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Unter der Pflege einer treueren Amme, einer ehrlichen braunen Fellachin, war Hypatia ein Jahr alt geworden und zum Geburtstag hatten sich viele Kollegen Theons und viele Beamte aus der Stadt mit hübschen und kostbaren Geschenken eingefunden. Das Patenkind des Kaisers, da es so schön und ernst und glücklich in seiner Wiege lag, wurde wie eine Prinzessin bedacht. Auf das Wort des Kaisers hin hatten griechische Hexen und ägyptische Pfaffen, sowie jüdische Kabbalisten dem kleinen Fratzen eine glänzende Zukunft vorausgesagt. Da war keiner unter den Gratulanten, welcher nicht an die Zauberei seiner Religion oder an die Macht des Kaisers Julianos geglaubt hätte. Und so erhielt die kleine Hypatia hundert Gaben, die sie nicht verstand, darunter viele geheimnisvolle Mittel gegen Krankheit und Not, Amulette, welche so ein Glückskind doch niemals brauchen konnte. Und die Blüte der heiligen Lilie, welche der Philosophenstorch mühsam genug aus dem innersten Gärtlein des Ammontempels für das Kind geholt hatte und welche er ihr nach einem Fluge von vielen Meilen bei Sonnenaufgang durch das Fenster vor die Wiege warf, wurde von achtlosen Männern zertreten.
Auf seinem mächtigen Fluge nach der heiligen Lilie erfuhr der traurige Marabu schlimme Neuigkeiten von anderen weitgereisten Vögeln, von Adlern und Geiern. Doch er mußte schweigen, denn man hätte ihm doch nicht geglaubt. So saß er denn Tag und Nacht trübselig da und verschmähte die leckersten Fische. Sechs Wochen später kam das schreckliche Gerücht zu Fuße nach Alexandria, so unsicher und ängstlich freilich, daß die Parteien der Stadt stumm und tatenlos sich gegenüberstanden. Kaiser Julianos sei tot!
Wieder vier Wochen später war es kein Gerücht mehr. In der glühenden Wüste jenseits des Tigris hatte sich das römische Heer aufgerieben im Kampfe gegen die feindliche Natur. Julianos war vielleicht ein guter Soldat gewesen, ein großer Feldherr war er nicht. Oder die Perser mußten aus der Umgebung des Kaisers beraten gewesen sein. Nichts gelang, nirgends stellte sich der Feind zur Schlacht, Armee und Volk von Persien mit allem Vieh und allen Vorräten zogen tiefer und tiefer ins Innere des Landes und ließen das kaiserliche Heer allein in einer Wüste. Wo eine Stadt eingenommen wurde, da schlugen wenige Stunden später die Flammen an allen vier Enden empor.
Und dann kam der furchtbare Tag im Engpaß, wo der Kaiser bei der Nachhut überfallen wurde, wo er wie ein Rasender der Überzahl entgegenritt und mitten im Gedränge von der Seite den tödlichen Schuß empfing. In der Todesnot hatte der gelehrte Libanios ausgehalten neben ihm, und sein Bericht verkündete der Welt die letzten Worte des letzten römischen Kaisers. Das hervorquellende Blut wollte Julianos mit der rechten Hand zurückhalten, bald aber warf er es dem Himmel entgegen, als wollte er sich selbst dem Zorn des neuen Gottes als Menschenopfer darbieten. Dann sank er zurück, graue Todesblässe überzog sein Antlitz und er flüsterte: »Galiläer, jetzt hast du gesiegt.«
Libanios fügte seinem Berichte verdammende Worte über die Mörder seines Herrn hinzu.
Ein neuer Kaiser stieg auf den Thron und bald wieder ein neuer. Doch in Alexandria hörte man nur ihre Namen und fragte immer nur noch nach den Mördern des Kaisers Julianos. Es hieß, der König von Persien hätte demjenigen seiner Soldaten, der sich rühmen könnte, den römischen Kaiser getroffen zu haben, ein Vermögen versprochen. Aber kein Perser machte sein Recht geltend. Man erzählte, der erste Schuß des Treffens hätte dem Kaiser gegolten, und dort, woher der Schuß kam, standen keine Perser. Zwei Tage lang wagte der Erzbischof von Alexandria nicht sein Haus zu verlassen. Denn der Pöbel drohte ihn zu steinigen und nannte ihn laut den Mörder des Kaisers. Doch wieder kam aus Konstantinopel ein Schiff, mit Gold für die Kirche von Alexandria und mit neuen Verordnungen, welche den Kaiser Julianos einen Abtrünnigen und Gotteslästerer nannten. Da zog der Erzbischof frei vor allem Volk in seine Kathedrale und las ein Hochamt; der Pöbel von Alexandria stand am Wege und verhöhnte die armen Soldaten, die nun aus dem unglücklichen Feldzuge heimkehrten, krank und in Fetzen, Krüppel und Invaliden.
Einer von den rückkehrenden Soldaten, der degradierte Fahnenträger eines Reiterregiments von der Donau, beichtete lange im Privatzimmer des Erzbischofs Athanasios. Man kannte ihn nicht, nicht ihn und nicht das fürstliche blonde Weib an seiner Seite; aber man nannte ihn den Mörder des Kaisers und wollte ihn nicht dulden in der Stadt. Der alte Fähnrich aber warf stolz die schwarzen Flechten in den Nacken, strich sich trotzig den geflochtenen Schnurrbart und betete in allen Kirchen und suchte sich ein Heim für das Weib, das er irgendwo in Germanien erbeutet hatte. Er fand endlich ein Obdach in dem verlassenen Gespensterhaus, einem burgartigen Bau, hinten an der Stadtmauer, zwischen den ägyptischen Museumsanlagen und den Friedhöfen, zwischen dem Serapeum und der Totenstadt.
Was der Marabu vor ihrem Fenster klapperte und was der Vater vor ihrer Wiege traurig immer wieder sagte: »Galiläer, du hast gesiegt!« das schien der kleinen Hypatia gleich drollig. Denn sie lächelte, wenn der Vater neben ihr stand, und sie lachte, wenn der Philosophenstorch durch das offene Fenster ungeschickt zu ihr hineinspazierte, um ihr die Zeit zu vertreiben.
Es war einsam geworden in der Akademie seit dem Tode des Kaisers. Monatelang ängstigten sich die Professoren vor dem Übermut des Erzbischofs Athanasios, und auch später, als von Konstantinopel der Befehl gekommen war, nichts an dem Bestehenden zu ändern, die strenge Weisung, die heidnischen Lehrer der Hochschule auf den Aussterbeetat zu setzen, sie aber zunächst im ungekränkten Genuß ihrer Stiftungen zu belassen, da blieb es einsam und still in den Zellen und auf den Höfen der berühmten Schule. Drüben das neu erhöhte und vergoldete Kreuz der Kathedrale überragte nun das Dach der Sternwarte.
Gerade unter der Sternwarte hatte Professor Theon seine kleine Dienstwohnung. Der Mathematiker war sein Flurnachbar. Theon lebte und schlief in seiner Arbeitsstube; sein Wohnzimmer hatte er dem Kinde und der Pflegerin überlassen, der braunen Fellachin.
Noch ein anderes junges Menschenwesen lebte dort, wenige Schritte von der kleinen Hypatia. Isidoros, ein siebenjähriger Junge, ein hochaufgeschossener, brauner, schwarzhaariger, langarmiger Spatzenschreck, durfte im Vorzimmer des Mathematikers hausen, schlafen oder studieren, leben oder sterben. Niemand wußte so recht, wem dieser scheue und doch wieder rücksichtslose Knabe gehörte. In den Gesindezimmern der Akademie erzählte man sich darüber eine wüste und unwahrscheinliche Geschichte. Ein ägyptischer Priester, der ja zur Ehelosigkeit verurteilt war, sei der Vater, eine Nonne, eine Verwandte des erzbischöflichen Sekretärs, sei die Mutter. Ägyptisches und syrisches Blut, eine nette Mischung! Das Kind sei vor dem erzbischöflichen Palais ausgesetzt gewesen, aber als es dem Verhungern nahe war, von irgendeiner gutmütigen Dienstmagd in seinem Weidenkorbe nach der Akademie herübergebracht worden. Und die Anatomiediener behaupteten, Isidoros sei eigentlich schon tot und ihnen verfallen gewesen; man habe den Knaben künstlich zum Leben gebracht. Genug, für das Waisenkind fand sich in der kleinen Stadt, welche die Akademie hieß, zwischen weltentrückten Lehrern und einer reichlich besoldeten Dienerschar ein Plätzchen zum Weiterwuchern. Wie das Unkraut zwischen den Steinen in den Ecken der Höfe, so schoß er auf, genährt und gestoßen wie die halbwilden Hunde auf diesen Höfen. Und wenn niemand wußte, in wessen Obhut Isidoros aufwuchs, wer ihn kleidete und wer ihm Unterricht erteilte, so fragte der Knabe am wenigsten danach. Zur Mittagszeit aß er etwas an der Schwelle, welche die nächste war, schlechte Kleider erhielt er mehr, als er völlig zu Fetzen tragen konnte, und seine Kenntnisse, ja, um seine Kenntnisse war es eine seltsame Sache.
Als Isidoros etwa fünf Jahre alt war, verbreitete sich plötzlich in der ganzen Akademie die Nachricht, er sei ein Wunderkind. Zwei Professoren, Theon und der Mathematiker, hatten ihn beobachtet, wie er den Sandweg am Springbrunnen des dritten Hofes dazu benutzte, um die geometrischen Linien einer schwer zu berechnenden Mondfinsternis grob, aber richtig mit einem Stäbchen nachzuzeichnen. Man staunte und forschte und es kam heraus, daß der kleine Junge womöglich alle mathematischen und astronomischen Vorlesungen durch die offenen Fenster oder drinnen im Saale selbst, hinter einem Wandpfeiler versteckt, mit angehört hatte und unter den ordentlichen Schülern schon lange als ein närrischer Weisheitsschatz galt. Eine nähere Untersuchung ergab, daß Isidoros alle die verzwickten Formeln und langen Zifferreihen nur auswendig wußte, daß er ihren inneren Zusammenhang mitunter ungefähr ahnte, gewöhnlich aber gar nicht verstand.
Auf Wunsch des alten Mathematikers wurde Isidoros in die Kinderschule gesteckt. Dort verschlang er mit glücklicher Gier binnen vier Monaten, womit die anderen Schüler sich jahrelang abplagten. Seit dieser Zeit eben durfte er im Vorzimmer des Mathematikers schlafen, und sogar an den Kaiser nach Konstantinopel ging ein Bericht über das Wunderkind ab. Und wirklich setzte eine der Prinzessinnen eine kleine Stiftung für den Knaben aus. Er sollte gute christliche Bücher zum Geschenk bekommen und zu einem Streiter für den neuen Glauben erzogen werden. Weiter reichte die Stiftung freilich nicht.
So war der Flurnachbar des schönen kleinen Heidenkindes; aber er bekümmerte sich um Hypatia weder im Guten noch im Bösen.
Diese wuchs trotz der Nähe ihres Vaters nicht gerade in gelehrter Gesellschaft auf. Ihre Amme führte das kleine Hauswesen weiter und war für das Kind die einzige Beschützerin und Erzieherin. Der gute Marabu gewöhnte sich, seine müßige Zeit bei Hypatia zuzubringen; aber in seinem Wesen lag mehr Betrachtung als Belehrung, und überdies verstand sie sein Klappern noch nicht, denn sie hatte noch keinen Schulunterricht genossen. Der Vater selbst liebte sein Kind über alles, aber er sah es fast nie, höchstens einige Minuten des Morgens, wenn er der Fellachin das viele Geld für den Hausstand übergab und sich darüber wunderte, daß die Amme ihm dabei immer über die Schlechtigkeit der Marktweiber klagte. Er nannte das: mit der Wirtschafterin rechnen.
Diese Art der Hauswirtschaft gedieh der kleinen Hypatia nicht eben zum Schaden. Die Fellachin war immer in der Lage, das süße Kind mit allerlei Leckerbissen zu verwöhnen, für seine Kleidung die feinsten Gewebe einzukaufen und es von Zeit zu Zeit durch die Zaubermittel der Priester und der alten Weiber vor Krankheit zu bewahren.
Wirklich wuchs Hypatia so heran, ohne daß ihr gelehrter Vater jemals durch eine Sorge um das Kind gestört wurde. Hypatia stand in ihrem siebten Jahre, als dieses Leben die erste Änderung erfuhr. Es war in einer warmen und klaren Maiennacht und Professor Theon hatte die Zuverlässigkeit eines neuerfundenen Meßinstruments auf der Sternwarte geprüft. Es war ihm wieder einmal gelungen, einen Irrtum des Ptolemaios festzustellen, einen Rechenfehler in der Umlaufszeit eines Planeten. Noch vor Sonnenaufgang kehrte er in seine Wohnung zurück und war recht überrascht, als er da in Wolken von Räucherwerk zankende alte Hexen und Pfaffen vorfand.
Hypatia war gegen Mitternacht auf den Tod erkrankt, und die Fellachin hatte sich nicht anders zu helfen gewußt.
Theon trat an das Bettchen des Kindes, das mit glühenden Wangen im Fieber lag, sein schwarzes Wunderauge starr nach der Zimmerdecke richtete und den Vater nicht kannte. Theon blieb eine Weile hilflos vor Überraschung und Jammer, dann suchte er einen Kollegen von der medizinischen Fakultät auf, mehr um seine Not zu klagen als um Hilfe zu erbitten. Denn die Mathematiker betrachten die Medizin als eine unkontrollierbare und unzuverlässige Wissenschaft. Der Arzt aber, der das schöne Kind vom Hofe der Akademie her wohl kannte, begleitete Theon sofort in dessen Wohnung zurück. Dort gab es einen heftigen Auftritt. Die Zauberer wurden endlich zu allen Teufeln gejagt, und die Amme versprach unter Tränen, sich allen Anordnungen des Arztes zu fügen.
Nach fünf sorgenvollen Tagen und Nächten wurde das Kind für gerettet erklärt. Aber Theon, der hilflos und fremd unaufhörlich neben dem Krankenbettchen saß, erfuhr zu seinem Kummer, wie sehr das geistige Leben des Mädchens bisher vernachlässigt worden war. Natürlich konnte sie nicht lesen und nicht schreiben. Aber nicht einmal ordentlich griechisch sprechen konnte sie, die Tochter des griechischen Weisen, das Patenkind des Kaisers. Mit der Amme hatte sie immer in der ägyptischen Mundart geplaudert, ebenso mit ihren Spielkameraden, und für den Vater und dessen Morgengruß hatten ein paar Dutzend griechische Worte genügt. Anstatt homerischer Verse wußte sie nur ein paar ägyptische Auszählsprüche auswendig. Und der gelehrte Professor mußte die verhaßte Mundart sprechen, um sich seinem kranken Kinde verständlich zu machen.
Während Hypatia sich nur langsam von der schweren Krankheit erholte, besprach der müßige Theon mit dem Arzte, mit seinem Flurnachbar und mit anderen Kollegen, wie sein Hauswesen nach den Grundsätzen einer vernünftigen Erziehungslehre umzugestalten wäre. Da sollte eine zuverlässige und gebildete Gesellschaftsdame gewonnen, da sollte für das Kind ein geeigneter Lehrer gefunden werden. Als der Arzt aber nach einigen Wochen Hypatia, die schon längst ungeduldig geworden war, für vollkommen hergestellt erklärte und sie aus seiner Behandlung entließ, nahm Theon aufatmend das neue Meßinstrument wieder zur Hand, um die Rechnung jener warmen Maiennacht zu Ende zu führen.
Der unermüdlich fleißige Isidoros hatte sich kurz bis vor ihrer Erkrankung ganz und gar nicht um seine Nachbarin gekümmert. Sein Studium duldete überhaupt keine Spielgenossen, und Mädchen verachtete er doch gar zu sehr, um von so was Notiz zu nehmen. Ein unwissendes Kind und dazu noch sechs Jahre jünger als das Wunderkind der Akademie. Aber kurz vor Hypatias Erkrankung war in dem flegelhaft aufgeschossenen Wunderknaben eine ernste Veränderung vor sich gegangen.
Seitdem er die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, war aus dem wißbegierigen Jungen ein unersättlicher Bücherwurm geworden. Die Professoren plauderten mit ihm, die älteren Studenten ließen sich von ihm bei ihren Arbeiten helfen; aus alledem wie aus dem ungeordneten Besuche der Vorlesungen hatte sein Hochmut Nahrung gesogen. Nur in den Räumen der Bibliothek, unter den unerschöpflichen Bücherschätzen hatte er noch Neues zu lernen gehofft.
Sein eigentlicher Leiter sollte ein alter Mönch sein, der etwa dreißig Jünglinge zu Geistlichen oder Mönchen erzog. Was aber hier gelehrt werden durfte, das wußte Isidoros besser als sein Lehrer, und so waren Mönch und Knabe froh, wenn sie einander nicht sahen. Ohne Führer, ohne Freund hatte der Wunderknabe sich selbst einen einfachen Lehrgang entworfen. Er hatte sich die Aufgabe gestellt, sämtliche zweimalhunderttausend Bücher der Bibliothek durchzulesen. Plötzlich kam zu der Lernwut auch die Eitelkeit. Mit den seltensten Büchern, mit ungeheuren Folianten, hatte er sich breit in die große Halle gesetzt, als wollte er Studenten und Professoren herausfordern. Durchreisenden Fremden, welche die Bibliothek besichtigten, war der Junge gezeigt worden. Pedantisch gekleidet wie ein alter Schulfuchs, eitel wie ein junger Zirkusreiter, so sollte Isidoros dreizehn Jahre alt werden, in demselben warmen Monat Mai, in welchem Hypatia erkrankte.
Um diese Zeit fing der junge Gelehrte zu denken an. Es kam über ihn die Ahnung, daß die unzähligen Dinge, die er gelernt hatte, einander widersprachen. So konnten doch nicht alle Autoritäten gleich gut sein! Alle Lehrer der Akademie hatten ihn unterrichtet, aber keiner hatte ihm von den Rätseln gesprochen, die ihn jetzt zu umgeben begannen. Isidoros sehnte sich nach einem Führer, nach einem Freund. Am liebsten hätte er sich von einem hundertjährigen Priester an der Hand nehmen und willenlos lenken lassen.
In diesem Zustande seiner Seele war es, daß Isidoros eines Tages, eben am ersten Mai, kurz vor Sonnenuntergang in der Halle des zweiten Hofes saß und las. Nicht weit von ihm spielten kleine Mädchen zuerst Ringelringelrosenkranz und dann Verstecken. Es störte ihn nicht einmal. Plötzlich schoß eines der Kinder wie ein Windspiel um ein Gebüsch von Rosenlorbeer herum auf ihn zu und duckte sich, schelmisch lächelnd, hinter seinem großen Folianten nieder.
»Nicht mucksen!« sagte das Mädchen.
Isidoros wollte im ersten Augenblick das Kind fortstoßen; dann wollte er würdevoll mit seinem Folianten einen stilleren Platz aufsuchen; endlich entschloß er sich herablassend, wie es seinem höheren Alter geziemte, das kindische Spiel zu beobachten. Doch auch das vermochte er nicht. Was zwischen seinen Knien und dem Folianten kauerte ...ja, was war denn das? Warum schien es ihm eine Offenbarung, daß die kleine Hypatia vom Laufen erhitzt schwer atmete, daß sie vertrauend und doch ängstlich zu ihm aufblickte? Ja, war denn das Wirklichkeit? Gab es solche Augen auf der Welt? Augen waren doch sonst nur blöde, gerötete, blinzelnde Schlitze, durch welche der menschliche Geist Buchstaben sehen konnte. Und diese Augen...
Isidoros konnte nicht begreifen, warum aus seinen eigenen blinzelnden und geröteten Augen Tränen hervorschossen. Um sich Haltung zu geben, legte er die zitternde Hand auf des Mädchens Locken und sagte recht freundlich:
»Du bist die kleine Hypatia?«
»Ja, die Prinzessin. Sie sagen es bloß, um mich zu necken; aber ich bin wirklich das Patenkind des Kaisers, und wenn ich groß bin, bekomme ich ein goldenes weißes Kleid.«
Die Kinder wurden bald nach Hause gerufen. Es war dunkel geworden und Isidoros saß noch lange in der Halle. Das große Buch lag auf der Erde, und er träumte. Noch niemals, seitdem er denken konnte, hatte er so geträumt. Noch niemals hatte er in müßigen Stunden an etwas anderes gedacht als an Lehrer und Schriftsteller, an Aufgaben und ihre Lösungen. Heute war etwas Neues über ihn gekommen, etwas, was wie Phantasie aussah und ihn zwang, an Menschen zu denken und noch dazu an das Kind mit den schwarzen Wunderaugen, an das Patenkind des Kaisers, an die verwunschene Prinzessin. Vielleicht war Julianos nicht tot, vielleicht war er der Mann, der die Zweifel lösen und der nach seiner Rückkunft Philosophie und Glauben versöhnen konnte. Vielleicht nahm einst Kaiser Julianos den gelehrten Isidoros bei der Hand und führte ihn in einen glänzenden Tempel, wo in Flammenbuchstaben auf goldenen Blättern das Geheimnis der Welt enthüllt wurde, vielleicht gab Kaiser Julianos dem gelehrten Isidoros die Prinzessin zur Frau und machte ihn zum Cäsar und zum Imperator.
Isidoros verbrachte die Nacht mit Schluchzen und wand sich in Krämpfen, und er sah noch häßlicher aus als sonst, als er mit Sonnenaufgang wieder in die Halle trat und wartete, daß Hypatia erschien. Heute hielt er eine Liebestragödie des Euripides in den Händen; er las sie und erschrak über sich selbst, weil er sich mit keinem Gedanken um die Grammatik und um die Ausleger bekümmerte, sondern nur um die süße Sprache und den holden Inhalt der Verse.
Isidoros hatte niemanden, mit dem er von seinen neuen Schmerzen hätte sprechen können, und auch die Prinzessin ließ er nichts ahnen, er sprach kein Wort mit ihr und schreckte sie mit seinen bösen Augen von sich, wenn sie in seine Nähe kam. Aber lange konnte er ihren Spielen zuschauen, und bei Nacht schlich er wohl vor ihr Fenster und beneidete den frechen Marabu, der über ihrer Kammer sein Junggesellennest gebaut hatte und die Nacht über auf einem Beine Schildwache stand, und wenn die Sonne aufging und Isidoros heimlich in seine Wohnung schleichen wollte, den Schnabel ganz spöttisch verzog.
Kein Lehrer und kein Schüler ahnte, was in der Seele des Isidoros vorging, als Hypatia nun bald darauf wieder erkrankte. Kein Schlaf kam in seine Augen, und in einem finsteren Keller der Akademie vollführte er Totenbeschwörungen, um das Leben des Kindes beschützen zu helfen, heimlich bezahlte er in den Kirchen der ägyptischen Götter Fürbitten für eine kranke Prinzessin und hatte den Eid geschworen, keine Nahrung über seine Lippen zu bringen, bevor Hypatia gerettet war.
Als das Patenkind des Julianos endlich wieder auf dem Hofe erschien, durchsichtige Blässe auf den Wangen, die Wunderaugen noch erweitert, groß, schlank geworden, wie eine richtige Prinzessin, und als sie plötzlich, weil sie müde war oder sich so verwandelt hatte, mit ihren Altersgenossen nicht mehr spielen wollte, da meldete sich Isidoros zum Amte eines Lehrers der Kleinen. Linkisch und lächerlich trat er vor Theon hin und setzte altklug auseinander, wie er zu alt zum Schüler und zu jung zum Professor sei, und wie es ihm gut tun würde, sich zum ersten Male in der Unterweisung der kleinen Hypatia zu üben. Isidoros wurde noch bleicher als sonst, als sein Antrag ohne jeden Widerspruch aufgenommen wurde und als gar Hypatia auf den Ruf des Vaters hereintrat.
»Hypatidion,« sagte der Profefsor mit liebevoller Zerstreutheit, »du bist nun in dem Alter, wo auch ein Mädchen in die Schule gehen soll. Möchtest du lesen und schreiben lernen?«
»Nein!«
»Warum nicht, Hypatidion?«
»Die lesen und schreiben können von den Mädchen, sind ebenso dumm wie ich und patzig dazu.«
»Was für ein Ausdruck, Hypatidion?«
»Na ja, sie haben sich so. Und überhaupt, ich will nicht in die Schule gehen, da ist es erbärmlich gräßlich.«
»Hypatia,« sagte da Isidoros und seine Stimme zitterte, »möchtest du bei mir in deiner Stube oder im Garten etwas lernen?«
»Bei dir? Lernen ja! Du siehst nicht aus wie ein Lehrer.«
Seit diesem Tage war Isidoros der Lehrer der kleinen Hypatia. Niemand kümmerte sich um sie, auch der eigene Vater nicht. Ganz allein Isidoros erfuhr, daß in der Akademie ein neues Wunderkind heranwuchs. Aber Hypatia war anders als er. Er war dreizehn Jahre alt und hatte noch niemals »warum« gefragt. Er hatte mit seinen Gedanken die Abgründe über und unter der Erde durchmessen, hatte alle Dichter und Götter kennen gelernt, hatte die Bücher der Kritiker und Atheisten gelesen und hatte sich nacheinander den Dichtern und Göttern, den Kritikern und Atheisten unterworfen und hatte niemals »warum« gefragt. Und dieses kleine Wundermädchen mit den furchtbaren schwarzen Augen hatte in der ersten Minute der ersten Unterrichtsstunde »warum« gefragt, als Isidoros ihr ein A auf die Tafel aufzeichnete und behauptete, das heiße A. »Warum?«
Selige Stunden! Selige Jahre!
Binnen kurzem hatte man sich daran gewöhnt, den gelehrten Isidoros täglich bei gutem Wetter mit seiner kleinen Schülerin in der Lorbeerlaube des ersten Hofes sitzen zu sehen. Nur dem Lehrer und der kleinen Schülerin wurde ihr Umgang nichts Altgewohntes, nichts Alltägliches. Isidoros wußte nicht, wie man Kinder unterrichtete. Er hatte es nicht gelernt und es den Professoren nicht abgesehen. Doch wenn er es auch gekonnt hätte, das Patenkind des Kaisers ging seinen eigenen Weg. Sie wollte alles wissen und nichts ohne Zusammenhang. Es dauerte zwei Jahre, bevor sie geläufig lesen und schreiben konnte, aber da hatte sie auch schon zugleich eine Welt in ihrem kleinen Kopfe. Sie malte keinen Buchstaben hin, ohne nach der Bedeutung des Zeichens zu fragen, und nach seiner schönsten Form und nach seiner Geschichte. Isidoros mußte sich abquälen wie ein junger Professor, um der Kleinen das ABC so beizubringen, wie sie es lernen wollte. Wonach niemand forschte, das verlangte Hypatia zu wissen, und Isidoros hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ihr jemals mit einem »Das weiß ich nicht« gegenüberzustehen. In seinen Büchern und bei ägyptischen Geistlichen lernte er nach, was ihm noch fehlte, um den Wissensdurst des Kindes zu befriedigen. Mit ganz neuen Kenntnissen ausgestattet, betrat er die Laube oder das Stübchen, und wie ein Spielgenosse kramte er aus, was er mitgebracht hatte. Das hieroglyphische Zeichen, aus dem der griechische Buchstabe geworden war, und die lateinische Form, die er jetzt bei den Römern angenommen hatte. Das war ein köstliches Spiel, die drei Schriften nacheinander zu malen, zu lesen und zu schreiben und dann wohl auch hinauszugehen in die Totenstadt, dort Blumen zu pflücken und zu zerpflücken und Inschriften zu buchstabieren und darüber zu plaudern, welchen Unsinn die Ägypter von ihren Göttern glaubten, oder hinüber zu laufen zu den beiden großen Obelisken hinter dem Hause der Hafenpolizei und darüber zu sprechen, wie die alten ägyptischen Könige vor der griechischen Zeit diese Steine aufgerichtet hatten als Herren der Welt, und wie sie dann doch von uns Griechen besiegt worden waren. Es war köstlich, vier Wochen lang an dem Delta herumzumalen und sich über die Weisheit zu wundern, mit welcher der Erfinder der ägyptischen Schrift dafür gesorgt hatte, daß man sich bei dem Buchstaben Delta auch etwas denken konnte. Es war köstlich, bei dieser Gelegenheit die Wunder des Nils zu vernehmen, die Märchen von seinem Schwellen und Sinken, von den Göttern, die ihn aussandten, das Land zu befruchten, von dem Nil mit seinen sechzehn Kindern, die alle nicht lesen und nicht schreiben konnten und doch so herzige Bengel waren, und in deren Fülle so schöne Geheimnisse verborgen lagen, daß Isidoros stundenlang sprechen und Hypatia stundenlang hören konnte, beide ohne zu ermüden. Das war eine Schule! In der einen Ecke des Rohrsofas saß Isidoros und hielt seine kranken Augen still und gezähmt auf das Kind gerichtet und sprach und sprach, was er für sie allein gelernt hatte, und in der anderen Ecke saß zurückgelehnt die kleine Prinzessin und suchte mit ihren großen Augen alles in sich aufzunehmen, wie sie das Sonnenlicht mit ihnen einzusaugen schien. Wenn sie eines ihrer ewigen »Warum« dazwischen zu werfen hatte, so sprang sie auf und stellte sich vor den Lehrer hin und zog das Kleidchen über das Knie herunter und stemmte die Händchen in die Seite und fragte: »Wie das? oder »Warum?« oder sie rief gar: »Das glaub' ich nicht!« und dann sprang der Lehrer auf und drohte sie zu strafen, und sie lief um den Tisch herum und klatschte in die Hände und rief in einem fort: »Das glaub' ich nicht, das glaub' ich nicht!« Bis er die Schiefertafel ergriff und ihr, was er gesagt, aufzeichnete oder aufschrieb; dann legte sie wohl nachdenklich die Schiefertafel auf den Teppich und warf sich längelang davor nieder und stützte ihr Köpfchen in beide Hände, daß die schwarzen Locken zur Rechten und zur Linken zwischen den Fingerchen niederflossen, und prüfte und las stumm und aufmerksam, bis sie endlich ruhig wieder aufstand und dann nichts sagte als: »Weiter!« Da war Isidoros glücklich und erzählte ihr wohl zur Belohnung ein schönes Schiffermärchen aus der Heimkehr des Odysseus, damit sie nur endlich einmal befriedigt war und nicht »warum« fragte.
Niemals, so oft er auch drohte, hatte Isidoros seine Schülerin geschlagen. Niemals hatte er die Prinzessin zu berühren gewagt. Aber die Schiefertafeln, die sie beim Unterricht zerbrochen, die abgenutzten Griffelstumpfe trug er sorgsam in seine Kammer und hütete sie dort als seinen einzigen Schatz. Ein seidenes Haarband, das sie einmal aus den Zöpfen verloren, hatte er gestohlen, und wenn sie nach ihrer Gewohnheit auf dem Teppich lag und ihre Augen auf die Tafel richtete, während sie mit dem kleinen Zeigefinger über die Linien fuhr und dann wieder den Kopf aufstützte, um die Locken zurückzuhalten, welche die Tafel verfinsterten, da stand er wohl neben ihr mit scheuen Blicken und flüsterte unhörbare Worte und streckte die rechte Hand in die Luft, als wollte er sie baden im Luftkreis der kleinen Prinzessin.
Fünfzehn Jahre war Isidoros alt, als er auf den Höfen der Akademie seine erste Rauferei hatte. Ein Christenknabe hatte Hypatia mit dem Kaiser Julianos geneckt und ihr durch Schimpfworte Tränen in die Augen getrieben. Da hatte sich Isidoros auf ihn gestürzt, gerade wie ein wildes Tier, daß niemals wieder ein Wort gegen das Patenkind des Kaisers gewagt wurde, obwohl Isidoros bei der Prügelei den kürzeren zog und mit blutiger Nase liegen blieb.
Hypatia lachte nicht, als er zur nächsten Stunde mit geschwollenem Gesicht hereintrat. Sie fingen jetzt miteinander das Rechnen an, und Hypatia war wißbegierig wie noch nie. Das war ein Lehrer! Das gewöhnliche Rechnen brauchte nicht mehr getrieben zu werden. Das hatte das Kind beim Lesen und Schreiben längst nebenbei geübt. Jetzt konnte man gleich die Zeichnereien des Vaters verstehen lernen. Das Schwerste verlangte und begriff sie zuerst. Denn warum 2x2=4 war, das konnte ihr Isidoros doch nicht erklären. Wie aber die Höhe der Obelisken berechnet wurde und die Höhe der Sterne und die Mondfinsternis, und nach welchen Zeichen die Schiffer sich richteten, um sich auf dem weiten Ozean nicht zu verirren, das war so schön und so leicht, daß Hypatia lachen mußte, als sie hörte, die Professoren beschäftigten sich damit.
Sie legte sich jetzt nicht mehr auf den Teppich nieder, auch saßen sie nicht mehr auf dem Sofa. Ordentlich rechts und links von einem Tischchen trieben sie ihre Studien, und Isidoros drohte nicht einmal mit Schlägen.
Zwei Jahre lang lernte sie die Mathematik bei ihm, und eines Tages, als sie fragte, warum man das römische Reich die Welt nenne, da doch die Erde hundertmal größer wäre, und als sie wissen wollte, ob auf der andern Seite der Erde auch Menschen seien, und warum man glaube, die Götter seien gerade auf der Erde zu Hause und nicht anderswo, da stürzte Isidoros plötzlich aus ihrer Stube, um sie seine Tränen nicht sehen zu lassen. Er wußte alles, was irgend jemand wußte, aber dieses fragende Kind verlangte noch mehr.
Und trotzdem selige Stunden, selige Jahre!
Er kam wieder und sagte ihr, sie habe in ihrem zarten Alter alles gelernt, was er ihr an Kenntnissen bieten dürfe. Jetzt bleibe nur noch die Philosophie übrig, die Lehre von dem Weltganzen und den Göttern und die müsse sie von den alten Professoren lernen und nicht von ihm, der selbst noch von Zweifeln geplagt würde. Dabei hatte Isidoros zum erstenmal wieder seine zitternde Hand auf ihren Kopf gelegt; er sagte:
»Ich muß dich verlassen, ich muß dich anderen Lehrern übergeben.«
Verstört stand er vor ihr, ein hoch aufgeschossener Jüngling, so groß wie ein Mann, aber ungeschickt wie ein Knabe. Auch Hypatia war mit ihren beinahe vollendeten zwölf Jahren aufgeschossen und stand schlank und blaß wie ein Prinzeßchen vor ihm. Sie stampfte mit dem Fuße auf und sagte statt aller Antwort:
»Ich will keinen andern Lehrer, du sollst bei mir bleiben!«
Da fiel Isidoros nieder, daß sie heftig erschrak. Es schüttelte ihn. Dann faßte er ihr rechtes Füßchen und drückte einen Kuß auf den Knöchel.
»Was tust du, Isidoros? Bist du krank? Tut dir das gut?«
»Nein, Hypatia, ich bin... Das ist eine Sitte, die geübt wird, wenn ein junges Mädchen auf die hohe Schule kommt.«
»Das ist eine dumme Sitte.«
»Hypatia, versprich mir...«
»Was denn?«
»Daß du nie einen anderen...«
»Ich will nie einen anderen Lehrer als dich. Komm, lehre mich die Philosophie! Warum lehrt man sie erst so spät? Ich werde bald zwölf Jahre alt und weiß noch nicht, warum ich geschaffen bin. Das mußt du mich lehren, gleich. Warum?«
Selige Stunden! Selige Jahre!
Hypatia hatte nicht den Ehrgeiz, alle 200 000 Bände der Bibliothek zu lesen, aber Isidoros war da, um für sie zu wählen und für sie aus allem, was jemals gedacht und gedichtet worden war, einen Strauß von Blüten und Früchten zu pflücken. Mit den griechischen Dichtern begann die Schule der Philosophie. Denn nacheinander, wie sie im Laufe der Zeiten folgten, sollte Hypatia die Meinungen kennen lernen, die gottbegnadete Männer sich von Göttern gebildet hatten. Zuerst also die Göttergeschichten und den Götterglauben. Der Jüngling und das halbe Kind lasen Homer und spotteten seiner Frömmigkeit und wußten klug Unmögliches und Törichtes in den schönen Sagen zu finden. Wenn Hypatia einmal ängstlich fragte, warum der große Dichter solche Lügen behauptet und warum er sie mit so schönen Worten behauptet habe, dann wurde Isidoros zornig und erinnerte die Schülerin daran, daß sie beide beisammen wären, um Philosophie zu studieren, nicht, um sich von einem Dichter verwirren zu lassen.
»Warum nicht verwirren lassen?«
Den Winter und den Frühling hatte die homerische Welt erfüllt, im Sommer lasen sie die griechischen Dramen von Aschylos und Sophokles, alle, die endlose Reihe. Als sie auch Euripides lasen und die Liebestragödie, bei welcher einst das Fühlen des jungen Gelehrten sich zuerst geregt hatte, da sagte er der kleinen Schülerin leidenschaftliche Verse vor und Hypatia fragte erstaunt:
»Warum lehrst du mich hier die Schönheit kennen und wolltest sie aus Homer vertreiben?«
Selige Tage.
Und wieder kam der Winter und fand die beiden bei den dunklen Philosophen der griechischen Vorzeit. Schwer zu fassen waren die Worte, schwer der Sinn, doch mit wildem Eifer erklärte der Lehrer und mit einer neuen feurigen Begier horchte die Schülerin. Jetzt kam es wohl, das große Geheimnis. Und wie sie in dem »König Ödipus« atemlos von Akt zu Akt auf die Lösung des furchtbaren Rätsels gewartet hatte, so lauerte sie jetzt gespannt von Tag zu Tag auf die volle Enthüllung aller Rätsel des Lebens. Sie schien selbst körperlich unter der angestrengten Aufmerksamkeit zu leiden. Immer blasser wurden ihre Wangen, flackernder wurden ihre Augen, und mehr als einmal in der Stunde fuhr wohl, als das Frühjahr nahte, die weiße Hand an die Schläfen, hinter denen so viele ernste Gedanken sich jagten, während die dichten Kinderlocken immer widerspenstiger gegen Kamm und Bänder sich bäumten.
Sie hatten die düsteren Gänge der Alten verlassen und studierten Platons lichtere Welt. Es war an Hypatias Geburtstag, den alle vergessen hatten, auch ihr Vater, als Isidoros ihr den schönen Traum des Philosophen erzählte von dem alten Fluch und Segen der Götter, welche in Ururzeiten jedes lebendige Wesen in zwei Hälften gespalten und sie hinausgeschickt hatten in die weite Welt als Männlein und Weiblein mit dem Fluche und dem Segen, zu suchen und zu forschen, zu ermatten und zu bluten und nicht früher zu ruhen, als bis jede Hälfte die andere Hälfte gefunden hätte, sich mit ihr zu vereinen, und das Spiel fortzusetzen, das Spiel von den getrennten und wiedergefundenen Hälften, zum ewigen Spaße der ewigen Götter. Als Angebinde zum Geburtstag hatte Isidoros das Märchen mitgebracht, und er wollte es der Schülerin in dem Büchlein schenken, aus dem er heute vorlas, einem köstlichen Büchlein von feinstem weißen Leder mit Goldschnitt, und die Anfangsbuchstaben von Hypatias Namen waren in Gold darauf gepreßt und sonst noch manches heimliche Zeichen, das er ihr später deuten wollte, später. Heute sollte sie keine Freude haben, nicht am Märchen und nicht an dem Buche. Denn eben, als sie noch mit fieberhaften Augen auf die Geschichte von den Hälften horchte, fuhr sie plötzlich mit beiden Händen nach den Schläfen und sank dann ohnmächtig in ihr Stühlchen zurück.
War das ein Schrecken! Die Fellachin stürzte herbei, und sie hatte es immer gesagt, das verrückte Studium würde ein böses Ende nehmen; sie suchte so lärmend nach wohlriechenden Salzen, daß Hypatia darüber erwachte. Theon sogar wurde aus seiner Arbeitsstube geholt, und Isidoros mußte mit seiner hübschen Abschrift des Platon abziehen.
Doch dank den unbekannten Überirdischen, es war keine Gefahr. Schon nach wenigen Tagen erhielt Isidoros ein Briefchen von Hypatia, ihr erstes Briefchen. Sie bat um Entschuldigung für die törichte Störung des Unterrichts, sie bat ihn, wiederzukommen und das Angefangene fortzusetzen. Ihr erstes Briefchen war gar nicht, wie von einem Kinde. Feste Züge, wie von einem jungen Weibe, wie in den Handschriften der berühmten Philosophinnen von Athen, wie in den Briefen, welche schöne und stolze Damen von Alexandria an Bibliothekare richteten, wenn sie heimlich einen Roman zu leihen wünschten. Ihr erstes Briefchen! Wo hatte sie nur das Papier dazu her, ein Papier, wie keines sonst in den 200 000 Bänden und Handschriften der Bibliothek, so duftig, so weiß. Und wenn man es an die Lippen führte, so weich, so weich!
Isidoros betrat die Wohnung des Theon aufs neue, aber ängstlich starrte er die Schülerin an, die in einem neuen, langen, dichten Kleide und mit gesenkten Augen ihm gegenüberstand. Was war dem Kinde geschehen, daß es wie eine Jungfrau vor dem Lehrer stand? Die Haltung war verändert, und die Stimme und der Blick und alles. Verschwunden war das flackernde Feuer aus den Augen, verschwunden die kranke Blässe von den Wangen, und etwas wie das Lächeln eines überlegenen Weibes huschte unter der Haut hin, um Augen und Mund, und jetzt hob sie die Augen und sagte, weich und freundlich und so ganz anders als sonst:
»Verzeih' die Störung, und nun weiter, weiter!«
Isidoros wollte nicht, er wollte sich nicht vergessen. Aber wie eine mächtigere Gewalt warf es ihn zu ihren Füßen nieder, als ein lebloses Ding. Und er streckte die langen Arme nach ihr aus und wollte den Knöchel ihres rechten Fußes umfassen. Da trat sie zurück und sagte nichts als:
»Das ist nicht die Sitte. Ich weiß es jetzt. Ich weiß alles. Nicht wieder, lieber Isidoros! Ich bin dir so dankbar für alle Güte. Aber das ist nicht die Sitte.«
Wie ein Schwerverwundeter erhob sich der Lehrer und schleppte sich auf einen Stuhl und trug ihr vor, was er an Kenntnissen für sie gewonnen hatte. Weiter, weiter!
Während des Sommers, mitten im Aristoteles, wurde der Unterricht wieder unterbrochen. Theon kränkelte und auch Hypatia schien unter der glühenden Hitze dieses Jahres zu leiden. Die medizinischen Professoren rieten zu einem Sommeraufenthalt und zu Seebädern an der Küste der Pentapolis, und von heute auf morgen wurde die kleine Reise beschlossen und ausgeführt.
Isidoros blieb allein in Alexandria zurück und ging wie ein bankerotter Kaufmann in den Straßen der Stadt umher. Am Abend des Tages, an welchem Hypatia abgereist war, wanderte er Stunden und Stunden lang nach Westen der lybischen Küste zu. Bei Sonnenaufgang fand er sich am Rande der Wüste und sah vor sich die Klöster christlicher Mönche und hörte ringsumher Schakale heulen, und einmal, gerade als die Sonne aufging, glaubte er aus weiter Ferne einen leisen Donner zu hören oder das Brüllen eines gierigen Löwen. Schaudernd vor Hunger und zitternd in dem kalten Morgenwinde, flüchtete er nach der Stadt zurück und wartete auf eine Nachricht. Hypatia hatte versprochen, sie würde schreiben.
Sie hielt Wort, und zwei Monate lang verbrachte Isidoros in Durst und Rausch. Wohl waren es nur Briefe einer ergebenen Schülerin, wohl erzählte sie nur von ihren Büchern und ihren Zweifeln, aber am Ende stand jedesmal ein kurzes gutes Wort von ihrem Wohlergehen oder von einer Segelfahrt oder von einem Gewitter, oder von den Baumzweigen, die an das Fenster ihrer Stube schlugen. Und ganz zu äußerst stand jedesmal »Deine Hypatia«.
Noch einmal drang Isidoros bis an den Rand der Wüste vor, am Abend vor Hypatias Rückkehr. Dieses Mal aber hatte er sich wohl vorgesehen; er blieb in einer einsamen Schenke und schlief nicht und spähte von Sonnenaufgang, hinter den Holzladen versteckt, auf die Straße hinaus, auf welcher Hypatia kommen mußte. Und er verriet sich nicht, als sie kam. In einem offenen Reisewagen, den zwei langsame Maultiere zogen, saß sie neben ihrem Vater – so groß, so schön, ein Weib. Isidoros preßte seinen Kopf gegen die Holzstäbe und schluchzte und murmelte Verse und zuckte mit den Fingern. Dann war der Wagen vorüber, und Isidoros rief einen kleinen schwarzen Eseltreiber, setzte sich dem Esel auf den Rücken, ließ seine langen Beine schlottern, faßte das Tier mit beiden Händen an den Ohren und trieb es zur Eile und sah so ungeschickt aus, daß der Wirt und die Wirtin in lautes Gelächter ausbrachen und der schwarzbraune Eseltreiber hinter dem Reiter her im Staube der Straße Purzelbäume schlug, um seiner Lustigkeit Herr zu werden. Dann ging es fort im Galopp auf Seitenwegen zurück nach der Stadt. Der Junge lief neben seinem Esel her, und als die Hauptstraße erreicht war, da machte er, schweißgebadet, abermals einen Purzelbaum und lachte noch immer. Isidoros ließ sich aber vom Esel herunterfallen und eilte nach der Akademie, um seine Schülerin zu empfangen.
Vom Norden her flog eine lange Kette von Reihern über die Stadt, über das Meer daher, irgend woher, von Griechenland oder weit von den fabelhaften Eisländern der Donau. Von Westen aber schwebte langsam und schwer, nur ab und zu von dem Schlage der weihgrauen Fittiche getrieben, der Philosophenstorch herbei und verzog den Schnabel zu einem breiten Lächeln, als er den jungen Gelehrten erblickte. Unter dem Vogel trottete das Gespann heran; Theon und seine Tochter hielten und stiegen aus. Es war ein Glück, daß Isidoros schon heute früh den ersten Eindruck überwunden hatte; er konnte die Rückkehrenden mit ziemlicher Fassung begrüßen. Hypatia entgegnete ihm freundlich und gesetzt wie eine wohlerzogene junge Dame und schritt an ihm vorüber in das Akademiegebäude hinein, das sie zum erstenmale verlassen hatte und, wie sie sagte, nie wieder verlassen wollte. Professor Theon hielt unschlüssig und verlegen die Hand des Isidoros fest. Als die Fellachin das Gepäck besorgt und den Kutscher abgelohnt hatte, welchen Geschäften Theon so neugierig zusah, als ob da etwas ganz Neues zu lernen wäre, führte er den Lehrer seiner Tochter in die große Halle und ging dann neben ihm eine Weile stumm auf und nieder. Er mochte wohl mit sich selber gesprochen haben, denn plötzlich sagte er, als führe er mitten in der Rede fort:
»Ich war äußerst überrascht, wie gesagt. Ich machte die Bekanntschaft eines ganz eigenartigen Mädchens und konnte kaum glauben, daß meine Tochter so viel Kenntnisse besitze. Weit über die Gewohnheiten ihres Geschlechtes hinaus, wie es scheint, fast nach dem Ehrgeiz der Aspasia. Und dabei ertappte ich sie auf solchen Kenntnissen immer nur zufällig, wenn sie mir bei meiner Ferienarbeit half. Am Ende hat sie noch mehr gelernt, als sie mir verraten hat. Wie gesagt, auf das angenehmste überrascht, junger Freund. Und bei unserer Verabredung bleibt es!«
»Bei welcher Verabredung, Herr Professor?«
»Ach so! Ja, ich denke, daß Hypatia nur noch etwa ein Jahr lang, vielleicht bis zum nächsten Frühjahr, unter Ihrer geistigen Leitung bleibt und dann – ja, ich weiß wirklich nicht, was man dann mit Hypatidion vor hat. Sie aber, mein lieber junger Freund, werden dann das Alter erreicht haben, in welchem wir Sie für eine Professur an unserer Akademie in Vorschlag bringen können. Bei den alten Verbindungen, die Sie noch von den Kinderjahren her in Konstantinopel haben, ist Ihre Bestätigung außer Zweifel, und Sie können dann – ich glaube – ich muß doch einmal die erste Ausgabe des Ptolemaios holen. Seit vier Wochen zerbreche ich mir den Kopf, um den Wortlaut der dummen Stelle zurückzurufen.«
Am nächsten Morgen schon durfte Isidoros sich einstellen, um dem jungen Mädchen weitern Unterricht in der Geschichte der Philosophie zu erteilen.
Furchtbare Stunden, ein seliges Jahr!
Hypatia hatte einmal von ihrer Sommerwohnung aus geschrieben, daß die Lösung aller Welträtsel etwas lange auf sich warten lasse und daß sie anfange, mißtrauisch gegen die Philosophie zu werden. Sie habe eben eine Stunde lang wie ein ganz dummes Kind mit einer großen, rosaroten Muschel gespielt und darüber ihre Bücher vollkommen vergessen. An diesen Brief knüpfte Isidoros an, um zögernd und schüchtern zu lehren, daß die Kenntnisse, daß die Bereicherung der Geisteskräfte nicht alles bedeute, daß es noch etwas Höheres gebe, eine Einheit des einzelnen Menschen mit dem All durch das Gefühl. Aber Hypatia hatte ihn nicht verstanden und verlangte fast heftig eine Fortführung des Lehrplanes bis auf die Gegenwart. Und so mußte der arme Lehrer sich während der Stunden nach wie vor auf die trockene Philosophie beschränken, wenn auch der Verkehr mit dem Hause des Theon rasch eine andere Form annahm. Die Fellachin betrat häufig das Studierzimmer, setzte sich auch wohl einige Zeit mit einer Handarbeit in einen Winkel und brachte dem Lehrer nach Beendigung des Unterrichts eine Einladung zum Mittagessen. Isidoros wäre über diese neue Annäherung noch glücklicher gewesen, wenn er nur jemals mit Hypatia in ein herzliches Gespräch gekommen wäre. Diese aber saß teilnahmslos da, sowie die gelehrte Unterhaltung aufhörte, und schien stumm das Neugelernte zu überdenken. Während dessen plauderte der Professor über die Hoffnungen des jungen Gelehrten, der nun bald Honorarprofessor sein und eine Dienstwohnung in der Akademie erhalten würde. Die bedienende Fellachin zwinkerte mit den Augen und Isidoros blickte errötend auf Hypatia. Spät am Abend ging dann wohl Isidoros fort, trunken von Sehnsucht und Hoffnung, und kam den andern Morgen wieder und las und erklärte aus allen Philosophen von Aristoteles bis zu dem großen Platinos.
Lehrer und Schülerin hatten jetzt keine rechte Freude am Unterricht. Lag es an der Unfruchtbarkeit des Stoffes oder lag es an der Unruhe des Lehrers? Jedenfalls fühlte Hypatia sich nicht gefördert. Sie fragte nur noch selten »warum«, aber in ihrem Kopfe schichteten sich die Lehren der Philosophie übereinander wie Mühlsteine, und des Nachts glaubte sie unaufhörlich die Mühle klappern zu hören, und es war ihr, als ob die Mühlsteine taube Ähren mahlten und als ob die Vorratskammern leer blieben. Oder war es der Philosophenstorch über ihrer Kammer, der sie derart mit seinem Gelächter störte? Sie war mit ihm im Laufe der Jahre so vertraut geworden, daß sie nicht mehr wußte, ob sie es war oder der Vogel, der die Systeme der Philosophen verhöhnte. Und sie wußte nicht, war es ein uraltes Kinderlied oder war es das rhythmische Klappern des Storches oder war es ihr eigenes Denken, was die Worte formte, mit denen jede neue Verhöhnung jedes neuen Systems schloß.
Komisches Kinderpack! Blühende Blumen trocknet, zertrennt ihr und nennt sie mit Namen! Müßiges Menschenpack, wie ihr so eitel seid. Blumen und Blätter, namenlos blühn sie. Menschliche Namen – Morgennebel! So sucht denn, ihr Sammler, seid Philosophen! Haust in den Blumen, wie Hunde im Heu!
Eines Tages um die Zeit der Wintersonnenwende, als die Christenkinder auf der Straße die Geburt ihres Heilands feierten und die ägyptischen Priester wie zum Trotz ihre feierlichen Isislieder sangen – die Akademie hatte Ferien und selbst Theon gönnte sich einen Ruhetag –, da hatte Isidoros mit dem Professor eine lange Unterredung. Dann küßte der Vater Hypatia auf die Stirn und sagte ihr, Isidoros habe um ihre Hand angehalten und in einem Jahre solle die Hochzeit sein.
Hypatia schwieg und hatte mit ihrem Vater keine Aussprache. Nur mit ihrem Bräutigam wechselte sie ein paar Worte über ihre Zukunft. Er solle über seine Gefühle kein Wort mit ihr sprechen, er verliere dadurch an Ansehen, und sie wolle doch mit aller Verehrung und mit aller Dankbarkeit gegen ihn in die Ehe treten. Er solle so bleiben, wie er sei, dann wolle sie alles tun, was er verlange. Aber nur nicht vom Leben mit ihr reden, vom häßlichen Leben, das sie gar nicht kennen wolle.
Der Unterricht ging weiter. Der böse Vogel war schuld, daß sie so häufig, während Isidoros halb geistesabwesend las und erklärte, immer an die Hunde im Heu denken mußte. War das das Ende? War das die Lösung der Welträtsel?
Wieder war der Frühling da, und Isidoros saß ihr gegenüber und suchte ihr die Eigenschaften der Gottheiten auseinanderzusetzen. Auf dem Tisch in einem Tongefäße stak ein mächtiger Myrtenstrauß, den Hypatia selbst gepflückt hatte. Draußen tänzelte der Storch in raschen Frühlingsrhythmen, und Isidoros hatte, müde, zu sprechen aufgehört. Eine lange Pause trat ein.
Plötzlich fragte Hypatia:
»Du hast mir alles getreulich erzählt, nur eines nicht. Wie dachte Er von Gott und der Welt?«
»Er.«
»Der Professor?«
»Der Kaiser! Verzeih, ich meine den Kaiser Julianos, meinen Paten.«
»Ich glaubte, wir wären zu Ende mit der Wissenschaft,« sagte Isidoros mit zuckenden Lippen, »und das Leben sollte beginnen.«
»Erzähl mir vom Kaiser!«
Isidoros mußte vom Kaiser Julianos erzählen. Er sprach zuerst von seinem Leben. Wie der große Kaiser Konstantinos, der dem Christentum zum Siege über die Welt verhelfen wollte, alle Verwandten nacheinander hätte abschlachten lassen und den kleinen Julianos in eine Kutte steckte und ihn beinahe zum Mönch machte; wie Julianos aber dennoch heimlich den alten griechischen Göttern treu blieb; wie er dann als junger Held unter dem Beistande der alten Götter die Feinde des Staates vernichtete und schließlich das Kaisertum gegen alle Wahrscheinlichkeit für sich errang. Er erzählte von seinen Tugenden, von seiner Güte, von den Großtaten seiner kurzen Regierung und von seinem geheimnisvollen Tode in den Steppen Asiens. Hypatia zuliebe unterdrückte Isidoros, was die christlichen Feinde vom Kaiser berichteten.
»Ist es wahr, daß er mich gesegnet hat zu seinem Patenkind im Namen unserer alten Götter?«
»Ich stand dabei.«
»Und wie dachte er über Gott und die Welt?«
Bis zu dieser Stunde hatte Isidoros in dem Kinde Theons die Prinzessin verehrt, das Patenkind des Julianos. Jetzt durchzuckte ihn plötzlich ein Zorn gegen den Kaiser, etwas wie Eifersucht oder wie Haß, und fast höhnisch suchte er der Schülerin nachzuweisen, daß Kaiser Julianos das Rätsel der Welt so wenig gelöst habe wie die anderen Philosophen seiner Zeit.
Was wir alle glauben, das glaubte auch er. Gott ist das ewig Reine, das Unbefleckte, zu dem wir zurückstreben müssen, wie wir von ihm ausgegangen sind von Uranfang. Er befiehlt uns, unsere Leidenschaften zu beherrschen, unsere Begierden zu töten, und müßte unser eigenes Fleisch mit ihnen vergehen. Er befiehlt uns das Denken, das er in uns gesenkt hat, so vollkommen wie möglich zu machen und uns durch Kasteien und Sinnen so lange über alles Irdische zu erheben, bis wir in höchster Ekstase ihn selber schauen, den Alleinen, den lebendigen Gott des Himmels und der Erde. In unseren Ekstasen sind wir eins mit ihm, dem Unendlichen. Wir kennen Gott so genau, wie wir unseren Schlaf kennen, wenn wir schlafen. Und wenn wir erwachen aus dem Schlaf oder aus der Ekstase, so bleiben uns immer nur dunkle, wirre Bilder von heiliger Schönheit, in denen völlig aufzugehen unsere höchste Wonne sein muß. Denn es gibt keinen größeren Genuß als das Aufgehen im Alleinen, das Aufgehen im Anderen. Und die letzten Mysterien lehren uns, daß Gott nur ein anderes Wort ist für die Liebe. Und Gott hat sich gespalten, dreifaltig, um etwas Ebenbürtiges zu haben, das er lieben könnte. Er wollte lieben und fand nur sich, da setzte er seinen Sohn und liebte ihn. Der Alleine setzte das Denken, und nach dem Denken setzte er das Wollen, und diese Dreieinigkeit herrscht über die Welt und hat die Erde geschaffen mit allen Menschen und Tieren und Pflanzen und erfüllt den Weltraum mit den unzähligen Scharen seiner unsichtbaren Geister, seiner Engel und Dämonen, die uns lohnen und strafen, die uns leiten und verführen und die uns zu blinden Werkzeugen seines Willens machen, denn bei ihm ist das höchste Denken und die höchste Allmacht. Aber einem Gott gleich werden wir, wenn wir mit Hilfe seiner guten Engel unsere Begierden zähmen, unser Irdisches abtöten und bei lebendigem Leibe eingehen zur strahlenden Herrlichkeit des Alleinen, des einzigen Gottes, der Sonne, des Jeus, unseres Vaters im Himmel und auf Erden.
So sprach Isidoros noch lange, und er suchte die Hand Hypatias zu ergreifen und redete zu ihr mit den Blicken von seiner Sehnsucht. Hypatia hörte ruhig zu, und langsam trat aus jedem Auge eine schwere Träne.
»Das also hat der Kaiser geglaubt? Das also glauben wir? Ist das das letzte Wort? Aber das sagen ja auch die Christen, die er verfolgt hat. Warum hat er sie verfolgt? Warum?«
Der Sommer nahte, und man traf die Vorbereitungen zur Hochzeit. Der Unterricht aber nahm seinen Fortgang; Isidoros mußte die gelehrten Verteidiger der christlichen Kirche studieren, um Hypatia auch noch die neueste Antwort auf ihr altes »Warum« zu lehren, das Christentum. Isidoros hatte seit Jahren diese Bücher beiseite gelassen. Jetzt war es ihm fast lieb, daß er die wenigen Monate, die ihn von dem Tage seines Glücks trennten, mit neuer Forschung ausfüllen durfte. Neugierig betrat er wieder die Bibliothekräume des Anbaues, wo außer den Schriften des Alten und Neuen Testaments auch alle Pamphlete und Streitschriften der Bischöfe von Alexandria, Antiochia und Rom beisammen waren. Das gab weit mehr Arbeit, als er vermutet hatte. Er hatte schon früher die boshaften Kritiken Julians gelesen, von denen Bruchstücke trotz der Verfolgungswut der Geistlichen noch vorhanden waren und heimlich von Hand zu Hand gingen. Jetzt las er die christlichen Entgegnungen und war erschreckt von der sittlichen Kraft, von dem Opfermut der Bekenner und von der Tiefe des Glaubens. Das war kein philosophischer Unterricht mehr, den er seiner Braut zuteil werden ließ, das waren aufgeregte Bekenntnisse über das Schwanken seiner Seele. Mitten in einer Welt des Egoismus und eines materiellen Kampfes waren vor hundert Jahren oder noch früher diese Leute aufgetreten und hatten den privilegierten Klassen des Reiches nichts anderes gegenübergestellt als den Schmerzensruf der Sklaven: Sind wir nicht Menschen wie ihr, sind wir nicht Brüder, sind wir nicht alle Kinder desselben lebendigen Gottes? Der erste Führer dieser Sklaven und Arbeiter sei selbst ein schlichter Arbeiter gewesen, ein armer Zimmermann aus Galiläa, der von den römischen Behörden gekreuzigt worden sei. Aber es sei etwas daran, es sei etwas Wahres an der neuen Lehre, und wenn auch Demagogen und Betrüger und Faulenzer die ungeheure Bewegung unter den Mühseligen und Beladenen zu ihren Gunsten ausgebeutet hätten, so sei doch das kommende Reich das der Armen, der Armen an Besitz und der Armen an Geist.
»Du redest wie ein Christ!« schrie Hypatia einmal entsetzt auf.
»Hypatidion,« antwortete Isidoros mit unruhigem Blicke, »laß dir sagen, es kommt etwas Furchtbares über die Welt. Die alten Götter, die wir philosophisch deuten und dennoch immer anbeten, sie leben vielleicht nicht mehr. Die Armen an Besitz und die Armen an Geist sind unsere Herren geworden, heute oder morgen. Sie wissen es selbst noch nicht, weil ihre Bischöfe sie betrügen und das alte Unrecht aufrechthalten möchten. Hypatia, willst du ein Geheimnis hören? Die Welt ist aus den Fugen, und die neue Lehre ist gekommen, sie einzurichten. Ihre Bischöfe zwar sind Lügner, aber der Kaiser Julianos war beinahe ein Christ!«
»Du lügst!« schrie Hypatia auf. »Mein Kaiser war den Göttern getreu, wie ich ihnen getreu bleiben werde und mit niemand etwas Gemeinsames haben will, als wer unseren alten Glauben verteidigen will bis zu seinem Tode, mit seinem Leben!«
Mit Mühe nur konnte Isidoros seine Braut beschwichtigen. Er habe das alles natürlich nur in figürlichem Sinne gemeint und verabscheue und verachte den Aberglauben der Christen.
Im September wurde Hochzeit gemacht. Nach Griechensitte. Mit großem Gepränge wurde das Brautpaar in dem alten Serapeum eingesegnet. Hypatia, die bis zu diesem Tage sich um keine Einrichtung ihres künftigen Lebens gekümmert hatte, die mit ihrem Bräutigam nur wie mit ihrem Lehrer verkehrte und die für die Mitteilungen und Neckereien der Fellachin niemals Verständnis oder auch nur Aufmerksamkeit gezeigt hatte, war plötzlich rechthaberisch geworden, als es sich um die Form der Eheschließung handelte. Nicht der kleinste von den alten Gebräuchen der Hellenen durfte umgangen werden. Und die Gesellschaft von Alexandria strömte in das Serapeum, um endlich wieder einmal eine Hochzeit alten Stils mitanzusehen, die durch die Jugend der beiden Brautleute noch denkwürdiger wurde.
Nach der Trauung fanden sich die Zierden der Akademie im Festsaal zu einem Prunkmahl zusammen, bei welchem abermals die hellenischen Geistlichen alle alten religiösen Formen aufs strengste beobachteten. Es wurde mehr gebetet als gegessen. Die Geistlichen selbst schienen ein wenig verlegen, so veraltete Liturgien wieder anwenden zu müssen. Nur der oberste Geistliche, ein neunzigjähriger Mann, strahlte vor Glück, und die fünfzehnjährige Braut lauschte den frommen Worten andächtig, als wäre es ihre erste Kommunion.
Der Abend brach herein, und die Gäste zerstreuten sich. Nur ein Haufe junger Leute hielt aus, um das Ehepaar nach alter Unsitte zu seinen Gemächern zu geleiten. Isidoros hatte es sich verbitten wollen, denn nicht nur bei den Christen der Stadt war der Gebrauch abgekommen, sondern auch die besseren Kreise der Griechen fanden sich mit dieser ausgelassenen Schar gern durch reiche Geschenke ab. Die Lieder, wie sie bei dieser Gelegenheit gesungen wurden, waren roh und unzüchtig zum Entsetzen. Hypatia aber bat, ruhig in ihrem frommen Glück, man möchte die Leute gewähren lassen. Der Kaiser hätte so alte Bräuche geliebt.
Und so geschah es. Theon gab seiner Tochter noch einen innigen Kuß auf die Stirn, und als er in seine Wohnung zurückkehrte, hörte er die wilde Schar hinter dem geschmückten jungen Paar in tollem Jauchzen und Tanzen über den Hof dahinrasen.
Theon fühlte es unklar wie den letzten Markstein seines Lebens. Traurig setzte er sich an seinen Schreibtisch und sah vor sich hin. Allein in einer Welt mit anderen Zielen und anderen Gedanken, als die seinen waren, kaum noch ein brauchbarer Mann, er, der einst den Lauf der Sterne berechnen konnte oder eine neue Maschine ersinnen zum Wasserschöpfen oder zum Schießen. Der Glanz und das Glück des Lebens war verloren, entwichen! Der Glanz und das Glück des Lebens verflogen, gestorben, damals als Hypatidion geboren wurde und sein junges Weib starb und bald darauf der gute Kaiser Julianos. Theon stand auf und ging an seinen Bücherschrank, dorthin, wo seine alte Handbibliothek in einer besonderen Abteilung verschlossen war.
»Homeros,« murmelte er, »Hektors Abschied von Andromache... zu traurig! Wie konnte ich nur... Hypatidion!«
Und er schob seine Hände zwischen den Büchern in die Öffnung und holte statt des alten Homeros ein Paar winzige Kinderschuhe hervor, Hypatias erste Schuhe. Niemals hatte er dem Kinde seine Liebe beweisen können, niemals feit dem Tode der Mutter. Es war ihm gegen seine Natur. Wer er mochte sie doch wohl lieb haben. Er streichelte die kleinen Schuhe und redete sie an.
Vor dem Fenster stand der Marabu und schrie zornig und stieß mit den Beinen und schlug mit dem Schnabel um sich.
»Fehlt sie dir auch?«
Plötzlich klang es von unten wie das Atmen eines Schwerkranken. Zuerst horchte der Storch, und dann wurde auch Theon aufmerksam. Am Fuße der Treppe mußte etwas Lebendes liegen, und jetzt raffte es sich da unten auf und flog die Treppe empor und riß die Tür auf; Hypatia stürmte herein, schob den Riegel hinter sich zu und stürzte dem Vater zu Füßen und schrie, als wäre sie aus Lebensgefahr gerettet. »Vater!« rief sie und legte ihre Wange zitternd auf sein Knie. »Vater, du bist auch ein Mann, aber das kannst du nicht wollen! Das ist ja fürchterlich! Kein Tier ist so häßlich! Frage mich nicht, und sag' nicht nein, oder man zieht mich tot aus dem Hafen heraus. Wenn ich es nur wieder vergessen kann! Lieber, lieber Vater, wir sind einander nicht viel gewesen bis zum heutigen Tage. Laß mich bei dir! Und den anderen nie wiedersehen, nie! Ich will dir dienen, wie du willst. Ich bin nicht unnütz, du kennst mich nur nicht. Was du willst, nur das nicht! Ich bleibe mit dir, oder bei Hera und Herakles, ich gehe sterben.«
Theon hatte völlig seine Fassung verloren. Das verstand er wohl, daß Hypatia in der Brautnacht zum Vater zurückgelaufen war. Er stammelte allerlei von dem Sklavenlos der Frau, von Rechten und Pflichten und von Skandal. Glücklich mit der Hand den Kopf des Mädchens festhaltend, glaubte er doch als Vater zum Frieden reden zu müssen. Sie sei jenem Manne nun einmal angetraut. Und als Hypatia aufjammerte, so laut, daß der Marabu draußen vor dem Fensterladen mit weinerlicher Stimme antwortete und aus allen Kräften gegen die Holzbrettchen stampfte, als wollte er zu Hilfe kommen, da hob Theon seine Tochter vom Boden auf und glaubte sie zu überreden, als er sagte:
»Du bist noch jung. Es war niemals Sitte in griechischen Landen, daß die Mädchen über ihre Zukunft mitzusprechen hatten. Sieh, sieh, Hypatidion, du rühmst dich, das Patenkind unseres guten Kaisers zu sein, du willst in dieser wilden Zeit als Hellenin leben und sterben, und was du tust und was du sagst, das ist christlich, nun ja, ja, christlich! Diese Leute reden von Liebe, wenn es sich nur um die Ehe handelt. Diese Leute reden von der unsterblichen Seele des Weibes, von Gleichheit, von Freiheit und dergleichen Dingen. So hat Achilleus nicht gefreit, und nicht Agamemnon und nicht unser Kaiser Julianos.« Hypatia hatte ihr Kleid über der Brust wieder geordnet und hörte kaum hin. Als Theon aber ihr Tun christlich nannte, da wuchs das Mädchen vor ihm, daß er erschrak. Fester stellte sie sich auf ihre Füßchen, wie mit einem Ruck richtete sich ihr Oberleib aus den jugendlichen Hüften empor, und ein schwärmerischer Blick strahlte aus ihren dunklen Augen. Wild wie in ihrer Kinderzeit flossen die schwarzen Locken um die blassen Wangen nieder, und sie hielt den Kopf emporgerichtet, als sie erwiderte:
»Vater, versuche es nicht, fessele mir nicht meine Seele! Ich bin keine Christin! Und wenn Achilleus käme oder Zeus in der Wolke, wie in der grauen Vorzeit, würdest du mich bereit sehen, willenlos, ein Hellenenmädchen. Laß mich aufsteigen zum Olympos durch den Vater der Götter und Menschen, und ich leiste Verzicht auf meine freie Seele. Aber das ... ! Wenn dieses mein Gefühl christlich ist, so ist die Wahrheit christlich, und das hast du nicht sagen wollen, das nicht, Vater! Er aber, er ist einer, er gehört zu ihnen, er ist kein Grieche! So häßlich! Pfui!«
Und Hypatia stürzte fort, wollte am Vater vorüber, um sich einzuschließen. Da bemerkte sie die Kinderschuhe auf dem Schreibtisch. Es wurde still im Arbeitszimmer des Professors. Draußen hörte man den Marabu ärgerlich klopfen und brummen und klappern, und Theon nickte nur immer mit seinem grauen Kopfe, und Hypatia faßte ihn um die Schultern und lachte unter strömenden Tränen.
»Sei still, Papachen, sprich kein Wort mehr! Da sieh doch, du hast mich ja lieb, du jagst mich nicht fort.«
Professor Theon nahm sein Kind auf den Schoß und schlang ihm ein warmes Tuch um den Leib, und flüsternd sprachen sie von der verstorbenen Mutter und von dem ernsten Leben, das sie jetzt zusammen führen wollten.
Unten auf dem Hofe war dichte Finsternis. Ein Mann stand dem Fenster Hypatias gegenüber, seine langen Arme waren emporgestreckt, seine Fäuste geballt. Wie ein Dieb, wie ein hungriges Tier schlich er umher und suchte den Zugang. Von Zeit zu Zeit kam ein rauher Laut aus seiner Kehle wie von einem Wahnsinnigen. Endlich betrat er die kleine Freitreppe, die zur Dienstwohnung Theons emporführte. Leise, leise setzte er den Fuß von Stufe zu Stufe. Jetzt war er oben. Da rauschte vom Himmel eine furchtbare Erscheinung nieder. Mit schrecklichen Flügelschlägen umwehte es ihn, und der Dämon, der herunterkam, schlug ihn mit scharfen Hieben ins Gesicht und vor die Brust. Der Mann stürzte rücklings die Treppe hinunter. Unten sprang er auf und rannte, immer vom Dämon verfolgt, hinaus auf die Straße und hinaus aus der Stadt, der Wüste zu.
Der Philosophenvogel aber kehrte mit langen Schritten vergnüglich zurück und stellte sich auf einem Beine vor dem Zimmer Hypatias auf.
Dieses ist das letzte Ereignis, welches die Quellen über Hypatias Jugend melden. Während ihr Name bis dahin in den Akten der Akademie, in den Aufzeichnungen der Kirchenväter und dem Briefwechsel der Professoren häufig vorkommt, scheint er jetzt plötzlich aus der Welt verschwinden zu wollen. Es ist eine Lücke von vollen zehn Jahren. Die Vermutung liegt nahe, daß das ungewöhnliche Benehmen Hypatias, ihre Flucht aus dem Brautgemach, in der Stadt Alexandria Skandal erregte, und daß aus diesem Grunde eine stillschweigende Verabredung das junge Weib aus der Liste der Gesellschaft strich. Die Damen der Akademie mögen wohl an dieser Achtung die Hauptschuld getragen haben, wenigstens läßt darauf die Korrespondenz eines berühmten Literaturprofessors jener Zeit schließen, welche erst vor kurzem herausgegeben worden ist. Ist unsere Vermutung richtig, so würden einige Briefstellen darauf schließen lassen, daß das gelehrte junge Weib die ganze Zeit über wie eine Nonne gelebt habe, einzig und allein mit mathematischen und astronomischen Berechnungen beschäftigt, und daß sie da einem der älteren Professoren, offenbar ihrem Vater, bei seinen Arbeiten geholfen habe. Mit dieser Annahme stimmt es merkwürdig zusammen, daß Professor Theon, der vor dieser Zeit ein trockener Fachmensch war, nun plötzlich anfing, wissenschaftliche Schriften herauszugeben, welche sich durch ein gewisses jugendliches Ungestüm und durch eine beinahe künstlerische Eleganz auszeichneten. Namentlich eine kleine Abhandlung über Kegelschnitte, welche in Hypatias neunzehntem Lebensjahre zuerst erschien, behandelte den nüchternen Stoff, man möchte sagen philosophisch, und vier Jahre später machte Theons Kritik des ptolemäischen Weltsystems durch die glänzende Sprache und durch die Kühnheit einer neuen Hypothese überall Aufsehen, wo man griechische Bücher las. Diese Kritik brachte, wenn auch mit einiger Vorsicht, die Fragen auf, ob die Erde auch wirklich der Mittelpunkt der Welt wäre, und ob nicht vielmehr der Sonne diese Ehre zukäme. Der heilige Hieronymos schrieb über dieses Werk, der Teufel müsse dem Professor bei der Abfassung geholfen haben; und einige fromme Mönche hatten wirklich den Teufel in Gestalt eines abenteuerlichen Vogels in die Wohnung des Professors hinein- und wieder herausfliegen sehen. Die gegenwärtige Wissenschaft aber neigt der Ansicht zu, daß niemand anders als Hypatia die Verfasserin oder wenigstens Mitarbeiterin von Theons späteren Werken war, Hypatia der Teufel, welchen die Christen als den Anstifter der neuen Ketzereien zu erkennen glaubten. Mit Sicherheit ist über die Sachlage nichts zu erfahren. Denn Professor Theon verriet niemals etwas über die Entstehung seiner Werke. Und Hypatia ehrte das Andenken ihres Vaters. So mag denn ein jeder zehn Jahre aus dem Leben des unglücklichen Weibes mit seinen eigenen Mutmaßungen ausfüllen.