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Diese Geschichte, die ich schon 1785 nach einer mündlichen Erzählung bekannt machte, ist nachher von der – Deutschlands Hochachtung durch Geist und Herz so sehr verdienenden – Frau von der Recke in ihrer über Cagliostro bekannt gemachten Schrift 1787 noch einmal erzählt und in einigen Nebenumständen berichtigt worden. Ich habe von diesen letztern hier Gebrauch gemacht.
Ein junger kurländischer Bauer, der auf einer Herrschaft Was man in Kurland Gebiet nennt. des Grafen von Medem, als Knecht in dem Gesinde Das Gesinde heißt in Kurland die Wohnung eines Bauern mit allen Wirtschaftsgebäuden, da es in Kurland eigentlich keine zusammenhängenden Dörfer gibt. – Graf von Medem war der Vater der schon erwähnten edlen Elise und der Herzogin von Kurland. seines älteren Bruders diente, kam, um sich ein ruhigeres Leben und größere Achtung bei seinen Mitgenossen zu erwerben, auf den Einfall: Ob es nicht möglich sein sollte, sich in den Ruf einer gewissen Heiligkeit zu setzen?
Die Emsigkeit, mit welcher er alle Sonntage in die Kirche ging, die Andacht, mit welcher er der Predigt zuzuhören schien, ein dreimaliger Genuß des Abendmahls im Jahr und ein sanfter, schleichender Ton in Worten und Werken schienen ihm zur Erreichung seines Endzwecks noch nicht hinreichend. Er suchte auch seine Verbindung mit dem Himmel durch Tatsachen zu bewähren, die allerdings mehr ins Auge fielen.
Denn so oft ihn jemand beleidigte, ertrug er Recht und Unrecht zwar mit größter Geduld, höchstens mit einer christlichen Warnung, schlich aber um die Wohnung und die Wirtschaft des Beleidigers so lange ganz im Stillen, bis er seinen Vorteil ersah und das beste Roß im Stalle, die schönste Kuh im Hofe oder sonst ein vorzügliches Stück Hausvieh – tot da lag. War ihm diese schändliche Tat nun gelungen und fand man den Schaden, dann gesellte er sich, wie von ungefähr, zu den Gekränkten, ließ sich alles erzählen, hörte mit sichtlicher Teilnahme zu, bedauerte und tröstete, mischte aber auch immer in seine Worte die Erinnerung: Ob sie nicht daran gedächten, wie er neulich von ihnen gekränkt, sie von ihm gewarnt worden wären? Gott verlasse diejenigen nicht, die ihm vertrauten, aber er strafe auch jene, die seine Lieblinge antasteten.
Freilich hätte eine solche Rede wohl gegen ihn Verdacht erregen können! Doch nicht gerechnet, daß er sich deren gegen Menschen bediente, die eben nicht mißtrauisch waren, so verband er sie auch mit Maßregeln, die allen vielleicht möglichen Argwohn ersticken mußten. Ja, nicht selten trieb er seine Heuchelei so weit, daß er selbst von seiner geringen Barschaft zum Ersatz des Schadens freiwillig etwas beitrug!
Man hielt ihn daher in der Tat für einen frommen, nur etwas kopfhängerigen Mann. Er konnte schon auf einen ansehnlichen Teil seiner Mitbauern nach Wunsch und Belieben wirken. Die beste Kost und die wenigste Arbeit ward ihm zu Teil. Die Würde eines halben Heiligen ward errungen. Er hoffte bald seinen ganzen Endzweck zu erreichen, wenn es ihm nur noch mit einem recht auffallenden Beispiele gelänge.
Einst, als er, den Sonntag darauf, wieder zum Abendmahl gehen wollte, befahl ihm sein älterer Bruder, in nächster Woche mit Korn nach Liebau auf den Markt zu fahren. Es war Winter, das Wetter gerade um diese Zeit höchst unfreundlich, der Weg dahin schlecht und das ganze Geschäft unserm Halbheiligen unangenehm. Er brachte daher einen andern Knecht dazu in Vorschlag, erhielt aber zur Antwort: daß dieser ebenfalls schon seine bestimmte Arbeit habe. Ein kleiner Wortwechsel entstand nun zwischen den Brüdern. Der Jüngere erklärte: daß er zwar reisen wolle, daß er aber seinen Bruder und dessen Kinder bedaure, »denn Gott werde es nicht ungerächt lassen, daß man einen seiner Lieblinge absichtlich kränke«. Der Ältere behauptete wie billig, daß die jenem aufgetragene Arbeit keine Kränkung wäre, lachte über die ihm angedrohte Strafe und erkühnte sich zu sagen: daß ein Liebling Gottes auch arbeiten müsse. Der träge Heuchler mußte endlich nachgeben, versprach mit Anfang nächster Woche zu reisen, blieb aber immer bei der Besorgnis: daß die Reue nur allzu früh sich einstellen werde.
Er hatte recht. Dieser kleine Zwist fiel freitags vor. Des Sonnabends darauf, als nach kurländischer Sitte der Hauswirt nebst seinem Gesinde im Bade – welches immer in einer kleinen Entfernung von der Wohnung zu liegen pflegt – sich befanden, hörten sie plötzlich: Feuer! Feuer! rufen, sprangen erschrocken, größtenteils nackend heraus und sahen ihre Wohnung in voller Flamme stehen. Rettung war unmöglich. Alle Gebäude, alle Vorräte des Bauern, alle Habseligkeiten von ihm und seinen Knechten gingen in der Flamme auf.
Der jüngere Bruder hatte zuerst die Lohe erblickt, zuerst Feuer! gerufen, doch so gut wie die Übrigen alles verloren. Aber mehr über den Verlust seines Bruders als über seinen eigenen betrübt – manchem Heiligen der ältern und manchem Mächtigen der neuern Zeiten gleich, daß er ein Unheil beklagte, welches er selbst angestiftet hatte, fragte er jenen nun: Ob er noch seiner gestrigen Rede gedenke? »Sagt ich dir es nicht, lieber Bruder? Warnt' ich dich nicht? Wirst du nun einsehen, daß Gott seiner und der Seinigen nicht spotten läßt?« Und ging des andern Morgens mit der Miene der frömmsten Ergebenheit nebst mehrern seiner Mitbauern zur Kirche, sprach noch unter Weges in den erbaulichsten Ausdrücken von der gestrigen Rache des Himmels und bereitete sich demütigst vor, das Nachtmahl zu empfangen.
Schon seit geraumer Zeit war er auch hierbei aus Scheinheiligkeit gewohnt, ganz der Letzte zu sein, der vor dem Altar hinkniete. Die Kälte war heute äußerst groß; dem Priester, einem guten, aber durch das Alter schon geschwächten Greis, zitterten die Hände heute zweifach, weil der Frost sie erstarrte, der lange Verzug sie ermüdete. Als daher jetzt jener Letzte niederknien und der Geistliche die Hostie ihm reichen wollte, ließ er sie fallen, und sie zerbrach. So äußerst natürlich dieser Zufall war, so sehr bestürzte er den Heuchler, der wohl fühlte, wie unwürdig der christlichen Gemeinschaft er hier kniee. Er hob daher die Hostie von der Erde auf, steckte sie zitternd in den Mund und ging den Übrigen nach, um den Altar herum.
Der Priester fing nun an den Kelch auszuspenden. Je länger er dieses tat, je mühsamer ward es ihm. Nun kam der Letzte; durch sein vorheriges Versehen wahrscheinlich selbst ein wenig aus der Fassung gebracht, wollte der Geistliche den Kelch recht festhalten. Gerade dadurch gelang es ihm um so minder. Der Kelch glitt ebenfalls aus seiner Hand. Der ganze Wein war verschüttet. Nicht einen Tropfen davon hatte der Heuchler erhalten.
Die Posaune des Weltgerichts hätte den Elenden kaum stärker erschrecken können, als dieser Vorfall es tat. Die bangste Gewissensangst bemächtigte sich seiner. Es ist entschieden, dachte er, Jesus Christus entzieht dir sein Versöhnungsopfer! Will seinen Leib und sein Blut nicht mehr von dir entheiligen lassen. Vor aller Welt hat er dies jetzt kund gemacht. Strafe, zeitlich hier und ewig dort, wird auf dem Fuße nachfolgen. Nur noch ein freiwilliges Geständnis kann sie vielleicht wenigstens mildern! Er konnte kaum die noch wenigen Minuten des noch rückständigen Gottesdienstes abwarten. Gleich nach demselben mithin – wohlbemerkt, noch in der ersten Hitze – flog er zum Prediger, fiel zu seinen Füßen, beschwur denselben, ihm zu helfen, erbot sich, alles zu gestehen, und legte, da dieser gar nicht wußte, was er vergeben und wie er helfen solle, das unbefangenste Geständnis ab: daß er sich bei seinen Mitbrüdern das Ansehen eines Lieblings der Gottheit habe geben wollen, daß er deshalb das Vieh seiner Nachbarn gemordet und auch gestern die Wohnung seines Bruders angezündet habe; daß es ihn aber nun von Herzensgrunde reue und er der fromme Christ wirklich werden wolle, für den er bisher nur gegolten habe.
Man kann sich leicht denken, wie erstaunt der Geistliche bei diesem Geständnis da stand. Sein Gewissen gab die Verschweigung der Schuld nicht zu. Der Missetäter ward verhaftet. Nach unsern Gesetzen wäre sein Tod – oder in einigen Provinzen Deutschlands eine den Tod an Bitterkeit noch übertreffende, unerläßliche Strafe! – gewiß gewesen. Doch in Kurland haben alle Gutsbesitzer auf ihren Gütern die so genannten hohen Gerichte. Der gütige Graf von Medem ersetzte (was ihm zum Teil als Gutsbesitzer schon oblag) den Schaden der Abgebrannten; und da durch den Missetäter wenigstens kein Blut vergossen worden, so legte er ihm nur eine Leibesstrafe und dreijährige Bauarbeit in Ketten auf. Zugleich aber traf er Anstalt, daß dieser Unglückliche richtigere Begriffe von der Religion, die er entweiht hatte, erhielt; und noch jetzt, Wenigstens lebte er, nichts weniger als schon betagt, 1787 noch, als Frau von der Recke die vorher erwähnte Schrift bekannt machte. nachdem er längst seine Strafe überstanden, lebt er als ein fleißiger, moralisch gebesserter Mensch zu Alt-Auz, einem Gute der Familie Medem.