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Fünfzehntes Kapitel.

Die Planke. – Über Bord. – Die falsche Fährte.

 

Das Getümmel, welches sich ungefähr eine halbe Stunde später an Deck erhob und durch Alvarados Rückkehr verursacht wurde, störte den Doktor nicht in seinem schweren Betäubungsschlaf.

Der schwarze Schoner, der »Luzifer«, war längsseit gekommen, und Alvarado ließ in möglichster Eile seine und der Mannschaft Habseligkeiten an Bord desselben schaffen.

Denn die »Medusa«, auch »Pelikan«, »Seguro« und »Benito« genannt, war verkauft worden, und ihr Erlös gab einen stattlichen Gewinn für den Mann, der das Schiff durch Betrug und falsche Wechsel an sich gebracht hatte. Alvarado und sein würdiger Steuermann befanden sich denn auch in gehobenster Stimmung.

Letzterer ging hinab, den Doktor zu wecken.

»Heda, Medizinmann, heraus da! Raus aus der Bunk Englische Bezeichnung für Koje; auch in die deutsche Schiffersprache übergegangen. da! Sie sollen jetzt eine neue Koje kriegen!« rief er den Schlafenden an. »Munter, Doktor, munter!«

Der unglückliche Mensch sah aber nichts weniger als munter aus, als er die Treppe hinaufkroch. Die Alkoholdünste lasteten ihm noch immer lähmend auf den Sinnen.

An Deck stand die Mannschaft in verschiedenen Gruppen zusammengerottet. Die Leute murrten. Sie wollten nicht hinüber auf den Schoner. Einige drohten mit offenem Widerstand. Aber es half ihnen nichts. Die Kerle, welche zu Alvarado hielten, und ihrer war die Mehrzahl, warfen sich auf die Unzufriedenen und zwangen dieselben, teils gebunden und unter Mißhandlungen, hinab in die Boote. Alvarado, Wittmarsch und ihre Verbündeten zeigten sich jetzt in ihrem wahren Lichte. Widerstand war nutzlos. Der Piratenführer hatte keine Veranlassung mehr, die Behörden zu fürchten. Er befand sich in seinem Element.

Die Überschiffung ging schnell von statten.

»Gott sei Dank,« sagte Doktor Schuster zu sich selber, als er sich an Deck des Schoners umschaute, »Gott sei Dank, daß Willy Arnold aus dieser Mordgesellschaft glücklich entkommen ist!«

Dann aber stand er plötzlich wie versteinert, denn in der Mitte der gebundenen Matrosen, denen man noch immer die Fesseln nicht abgenommen hatte, erblickte er Willy Arnold.

»Arnold!« rief er; »Unglücklicher! Hat man Sie wieder eingefangen?«

»Ja,« antwortete der arme Willy leise. »Alvarado sah mich von seinem Boote aus und schleppte mich wieder zurück. Ich war bereits dicht unter Land. Gott will nicht, daß ich wieder nach Hause kommen soll!«

»Doch, mein Junge, doch! Nur Mut und fest auf Gott vertraut! Und ich bin auch noch da, und ich helfe Ihnen, wann und wo ich kann.«

»So! Sie wollen ihm also schon wieder helfen?« brüllte Wittmarsch, den Doktor bei der Schulter packend. »Hier, Kapitän, dies ist der Mann, der dem Jungen zur Flucht verholfen hat!«

»Das dachte ich mir,« entgegnete Alvarado, der funkelnden Blickes herankam. »Bindet den Halunken!«

Noch ehe der Doktor Widerstand leisten konnte, waren ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt, die Füße gebunden, und dann warf man ihn zu den übrigen Gefangenen an Deck nieder.

»Um meinetwillen!« stöhnte der arme Willy. »Um meinetwillen! O mein Gott, erbarme dich seiner!«

Inzwischen war die Überschiffung beendet, und man hatte die Boote in die Davits gehißt. Man lichtete den Anker, setzte die Segel, und bald rauschte der Schoner flußabwärts dem Meere zu.

Er hatte anfänglich noch gegen den Seewind aufzukreuzen, und erst als mit Anbruch der Nacht der Landwind sich erhob, vermochte er mit voller Schnelligkeit seinen Weg zu verfolgen. Bald hatte er die offene See erreicht.

Um Mitternacht löste man den Gefangenen die Fesseln von den Füßen und eskortierte sie achteraus.

Als sie hinter dem Großmast versammelt waren, redete Alvarado sie vom Achterdeck herab an.

»Ihr habt zu wählen, Leute,« sagte er. »Tod oder Freiheit! Ein elendes Ende dort im Wasser, oder ein Leben voll von allen Genüssen, die Geld und Schätze zu verschaffen vermögen. Entscheidet euch kurz!«

Nach einigem Hin- und Herreden entschlossen sich die Matrosen, aus der Not eine Tugend zu machen und sich den Bedingungen Alvarados zu fügen. Nur zwei Hamburger Männer blieben standhaft.

»Wir haben auf der ›Medusa‹ angemustert, um ehrlichen Seefahrerdienst zu thun, und nicht um Halsabschneider und Seeräuber zu werden,« sagten die braven Teerjacken. »Wer mit dem gelben Schuft zur Hölle fahren will, der mag's thun, wir wissen, daß unser Herrgott uns einen andern Kurs steuern heißt.«

Damit spieen sie trotzig den Tabakssaft gegen Alvarados Stiefel und wendeten ihm dann den Rücken zu.

»Also ein gelber Schuft bin ich, und ein Halsabschneider und Seeräuber!« rief Alvarado giftig und wutschäumend. »Nun, ihr sollt diesmal recht haben! Heda, legt die Planke über die Regeling!«

Die umstehenden Kerle stießen einander mit erwartungsvollem Grinsen in die Seiten. Unter denen aber, die Alvarados Absicht mißbilligten, befand sich diesmal merkwürdigerweise auch Rufino Garillas, der gerade für diese beiden Matrosen von Anfang an eine Art von Neigung gefaßt zu haben schien. Er trat an den Kapitän heran und versuchte, denselben zu milderen Maßregeln zu bewegen.

»Scher' dich hinunter, Knabe!« schrie Alvarado ihn zornig an. »Unter Deck mit dir, oder aber – über Bord! Der Schleicher, der Doktor, marschiert auch mit über die Planke, ebenso sein Schützling! Da unten bei den Fischen mag er versuchen, ihm zu helfen. Vorwärts, Leute!«

Die Matrosen, welche die Planke auf die Regeling brachten, laschten zu diesem Zweck einige der an Deck liegenden kurzen Spieren los; einer der deutschen Seeleute aber schleppte dieselben nach vorn und legte sie auf die Back, bereit, sie über Bord fallen zu lassen, als Rettungsmittel für die dem Untergang Geweihten.

»Bindet ihnen auch die Hände los,« befahl der Kapitän. »Wenn sie schwimmen, dauert's länger, und die Haie haben eine bessere Jagd!«

Die Mannschaft hatte sich jetzt am Fallreep versammelt und bildete, vom Steuermann geordnet, hier einen Halbkreis. Eine lange Planke lag von der Großluk aus weit über die Regeling hinaus, schräg nach oben gerichtet, am inneren Ende von Leinen gehalten, die dem Brett einen großen Spielraum zum Kippen gewährten.

Die beiden Matrosen, der Doktor und Willy wurden auf die Großluk, am Ende der Planke aufgestellt.

Einer der Hamburger trat kaltblütig vor und schickte sich an, die Planke hinauf zu rennen.

»Halt!« rief Alvarado, der ebenfalls auf der Luk stand. »Widerrufe oder lauf!«

Damit richtete er seinen Revolver auf den Mann.

Dieser blickte erst auf die Waffe, dann auf die Planke. Ohne ein Wort zu erwidern, erhob er dann blitzschnell die Faust und versetzte dem Kapitän einen fürchterlichen Schlag, der denselben zehn Schritte weit davontaumeln ließ.

»Bindet ihm die Hände!« schrie der Bandit.

Schon aber war der Matrose in langen Sätzen die Planke hinaufgesprungen. Dieselbe kippte über und er stürzte in die See.

In demselben Moment plumpte etwas von der Back hinab ins Wasser – das war eine der Spieren. Der Schoner brauste vorüber.

Der zweite Matrose kam an die Reihe. Der Unglückliche sprang todesmutig, ein echter Mann. Aber er geriet unter den Kiel und kam nie wieder zum Vorschein.

»Vorwärts, Doktor!« rief jetzt der Steuermann. »Jetzt sind Sie dran! Zieren Sie sich nicht, da unten giebt's zu trinken genug!«

»Ah, Verräter!« zischte Alvarado zwischen seinen weißen Zähnen hervor, »jetzt erhältst du deinen Lohn, den du lange verdient hast!«

»Den ich lange verdient habe!« nickte der Doktor ruhig und ernst. »Ich danke meinem Gott für seine Langmut und bitte ihn um Barmherzigkeit. Ihnen aber verzeihe ich von Herzen. Sie thun mir nicht so schlimmes, wie Sie meinen.«

»Auch predigen kann der Trunkenbold?« lachte Wittmarsch. »Das habe ich gar nicht gewußt. Aber nun lauf, Kerl, lauf, und nimm den Bengel hier mit dir!«

Damit packte er Willy mit seinen gigantischen Armen, hob ihn hoch empor und warf ihn im Schwunge über Bord.

Außer sich vor Wut und Entsetzen stürzte sich der Doktor auf den Unmenschen und umkrallte mit der Kraft der Verzweiflung den Hals desselben.

»Reißt ihn zurück! Reißt ihn zurück!« kreischte Wittmarsch. »Er ist wahnsinnig! Er reißt mir die Gurgel aus!«

Alvarado aber, der einzige, der sich zum Beistande des Steuermanns bereit gefunden hätte, war, unter den Folgen des Schlages laborierend, in die Kajüte gegangen. Die farbigen Seeleute schauten den Ringenden grinsend zu, die Weißen rührten keinen Finger. Ihr heimlicher Beifall aber ging teils in Bewunderung, teils in Schrecken über, als sie sahen, wie der Doktor den riesenstarken Steuermann mit sich auf die Planke riß und dann mit demselben in die Tiefe stürzte. Die Wogen brausten hoch auf, und ihr Schaum zerrann gleich darauf in dem wirbelnden Kielwasser des »Luzifer«. –

*

Während das Piratenschiff seinen fluchbeladenen Weg verfolgte, schickte sich in Para ein mit den Freibeutern der chilenischen Küste in Verbindung stehender Händler zu einer Reise stromaufwärts an. Derselbe hatte den Verkauf der »Medusa« vermittelt und sich sodann bereit erklärt, während seiner Expedition ins Innere den Namen Alvarado zu führen, um so die Verfolger des Piraten, an deren demnächstiger Ankunft in Para nicht zu zweifeln war, auf eine falsche Fährte zu locken. Auf diese Weise geschah es, daß wir, Kapitän Dickson, Don Lamberto, Don Claudio und meine Wenigkeit, auf der Jagd nach einem Phantom den ganzen südamerikanischen Kontinent, von den Gestaden des Atlantischen Oceans bis zu denen des Stillen Meeres, durchkreuzen mußten, während der Verbrecher sich bereits des armen Willy entledigt hatte und ruhig das Kap Horn umschiffte.


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