Guy de Maupassant
Unser Herz
Guy de Maupassant

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Erster Teil

I

Eines Tages sagte der Musiker Massival, der berühmte Komponist der Rebecca, den man seit fünfzehn Jahren ›den jungen und großen Meister‹ nannte, zu seinem Freunde André Mariolle:

– Warum hast Du Dich eigentlich nie Frau Michaela von Burne vorstellen lassen? Ich kann Dir bloß sagen, das ist eine der elegantesten Frauen von Paris.

– Weil ich in diese Kreise gar nicht passe.

– Oh, da täuschst Du Dich. Ihr Salon ist wirklich originell, modern, künstlerisch sehr anregend. Dort wird thatsächlich gute Musik gemacht, und die Unterhaltung ist so geistreich wie nur je bei den geistreichen Damen des vorigen Jahrhunderts. Ich glaube, Du würdest dort sehr gut aufgenommen werden; einmal, weil Du so vorzüglich Violine spielst, und dann weil von Dir allerlei Schönes dort gesagt worden ist. Dann auch, weil man weiß, daß Du kein Allerweltsmensch bist und Dir die Leute aussuchst, bei denen Du verkehrst.

Mariolle fühlte sich geschmeichelt, aber er zögerte noch, indem er annahm, daß die junge Frau dieser dringenden Aufforderung nicht ganz fern stände. Er sagte:

– Ach, mir liegt nicht viel daran! – Aber in den absichtlich wegwerfenden Ton mischte sich schon halb die Absicht, hinzugehen.

Massival fuhr fort:

– Soll ich Dich dieser Tage mal einführen? Übrigens kennst Du sie ja aus unsern Gesprächen, wir, die Intimen ihres Hauses, sprechen doch genug von ihr. Sie ist eine auffallend hübsche Frau, achtundzwanzig Jahr alt, sehr klug, und will sich nicht ein zweites Mal wieder verheiraten, denn sie ist in ihrer ersten Ehe sehr unglücklich gewesen. Bei ihr trifft man lauter nette Leute. Es verkehren dort nicht zu viel Herren aus den Klubs oder aus der großen Gesellschaft, nur gerade genug, um der Sache einen Anstrich zu geben. Sie wird sich gewiß freuen, wenn ich Dich ihr bringe.

Mariolle war schon besiegt und sagte:

– Meinetwegen, also mal nächster Tage.

Am Anfang der nächsten Woche kam der Komponist zu ihm und fragte:

– Hast Du morgen Zeit?

– Gewiß . . .

– Gut. Dann komm' morgen mit zu Tisch zu Frau von Burne. Sie hat mir gesagt, ich soll Dich einladen.

Mariolle antwortete, nachdem er anstandshalber ein paar Sekunden überlegt:

– »Schön. Ich komme.

André Mariolle war ungefähr siebenunddreißig Jahr alt, Junggeselle, ohne Beruf. Er war reich genug, um ganz zu leben, wie er wollte, zu reisen und sich sogar eine recht hübsche Sammlung moderner Gemälde und schöner Altertümer anzulegen. Man fand, er sei ein geistreicher Mensch, etwas phantastisch, ein wenig ungebunden, launenhaft, ein bißchen von oben herab, der den Einsiedler spielte, mehr aus Hochmut als aus Schüchternheit. Er war sehr begabt, fein, aber etwas indolent. Er besaß Talent zu allem und hätte vielleicht manches unternehmen können, aber er hatte sich begnügt, das Leben zu genießen als Zuschauer oder vielmehr als Amateur. Hätte er kein Geld gehabt, so wäre er ohne Zweifel etwas Berühmtes oder wenigstens Bemerkenswertes geworden. So, im Wohlstand geboren, machte er sich immer Vorwürfe, daß er nicht zu Stellung, Rang und Würden gekommen war. Allerdings hatte er verschiedene, aber zu schwächliche Versuche gemacht, sich in den Künsten zu bethätigen. Zuerst in der Litteratur: er veröffentlichte nette, gutgeschriebene Reiseberichte; sodann in der Musik: er spielte Violine und erwarb sich auf diesem Instrument sogar bei Berufsmusikern einen geachteten Amateurnamen; endlich in der Plastik, jener Kunst, bei der eine gewisse Geschicklichkeit, oder die Gabe, kecke und bizarre Figuren hinzuwerfen, in den Augen des Laien Können und Tiefe ersetzen. Seine Statuette: ›Tunesischer Masseur‹ war sogar vergangenes Jahr im Salon beachtet worden.

Er ritt vorzüglich, und es hieß, er wäre auch ein ausgezeichneter Fechter, obgleich er diese Kunst nie in der Öffentlichkeit zeigte, vielleicht aus demselben Gefühl der Unsicherheit, das ihn auch abhielt, sich in der großen Welt zu bewegen, wo er ernste Rivalen hätte fürchten müssen.

Aber seine Freunde schätzten ihn alle, lobten ihn ohne Ausnahme, möglicherweise, weil er ihnen nicht im Licht stand. Jedenfalls nannte man ihn einen zuverlässigen guten Freund und eine sehr sympathische Persönlichkeit.

Er war hager, groß, hatte einen schwarzen, an den Wangen kurz geschnittenen, spitz zulaufenden Vollbart, sein schon ergrauendes Haar war sorgfältig gekräuselt. Aus braunen, klaren, lebhaften, mißtrauischen und ein wenig harten Augen blickte er in die Welt.

Die meisten seiner intimen Freunde waren Künstler: der Romanschriftsteller Gaston von Lamarthe, der Komponist Massival und die Maler Jobin, Rivollet und De Mandol, die sehr viel auf seinen Verstand, seine Freundschaft, seinen Geist und sein Urteil zu geben schienen, obgleich sie ihn im Grunde mit der vom Erfolg untrennbaren Eitelkeit für einen sehr liebenswürdigen, gescheiten Dilettanten hielten.

Seine stolze Zurückhaltung schien zu sagen: »ich bin nichts, weil ich nicht gewollt habe, etwas zu sein.« Er lebte also im engen Kreis und mochte nicht die elegante Courmacherei und nicht die bekannten Salons, wo andere eine größere Rolle gespielt hätten als er und wo er nichts gewesen wäre als eine Nummer unter vielen.

Er wollte nur dort verkehren, wo man seine verborgenen Eigenschaften unbedingt schätzte, und er war nur sofort darauf eingegangen, Frau von Burne zu besuchen, weil gerade seine besten Freunde, die, die überall seine versteckten Vorzüge laut priesen, bei der jungen Frau verkehrten.

Sie bewohnte ein hübsches Zwischengeschoß Rue du Général Foy, hinter der Kirche St. Augustin. Zwei Zimmer gingen auf die Straße, das Eßzimmer und ein Salon, wo sie empfing. Zwei andere hatten die Aussicht auf einen schönen Garten, den aber der Hauswirt benutzte. Zuerst ein zweiter Salon, sehr groß, tiefer als breit, mit drei Fenstern nach den Bäumen hinaus, deren Blätter die Läden streiften. Dort standen außergewöhnlich kostbare, aber einfache Gegenstände und Möbel von reinem, gutem Geschmack und sehr großem Wert. Die Stühle, die Tische, die kleinen Schränke und Etagèren, die Bilder, die Fächer, die Porzellanfiguren in einer Vitrine, die Vasen, die Statuetten, der große Gobelin, der ganze Schmuck dieses Salons einer jungen Frau fesselten das Auge durch ihre reinen Formen, ihr Alter oder ihre Eleganz. Um diese Wohnung einzurichten, auf die sie beinah ebenso stolz war wie auf sich selbst, hatte sie die Mitarbeit, die Kennerschaft, die Freundschaft, die Gefälligkeit und den Finderinstinkt aller Künstler aufgeboten, die sie kannte. Sie hatten für sie, die reich war und gut zahlte, Dinge aufgetrieben von jener Eigenart, die nicht den gewöhnlichen Liebhabergeschmack zeigte. Und mit ihrer Hilfe hatte sie sich ein Heim hergestellt, von dem man sprach, das sich nur schwer jemandem öffnete und wo, wie sie sich einbildete, man sich besser unterhielt und lieber hinkam, als in die banalen Wohnungen aller übrigen Damen der Gesellschaft.

Es war sogar eine ihrer Lieblingstheorien, zu behaupten, daß der Farbenton der Wände, der Stoffe, die Bequemlichkeit der Sitze, die Schönheit der Formen, der Reiz des Ganzen dem Blick ebenso wohlthue, ihn fessele und banne, wie ein Frauenlächeln. Sympathische oder unsympatische Einrichtungen, sagte sie, seien sie reich oder ärmlich, ziehen an oder stoßen ab, genau wie die Wesen, die darin wohnen. Sie regen das Herz an oder schläfern es ein, reizen den Geist oder berühren ihn eisig, bringen die Menschen zum Sprechen oder zum Schweigen, machen traurig oder lustig, kurz, geben jedem Besucher sofort den Gedanken ein, ob er bleiben soll oder fortgehen.

Mitten in diesem ein wenig dunklen langgestreckten Raum hatte ein großer Flügel, zwischen zwei Jardinièren mit lebenden Blumen, den Ehrenplatz und beherrschte den Raum. Weiter führte eine hohe Flügelthür in den Nebenraum, das Schlafzimmer, das wiederum mit einem Toilettenzimmer in Verbindung stand, das groß war, gleichfalls elegant, die Wände, wie der Salon eines Landhauses, mit persischer Leinwand bespannt, und in dem Frau von Burne sich gewöhnlich aufhielt, wenn sie allein war.

Sie war mit einem Thunichtgut von äußerlich guten Formen verheiratet gewesen, einem jener Haustyrannen, vor denen alles auf dem Bauch liegen soll, und war zuerst totunglücklich. Fünf Jahre hindurch hatte sie die Forderungen, die Härten, die Eifersucht, sogar die Brutalitäten dieses unerträglichen Menschen ausgehalten, und ganz niedergeschmettert, erschrocken vor Staunen, hatte sie sich zuerst nicht einmal empört gegen ein solches Eheleben, ganz erdrückt von dem despotischen, quälerischen Willen dieses brutalen Mannes, dessen Opfer sie geworden.

Eines Abends, als er heimkehrte, starb er an einem Bluterguß. Und als man den Körper ihres Mannes hereintrug, in eine Decke gewickelt, starrte sie ihn an und konnte garnicht glauben, daß sie wirklich erlöst sei, obgleich sie ein Gefühl des Glücks und der Erlösung empfand, aber dabei gräßliche Angst, es nur ja nicht merken zu lassen.

Sie war unabhängiger Natur, heiter, konnte sogar ausgelassen sein, verführerisch und schmiegsam, manchmal plötzlich etwas frei, von jenem Geist, der in das Wesen gewisser junger Mädchen in Paris dringt, die von Jugend auf den scharfen Hauch der Boulevards empfunden haben, in den sich jeden Abend durch die offenen Thüren der Theater etwas mischt von den Stücken, die man dort beklatscht oder auspfeift. Aber trotzdem hatte sie von ihrer fünfjährigen Sklaverei eine seltsame Schüchternheit bewahrt, die sich auf eigene Art mit der früheren Keckheit mischte, eine große Angst, zu viel zu sagen, zu viel zu thun, mit der brennenden Lust, über den Strang zu schlagen, und dem festen Entschluß, auf keinen Fall sich wieder fesseln zu lassen.

Ihr Gatte, als Gesellschaftsmensch, hatte sie erzogen, zu repräsentieren wie eine stumme, elegante, höfliche, angeputzte Sklavin. Unter den Freunden dieses Tyrannen befanden sich viele Künstler, die sie neugierig empfangen, denen sie mit Freude gelauscht hatte, ohne jemals zu wagen, ihnen zu zeigen, daß sie sie verstand und schätzte.

Als sie die Trauer abgelegt hatte, lud sie eines Abends einige von ihnen zu Tisch ein. Zwei entschuldigten sich, drei nahmen an und fanden zu ihrem Erstaunen eine junge Frau mit offenem Geist, mit reizendem Benehmen, bei der sie sich wohl fühlten, die ihnen mit Liebenswürdigkeit sagte, wie sie sich über ihren früheren Verkehr in ihrem Hause gefreut habe.

So traf sie denn allmählich unter ihren früheren Bekannten, von denen sie bisher übersehen oder mißverstanden worden, ganz nach ihrem Geschmack die Wahl und begann als Witwe, als Frau, die niemandem Rechenschaft schuldig ist, aber unbedingt eine anständige Frau bleiben will, in ihrem Hause zu empfangen, was es an begehrten Männern in Paris gab, während sie nur einige Damen bei sich sah. Die ersten Freunde wurden ihre Intimen, bildeten sozusagen einen Grundstock, zogen die anderen herbei und gaben dem Haus den Anstrich einer kleinen Hofhaltung, wo jeder, der dort verkehrte, entweder einen Wert oder einen Namen besaß, denn ein paar besonders erlesene Titel fanden sich unter den geistig Minderwertigen.

Ihr Vater, Herr von Pradon, der die Wohnung über ihr innehatte, diente ihr als Respektsperson und Begleiter. Ein alter, eleganter, geistreicher Kavalier, der, immer in ihrer Nähe, sie mehr als Dame denn als seine Tochter behandelte und den Donnerstagdiners, die in Paris bald bekannt, bald genannt und sehr begehrt waren, präsidierte. Immer mehr Leute wollten vorgestellt sein und wünschten eingeladen zu werden. Man sprach über sie, und manchmal wurden sie, gewissermaßen nach Abstimmung des intimen Kreises, abgelehnt. Geistreiche Redensarten, die dort gefallen, machten in der Stadt die Runde. Junge Schauspieler, Dichter und Künstler traten hier zuerst auf und erhielten gewissermaßen die Weihe für das große Publikum. Langhaarige Kunstjünger, die Gaston von Lamarthe einführte, wurden vom Klavier durch ungarische Violinisten, die Massival gebracht, abgelöst; exotische Tänzerinnen zeigten sich, ehe sie öffentlich im Edentheater und den Folies-Bergères erschienen, dort zuerst.

Übrigens besaß Frau von Burne, die vorsichtig, von ihren Freunden bewacht ward und von ihrer kurzen Gesellschaftszeit unter der Leitung ihres Haustyrannen eine unangenehme Erinnerung behalten hatte, die Klugheit, den Kreis ihrer Bekannten nicht zu sehr auszudehnen. Befriedigt und zugleich in Angst über das, was man etwa über sie sagen und denken konnte, überließ sie sich ihren ein wenig zigeunerhaften Neigungen nur mit der größten bürgerlichen Ehrbarkeit. Sie hielt auf ihren Ruf, vermied Tollheiten, blieb immer tadellos in ihren Ideen, maßvoll in etwaigen Keckheiten und nahm sich in Acht, daß nie der Verdacht irgend einer Liebelei, einer Intrigue, einer Liaison aufkommen konnte.

Alle der Reihe nach hatten versucht, sie sich zu gewinnen, und es hieß, keinem sei es geglückt. Erstaunt gestanden sie es sich untereinander, denn die Männer wollen an die Tugend einer unabhängigen Frau, vielleicht mit Recht, nicht glauben. Eine Legende ging über sie um. Es hieß, ihr Mann hätte im Anfang ihrer ehelichen Beziehungen eine so empörende Brutalität gezeigt und so unerhörte Forderungen gestellt, daß sie ein für alle Mal von der Liebe zu einem Mann geheilt sei. Die Intimen sprachen manchmal darüber. Sie kamen schließlich immer mehr zum Schluß: ein junges Mädchen, das in dem Traum zukünftiger Zärtlichkeiten, in der Erwartung eines beunruhigenden Geheimnisses, mit dem die Vorstellung von etwas Unanständigem und Unsauberem, aber doch so Entzückendem und Auserlesenem verknüpft sein sollte, erzogen ist, müßte ganz erschüttert sein, wenn ihr das wahre Gesicht der Ehe durch einen rohen Kerl enthüllt wird.

Georg von Maltry, der Philosoph für die Welt, lächelte leise und fügte hinzu:

– Ihre Stunde wird schon kommen. Bei solchen Frauen kommt sie immer; je länger sie wartet, desto mehr packt es sie einmal. Bei dem künstlerischen Geschmack unserer Freundin wird sie noch auf einen Sänger oder Pianisten hereinfallen.

Gaston von Lamarthe war anderer Ansicht. Als Romancier, Beobachter und Psychologe, der die Menschen der Gesellschaft studiert hatte, von denen er übrigens sehr treffende ironische Porträts entwarf, behauptete er, die Frauen unfehlbar zu kennen, zu durchschauen. Er klassiftcierte Frau von Burne unter die modernen Entgleisten, deren Typus er in seinem interessanten Roman »Eine von ihnen« aufgestellt. Er zuerst hatte das »neue Weib« gezeichnet, das ganz von seinen hysterischen Nerven abhängt, von tausend widersprechenden Gelüsten, nicht wirklichen Begierden, gequält wird, das von allem enttäuscht ist, ohne es genossen zu haben, dieses Produkt der heutigen Zustände, der Übergangszeit, der Gegenwart, des modernen Romans, dieses neue Weib, ohne Begeisterung, ohne Hingebung, das bald launenhaft wie ein verzogenes Kind, bald blasiert wie ein skeptischer Greis sich gebärdet.

Wie alle anderen, war er mit seinen Verführungskünsten gescheitert.

Alle Intimen des Hauses waren der Reihe nach in Frau von Burne verliebt gewesen, und nachdem die Krise erfolgt, blieben sie doch alle, wenn auch in verschiedenem Maße, ihr ergeben. Sie hatten allmählich etwas wie eine kleine Gemeinde gebildet, eine Sekte, eine Kirche; sie war das Heiligenbild, von dem immer gesprochen ward. Und selbst wenn sie nicht bei ihr waren, unterlagen sie ihrem Reiz. Sie rühmten sie, sie feierten sie, sie kritisierten sie oder waren nicht mit ihr einverstanden, je nach dem Tag, nach der Laune oder Liebenswürdigkeit, die sie gezeigt. Sie waren unausgesetzt eifersüchtig aufeinander, bespähten sich ein wenig und hielten vor allen Dingen zusammen, um auf keinen Fall irgend einen gefährlichen Konkurrenten einzulassen. Es waren sieben Hauptfreunde des Hauses: Massival, Gaston von Lamarthe, der dicke Fresnel, der junge Mode-Philosoph und elegante Gesellschaftsmensch Georg von Maltry, der berühmt war durch seine paradoxen Ideen, seine große Belesenheit, seine Unterhaltungsgabe, der immer auch für seine leidenschaftlichsten Bewunderer unfaßlich blieb durch sein Äußeres wie durch seine Theorien. Zu diesen von ihr ausgesuchten Leuten waren noch ein paar als gescheit bekannte Herren der großen Welt gekommen: Graf Marantin, Baron Gravil und zwei oder drei andere.

Die Bevorzugten dieser Elitetruppe schienen Massival und Lamarthe zu sein, die offenbar die Gabe besaßen, die junge Frau zu unterhalten. Sie mochte ihre künstlerische Ungeniertheit gern, ihre Art zu reden, ihre Geschicklichkeit, sich über jeden Menschen lustig zu machen, sogar, wenn sie es litt, ein wenig über sie selbst. Aber die natürliche oder gewollte Vorsicht, nie einem ihrer Bewunderer eine größere oder auffallendere Bevorzugung zuteil werden zu lassen, unterhielt zwischen ihnen eine Art mit Feindseligkeit gespickter Freundschaft und eine fortwährende geistige Regsamkeit, die sie interessant machte.

Es kam wohl vor, daß einer von ihnen, um den anderen einen Possen zu spielen, irgend einen Freund vorstellte; aber da dieser Freund nie ein sehr bedeutender oder sehr interessanter Mann zu sein pflegte, zögerten die übrigen, die sich gegen ihn verbündet, doch, ihn auszuschließen.

So führte Massival seinen Freund Mariolle ins Haus.

Ein Diener in schwarzem Frack rief die Namen in den Salon:

– Herr Massival!

– Herr Mariolle!

Unter einer Wolke von rosa Seide, einem riesengroßen Lampenschirm, der auf einen viereckigen Tisch aus antikem Marmor das strahlende Licht einer großen Lampe warf, die auf einer hohen, broncenen Säule stand, sah man einen Frauenkopf und vier Männer über ein Album gebeugt, das Lamarthe mitgebracht hatte. Der Romancier stand zwischen ihnen, wendete die Blätter um und erklärte.

Einer der Köpfe drehte sich herum, und Mariolle, der herantrat, sah nun ein helles, blondes, etwas rötliches Gesicht, dessen Härchen an den Schläfen wie Flammen zu brennen schienen. Die feine, etwas aufgestülpte Nase gab den Zügen etwas Lächelndes, der Mund mit den hübsch gezeichneten Lippen, die Grübchen in den Wangen, das etwas vorspringende, geteilte Kinn gaben ihm einen spöttischen Ausdruck, während die Augen in seltsamem Widerspruch dazu etwas Melancholisches hatten. Sie waren blau, von einem matten Blau, das wie gewaschen und poliert aussah, und in der Mitte leuchteten runde, schwarze Pupillen. Dieser eigentümlich strahlende Blick ließ den Gedanken an Morphium aufkommen oder an künstliche Mittel der Belladonna.

Frau von Burne stand auf, streckte ihm die Hand entgegen, bewillkommnete ihn und dankte, daß er gekommen sei:

– Ich hatte meine Freunde lange gebeten, Sie mir doch einmal zuzuführen! sagte sie zu Mariolle, – aber ich muß so etwas immer mehrmals sagen, ehe man es thut.

Sie war groß, elegant, ein wenig langsam in ihren Bewegungen, mäßig dekolletiert, sodaß man kaum den oberen Teil ihrer schönen Schultern sah, deren Teint der Rothaarigen im hellen Licht jetzt wundervoll leuchtete. Und doch waren ihre Haare nicht rot, sondern von jener unbeschreiblichen Farbe, die welkes Laub im Herbst hat.

Sie stellte Mariolle ihrem Vater vor, der ihm die Hand reichte.

Die Herren plauderten in drei Gruppen vereinigt und schienen sich ganz wie zu Haus zu fühlen als wären sie gewissermaßen in ihrem gewohnten Klub, in den die Anwesenheit einer Dame etwas Galantes brachte.

Der dicke Fresnel sprach mit Graf Marantin. Die Beharrlichkeit, mit der Fresnel immer hier erschien, und die Bevorzugung, die ihm Frau von Burne zuteil werden ließ, ärgerte manchmal seine Freunde. Er war noch jung aber schon fett, aufgedunsen, außer Atem; er hatte fast keinen Bart, und auf dem Kopf wuchsen ihm unbestimmt wirre, helle Haare. Da er etwas gewöhnlich und langweilig war, hatte er der jungen Frau gegenüber nur ein Verdienst – in seinen Augen etwas sehr Wichtiges, den anderen aber unangenehm – daß er sie blind liebte, heißer und mehr, als alle anderen zusammen. Man hatte ihn den Seehund getauft. Er war verheiratet, aber nie war davon die Rede, daß er etwa einmal seine Frau mitbrächte, von der man sagte, sie wäre fürchterlich eifersüchtig. Vor allen Dingen waren Lamarthe und Massival empört über die augenscheinliche Sympathie ihrer Freundin für diesen kurzatmigen Kerl. Und wenn sie sich ab und zu nicht enthalten konnten, ihr diesen schlechten Geschmack vorzuwerfen, diesen egoistischen und gewöhnlichen Geschmack, antwortete sie lachend:

– Ich habe ihn gern, wie einen treuen Hund.

Gaston von Lamarthe unterhielt sich mit Georg von Maltry über die neueste, noch nicht ganz sichere Entdeckung der Bazillenforscher.

Maltry entwickelte seine Ansicht mit feiner, unendlicher Überlegung, und der Romancier Lamarthe ging mit Begeisterung darauf ein, mit jener Leichtigkeit, mit der Schriftsteller ohne Kontrolle alles entgegennehmen, was ihnen originell und neu scheint.

Der Philosoph der Gesellschaft war aschblond, schmal und groß, in den Frack eingeschnürt, der in der Taille ganz eng saß. Aus dem weißen Kragen wuchs sein feiner Kopf heraus, bleich, mit glatt anliegendem, blondem Haar, das aussah, als wäre es darauf geklebt.

Lamarthe aber, Gaston von Lamarthe, von dem behauptet wurde, er hätte einigen Adelsstolz und gäbe etwas auf gesellschaftliche Beziehungen, war in erster Linie Schriftsteller; ein unerbittlicher, fürchterlicher Sittenschilderer, mit einem Auge begabt, das die Bilder, die Stellungen, die Bewegungen mit der Schnelligkeit und Genauigkeit eines photographischen Apparates aufnahm, besaß er einen natürlichen Instikt für das Romanmäßige, wie ein Jagdhund. Er suchte von früh bis abends Romanstoffe. Vermöge seiner beiden einfachen Eigenschaften, einer klaren Anschauung der Dinge und einer instinktiven Ahnung dessen, was darunter liegt, gab er seinen Büchern, die nicht in der gewöhnlichen Technik der psychologischen Schriftsteller abgefaßt waren, sondern wie ein Stück zuckenden Menschenleibes aus vollster Wirklichkeit gerissen schienen, Farbe, Ton, Anschauung und Beweglichkeit des Lebens selbst.

Jedesmal, wenn von ihm ein Roman erschien, gab es eine Aufregung in der Gesellschaft, Vermutungen, Heiterkeitsausbrüche, Wutanfälle, denn man meinte immer bekannte Persönlichkeiten, nur leicht maskiert, zu erkennen. Und wenn er durch die Salons ging, blieb förmlich etwas wie Unruhe zurück. Übrigens hatte er einen Band intimer Erinnerungen veröffentlicht, in dem sich viele Herren und Damen seiner Bekanntschaft porträtiert fanden, ohne böse Absicht, aber so scharf und genau, so streng, daß sie alle erbittert waren. Jemand hatte ihn getauft: »Sieh-Dich-für.«

Er besaß eine rätselvolle Seele, ein verschlossenes Herz, und es hieß, er habe früher einmal eine große Leidenschaft für eine Frau gehabt, die ihm viel Leid zugefügt, und räche sich nun an allen anderen.

Massival und er verstanden sich außerordentlich gut, obgleich der Komponist eine ganz andere Natur war. Offener, mitteilsamer, vielleicht weniger von allem gepackt, aber äußerlich empfindlicher. Er hatte zuerst zwei große Erfolge gehabt: eine Oper in Brüssel, die nachher auch in Paris gegeben worden war, wo sie in der Komischen Oper großen Beifall gefunden; dann eine zweite, die sofort von der großen Oper angenommen worden, und von der man sofort der Überzeugung war, daß hier ein großes Talent zu Worte kam. Dann war jener Stillstand über ihn gekommen, der wie eine Lähmung die meisten der lebenden Künstler packt. Sie werden nicht alt in Ruhm und Erfolg wie einst ihre Väter, sondern scheinen im besten Alter die Kraft zu verlieren. Lamarthe pflegte zu sagen: »Heut zu Tage giebt es in Frankreich nur große Männer, die gescheitert sind.«

Massival schien jetzt gerade besonders in Frau von Burne verliebt, und unter den Freunden wurde etwas darüber geredet. Als er ihr nun mit anbetender Miene die Hand küßte, blickten ihn alle an.

Er fragte:

– Kommen wir zu spät?

Sie antwortete:

– Nein, ich erwarte noch Baron Gravil und die Marquise von Bratiane.

– Oh das ist nett, die Marquise. Da werden wir heute abend musizieren.

– Das hoffe ich.

Die beiden, die noch fehlten, traten ein. Die Marquise war vielleicht etwas zu klein, denn sie war ziemlich wohlbeleibt. Sie war geborene Italienerin, lebhaft, mit schwarzen Augen, schwarzen Wimpern, schwarzen Augenbrauen, schwarzem Haar, so dicht gewachsen, daß es auf der Stirn herunterging bis beinah zu den Augen. Sie hatte von den Damen der Gesellschaft die schönste Stimme.

Der Baron war ein eleganter Mann, etwas engbrüstig, mit einem großen Kopf, und ohne sein Cello nicht zu denken. Er war leidenschaftlicher Musiker und ging nur dorthin, wo Musik gemacht wurde.

Es wurde gemeldet, es sei angerichtet. Frau von Burne nahm Mariolles Arm und ließ die Gäste an sich vorbeigehen. Als sie dann als letzte im Salon geblieben waren, warf sie auf ihn, in dem Augenblick, wo auch sie folgen sollten, einen flüchtigen Blick ihrer blassen Augen mit der schwarzen Pupille, einen Blick, in dem er ein größeres Interesse zu finden glaubte, als sonst hübsche Damen für ihren Tischherrn haben, den sie zum ersten Mal sehen.

Das Diner war beinah ein bißchen traurig und einsilbig. Lamarthe war nervös und schien es auf alle anderen abgesehen zu haben. Nicht offen feindlich, denn er hielt auf gute Manieren, aber mit jener undurchdringlichen schlechten Laune umpanzert, die jede Unterhaltung zu Eis erstarren läßt. Massival war nachdenklich, aß wenig und blickte ab und zu die Frau des Hauses verstohlen an, die den Eindruck machte, als wäre sie gar nicht zu Hause. Sie war unaufmerksam, lächelte als Antwort, ward dann sofort wieder ernst. Sie mußte wohl an etwas denken, das sie sehr beschäftigte und das sie an diesem Abend noch mehr in Anspruch nahm, als ihre Freunde. Aber trotzdem gab sie sich Mühe, liebenswürdig zu sein, so weit es nötig war, vor allem gegen die Marquise von Bratiane und Mariolle. Aber das that sie mehr pflichtschuldigst und gewohnheitshalber; man sah, wie ihre Gedanken anderwärts weilten. Fresnel und Herr von Maltry stritten sich über die zeitgenössische Dichtung. Fresnel hatte von der Dichtung die üblichen Ansichten der Gesellschaftsmenschen und Herr von Maltry die unumstößlichsten Ideen über das Gemeine der kompliziertesten Versemacher.

Noch mehrmals, während sie bei Tisch saßen, begegnete Mariolle dem forschenden Blick der jungen Frau, der aber weniger bestimmt, weniger neugierig schien. Nur die Marquise von Bratiane, Graf Maratin und Baron Gravil sprachen ununterbrochen über eine Menge Dinge.

Nach Tisch setzte sich Massival, der immer melancholischer geworden war, an das Klavier und schlug ein paar Töne an. Frau von Burne schien aufzuwachen und stellte sofort ein kleines Programm zusammen aus ihren Lieblingsstücken.

Die Marquise war gut bei Stimme, und angeregt durch die Gegenwart Massivals sang sie wie eine echte Künstlerin. Der Komponist begleitete sie mit jenem melancholischen Gesicht, das er anzunehmen pflegte, wenn er spielte. Seine Haare, die er lang trug, streiften den Kragen seines Rockes, und gingen mit dem gelockten, feinen, leuchtenden Bart zusammen. Er war von vielen Frauen geliebt worden, und sie stellten ihm noch immer nach, wie es hieß. Frau von Burne saß nahe am Klavier, hörte andächtig zu, schien ihn zu gleicher Zeit zu betrachten und doch nicht zu sehen. Und Mariolle ward etwas eifersüchtig. Er war nicht gerade eifersüchtig auf diese beiden, aber in seiner männlichen Eitelkeit fühlte er sich bei diesem Frauenblick auf einen berühmten Mann etwas gedemütigt durch das Gefühl, daß sie uns einschätzen je nach der Berühmtheit, die wir erworben haben. Er hatte schon oft heimlich gelitten unter der Berührung mit Leuten, die sich einen Namen gemacht, wenn er sie in Gegenwart solcher getroffen, deren Gunst für viele die größte Belohnung des Erfolges ist.

Gegen zehn Uhr kamen kurz hintereinander die Baronin Frémines und zwei Jüdinnen der Finanzwelt. Man sprach von einer in Aussicht stehenden Heirat und von einer Scheidung, die wohl erfolgen würde.

Mariolle betrachtete Frau von Burne, die jetzt unter einer Säule saß, auf der eine Riesenlampe stand.

Ihre feine Regennase, die Grübchen in den Wangen und die kleine Fleischfalte, die das Kinn mitten durchschnitt, gaben ihr ein fast kindliches Gesicht, obgleich sie den Dreißig nicht mehr fern war und ihr schon von leisen Fältchen umrahmtes Auge diesem Antlitz etwas beunruhigend Rätselhaftes verlieh. Ihre Haut nahm in dem hellen Licht, das auf sie fiel, die Farbe weißgelben Samtes an, während ihr Haar in rötlichen Lichtern spielte, so oft sie den Kopf bewegte.

Sie fühlte den Blick des Mannes vom anderen Ende des Zimmers aus auf sich ruhen, stand auf und trat lächelnd auf ihn zu, als antwortete sie einem Ruf:

– Sie werden sich langweilen, sagte sie. Wenn man an ein Haus noch nicht gewöhnt ist, langweilt man sich immer.

Er wehrte ab.

Sie ließ sich auf einem Stuhl an seiner Seite nieder, und sofort unterhielten sie sich. Es war auf beiden Seiten wie ein Feuer, das aufflammt, wenn man es mit einem Streichholz berührt hat. Es war, als hätten sie sich schon vorher ihre Ansichten mitgeteilt, ihre Gedanken, als hätten die gleiche Natur, die gleiche Bildung, dieselben Neigungen, der gleiche Geschmack sie dazu veranlagt, sich zu verstehen, und dazu bestimmt, sich zu begegnen.

Vielleicht war etwas Mache von Seiten der jungen Frau dabei. Aber die Freude, jemand zu finden, der einem zuhört, der die Gedanken errät, der antwortet und einen durch seine Antwort wieder zur Antwort reizt, erregte Mariolle. Außerdem fühlte er sich geschmeichelt durch die Art wie er empfangen worden, erobert durch die Liebenswürdigkeit, die sie ihm gegenüber entwickelt und durch den Reiz, mit dem sie die Männer zu umgeben wußte. Und nun gab er sich Mühe, ihr jene etwas verschleierte Nuance seines Wesens, die ihm ganz persönlich und eigentümlich war, zu zeigen, durch die er, wenn man ihn einmal kannte, immer die Sympathie der Menschen gewann.

Plötzlich sagte sie zu ihm:

– Wie gut man sich mit Ihnen unterhält! Übrigens hatte man mir das schon vorher gesagt.

Er fühlte sich rot werden und antwortete sofort:

– Und mir hatte man gesagt, gnädige Frau, daß Sie . . .

Sie unterbrach ihn:

– Sagen Sie nur: kokett sind. Ich bin es mit Leuten, die mir gefallen. Alle Welt weiß das, ich mache gar kein Hehl daraus. Sie werden sehen, meine Koketterie ist ganz unparteiisch. Dadurch bewahre ich mir meine Freunde, oder vielmehr werde ich wieder mit ihnen Freund und verliere ihre Freundschaft nicht, sodaß sie alle bei mir bleiben.

Sie lächelte in einer Art, die zu sagen schien: »Seien Sie nur ganz ruhig. Machen Sie nur nicht die Cour, denn, daß Sie es nur gleich wissen, Sie erreichen bei mir nicht mehr wie alle anderen.«

Er antwortete:

– Sie warnen ja gleich die Leute vor allen Gefahren, die einem hier drohen. Ich danke Ihnen sehr, gnädige Frau, so etwas habe ich sehr gern.

Nun hatte sie ihm die Möglichkeit gegeben von ihr zu sprechen, und er that es. Zuerst machte er ihr Komplimente und stellte fest, daß sie diese gern hörte. Dann erweckte er ihre weibliche Neugier, indem er erwähnte, was man von ihr in den verschiedenen Kreisen erzählte. Sie ward ein wenig nervös dabei, konnte aber doch ihren Wunsch nicht verbergen, es zu erfahren, obgleich sie that, als wäre es ganz gleichgiltig, was man über ihre Lebensführung und ihre Liebhabereien sagte.

Er entwarf ein schmeichelhaftes Bild von ihr, das Bild einer unabhängigen, klugen, überlegenen, verführerischen Frau, die sich mit einem Kreis bedeutender Männer umgiebt und doch vollkommen Weltdame geblieben ist.

Lächelnd wehrte sie es ab, sagte manchmal in befriedigter Eitelkeit: Nein, nein! und amüsierte sich ungeheuer über all die Einzelheiten, die er wußte. Und im Plauderton wollte sie immer mehr erfahren, indem sie weiter und weiter fragte, mit dem Wunsch, Schmeichelhaftes zu hören.

Er dachte, indem er sie anblickte:

»Eigentlich ist sie doch nur ein Kind wie alle anderen.« Und er beendete einen hübschen Satz, in dem er ihre echte Liebe zu den Künsten lobte, die bei einer Frau so selten sei.

Da nahm sie plötzlich einen spöttischen Ton an und sagte in jener scherzenden, französischen Art:

– Mein Gott, ich gestehe Ihnen offen, ich weiß eigentlich nicht, ob ich die Künste liebe oder die Künstler!

Er antwortete:

– Wie soll man die Künstler lieben ohne die Künste?

– Weil sie manchmal amüsanter sind, als die Gesellschaftsmenschen.

– Ja. Aber ihre Fehler sind doch unbequemer.

– Das ist richtig.

– Sie lieben also die Musik nicht?

Sie wurde plötzlich wieder ernst:

– O bitte sehr, ich liebe Musik über alles. Aber Massival ist der Ansicht, daß ich nichts davon verstehe.

– Hat er Ihnen das gesagt?

– Nein. Er denkt es.

– Woher wissen Sie das?

– O, wir Frauen erraten, was wir nicht wissen.

– Also Massival meint, Sie verstünden nichts von Musik?

– Das glaube ich ganz bestimmt. Ich sehe es schon an der Art und Weise, wie er mir etwas Musikalisches auseinandersetzt, indem er jede Kleinigkeit unterstreicht, als wollte er dabei sagen: Ach Gott, es hilft ja doch nichts. Ich thue es nur, weil Sie so nett sind.

– Aber er hat mir doch gesagt, bei Ihnen würde bessere Musik gemacht, als in irgend einem Haus in Paris.

– Ja. Weil er sie macht.

– Lieben Sie die Litteratur nicht?

– O ich liebe sie sehr. Ich bilde mir sogar ein, etwas davon zu verstehen, trotz Lamarthe.

– Der meint wohl auch, daß Sie davon nichts verstünden?

– Natürlich!

– Aber gesagt hat er es Ihnen auch nicht?

– Bitte, der hat mir's sogar gesagt. Er behauptet, es gäbe wohl Frauen, die sich ein richtiges Bild machen von Gefühlen, die ausgedrückt werden, von der Schilderung der Menschen, kurz von der Psychologie, aber daß wir absolut unfähig sind, zu erkennen, was das Wesentliche dabei ist, das Große in der Kunst. Und wenn er einmal das Wort »Kunst« ausgesprochen hat, dann bleibt einem eigentlich garnichts weiter übrig, wie ihn zu bitten, hinauszugehen.

Mariolle fragte lachend:

– Und was denken Sie denn darüber, gnädige Frau?

Sie dachte ein paar Sekunden nach, dann blickte sie ihm gerade ins Gesicht, um zu prüfen, ob er ihr wirklich zuhören und sie verstehen würde.

– Ich habe so meine Ideen darüber. Ich glaube, daß durch das Gefühl, hören Sie, durch das Gefühl dem Geist einer Frau alles offenbar wird, nur bleibt es oft nicht darin haften. Verstehen Sie, was ich meine?

– Nicht ganz, gnädige Frau.

– Ich meine damit, daß, um ebenso zu begreifen wie Sie, müssen wir uns immer erst an unser Weibtum wenden, ehe wir an den Verstand appellieren. Wir interessieren uns kaum für etwas, wenn es uns nicht zuerst durch einen Mann sympathisch gemacht wird, denn wir erfassen alles durch das Gefühl. Ich sage nicht durch die Liebe, nein durch das Gefühl, das sich in allen möglichen Gestalten, Formen, Nuancen manifestieren kann. Das Gefühl ist etwas, das uns zu eigen gehört, das ihr nie genau verstehen werdet, ihr Männer, denn euch ersetzt es der Verstand, während es ihn uns erhellt. O ich fühle, das ist für Sie zu allgemein gesprochen. Aber ich kann es nicht anders sagen. Kurz, wenn ein Mann uns liebt und uns angenehm ist, denn wir müssen uns geliebt fühlen, um aufnahmefähig zu sein, und wenn dieser Mann ein außergewöhnliches Wesen ist, kann er uns, wenn er sich Mühe giebt, alles fühlen, alles verstehen lassen, in alles uns einführen, – in alles – und uns allmählich, stückweise sein Wissen vermitteln. Das geht nachher oft wieder verloren, verschwindet, erlischt, denn wir vergessen, ach Gott, wir vergessen so viel, wie der Wind die Worte wegweht. Wir sind intuitiv, und wir können verstehen, aber wir sind unveränderlich, eindrucksfähig und bestimmbar durch das, was auf uns einwirkt. Wenn Sie wüßten, wie viel verschiedene Geisteszustände in mir leben, sodaß ich manchmal eine ganz andere Frau bin, je nach dem Wetter, der Gesundheit, je nach dem, was ich gelesen habe oder was man mir gesagt hat. Es giebt Tage, an denen ich fühle wie eine ausgezeichnete, brave Familienmutter – ohne Kinder, und andere Tage, an denen ich empfinde wie eine Kokotte – ohne Liebhaber.

Er fragte entzückt:

– Glauben Sie, daß beinah alle klugen Frauen geistig so erregbar sein können?

– Gewiß! Nur schlafen sie ein. Und dann verläuft ihr Leben in irgend einer bestimmten Weise so oder so.

Er fragte weiter:

– Also dann lieben Sie im Grunde die Musik am meisten?

– Gewiß. Aber was ich Ihnen eben gesagt habe, ist so wahr. Ich hätte gewiß nie den Geschmack daran gewonnen, wie ich ihn habe, ich hätte sie gewiß nie so über alles gern gehabt, wie ich sie gern habe, ohne diesen Engel Massival. All den Werken der Großen, die ich schon leidenschaftlich liebte, hat er, indem er sie mich spielen lehrte, erst die Seele eingehaucht. Es ist zu schade, daß er verheiratet ist.

Sie sagte die letzten Worte so lustig, aber mit so großem Bedauern, daß sie alles ausdrückten: ihre Theorien über die Frauen und ihre Bewunderung für bie Kunst.

In der That, Massival war verheiratet. Er hatte, ehe der Ruhm zu ihm gekommen, eine jener Künstlerehen geschlossen, die man nachher die ganzen Ruhmesjahre bis zum Tode wie eine Kette mit sich schleppt.

Übrigens sprach er nie von seiner Frau, brachte sie nie in die Gesellschaft mit, die er viel besuchte und, obgleich er drei Kinder hatte, wußte man das kaum.

Mariolle begann zu lachen. Die Frau war nett, ja, sie war reizend! Etwas ganz Köstliches, Seltenes und Wunderhübsches. Und er blickte sie – er konnte nicht anders – unausgesetzt an. Aber es schien sie weiter nicht zu stören. Er sah dieses ernste und heitere Gesicht mit der kecken Nase von so sinnlichem Reiz, mit dem weichen warmen Blond, von der Mittagshöhe des Lebens so reif, so zart, so begehrenswert gemacht, daß es schien, als wäre sie in dem Jahr, in dem Monat, ja in der Minute ihres vollkommenen Aufblühens begriffen. Er fragte sich: Ist das Haar eigentlich gefärbt? Und er spähte nach der ein wenig helleren oder dunkleren Linie an der Haarwurzel, ohne sie entdecken zu können.

Dumpfe Schritte klangen hinter ihm auf dem Teppich, so daß er zusammenfuhr und sich umdrehte. Zwei Diener brachten den Theetisch. Die kleine Lampe mit der blauen Flamme ließ das Wasser in einem großen, silbernen Kessel leise summen.

– Trinken Sie eine Tasse Thee? fragte sie.

Als er annahm, erhob sie sich und ging, ohne sich in den Hüften zu wiegen, in geradem Gang, der etwas Vornehmes hatte in seiner Steifheit, an den Tisch, auf welchem der Dampf im Leib dieser großen Maschine summte, die mitten zwischen einem Beet von Kuchen, Gebäck, Früchten, Bonbons und Süßigkeiten stand.

Nun hob sich ihr Profil scharf ab von der Tapete, und Mariolle gewahrte die Feinheit der Taille, die schmalen Hüften unter den breiten Schultern und die volle Brust, die er vorhin bewundert. Wie das helle Kleid hinter ihr herglitt, schien es auf dem Teppich den schlanken Körper ins Unendliche zu verlängern, Und er dachte sofort:

»Das ist aber eine Sirene. Bei der ist alles da!«

Nun ging sie von einem zum anderen und bot die Erfrischungen mit unendlichem Liebreiz an.

Mariolle folgte ihr mit den Augen. Aber Lamarthe, der mit der Tasse in der Hand hin- und herging, redete ihn an und fragte:

– Wollen wir zusammen gehen?

– Gewiß.

– Ist es Ihnen recht, gleich? Ich bin müde.

– Gut, gleich.

Sie gingen.

Auf der Straße fragte der Romancier:

– Gehen Sie nach Haus oder in den Klub?

– Ich gehe noch eine Stunde in den Klub.

– In die Tambourins?

– Ja.

– Ich bringe Sie bis hin. Ich langweile mich dort. Ich gehe nie in einen Klub.

Sie hakten sich unter und gingen nach Saint-Augustin hinab.

Nach ein paar Schritten sagte Mariolle:

– Eine seltsame Frau! Was halten Sie von ihr?

Lamarthe begann zu lachen:

– Aha! Jetzt beginnt die Krise. Die Krankheit wird bei Ihnen ausbrechen wie bei uns allen. Ich bin geheilt. Aber ich bin auch krank gewesen, lieber Freund. Die Krise besteht bei ihren Freunden darin, nur von ihr zu sprechen, wenn sie vereinigt sind, wo sie sich treffen, überall und überall.

– Jedenfalls ist es bei mir das erste Mal, und da ist es doch ganz natürlich. Ich kenne sie doch kaum.

– Also gut, reden wir von ihr. Nun passen Sie mal auf, Sie werden sich noch verlieben. Das ist sehr unangenehm, aber jeder muß das durchmachen.

– Ist sie denn so verführerisch?

– Ja und nein. Die, die mehr die Frauen lieben wie sie früher waren, die Frau mit Seele, die fühlende Frau, die Frau wie sie einst in den Romanen geschildert wurde, können sie nicht vertragen. Denen ist sie so unangenehm, daß sie schließlich alle möglichen Niederträchtigkeiten von ihr sagen. Die anderen, wir, die modern denken, müssen zugestehen, daß sie köstlich ist. Allerdings darf man sich nicht an sie hängen, und das thun sie gerade alle. Übrigens stirbt man nicht daran. Die Qual dauert auch nicht lange. Aber man ärgert sich, daß sie nicht anders ist. Wenn sie will, geht es Ihnen auch so. Übrigens hat sie schon die Angel nach Ihnen ausgeworfen.

Mariolle rief als Echo seiner geheimen Gedanken:

– Ach, ich bin für sie der erste beste. Ich glaube vor allen Dingen, sie braucht jemand, der etwas Besonderes ist.

– Ja gewiß. Aber dann macht sie sich auch wieder darüber lustig. Der berühmteste, gesuchteste, vornehmste Mann wird nicht zehn Mal bei ihr erscheinen, wenn er ihr nicht gefällt. Und sie hat sich in geradezu alberner Art an diesen Idioten, den Fresnel und an diesen thörichten Maltry gehängt. Sie freundet sich mit Cretins an. Da giebt es gar keine Entschuldigung. Man weiß auch gar nicht, warum? Vielleicht unterhalten sie sie doch mehr wie wir und lieben sie mehr. Denn das ist bei allen Frauen doch schließlich die Hauptsache.

Und Lamarthe analysierte sie, besprach sie, verbesserte seine Worte, um das Gegenteil wieder zu behaupten. Von Mariolle befragt, antwortete er ganz aufrichtig. Er war von seinem Gegenstand hingerissen, auch ein wenig außer Fassung und voll wahrer Beobachtungen und falscher Schlüsse.

Er sagte: – Übrigens ist nicht sie allein so. Es giebt mindestens fünfzig, wenn nicht noch mehr, die genau so sind. Die kleine Frémines zum Beispiel, die vorhin kam, ist genau so, nur etwas frecher, mit einem seltsamen Menschen verheiratet, sodaß ihr Haus eine der interessantesten Irrenanstalten von Paris ist. Dort gehe ich auch manchmal hin.

Ohne zu überlegen, waren sie den Boulevard Malesherbes, die Rue Rivoli, die Avenue des Champs-Élysées hinuntergegangen und kamen nun an den Arc de Triomphe. Da zog Lamarthe plötzlich die Uhr:

– Lieber Freund, – sagte er, – jetzt sprechen wir schon seit einer Stunde und zehn Minuten von ihr. Das ist für heute genug. Ich bringe Sie ein anderes Mal bis an Ihren Klub. Gehen Sie nun schlafen, und ich thue desgleichen.



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