie fühlte sich obdachlos, heimatlos, denn vor ihrem eignen Hause empfand sie ein Grauen.

Die Richtung nach dem Boulevard wurde eingeschlagen.

Als die Thür sich dort hinter ihnen geschlossen, atmete Frau Roland tief auf, wie wenn dieses Schloß alle Gefahren von ihr abhielte, dann machte sie sich, statt auszuruhen, wie sie gesagt, sofort daran, Schränke und Schubladen zu öffnen, die hoch aufgeschichtete Wäsche nachzuzählen und sich von dem Vorhandensein sämtlicher Taschentücher und Socken zu überzeugen. Die bisherige Ordnung der Dinge wurde wieder umgestoßen und noch ratsamere, dem Auge der Hausfrau wohlgefälligere Einrichtungen getroffen, und als endlich alles nach ihrem Geschmack eingeteilt und eingereiht war, Servietten, Handtücher, Hemden und Unterhosen schnurgerade in dem ihnen gehörigen Fach lagen, die Wäsche in drei große Abteilungen der Leib-, Haus- und Tischwäsche verteilt war, trat sie ein paar Schritte zurück, um ihr Werk prüfend zu überblicken.

»Komm, Hans, und sieh, wie hübsch das ist,« sagte sie.

Ihr zu Gefallen stand er sofort auf und sprach seine gebührende Bewunderung aus.

Nachdem er sich wieder gesetzt, trat sie plötzlich mit leisen, leichten Schritten hinter seinen Lehnstuhl, und den rechten Arm um seinen Hals schlingend, küßte sie ihn innig, und stellte mit der linken Hand einen in weißes Papier eingeschlagenen Gegenstand, den sie verborgen gehalten, ihm gegenüber auf den Kamin.

»Was ist denn das?« fragte er.

Da keine Antwort erfolgte und er die Form des Rahmens erkannte, erriet er, was es war.

»Gib her,« sagte er.

Sie that, als ob sie ihn nicht verstanden hätte, und kehrte zu ihren Schränken zurück. Er stand auf, nahm die wehmütige Reliquie rasch zur Hand, ging, das Zimmer durchschreitend, nach seinem Schreibtisch und legte das Bild in ein doppelt verschlossenes Fach; die Mutter wischte sich mit der Fingerspitze eine Thräne aus der Wimper und sagte dann mit etwas heiserer, unsicherer Stimme: »Ich will ein bißchen nachsehen, wie das Mädchen ihre Küche hält. Sie ist ausgegangen und da kann ich ungestört inspizieren.«

 


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