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Wir machten auf ganz eigentümliche Weise Bekanntschaft. Ich hatte eben eine Studie vollendet, die mir gelungen schien und es auch war. Fünfzehn Jahre später wurde sie für 10 000 Franken verkauft. Übrigens war sie ein ganz einfaches Motiv. Auf der ganzen rechten Seite meiner Leinwand sah man einen riesigen Felsen mit braunem, gelbem, rotem Seegrase bewachsen, über das die Sonnenstrahlen wie Öl niederrannen. Das Licht fiel von rückwärts auf den Fels und setzte ihn in rote Glut. Weiter nichts. Ein lichtüberstrahlter Vordergrund.
Links erblickte man das Meer. Nicht das blaue schieferfarbene Meer, sondern grünlich, milchig und hart wirkend unter dem dunklen Himmel.
Ich war mit meiner Arbeit so zufrieden, daß ich vor Freuden umhersprang, als ich sie nach Hause brachte. Am liebsten hätte ich sie der ganzen Welt gezeigt. Und ich erinnere mich, daß ich sie einer Kuh am Wegesrande vorhielt und ihr zurief:
– Sieh mal das an, altes Biest, so was siehst du nicht wieder.
Als ich nach Haus kam, rief ich sofort Mutter Lecacheur und schrie:
– Ha! Ha! Frau Wirtin, bemühen Sie sich mal her und gucken Sie mal das an.
Die Wirtin sah mein Werk mit blöden Augen an; man merkte, daß sie nichts unterschied und nicht kapierte, ob das ein Ochse sein sollte oder ein Haus.
Miß Harriet kam heim und ging gerade in dem Augenblick hinter mir vorüber, als ich meine Leinwand mit ausgestrecktem Arme der Wirtin zeigte. Die Besessene konnte ja nicht anders, als sie sehen, denn ich hielt die Skizze so, daß sie ihr nicht entgehen konnte. Sie blieb wie angewurzelt stehen, ganz paff. Das war offenbar ihr Felsen, an dem sie herumkletterte und träumte. Ein englisches »Aoh!« entfuhr ihr, so schmeichelhaft, daß ich mich lächelnd zu ihr umdrehte und sagte:
– Das ist meine letzte Skizze, gnädiges Fräulein!
Sie antwortete entzückt, komisch und rührend zugleich:
– O, Sie verstehen der Natur ganz wundervoll.
Ich ward wahrhaftig rot und ihre Schmeichelei that mir wohler, als wenn sie von einer Königin gekommen wäre. Sie hatte mich gänzlich gewonnen und ich hätte ihr auf Ehrenwort am liebsten einen Kuß gegeben.
Bei Tisch setzte ich mich wie immer neben sie, und zum ersten Mal sprach sie, indem sie laut ihren Gedanken von vorhin fortsetzte:
– O, ich lieben so der Natur.
Ich bot ihr Brot, Wein und Wasser an und diesmal nahm sie es an mit leisem mumienhaftem Lächeln. Und wir sprachen von der Natur.
Nach Tisch gingen wir, da wir zusammen aufgestanden, mit einander im Hofe spazieren. Die untergehende Sonne schien das Meer in Brand gesteckt zu haben. Das zog mich an, ich öffnete das Thor nach den Klippen zu und wir schritten neben einander davon, zufrieden wie zwei Menschen, die einander verstanden haben.
Es war ein weicher warmer Abend, einer jener wonnigen Abende wo Leib und Seele glücklich sind. Alles erscheint einem köstlich und reizend. Die laue duftgeschwängerte Luft mit ihrem Gras und Alpenduft, ihrem kräftigen Naturgeruch thut den Sinnen wohl und man atmet tief aus voller Brust. Wir gingen nun am Rande des Absturzes hin; über dem weiten Meer, das gegen hundert Meter unter uns seine kleinen Wellen ans Land wälzte. Und wir sogen mit offenem Munde und weiten Lungen den frischen Windhauch ein, der über den Ozean gestrichen war und uns so salzgetränkt vom langen Kuß der Wellen umfächelte.
Die Engländerin stand da, in ihren karrierten Shawl gewickelt, von der Luft umweht und sah zu wie der Riesensonnenball ins Meer sank. Weit draußen am Horizont zeichnete sich ein segelbedeckter Dreimaster am purpurnen Himmel ab, und näher zu uns glitt ein Dampfer vorüber, der über den ganzen Horizont hinweg einen endlos langen Dampfstreifen hinter sich ließ.
Die rote Kugel sank und sank, bald berührte sie die Flut gerade hinter dem wie unbeweglichen Schiff, das mitten auf der Sonnenscheibe, wie in einem Feuerrahmen, erschien. Nun sank sie allmählich herab, als söge sie der Ozean ein. Man sah sie niedertauchen, kleiner werden, verschwinden. Es war aus. Nur das kleine Schiff hob sich noch immer von dem goldigen Himmelshintergrunde in der Ferne ab.
Miß Harriet schaute mit verzückten Blicken dem Sonnenuntergange zu. Unwiderstehliche Lust kam sie wohl an, den Himmel, das Meer, den ganzen Horizont zu umarmen.
Sie murmelte:
– Aoh, ich lieben . . . ich lieben . . . ich lieben.
Ich sah eine Thräne in ihrem Auge glänzen und sie sagte:
– Ich möchte eine kleine Vogel sein, um in die Himmel zu fliegen.
Und wie ich sie oft gesehen, regungslos an den Klippen, so blieb sie stehen, rot wie der Sonnenuntergang, in ihren purpurnen Shawl gewickelt. Ich hatte eigentlich Lust, sie in meinem Skizzenbuch zu verewigen, etwa als Karrikatur der Verzückung.
Ich mußte mich umdrehen, um nicht zu lachen.
Dann sprach ich mit ihr über Malerei, wie ich wohl mit einem Kollegen geredet hätte, über Töne, Farbenwerte, Lichter und Farben mit Ausdrücken aus der Zunft. Sie hörte mir aufmerksam zu, begriff und suchte den dunklen Sinn der Worte zu enträtseln und in meine Gedankenwelt einzudringen. Ab und zu sagte sie:
– O, ich verstehen, ich verstehen, es ist sehr uonderfull.
Wir kehrten heim.
Als sie mich am andern Tage sah, gab sie mir die Hand und wir waren gute Freunde.
Sie war ein braves Ding mit einer Seele wie eine Feder, die ab und zu in ihrem Enthusiasmus losschnellte. Ihr fehlte das Gleichgewicht, wie allen Frauen, die mit fünfzig Jahren noch Mädchen geblieben sind.
Sie schien versauert zu sein in ihrer Unschuld. Aber sie hatte ihrem Herzen Jugend und Begeisterungsfähigkeit bewahrt. Sie liebte die Natur und die Tiere mit überschwenglicher Liebe. Mit jener sinnlichen Liebe, die sie den Männern niemals gegeben hatte.
Ich glaube bestimmt, daß der Anblick einer säugenden Hündin, einer Stute, die mit ihrem Fohlen auf der Weide herumspringt, eines Nestes voll kleiner piepsender Vögel, die noch unbefiedert mit ihrem großen Kopf den offenen Schnabel hinhalten, sie sehr bewegt haben würde.
Ihr armen einsamen umherirrenden traurigen Gäste der tables d'hôte, ihr armen lächerlichen und beklagenswerten Wesen! Seitdem ich diese kennen gelernt, habe ich euch in mein Herz geschlossen.
Bald merkte ich, daß sie mir gern etwas sagen wollte, aber es nicht wagte. Und ich amüsierte mich über ihre Schüchternheit. Wenn ich früh fortging, das Malzeug auf dem Rücken, begleitete sie mich stumm, sichtlich ängstlich, bis an den Dorfausgang und suchte nach Worten, um ein Gespräch zu beginnen. Dann verließ sie mich plötzlich und entfloh in ihrem hüpfenden Gang.
Eines Tages endlich faßte sie Mut:
– Ich gern sehen mögen, wie Sie malen; uollen Sie? Ich sein uirklich sehr neugierig.
Und sie errötete dabei, als ob sie etwas äußerst Gewagtes gesagt hätte.
Ich ging mit ihr in das ›Thälchen‹ hinab, wo ich eine große Studie begann.
Sie blieb hinter mir stehen und folgte mit gespannter Aufmerksamkeit allen meinen Bewegungen.
Dann sagte sie zu mir, vielleicht in der Befürchtung mich zu stören: ›Danke‹, und ging.
Aber nach kurzer Zeit wurde sie zutraulicher und fing an, mir mit offenbarer Freude täglich Gesellschaft zu leisten. Unter dem Arme brachte sie ihren Feldstuhl mit – sie wollte mir durchaus nicht erlauben, ihn zu tragen – und setzte sich an meine Seite. Da blieb sie stundenlang stumm und unbeweglich sitzen, während sie der Spitze meines Pinsels mit dem Auge folgte. Wenn ich durch einen mit dem Spachtel derb hingesetzten Farbenklex eine gute aber unerwartete Wirkung erzielte, stieß sie unwillkürlich ein erstauntes freudiges bewunderndes ›aoh‹ aus. Für meine Malerei hatte sie eine zärtliche Bewunderung. Fast einen religösen Kultus trieb sie mit dieser menschlichen Schilderung eines Stückes göttlicher Schöpfung. Meine Studien schienen ihr wie eine Art Heiligenbilder und manchmal sprach sie mir von Gott und versuchte mich zu bekehren.
O, ihr Gott war ein sonderbarer Mann, so eine Art Dorfphilosoph, ohne großes Können und ohne große Macht. Denn sie stellte sich ihn vor, als ob er außer sich sei über die Sünden, die unter seinen Augen begangen würden, als ob er sie nicht hätte verhindern können.
Übrigens stand sie mit ihm auf sehr gutem Fuße und schien sogar in seine Geheimnisse und in die Unannehmlichkeiten, die ihm widerfuhren, eingeweiht zu sein. Sie sagte: ›Gott will oder Gott will nicht‹; wie ein Offizier zu einem Rekruten sagt: ›Der Oberst hat befohlen.‹
Aus tiefstem Herzen beklagte sie meinen Unglauben, und täglich fand ich in meinen Taschen, in meinem Hute, wenn ich ihn auf der Erde liegen ließ, in meinem Malkasten, in meinen gewichsten Stiefeln früh morgens vor meiner Thür, diese kleinen Traktätchen, die sie zweifellos direkt aus dem Paradiese bezog.
Ich behandelte sie wie eine alte Freundin mit herzlicher Offenheit. Aber bald bemerkte ich, daß ihr Benehmen sich ein wenig geändert hatte. Zuerst achtete ich nicht darauf.
Wenn ich arbeitete, sei's in meinem Thal, sei's in irgend einem Hohlweg, sah ich sie plötzlich ankommen mit ihrem schnellen taktmäßigen Gang. Sie setzte sich plötzlich und war ganz außer Atem, als ob sie gelaufen wäre, oder sie irgend ein Gegenstand selig erregt hätte. Sie war sehr rot, von diesem englischen Rot, das keinem anderen Volk eigentümlich ist. Dann ward sie ohne rechten Grund bleich erdfarben, und ich glaubte sie einer Ohnmacht nahe, aber allmählich gewann sie ihr gewöhnliches Aussehen zurück und fing wieder an zu sprechen. Dann brach sie plötzlich mitten in einem Satz ab, stand auf und lief auf so wunderliche Weise davon, daß ich mir überlegte, ob ich nicht etwas gethan, das ihr mißfallen oder sie hätte kränken können.
Endlich dachte ich, das würde wohl ihre gewöhnliche Art und Weise sein, die sie nur in der ersten Zeit unserer Bekanntschaft mir zu Ehren ein wenig verändert.
Wenn sie nach Hause kam, nach stundenlangen Spaziergängen an der sturmumwogten Küste, waren ihre langen, in Löckchen gedrehten Haare oft aufgegangen und hingen herab, wie ein paar zerbrochene Sprungfedern. Früher hatte sie sich nicht weiter darum gekümmert und war ruhig so zerzaust zu Tisch gekommen.
Jetzt aber ging sie auf ihr Zimmer, um ihre Lampencylinder, wie ich die Löckchen nannte, wieder in Ordnung zu bringen. Und wenn ich ihr mit vertraulicher Artigkeit, die sie übrigens immer empörte, einmal sagte:
– Miß Harriet, Sie sind heute schön, schön wie die Sonne! so färbten ihre Wangen sich sofort ein wenig, wie bei einem jungen Mädchen von fünfzehn Jahren.
Nachher ward sie aber ganz anders und kam nicht mehr, um mir beim Malen zuzusehen. Ich dachte, das ist eine Krisis, die wird schon vorüber gehen. Aber sie ging nicht vorüber. Wenn ich nun mit ihr sprach, so antwortete sie mir entweder mit gezwungener Gleichgültigkeit oder mit verhaltener Erregung, und manchmal war sie schroff und ungeduldig und nervös. Ich sah sie nur bei den Mahlzeiten und wir redeten kaum mit einander. Ich dachte wirklich, ich müßte sie durch irgend etwas gekränkt haben und fragte sie eines Abends:
– Sagen Sie mal, Miß Harriet, warum sind Sie nicht mehr gegen mich wie früher? Habe ich etwas gethan, was Ihnen nicht gefiel? Das thäte mir sehr leid.
Sie antwortete mit furchtbar komischer Wut in der Stimme:
– Ich mit Sie immer derselbe gewesen sein, das ist nicht wahr.
Und sie lief davon und schloß sich in ihrem Zimmer ein.
Manchmal sah sie mich ganz wundersam an und seit dieser Zeit habe ich mir oft gesagt, daß die zum Tode Verurteilten einen ähnlich anblicken müssen, wenn man ihnen das Urteil verkündet. In ihrem Auge lag eine Art von Wahnsinn, und dann noch etwas Anderes, ein Fieber, ein verzehrender Wunsch nach etwas, das nicht gewesen und nicht sein konnte. Und mir war es, als ob sich in ihrem Innern ein Kampf abspiele, als ob ihr Herz ringe mit einer unbekannten Kraft, die sie meistern wollte und vielleicht noch etwas . . . was weiß ich, was weiß ich.