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Auf dem zweiten Hofe der Akademie verkündete ein Anschlag, daß Hypatia ihre Vorlesungen für zwei Monate unterbrechen würde. Für diese Zeit trennten sich die Freunde, und ein jeder von ihnen hatte seine persönlichen Angelegenheiten zu ordnen und sich je nach Neigung und Umständen für ein Jahr einzurichten.
Alexander wurde von seiner Familie völlig in Anspruch genommen. Es regnete Einladungen in der ganzen weitverzweigten Familie Josseph. Der Vater war in Haltung und Sprache noch schüchterner geworden, als er es zur Zeit des Kaisers Julianos war, aber er konnte dem Sohn die reichsten Erfahrungen zur Verfügung stellen. Dankbar lächelnd und doch fremd berührt, erfuhr Alexander, welchen Lebensplan der alte Fabrikant für ihn ausgedacht hatte. Erst so schnell wie möglich die Professur, dann die reichste Heirat und dann – Regierungspräsident, Minister; der alte Josseph war eigentlich doch nicht blöde.
Troilos besaß in Alexandria nur entfernte Verwandte. Er beschäftigte sich damit, eine elegante Junggesellenwohnung zu suchen, Wohnung und Küche mit dem Komfort Asiens einzurichten, einen schwarzen Diener, einen braunen Koch und einige weiße Mägde aufzunehmen.
Synesios hatte sich nur kurz in der Stadt aufgehalten und sich durch seinen Oheim bei dem freundlichen Statthalter einführen lassen. Dann war er in Begleitung seines Verwandten zu Schiff nach der Pentapolis gefahren. Die Jagd auf Bekassinen hatte dort eben begonnen. Er war froh, nicht länger mitansehen zu müssen, wie das Serapeum schnell und sicher der Erde gleichgemacht wurde und wie man, als der Statthalter etwas retten wollte, zum Hohn eine einzige der Riesensäulen stehen ließ; er war noch froher, die Legenden nicht zu hören, die sich binnen wenigen Tagen im Volke gebildet hatten. Hunderttausend Menschen waren zugegen gewesen, als die Riesenschleuder ihre Tätigkeit begann und als ihr Erfinder unter den ersten Säulentrümmern begraben wurde; und dennoch erzählte einer dem anderen, der große Christengott habe Feuer vom Himmel und ein Erdbeben aus der Hölle gesandt, um den Heidenbau zu vernichten; und das Götzenbild sei erst dann entzweigesprungen und habe erst dann den Teufel ausgespien, als der brave alte Fähnrich das Zeichen des Kreuzes in seinen Beilstiel eingeritzt hätte.
Im Gespensterturm hatte Wolff Wohnung genommen. Ein großes kahles Zimmer, ein Feldbett und ein Tisch standen ihm zur Verfügung. Dennoch fühlte er sich behaglich in dem düsteren Hause. Es erzählte ihm so viel. Vor vielen hundert Jahren sollte es für einen berühmten Astronomen des Serapeums erbaut worden sein. Das Volk wußte, daß Königin Kleopatra dort oben auf dem Turme mit dem Gelehrten viele Nächte verbracht hätte, um den Mond auf die Erde herunterzuziehen und noch schändlichere Zaubereien zu treiben. Nach dem schrecklichen Ende der Königin hätte der Teufel auch den Geisterbeschwörer geholt. Seitdem wäre es nicht geheuer im Hause, am wenigsten im Turm und in den Kellern.
Hier fühlte Wolff sich behaglich. Aus jedem Winkel grüßte ihn eine Kindererinnerung. Nicht einmal eine kleine erträgliche Scheu vor den Gespenstern hatte er. Er hoffte nicht mehr, in einem dunklen Gange auf ein Ungeheuer der Vorwelt zu stoßen und es mit seinen Händen erdrosseln zu können. Er glaubte nicht mehr an Gespenster.
Desto größer war die Scheu vor seinem Vater geworden. Als Kind hatte er den Vater gefürchtet, ja gefürchtet wegen seiner wilden Zornausbrüche ebensosehr wie wegen der rätselhaften Demut, mit der er nach solchen heftigen Szenen das Kind zu versöhnen suchte. Jetzt hatte er freilich schon lange nicht mehr die Hand gegen den großen Sohn erhoben. Aber die seltsame Demut war geblieben. Der Vater und die alte gotische Wirtschafterin behandelten ihn fast mit der gleichen Auszeichnung. Für die Gotin war er der junge Herr, für den Vater der Herr Sohn.
Das einzige unheimliche Gemach des Gespensterturmes war für Wolff das Wohnzimmer des Vaters. Und doch war an der nackten grauen Wand nichts zu sehen als ein Kruzifix, darunter eine ewige Lampe in rotem Glase und rings umher die alten Waffen des Soldaten.
Tagsüber streifte Wolff in der Stadt umher. Nachdenklich und allein. Auch zu Hause wurde nicht viel gesprochen. Beklommen saß ihm der Vater bei Speise und Trank gegenüber, legte ihm die besten Bissen vor, stieß mit ihm an, schien aber mit dem zurückzuhalten, was er auf dem Herzen hatte. Erst wenn es dunkel geworden war, bekam das Gespensterhaus Besuch. Zu zweien und dreien kamen Männer aus allen Stadtgegenden herbei, zumeist Arbeiter und Handwerksmeister, doch auch unzufriedene Offiziere und gemaßregelte Geistliche. Wolff wußte, das waren die Nazarener, und unter ihnen die Führer der Bewegung. Diese Leute bekannten sich zu Jesus Christus, aber sie haßten das neue Heidentum, das seit zweihundert Jahren, auf den Namen Jesus Christus gegründet, emporwucherte. Wolff wußte auch, daß man ihn nicht aus bloßer Neugier aufsuchte. Man wollte prüfen, ob der Student die Hoffnungen der Partei nicht getäuscht habe, ob er in Athen weder zu den griechischen Atheisten noch zu den katholischen Gottesverkäufern übergegangen sei.
Wolff mochte wohl einen guten Eindruck machen. Denn etwa einen Monat nach seiner Rückkehr ins Vaterhaus trat eines Abends, während mehr als zwanzig andächtige Gäste das Zimmer füllten, der alte Biblios über die Schwelle. Damit wurde Wolff in das große Geheimnis der Partei eingeweiht. Auf den Kopf des alten Biblios hatten drei alexandrinische Erzbischöfe nacheinander einen Preis gesetzt, weil er die Gottheit Christi leugnete wie sein Lehrer Arios. Jetzt erfuhr Wolff, daß der achtzigjährige Mann unter dem Schutz des alten Fähnrichs und unter Mitwissen sämtlicher Nazarener das Gespensterhaus bewohnte. Biblios hatte als junger Mann unter den letzten Christenverfolgungen der heidnischen Kaiser zweimal die Tortur ausgehalten, ohne Jesus Christus zu verleugnen. Dann hatten christliche Kaiser die Verfolgung eingestellt, aber ein neuer Erzbischof von Alexandria hatte dem Märtyrer Biblios die rechte Hand abhauen lassen, weil Biblios auf die Dogmen des großen Konzils nicht schwören wollte. Und dieser Mann war jetzt der Führer der nazarenischen Bewegung. Daß Biblios in der Stadt war, daß er überhaupt noch lebte, durften die Feinde, die Herren der Kirche, nicht erfahren.
Heute nacht sollte in den unterirdischen Räumen des Gespensterhauses eine allgemeine Nazarenerversammlung stattfinden. Jetzt hatten sich vorerst bloß die Eingeweihten und die zuverlässigen Anhänger des Biblios vereinigt, um das Programm der Versammlung endgültig festzustellen und den neuen Genossen auf den bevorstehenden Kampf vorzubereiten. Man wollte Stellung nehmen zur Bischofswahl, die jeden Tag durch den Tod des Theophilos das wichtigste Ereignis werden konnte. Die nazarenische Partei war fest entschlossen, für den liberalen Timotheos zu stimmen und zu wirken; und Wolff sollte den besonderen Auftrag erhalten, in seinen akademischen Kreisen, das heißt unter den gebildeten und darum gleichgültigen Christen, ebenfalls für den duldsamen Mann zu agitieren. Nach einiger Überlegung erklärte sich Wolff bereit.
Das Gespräch wandte sich unter der Leitung des Biblios immer enger den Fragen der politischen Parteitaktik zu. Innerhalb der Nazarener, welche mit den Lehren Jesu Christi Ernst machten, die Beschlüsse der Konzilien umstoßen, die Religion auf einige wenige biblische Sätze beschränken und eine werktätige Fürsorge für die Enterbten durchführen wollten – innerhalb dieser Partei hatte sich unter der Führung eines Steinträgers die Gruppe gebildet, welche die griechischen Nazarener Exukontianer, die römischen Beamten aber auf Lateinisch Nihilisten nannten. Biblios hätte die größte Masse seiner Anhänger verloren, wenn er den Steinträger um seiner Anarchiepredigten willen aus der Partei ausgestoßen hätte. So handelte es sich für die Eingeweihten darum, diese wilde Masse gegen ihren Willen zum Guten zu lenken.
Wolff verhehlte nicht, daß ihm diese Taktik mißfiel. Lüge und Verstellung beherrschte die ganze Welt. Das sei nicht anders möglich zwischen feindlichen Gewalten. Aber unter Brüdern sollte Offenheit walten, und die Nazarener habe er sich immer als Brüder gedacht.
Biblios suchte die Verstimmung des jüngsten Genossen zu zerstreuen. Ordnung sei in allen großen Dingen nötig. Der Staat müsse ein Oberhaupt haben und auch die Kirche. So frei ein Nazarener sie auch wünsche, dürfe sie doch nicht den Launen jedes Steinträgers anheimgegeben werden.
Es war offenbar, der alte Biblios, der zwiefache Märtyrer des Christentums und seiner Ketzerei, vertrug in seinem hohen Alter keinen Widerspruch mehr. Seine Getreuen lauschten andächtig, als er nun das Wort keinem anderen mehr ließ und aus dem Gesprächston immer mehr in den eines Lehrers verfiel. Er sah herrlich aus, wie er gerade unter den Waffen des alten Fähnrichs dastand, leichenfahl auch unter dem rosigen Schein der ewigen Lampe, und mit den Blicken eines Überwinders zu Wolff hinüberschaute. Ein weißes Priestergewand floß ihm von den Schultern bis an die Knöchel nieder, weiß war der lange, schmale Bart, weiß die oft ausgestreckte linke Hand, und blutigrot erschien nur der Stumpf, wenn er einmal den rechten Arm erhob.
Wolff hatte keine Gelegenheit mehr, seine Bedenken auszusprechen. Für alle Anwesenden schien es ausgemacht, daß die Partei zu tun und zu denken hätte, was Biblios wollte und dachte. Nur der alte Fähnrich blickte gierig nach Wolffs Augen, als traute er den Kenntnissen seines Sohnes mehr als selbst den Erfahrungen des Märtyrers.
Unten schien es heute entweder sehr lebendig zu werden oder sehr gespenstisch. Von der elften Stunde an huschte es unaufhörlich über den Flur.
Biblios war in seiner Begeisterung für die Ordnung allmählich zu einer Verherrlichung des römischen Kaisertums gekommen.
Wer ein Freund der Ordnung ist, der muß es den Kaisern Dank wissen, daß sie in rastloser Arbeit bemüht sind, das ungeheure Netz der römischen Staatsverwaltung instand zu halten, dieses Riesennetz, dessen Fäden alle schließlich in ihrem goldenen Hause zusammenlaufen und das jeder Kaiser unbeschädigt seinem Nachfolger vererben möchte. Es ist ein großes Ding, so ein Netz, und es nur zu flicken, ist eine kaiserliche Aufgabe. Darum flicken sie es mit allem, was nützlich ist für die Staatszwecke. Hungersnot und Pest, Krieg und Feste, Menschen und Götter sind den Kaisern nur Flickzeug für das Staatsnetz. So zeigte sich der erste Konstantinos als ein weiser Kaiser, da er die lange verfolgten Christen freundlich aufnahm und sie anwies, im Osten des Reichs das Netz zu flicken. Dabei wollten die Kaiser alle Mühseligen und Beladenen nur entlasten, um sie zu besseren Bürgern zu machen. Und wenn die Bischöfe nicht gekommen wären, so hätte das wahre Christentum allmählich das Reich erfüllt. Oh, die Kaiser sind niemals dumm, denn ihr Vorteil ist Staatsvorteil!
Wer weiß, wohin Biblios noch gekommen wäre, wenn nicht ein dumpfes Geräusch von unten die Ungeduld der großen Versammlung verraten hätte.
Sofort brach der Märtyrer seinen Vortrag ab und führte seine Freunde über wohlbekannte Treppen und Gänge hinab in die unterirdischen Wölbungen des Gespensterhauses. Wolff hatte sich selbstverständlich angeschlossen. Neben ihm schritt der alte Fähnrich und schien ängstlich auf ein Wort der Entscheidung zu lauern.
Am Ende eines langen Ganges, hinter welchem Wolff als Kind die stärksten und gefährlichsten Ungeheuer vermutet hatte, öffnete sich eine eiserne Tür. Sie war von einigen Bewaffneten bewacht. Achtungsvoll ließ man Biblios und seine Schar eintreten in einen weiten gewölbten Raum, in welchem sich beim Schein weniger Fackeln wohl tausend Genossen versammelt hatten. Biblios begab sich sofort auf eine Art Kanzel und eröffnete von da aus die Versammlung. Zuerst bitte er um Absolution für den bewährtesten Genossen, den alten Fähnrich, der mit seiner Erlaubnis dem blutigen Erzbischof zu Willen gewesen sei und das Götzenbild zerschlagen habe. Denn am Ende komme die Zerstörung der heidnischen Tempel doch auch dem wahren Christentum zugute.
Ein beifälliges Gemurmel ging durch den weiten Raum. Nur aus der Ecke links vom Eingang ließen sich Spottrufe hören. Dort standen die Exukontianer oder Nihilisten und spotteten über die Weltklugheit des Biblios.
Biblios rief erregt:
»Die Klerisei hält unseren alten Fähnrich für eine verdammte Seele, die ihr unbedingt zu Willen ist. Dieser Täuschung haben wir es zu verdanken, daß unsere Partei nun seit mehr als zwanzig Jahren in diesen Räumen in Sicherheit beraten kann. Sollen wir diesen Vorteil aufgeben?«
»Nein,« rief der Steinträger aus der Ecke, »wenn die Partei nichts weiter will, als in Sicherheit beraten! Wir aber wollen hinaus auf die Straße, mit den Waffen unser Blut... Revolution!«
»Revolution!« hallte es hundertstimmig aus der Hallenecke wider.
»Und wollt ihr enden wie dieser hier?«
So dicht die Männer auch standen, sie schufen Raum und leuchteten mit Fackeln herein, so daß plötzlich eine Leiche sichtbar wurde, die neben der Kanzel lag – ein Genosse, der sich in der Kirche vor den frommen Betern gegen die Predigt eines Geistlichen empört und verraten hatte, daß er Nazarener war. Man hatte ihn darauf zwingen wollen, die Genossen zu nennen. Stumm war er unter der Folter gestorben.
Der Anblick des Todes ließ die Opposition einen Augenblick erlöschen. Dann brach sich der Steinträger Bahn durch die Versammelten, setzte einen Fuß auf die Leiche und schrie:
»Dieser tote Mund, verzerrt von Henkersqualen, er ruft: ›Wehe allen Pharisäern! Der Zimmermannssohn ist auf die Welt gekommen, um zu brechen das Joch und zu lösen den Fluch Adams, um damit ein Ende zu machen, daß im Schweiße ihres Angesichts arbeiten müssen, die nur Gottes Sonne genießen wollen! In dem römischen Staate, der eine Verschwörung von einigen Tausend gegen so viele Millionen geworden war, sprach er das Wort der Erlösung, und aus Wohnungen, die Grüfte waren, krochen hervor die fleischlosen Brüder wie am jüngsten Tage! Da entsetzten sich die Verschworenen und die Mächtigen und die Herren und schlossen einen neuen Bund und kauften mit Mitteln und Titeln die Bewahrer des Erlöserwortes. Und da nannten sie sich selbst Herren und Bischöfe und schlossen ihren Bund mit dem römischen Kaiser, und mit den Erlöserworten selbst peitschten sie die fleischlosen Brüder in die Grüfte zurück und breiteten über die Erde ein Leichentuch, dichter, als es früher gewesen war. Man hat uns um das Wort betrogen! Nieder mit den Verrätern! Zu den Waffen! Revolution!‹«
Minutenlang tobten die Anhänger des Steinträgers. Dann wurde es still, und Biblios sprach ruhig, als ob die Unterbrechung nicht dagewesen wäre:
»So laßt uns unseren Toten begraben.«
In feierlichem Zuge und unter leisen Totengesängen trug man die Leiche hinweg durch schmale, finstere Gänge, die unregelmäßig verliefen, aber doch immer ungefähr in der Richtung nach der Wüste, nach der alten ägyptischen Totenstadt führten. Zweimal öffneten sich die dunklen Wölbungen zu großen Hallen, christlichen Begräbnisstätten aus der Verfolgungszeit. Dann traten an Stelle der gemauerten unterirdischen Gänge natürliche Klüfte, und die endeten in einer Felsenhalle, die allen Versammelten Raum gewährte und an deren Wänden Grabinschriften verrieten, daß es die Begräbnisstätte der Nazarener war. Der alte Fähnrich flüsterte seinem Sohn zu, daß von hier aus –dort wo kaum mannsbreite Steinstufen aufwärts in ein schwarzes Grab zu leiten schienen – ein enger, aber gangbarer Felsenspalt emporführte bis in ein vergessenes und verstecktes ägyptisches Grab und von dort ins Freie.
Nachdem man den Leichnam in einer Felsenhöhlung bestattet hatte, wurde die Öffnung zugemauert. Biblios hielt eine Ansprache, in welcher er alle Genossen zur Demut und Eintracht ermahnte.
Nach einer guten halben Stunde wurde in dieser Felsenhalle der eigentliche Gegenstand der Versammlung aufgenommen. Man kehrte in den ersten Saal gar nicht zurück. Die Genossen sollten bei Tagesanbruch der größeren Vorsicht wegen über die ägyptische Totenstadt hinweg nach Alexandria zurückkehren.
Biblios führte die Beratung auf die nahe bevorstehende Bischofswahl und empfahl in ähnlicher Weise, wie er es vorher im Kreise seiner Getreuen getan hatte, für Timotheos zu wirken. Daran knüpfte sich eine Debatte, welche anfangs friedlich zu verlaufen schien; denn die meisten Redner stimmten schließlich, nachdem sie ihre Privatbedenken losgeworden waren, für die Meinung des Märtyrers Biblios. Erst als einer der gemaßregelten Geistlichen unklugerweise das Glaubensbekenntnis des Timotheos vorlas, um ihn dadurch den Nazarenern besonders zu empfehlen, war den Gegnern eine Handhabe geboten.
Der Steinträger stellte dem Bekenntnis das seiner eigenen Gruppe gegenüber. Vom ganzen Alten und Neuen Testamente ließ er nichts für echt gelten als die Bergpredigt, diese kommentierte er unter den Jubelrufen seiner Anhänger, gründete auf jeden Satz den Umsturz der Gesellschaftsordnung und verlangte für diese Lehre die Anerkennung, daß sie das wahre Nazarenertum sei. Ebenso heftig erwiderte Biblios. Er sagte geläufig das alte Glaubensbekenntnis der Nazarener auf, wie es sich aus der arianischen Lehre entwickelt hatte und wie es vor beinahe fünfzig Jahren zum Grundpfeiler der Partei gemacht worden war. Andere Redner ergriffen das Wort. Mit etwas mehr Bildung und Weltkenntnis sprachen Handwerksmeister und Geistliche für die Dogmen des Biblios; wild und ungeschlacht, aber aus einer fanatischen Überzeugung heraus sprachen drei Arbeiter für die Meinung des Steinträgers. Immer mehr engte sich der Streit ein. Über das hohe Menschentum Jesu Christi waren die Gegner einig. Sie stritten jetzt über den wahren Willen Gottes. Drei Stunden schon dauerte das Wortgefecht.
Da nahm Biblios wieder das Wort und hoffte einen glücklichen Schlag zu führen, wenn er den Neuling Wolff als einen Unparteiischen zum Zeugen riefe. Dieser junge Mann, der einzige in der Versammlung, der ein Gelehrter wäre, der in Athen studiert hätte, müßte die Wahrheit wissen. Und Wolff, der Sohn des alten Fähnrichs, hätte sich sofort für Timotheos und damit für Biblios und seine Lehre über den wahren Willen Gottes erklärt.
Alles wurde still und blickte nach dem blonden jungen Manne, der ohne Verlegenheit mit gekreuzten Armen an der Felswand lehnte. Der alte Fähnrich selbst hatte nicht weit davon eine Fackel in eine Zwinge gesteckt, um die Meinung des Sohnes besser von seinem Gesicht ablesen zu können. Wolff war beinahe froh darüber, daß er zum Reden gezwungen wurde. Er streckte nur einmal die rechte Hand aus und sagte dann mit seiner gewohnten ruhigen Stimme:
»Ich habe meinen Beistand zugesagt, damit Timotheos gewählt würde. Und ich bitte euch alle, auch die Ezukontianer, gegen die Gottesverkäufer für ihn zu stimmen und für ihn zu agitieren. Denn Timotheos ist ein guter Mann, und wir haben auf dem erzbischöflichen Stuhl von Alexandria noch niemals einen guten Mann gehabt. Wenn ein oberster Bischof sein soll, so bin ich für Timotheos. Wenn aber die Meinung aufgestellt werden sollte, daß wir überhaupt keinen obersten Bischof brauchen, so will ich diese Meinung verteidigen. Brüder, da ihr mich anhört, so hört mich auch zu Ende an. Ihr scheint gar nicht zu wissen, daß es etwas ganz Neues ist, daß große Menschenhaufen verpflichtet sein sollen, ein und dasselbe zu glauben. Jawohl, ich habe viele Bücher gelesen, und ich sage euch, diese Neuerung haben erst die christlichen Bischöfe aufgebracht. Es ist wahr, erlogene Götzen waren die Götter der Griechen und Römer. Aber es waren gute Götzen. Sie zwangen keinen, ihnen zu opfern. Und Jesus Christus, er selbst hat den Zwang, das Gesetz, in seinem Volk abgeschafft. Ihr aber, liebe Brüder, seid mir teuer, weil ihr die einzigen seid unter den Christen, so glaubte ich bis heute, die gut sind und nicht böse Pfaffen. Nur in diesem Einen wissen wir uns einig, daß unser Heiland Jesus Christus uns erlöst hat durch sein Vorbild, durch seine Liebe von unserer Bosheit, von unserer menschlichen Schwäche. Jeden einzelnen von uns besonders hat er erlöst, denn jeder von uns hat seine eigene Bosheit und Schwäche. Gemeinsam kann uns nur ein Gefühl sein, nicht eine Satzung, nur die Liebe, nicht das Bekenntnis. Wenn ihr aber um Dinge streitet, die ihr nicht kennt, so seid ihr Pfaffen, wie die anderen auch. Pfaffen, wenn ihr heute auf das alte Glaubensbekenntnis der ersten Nazarener schwört, Pfaffen, wenn ihr aus der ganzen schönen Welt der Evangelien einige Zeilen allein herauswählt und uns auf sie allein verpflichten wollt. Im Dunkel der Nacht sind wir versammelt, um einst für die Freiheit unserer Seele zu kämpfen, und hier diese meine Arme sollen euch nicht fehlen am blutigen Tage. Aber ihr seid nicht wert zu kämpfen für die Freiheit eurer Seelen, wenn ihr euch bindet an Worte und Bekenntnisse, wie die Mönche. Eines nur darf uns binden, unser Gefühl, unsere Liebe zum Heiland, zueinander! Wer im übrigen nicht frei ist, der ist kein Nazarener!«
Es war stille in der Felsenhalle. Plötzlich stießen einige Hunderte der Versammelten einen Ruf aus, wie einen freudigen Kriegsschrei. Dann wurde es wieder still.
Biblios streckte seinen rechten Arm aus, daß der blutrote Stumpf schrecklich aus dem weißen Ärmel hervorsah. Er rief:
»So bist du abgefallen? Wir beobachteten dich aus der Ferne, wir freuten uns deines Fleißes und deines Eifers und hofften dadurch, dich, einen der Unseren, einst auf einen Bischofssitz zu bringen!«
Wolff zuckte die Achseln. Vor ihm stand sein Vater, er hob die Hände und murmelte:
»Aber ich habe ja gelobt...«
Biblios erhob seine Stimme mächtig: »Wolff, der Sohn des alten Fähnrichs, hat uns getäuscht! Sein Vater – und er wußte wohl, warum – hat uns gelobt, sein Sohn sollte ein Mönch werden, draußen in der Wüste dem wahren Christentum eine Stätte bereiten und mit seinem Ansehen unserem Rufe folgen, wenn wir einst mächtig genug geworden sind, um einen der Unseren an die Spitze der Christenheit zu berufen!«
Da schwang sich Wolff auf einen Vorsprung des Felsens und hielt sich mit der linken Hand an der Kante einer Grabwand, streckte die Rechte aus und rief:
»Das Christentum aber soll keine Spitze haben, sondern soll friedlich in jedem von uns wohnen! Mich aus der Reihe der Menschen auszuschließen, mich zum Mönche zu geloben, dazu hatte niemand ein Recht! Das könnte ich nur selbst wollen, wenn ich etwas vom Geiste Johannes des Täufers in mir fühlte! Brüder, zwingt mich nicht. Ein Christ bin ich, wahrhaft und treu, und werde eher sterben, als den Herrn zu verleugnen und etwa dem römischen Götzen zu opfern. Aber auch euren Götzen opfere ich nicht. Beklagt mich, wenn ihr müßt, weil ich nicht ganz bin, was ich möchte. Ich freue mich meines Heilands, aber ich bin nicht so sehr Christ, daß ich alle seine Lehren befolgen könnte. Ich kann nicht meine Feinde lieben, ich kann nicht meine Backe zum zweiten Streiche bieten, ich kann nicht auf die Schönheit der Welt verzichten. Vielleicht, wenn das Christentum zweitausend Jahre alt sein wird und kein Bekenntnis mehr, sondern nur noch ein Gefühl, vielleicht wird dann eine Nachfolge Christi leichter sein. Ich will sterben für meinen Heiland, aber bis dahin glücklich leben in der schönen Welt seines Vaters.«
Aristokrat und Epikuräer wurde Wolff da von der Partei des Steinträgers geschimpft, Anarchist und Atheist von den Parteigängern des Biblios. Schließlich entspann sich ein langer Streit um die Frage, ob die Welt schön sei oder nicht. Und viele Klafter tief unter der Erde, in der feuchten Felsenhalle, kämpften die Parteien darum, bis die Fackeln erloschen und durch den Spalt ein gelbliches Licht hereinschimmerte. Da löste Biblios unzufrieden die Versammlung auf. Unter allerlei nachhallendem Gezänk stiegen die Männer immer einer nach dem anderen über die Stufen der Felsenenge dem Ausgang zu, der ägyptischen Totenstadt.
Mit einer frischen Fackel geleitete der alte Fähnrich seinen Sohn und den Märtyrer durch alle Gänge und Hallen in das Gespensterhaus zurück. Biblios sprach kein Wort. Erst als sie sich auf dem Flur des Hauses im hellen Morgenlicht trennten, sagte er zu seinem Wirt:
»Ich habe dir die Tat einst verziehen, weil deine trügerische Stimme mir versprach, dein kleiner Sohn werde uns retten. Schau jetzt zu, ob dein Sohn, der Pfaffenfeind, einen Mörder absolvieren kann.«
Beleidigt und stolz ging Biblios in seinen Turm zurück. Der alte Fähnrich folgte demütig seinem Sohne hinauf in die Stube, wo die ewige Lampe ihren rötlichen Schimmer auf die alten Waffen warf. Dort tat der Alte geschäftig, seinem Sohne zur Stärkung einen Krug mit Wein zu füllen.
»Wolff, ich kann nicht lesen und nicht schreiben. Du aber weißt alles, du hast alles gelernt. Was war es mit dem Kaiser Julian?«
Wolff sagte nach einem mächtigen Zug:
»Der Pate der schönen Hypatia? Er war der letzte große Kaiser. Er war vielleicht heimlich selbst ein Nazarener. Er verstand besser als andere die Lehren des Arios. Freilich als römischer Kaiser fürchtete er die echten Christen, weil ihnen die Welt und der Staat gleichgültiger sind als das Himmelreich. Als römischer Kaiser haßte er aber auch die Kirchenfürsten, die aus dem neuen Glauben anfingen ein neues Joch zu schmieden für die Knechte des Reichs. So bedauerte er die echten Christen, und so verfolgte er die Bischöfe, welche das Wort des Heilandes verschacherten und mit dem Erlös einen neuen Staat errichteten zu ihrem eigenen Vorteil. Da täuschten die Bischöfe die echten Christen und hetzten auch sie gegen den armen Kaiser.«
Der alte Fähnrich beugte sich vor seinem Sohne und rief:
»Wolff, da hilft ja nichts. Du hast ja doch in deinen Büchern alles gelesen. Du hast gewiß verstanden, worauf Biblios vorhin angespielt hat, du hast in deinen vielen Büchern gewiß auch gefunden, warum dieser Bogen hier so rot ist. Sag es nur. Du weißt es ja, daß ich den Kaiser erschossen habe!«
Er stürzte zu Boden und schrie:
»Ja, ja, ja, ja, ich habe es getan, weil er mich vor dem Regiment degradiert hat, und weil alle Christen es wollten, und weil Athanasios es von mir verlangte! Hier mit diesem Bogen, von hinten, in der Morgendämmerung. Er hat es nur zwei Stunden überlebt. Ich schon fünfundzwanzig Jahre!«
»Hat es die Mutter gewußt?«
»Das weißt du nicht? Ach so, das kann ja halt nicht in den Büchern stehen. Jenseits der Alpen hatte ich sie gefunden, die Tochter eines Fürsten, nach Kriegsrecht. Sie wohnte in meinem Zelte und in meinem Hause, und beim Heiland, der Sklave war ich. Alles war umsonst. Sie wollte mich nicht. Einmal des Nachts, nach dem persischen Feldzug, ich vergaß mich, sie griff hier nach diesem Dolch, da wurde ich zornig und es entfuhr mir, welches Blut ich schon vergossen hätte. Ich weiß nicht warum, aber da wurde sie mein Weib und duldete mich freundlich. Sie bekannte sich begeistert zu der Lehre Christi. Vielleicht mochte sie mich um meiner Tat willen. Wir armen dummen Leute erfahren ja nie etwas. Sie aber war ein Fürstenkind und konnte lateinische Bücher lesen... Sie gebar dich mir und nährte dich, und du wurdest schön und stark. Und als ich dich einst unserer Kirche gelobte, damals, als ich erfuhr, daß der Bischof ein Ketzer wäre und nur Biblios den wahren Glauben hätte, da bat mich mein Weib um Urlaub und ging mit dir in ihre Heimat. Sie wollte, sagte sie, sehen, ob ihre Verwandten noch lebten, und wie sie lebten. Ich glaube, sie wollte für dich ein Fürstentum suchen in ihrer Heimat. Fünf Jahre ließt ihr mich allein. Fünf Jahre hat sie für dich ein deutsches Fürstentum gesucht. Dann kam sie zurück, müde und blaß. Sie starb und du warst groß geworden. Und Uli nannte sie dich jetzt. Wolff, um deiner Mutter willen verlaß mich nicht. Ich weiß ja nicht, was ich getan habe!«
Der alte Fähnrich strich sich die grauen Flechten aus dem Gesicht, um Wolff besser in die Augen sehen zu können. Dann lachte er auf und preßte den Sohn an seine Brust.