Prosper Mérimée
Arsène Guillot
Prosper Mérimée

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I.

In Sankt Rochus war die letzte Messe eben zu Ende, und der Küster machte die Runde, um die verlassenen Kapellen zuzusperren. Er wollte das Gitter eines jener aristokratischen Kirchenstühle schließen, wo manche fromme Damen sich die Erlaubnis, vor den übrigen Gläubigen ausgezeichnet, zu Gott zu beten, erkauft haben, als er bemerkte, daß noch eine Frau darinnen war, die, wie es schien, in stille Betrachtungen versunken, den Kopf auf die Rücklehne ihres Sessels neigte. »Das ist Frau von Piennes,« sagte er sich, am Kapelleneingange verharrend. Frau von Piennes war dem Küster gut bekannt. Zu jener Zeit war es für eine junge, reiche und hübsche Dame der Gesellschaft, die in die Messe ging, Altardecken schenkte und durch ihres Pfarrers Vermittlung reiche Almosen spendete, recht verdienstvoll, fromm zu sein, wenn sie mit keinem Regierungsbeamten verheiratet, nicht mit der Frau Dauphine verbunden war, und außer ihrem Seelenheile nichts durch vieles Kirchenbesuchen zu gewinnen hatte. Und so stand es um Frau von Piennes.

Der Küster hatte große Lust zum Mittagessen zu gehn, denn solche Leute essen um ein Uhr. Wagte aber die fromme Sammlung eines in der Pfarrei von Sankt Rochus so geschätzten Wesens nicht zu stören. Er entfernte sich also, die ausgetretenen Schuhe auf den Fliesen klappern lassend, nicht ohne die Hoffnung, daß, wenn er den Rundgang durch die Kirche gemacht, er die Kapelle leer finden würde.

Er war bereits auf der anderen Chorseite, als eine junge Frau in die Kirche trat und neugierig um sich schauend, in einem der Seitenschiffe auf und abging. Altarblätter, Stationen, Weihwasserkessel, all diese Gegenstände schienen ihr ebenso fremd, wie es für Sie, gnädige Frau, die heilige Nische oder die Inschriften einer Rairenser Moschee sein könnten. Etwa fünfundzwanzig Jahre war sie alt; man mußte sie aber sehr aufmerksam betrachten, um sie nicht für älter zu halten. Obwohl ihre schwarzen Augen sehr funkelten, lagen sie tief in blauen Ringen; ihre farblosen Lippen kündigten Leiden an, während eine gewisse kecke und frohe Miene in diesem Blicke lebhaft mit solch kränklichem Aussehen in Widerspruch stand. In ihrem Anzuge würden Sie eine seltsame Mischung von Nachlässigkeit und Gesuchtheit gefunden haben. Ihr mit künstlichen Blumen geschmückter Kapotthut hätte besser für eine kleine Abendgesellschaft gepaßt. Unter einem langen Kaschmirschal, deren erste Besitzerin sie nicht war, wie das geübte Auge einer Dame der Gesellschaft erraten haben würde, verbarg sich ein etwas abgenutztes Kleid aus Kattun, die Elle zu zwanzig Sous. Ein Mann endlich würde ihren Fuß bewundert haben, wenn er auch mit gewöhnlichen Strümpfen und pflaumenblauen Schuhen bekleidet war, die seit langem die Unbilden des Pflasters zu erdulden schienen. Der Asphalt, gnädige Frau, war, wie Sie sich erinnern, noch nicht erfunden worden.

Diese Frau, deren soziale Stellung Sie haben erraten können, näherte sich der Kapelle, wo Frau von Piennes sich befand; und nachdem sie die einen Moment mit etwas unruhiger und verwirrter Miene betrachtet hatte, näherte sie sich ihr, als sie sie aufstehen und im Begriffe fortzugehn sah.

»Könnten Sie mir angeben, gnädige Frau,« sagte sie mit sanfter Stimme und einem schüchternen Lächeln, »könnten Sie mir angeben, wohin ich mich wenden muß, um eine Kerze zu weihen?«

Solch eine Sprache klang zu fremd in Frau von Piennes Ohren, als daß sie sie sofort verstanden hätte. Sie ließ sich die Frage wiederholen.

»Ja, ich möchte dem heiligen Rochus eine Kerze weihen; weiß aber nicht, wem ich das Geld dafür geben muß.«

Frau von Piennes besaß eine zu aufgeklärte Frömmigkeit, um in den Volksaberglauben eingeweiht zu sein. Doch respektierte sie ihn, denn jegliche Verehrungsform hat etwas Rührendes, wie plump sie auch immer sein mag. Überzeugt, es handle sich um ein Gelübde oder etwas Ähnliches, und zu mitleidig, um aus dem Anzuge der jungen Frau mit dem Rosahut Schlüsse zu ziehen, was Sie vielleicht furchtlos tun würden, wies sie sie an den näherkommenden Küster. Die Unbekannte dankte ihr und lief zu jenem Manne, der sie verstand, ohne daß sie alles zu sagen brauchte. Während Frau von Piennes ihr Messebuch nahm und ihre Schleier ordnete, sah sie die Kerzendame eine kleine Börse aus ihrer Tasche ziehen und daraus aus sehr vieler kleinen Münze ein einsames Fünffrankenstück nehmen und es dem Küster einhändigen, indem sie ihm ganz leise lange Ermahnungen machte, die er lächelnd anhörte.

Zu gleicher Zeit verließen sie beide die Kirche; die Kerzendame ging aber sehr schnell, und Frau von Piennes hatte sie bald aus dem Auge verloren, obwohl sie in der nämlichen Richtung ging. An der Ecke der von ihr bewohnten Straße begegnete sie ihr von neuem. Unter ihrem gebrauchten Kaschmir suchte die Unbekannte ein Vierpfundbrot zu verbergen, das sie in einem Nachbarladen gekauft hatte.

Als sie Frau von Piennes wiedersah, senkte sie den Kopf, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken und verdoppelte ihre Schritte. Ihr Lächeln sagte: »Was wollen Sie? Ich bin arm! Machen Sie sich über mich lustig, ich weiß wohl, daß man in Rosakapotthut und Kaschmirschal kein Brot kauft.« Diese Mischung von Schüchternheit, Ergebung und guter Laune entging Frau von Piennes durchaus nicht.

Nicht ohne Betrübnis dachte sie an die wahrscheinliche Lage dieses jungen Mädchens. »Ihre Frömmigkeit,« sagte sie sich, »ist verdienstvoller als meine. Sicherlich ist ihre Fünffrankengabe ein viel größeres Opfer als der Überfluß, den ich, ohne mich im geringsten zu berauben, den Armen zuwende.« Dann erinnerte sie sich an die Scherflein der Witwe, die Gott angenehmer sind als die prunkenden Almosen der Reichen. »Ich tue nicht genug Gutes,« dachte sie, »tue nicht alles, was ich tun könnte.« Indem sie sich innerlich Vorwürfe machte, die sie durchaus nicht verdiente, kam sie nach Hause. Die Kerze, das Vierpfundbrot und vor allem das Opfer des einzigen Fünffrankstücks hatten Frau von Piennes Gedächtnis das Antlitz der jungen Frau, die sie für ein Beispiel der Frömmigkeit hielt, eingeprägt.

Ziemlich häufig noch begegnete sie ihr in der Straße bei der Kirche, doch niemals im Gottesdienst. Jedesmal, wenn die Unbekannte an Frau von Piennes vorbeiging, senkte sie den Kopf und lächelte sanft. Dies gar bescheidene Lächeln gefiel Frau von Piennes. Gern hätte sie eine Gelegenheit gefunden, sich dem armen Mädchen gefällig zu erweisen, das ihr anfangs Interesse eingeflößt hatte, jetzt aber ihr Mitleid erregte, denn sie hatte bemerkt, daß der rosa Kapotthut verblich und der Kaschmirschal verschwunden war. Zweifelsohne war er zur Trödlerin zurückgekehrt. Sankt Rochus hatte das Opfer, das man ihm dargebracht, augenscheinlich nicht hundertfältig vergolten.

Eines Tages sah Frau von Piennes, wie ein Sarg in Sankt Rochus hineingetragen wurde, dem nur ein reichlich schlechtgekleideter Mann folgte, der keinen Flor um seinen Hut trug. Er sah nach einem Portier aus. Seit mehr als einem Monate war sie der jungen Frau mit der Kerze nicht begegnet, und es kam ihr der Gedanke, sie wohne deren Beerdigung bei. Nichts war wahrscheinlicher, denn sie war so blaß und mager gewesen, als Frau von Piennes sie das letzte Mal gesehen hatte. Der befragte Küster erkundigte sich bei dem Manne, der dem Sarge folgte. Der antwortete, er sei Hausmeister in einem Hause Rue Louis-le-Grand; eine seiner Mieterinnen sei gestorben, eine Frau Guillot, und da sie weder Verwandte noch Freunde, nur eine Tochter gehabt, so wohne er aus reiner Herzensgüte, er, der Hausmeister, der Beerdigung einer Person bei, die ihn nichts angehe. Sofort stellte Frau von Piennes sich vor, ihre Unbekannte sei im Unglück gestorben, hinterlasse eine kleine Tochter ohne Beistand, und nahm sich vor, durch einen Geistlichen, den sie gewöhnlich für ihre guten Werke benutzte, Erkundigungen einziehen zu lassen.

Am übernächsten Tage hielt, als sie von Hause fortfuhr, ein quer über die Straße stehender Karren ihren Wagen einige Augenblicke auf. Als sie mit zerstreuter Miene durch den Vorhang guckte, sah sie das junge Mädchen, das sie für gestorben hielt, gegen einen Prellstein gelehnt. Mühelos erkannte sie sie wieder, obwohl sie bleicher und magerer denn je, und in Trauer gekleidet, doch ärmlich, ohne Handschuhe, ohne Hut war. Sie hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, statt ihres gewöhnlichen Lächelns waren ihre Gesichtszüge verzerrt, ihre großen schwarzen Augen blickten verstört; sie wandte sie nach Frau von Piennes hin, ohne sie jedoch zu erkennen, denn sie sah nichts. Aus ihrer ganzen Haltung ließ sich nicht Schmerz, sondern ein wilder Entschluß ersehen. Der Karren hatte sich entfernt, und Frau von Piennes Wagen fuhr in scharfem Trabe weiter; doch des jungen Mädchens Bild und sein verzweifelter Ausdruck verfolgten Frau von Piennes einige Stunden lang.

Bei ihrer Rückkehr sah sie einen großen Menschenauflauf in ihrer Straße. Alle Portierfrauen waren vor ihren Türen und erzählten ihren Nachbarinnen etwas, dem sie mit lebhafter Teilnahme zuzuhören schienen. Besonders vor einem Hause, das dem von Frau von Piennes bewohnten benachbart war, drängten sich die Gruppen. Alle Augen waren auf ein offenes Fenster im dritten Stockwerke gerichtet, und in jedem kleinen Kreise erhoben sich ein oder zwei Arme, um es der allgemeinen Aufmerksamkeit kenntlich zu machen; dann senkten sich die Arme plötzlich zur Erde, und alle Augen folgten dieser Bewegung. Irgend ein ungewöhnliches Ereignis war eben geschehen.

Als Frau von Piennes ihr Vorzimmer durchschritt, fand sie ihre Dienerschaft verstört, jeder bemühte sich um sie, um als erster den Vorzug zu haben, ihr die große Neuigkeit des Viertels zu erzählen. Bevor sie aber eine Frage tun konnte, hatte ihre Kammerfrau gerufen:

»Ach, gnädige Frau! . . . wenn gnädige Frau wüßten!« . . .

Und mit unglaublicher Schnelligkeit die Türen öffnend, war sie mit ihrer Herrin in das »Sanctum sanctorum« will sagen ins Ankleidezimmer, eingetreten, das für das übrige Haus unzugänglich war.

»Ach! gnädige Frau,« sagte Fräulein Josephine, während sie Frau von Piennes den Schal abnahm, »ich bin ganz ab. Nimmer hab' ich etwas so schreckliches gesehn, das heißt, ich hab's nicht gesehen, obgleich ich im Augenblick hernach hingelaufen bin . . . Aber trotzdem . . .«

»Was ist denn nur geschehn? Erzählen Sie schnell, Kind.«

»Nun, gnädige Frau, drei Häuser von hier hat sich ein armes, unglückliches Mädchen, es ist noch keine drei Minuten her, aus dem Fenster gestürzt; wenn gnädige Frau eine Minute eher gekommen wären, würden Sie den Fall gehört haben!«

»Ach, mein Gott! Und die Unglückliche hat sich getötet?«

»Gnädige Frau, es ist entsetzlich. Baptist, der doch im Kriege gewesen ist, behauptet, nie etwas Ähnliches gesehen zu haben. Aus dem dritten Stock, gnädige Frau!«

»War sie auf der Stelle tot?«

»Oh! gnädige Frau, sie bewegte sich noch; sprach sogar. »Man soll mir den Gnadenstoß geben!« hat sie gesagt. Aber ihre Knochen waren zu Brei gequetscht. Gnädige Frau können sich denken, was für einen Schups sie sich gegeben haben muß!«

»Doch die Unglückliche . . . hat man ihr Hilfe gebracht? . . . Hat man einen Arzt, einen Priester holen lassen? . . .«

»Was einen Priester angeht, so wissen gnädige Frau besser als ich . . . wenn ich aber Priester wäre . . . Eine Unglückliche, die so verlassen ist, daß sie sich selbst tötet . . . Überdies, sowas hat kein gutes Leben geführt . . . Man sieht's häufig . . . Sie ist bei der Oper gewesen, wie man mir gesagt hat . . . Alle diese Mädchen endigen schlecht . . . Sie hat sich aus dem Fenster gestürzt; hatte ihre Röcke mit einem rosa Bande zugebunden, und . . . los!«

»'s ist das arme Mädchen in Trauer!« rief Frau von Piennes, mit sich selber redend.

»Ja, gnädige Frau; ihre Mutter ist vor drei, vier Tagen gestorben. Das hat ihr den Kopf verwirrt . . . Überdies hat ihr Liebhaber sie vielleicht versetzt . . . Und dann ist die Miete fällig geworden . . . Kein Geld, sowas versteht nicht zu arbeiten . . . Da weiß man nicht, wo einem der Kopf steht; ein böser Streich ist so schnell verübt . . .«

Fräulein Josephine fuhr noch einige Zeit so fort, ohne daß Frau von Piennes antwortete. Traurig schien sie über die soeben gehörte Erzählung nachzudenken. Plötzlich fragte sie Fräulein Josephine:

»Weiß man, ob das unglückliche Mädchen alles hat, was sie für ihren Zustand benötigt? . . . Leinen? . . . Matratzen? . . . Man soll es sogleich zu erfahren suchen!«

»Ich will von Seiten der gnädigen Frau aus hingehn, wenn gnädige Frau es wollen,« rief die Kammerfrau, entzückt, eine Frau, die sich hatte töten wollen, aus der Nähe zu sehn.

Dann, nachdenkend, fügte sie hinzu:

»Aber ich weiß nicht, ob ich die Kraft habe, sowas zu sehen; eine Frau, die aus einer dritten Etage gefallen ist! . . . Als man Baptist zur Ader ließ, ist mir schlecht geworden, das hat mich umgeworfen!«

»Schön, senden Sie Baptist,« rief Frau von Piennes, »aber bald soll man mir sagen, wie es der Unglücklichen geht.«

Glücklicherweise kam ihr Arzt, Doktor P . . ., als sie diesen Befehl erteilte. Seiner Gewohnheit gemäß kam er jeden Dienstag, den Tag der italienischen Oper, zu ihr zu Mittag.

»Laufen Sie schnell, Doktor,« rief sie ihm entgegen, ohne ihm Zeit zu lassen, seinen Stock fortzustellen und seinen wattierten Überrock abzulegen; »Baptist wird Sie führen . . . zwei Schritte von hier; ein armes junges Mädchen hat sich eben aus dem Fenster gestürzt und ist ohne Hilfe.«

»Aus dem Fenster?« sagte der Arzt. »Wenn es hoch war, hab' ich wahrscheinlich nichts mehr zu tun.«

Der Doktor hatte größere Lust zu essen, als eine Operation vorzunehmen, doch Frau von Piennes war hartnäckig, und auf das Versprechen hin, daß das Diner verschoben würde, willigte er ein, Baptist zu folgen.

Nach einigen Minuten kam letzterer allein zurück. Er verlangte Leinwand, Kopfkissen usw. Gleichzeitig brachte er den maßgebenden Entscheid des Arztes.

»Es ist nichts. Sie wird davonkommen, wenn sie nicht stirbt an . . . Ich erinnere mich nicht, an was er sagte, daß sie wohl sterben würde, das hörte aber mit »os« auf.«

»An Tetanos!« rief Frau von Piennes, »an Starrkrampf!«

»Eben das, gnädige Frau; doch immerhin ist's sehr gut, daß der Herr Doktor gekommen ist, denn es war da schon ein elender Arzt ohne Praxis, der nämliche, der die kleine Berthelot an den Masern behandelt hat; und sie ist bei seinem dritten Besuche gestorben.«

Nach einer Stunde erschien der Doktor wieder, leicht entpudert und sein schönes Spitzenjabot in Unordnung.

»Leute, die sich töten wollen, sind Sonntagskinder,« sagte er. »Neulich bringt man eine Frau in mein Hospital, die sich mit der Pistole in den Mund geschossen hat. Eine üble Weise! . . . Sie hat sich drei Zähne ausgerissen und ein Loch in die linke Backe geschossen . . . Etwas häßlicher wird sie werden, das ist alles. Die nun wirft sich aus dem dritten Stock. Ein armer braver Teufel könnte, ohne es ausdrücklich zu wollen, aus dem ersten fallen und würd' sich den Hals brechen, das Mädchen bricht sich ein Bein . . . Zwei eingedrückte Rippen, vier Kontussionen, und das ist alles. Ein Schutzdach ist zufällig da, ganz gelegen, um den Fall abzuschwächen. Das ist der dritte ähnliche Fall, den ich seit meiner Rückkehr nach Paris sehe . . . Die Beine sind zuerst auf den Boden gekommen; aber Schienbein und Wadenbein heilen wieder . . . Schlimmer ist, daß die Kruste der Steinbutte völlig ausgetrocknet ist . . . Ich fürchte sehr für den Braten und wir werden den ersten Akt Othello versäumen!«

»Und was hat Ihnen die Unglückliche gesagt, das sie getrieben hat, zu . . .«

»Oh! Solche Geschichten höre ich mir nie an, gnädige Frau. Ich frage sie: »Was haben Sie vorher gegessen?« usw. usw., weil das für die Behandlung wichtig ist. Potzblitz! wenn man sich umbringt, hat man irgend einen üblen Grund. Ein Liebhaber verläßt einen, ein Hausbesitzer setzt einen vor die Tür; man springt aus dem Fenster, um ihm etwas am Zeuge zu flicken. Man ist nicht so bald in der Luft, als man's auch schon sehr bereut.«

»Sie bereut, hoffe ich, das arme Kind?«

»Zweifelsohne, zweifelsohne. Sie weinte und führte sich auf, daß mir ganz wirr wurde . . . Baptist ist ein tüchtiger Hilfschirurg, gnädige Frau; machte seine Sache besser als der kleine Medizinstudent, den ich da antraf und der sich den Kopf kratzte, nicht wußte, wo er anfangen sollte . . . Was peinlicher für sie ist, ist, daß, wenn sie sich getötet hätte, sie nicht an Schwindsucht gestorben wäre; denn sie ist schwindsüchtig, das gebe ich ihr schriftlich. Ich habe sie nicht auskultiert, doch die »facies« trügt mich nie. Es so eilig haben, wenn man's nur gehn zu lassen braucht!«

»Sie werden sie morgen besuchen, Doktor, nicht wahr?«

»Ich muß es wohl, wenn Sie es wünschen. Habe ihr schon versprochen, daß Sie etwas für sie tun würden. Am einfachsten steckte man sie ins Hospital . . . Man würde ihr da gratis einen Apparat für die Wiedereinrenkung ihres Beins verschaffen . . . Beim Worte Hospital aber schrie sie, man solle ihr den Rest geben; alle Gevatterinnen machten den Chorus. Indessen, wenn man nicht einen Sou hat . . .«

»Ich werde die nötigen Ausgaben bezahlen, Doktor . . . Ach, das Wort Hospital schreckt wider meinen Willen auch mich wie die Gevatterinnen, von denen Sie sprachen. Übrigens, sie in ein Hospital schaffen, jetzt, wo sie in dem schrecklichen Zustande ist, hieße sie töten.«

»Vorurteil! Pures Vorurteil der feinen Leute! Nirgendwo ist man besser aufgehoben als im Hospital, wenn ich mal ernstlich krank werde, lasse ich mich ins Hospital transportieren. Von dort aus werd' ich mich in Charons Barke einschiffen, und meinen Leichnam will ich den Studenten vermachen . . . heute in dreißig oder vierzig Jahren, versteht sich. Ernsthaft, liebe Frau, bedenken Sie: Ich weiß nicht allzu genau, ob Ihr Schützling Ihrer Teilnahme auch würdig ist. Sie sieht mir ganz nach einem Opernmädchen aus . . . Man muß Balletbeine haben, um einen solchen Sprung so glücklich zu machen . . .«

»Aber ich hab' sie in der Kirche gesehn . . . und, halt, Doktor . . . Sie kennen meine Schwäche; ich baute eine ganze Geschichte auf einem Gesichte, einem Blicke auf . . . Lachen Sie, soviel Sie wollen. Ich täusche mich selten. Das arme Mädchen hat neulich ein Gelübde für seine kranke Mutter getan. Ihre Mutter ist gestorben . . . Dann hat sie den Kopf verloren . . . Die Verzweiflung, Unglück haben sie in diese überstürzte, schreckliche Handlung getrieben.«

»Recht so! Ja, tatsächlich, hat sie oben auf dem Schädel eine Anschwellung, die Überspanntheit anzeigt. Alles, was Sie sagen, ist ziemlich wahrscheinlich. Sie erinnern mich daran, daß sie oben an ihrem Gurtbett einen Buchsbaumzweig hatte. Darnach kann man auf ihre Frömmigkeit schließen, nicht wahr?«

»Ein Gurtbett! Ach, mein Gott! armes Mädchen! . . . Aber, Doktor, Sie haben Ihr spöttisches Lächeln aufgesteckt, das ich so gut kenne. Ich rede nicht von Frömmigkeit, die sie besitzt oder nicht besitzt, was mich hauptsächlich verpflichtet, mich für dies Mädchen zu interessieren, ist, daß ich mir seinetwegen einen Vorwurf zu machen habe . . .«

»Einen Vorwurf? . . . Ich verstehe. Zweifelsohne hätten Sie Matratzen auf die Straßen breiten müssen, um sie aufzufangen?« . . .

»Ja, einen Vorwurf: ich hatte ihre Lage bemerkt, ich hätte ihr Hilfe schicken müssen; doch der arme Abbé Dubignon war bettlägerig, und . . .«

»Sie müssen sich viele Gewissensbisse machen, gnädige Frau, wenn Sie glauben, es genüge nicht, wie's Ihre Gewohnheit ist, allen Bettlern etwas zu geben. Ihrer Meinung nach muß man auch noch die verschämten Armen herausfinden. – Doch, gnädige Frau, reden wir nicht mehr von Beinbrüchen, oder, vielmehr noch drei Worte. Wenn Sie meiner neuen Kranken Ihren hohen Schutz gewähren, lassen Sie ihr ein besseres Bett hinschaffen, und morgen eine Wärterin . . . heute werden die Gevatterinnen genügen . . . Fleischbrühen, verschiedene Tees usw. Und was nicht schlecht sein würde, schicken Sie ihr irgend einen guten Kopf unter Ihren Abbés hin, der ihr die Leviten liest und ihren Mut wieder in Ordnung bringt, wie ich ihr Bein wieder in Ordnung gebracht habe. Die kleine Person ist nervös, Komplikationen könnten uns überraschen . . . Sie würden . . . ja, meiner Treu, Sie würden die beste Predigerin sein, doch haben Sie Ihre Sermone wohl an besserer Stelle zu halten . . . Ich habe gesprochen. – Es ist achteinhalb Uhr, um Gotteswillen! Treffen Sie Ihre Vorbereitungen für die Oper. Baptist wird mir Kaffee bringen und das »Journal des Débats.« Den ganzen Tag bin ich so herumgelaufen, daß ich noch nicht weiß, was in der Welt vor sich geht.«

Einige Tage verstrichen, und der Kranken ging's etwas besser. Nur beklagte der Doktor sich, daß die seelische Überreiztheit sich nicht vermindere.

»Kein großes Vertrauen habe ich auf all Ihre Abbés,« sagte er zu Frau von Piennes. »Wenn Sie nicht allzu viel Widerwillen dagegen hätten, das Schauspiel des menschlichen Elends zu sehen, und ich weiß nicht, ob Sie den Mut dazu aufbringen, könnten Sie das Hirn dieses armen Kindes besser beruhigen als ein Priester von Sankt Rochus, und was mehr gilt, besser als eine Dosis Morphium.«

Frau von Piennes wünschte nichts sehnlicher, und schlug ihm vor, ihn auf der Stelle zu begleiten. Beide gingen zu der Kranken hinauf.

In einem mit drei Rohrsesseln und einem kleinen Tische ausgestatteten Zimmer lag sie auf einem guten, von Frau von Piennes geschickten Bette ausgestreckt.

Feine Laken, dicke Matratzen, ein Haufen großer Kopfkissen kündigten mitleidige Aufmerksamkeit an, deren Urheberin Sie mühelos erraten werden. Das schrecklich bleiche junge Mädchen mit glühenden Augen hatte einen Arm außerhalb des Bettes, und das Stück dieses Armes, welches aus ihrer Jacke hervorguckte, war bleifarbig, braun und blau geschlagen, und ließ erraten, in welchem Zustande ihr übriger Körper war. Als sie Frau von Piennes erblickte, hob sie den Kopf und sagte mit sanftem und traurigem Lächeln:

»Ich wußt' es wohl, daß Sie es waren, gnädige Frau, die Mitleid mit mir hatte. Ihren Namen hat man mir genannt, und ich war sicher, daß es die Dame sei, der ich in Sankt Rochus begegnete.«

Ich glaube Ihnen schon gesagt zu haben, daß Frau von Piennes sich einbildete, Menschen an ihrer Miene erkennen zu können. Sie war entzückt, an ihrem Schützling ein ähnliches Talent zu entdecken, und solch eine Entdeckung nahm sie noch mehr zu ihren Gunsten ein.

»Sie sind hier recht schlecht untergebracht, mein armes Kind!« sagte sie, ihre Blicke auf dem traurigen Zimmerhausrate spazieren schickend. Warum hat man Ihnen keine Vorhänge gesandt? . . . Man muß Baptist die kleinen Gegenstände, deren Sie bedürfen, abverlangen.«

»Sie sind sehr gütig, gnädige Frau . . . was mir fehlt? Nichts . . . Es ist aus . . . Ein bischen besser, ein bischen schlechter, was macht's?«

Und den Kopf wegwendend, fing sie zu weinen an.

»Leiden Sie sehr, mein armes Kind?« fragte Frau von Piennes, sich neben ihr Bett setzend.

»Nein, nicht viel . . . Nur saust immer der Wind in meinen Ohren wie bei meinem Sturze, und dann der Laut . . . krach! . . . als ich aufs Pflaster gefallen bin.« . . .

»Damals waren Sie wahnsinnig, meine liebe Freundin; Sie bereuen es jetzt, nicht wahr?«

»Ja, doch wenn man unglücklich ist, hat man seinen Kopf nicht mehr beieinander.«

»Sehr bedaure ich's, Ihre Lage nicht eher gekannt zu haben. Aber, mein liebes Kind, in keinerlei Lebensumständen darf man sich der Verzweiflung überlassen.«

»Sie haben gut reden, gnädige Frau,« sagte der Doktor, der an dem kleinen Tische ein Rezept schrieb. »Sie wissen nicht, was es heißt, einen schönen jungen Mann mit Schnurrbart zu verlieren. Doch, zum Teufel! um ihm nachzulaufen, braucht man doch nicht aus dem Fenster zu springen!«

»Pfui! Doktor,« sagte Frau von Piennes, »die arme Kleine hatte zweifelsohne andere Gründe, um . . .«

»Ach, ich weiß nicht, was ich hatte,« rief die Kranke; »hundert Gründe für einen. Erstens, als Mama starb, hat mir das einen Stoß versetzt. Dann habe ich mich verlassen gefühlt . . . kein Mensch kümmerte sich um mich! . . . Endlich hat einer, an den ich mehr als an alle Welt dachte, . . . gnädige Frau, mich bis auf meinen Namen vergessen! Ja, ich heiße Arsène Guillot. G, u, i, zwei l; er schrieb mich mit einem y.«

»Ich sagt' es ja, ein Treuloser!« rief der Doktor. »Immer dasselbe! Bah, bah, meine Schöne, vergessen Sie das! Ein Mann ohne Gedächtnis verdient nicht, daß man an ihn denkt.« – Er zog seine Uhr. – »Vier Uhr?« sagte er aufstehend; »ich werde zu spät in meine Sprechstunde kommen. Gnädige Frau, ich bitte Sie tausend und tausendmal um Entschuldigung, aber ich muß Sie verlassen; Hab' nicht mal Zeit, Sie nach Hause zurückzubringen. – Leben Sie wohl, mein Kind, beruhigen Sie sich; das alles macht nichts. Sie werden auf diesem Beine ebenso gut wieder tanzen wie auf dem anderen. – Und Sie, Frau Wärterin, gehn Sie mit diesem Rezept in die Apotheke und tun Sie dann dasselbe wie gestern.«

Arzt und Wärterin waren fortgegangen; Frau von Piennes blieb allein mit der Kranken. War ein wenig beunruhigt, etwas von Liebe in einer Geschichte zu finden, die sie in ihrer Phantasie sich ganz anders zurechtgelegt hatte.

»Also, man hat Sie getäuscht, armes Kind!« fuhr sie nach einem Schweigen fort.

»Mich? nein, wie kann man ein elendes Mädchen wie mich täuschen? . . . Nur hat er nichts mehr von mir wissen wollen . . . Er hat Recht gehabt, ich bin nicht, was ihm frommt. Immer ist er gut und edelmütig gewesen. Ich hab' ihm geschrieben, um ihm zu sagen, wo ich sei, und ob er wolle, daß ich mich mit ihm versöhne . . . Dann hat er mir . . . Dinge geschrieben, die mir viel Kummer machten . . . Anderen Tags, als ich nach Hause kam, hab' ich einen Spiegel fallen lassen, den er mir geschenkt hatte, einen Venetianischen Spiegel, wie er sagte . . . Der Spiegel ging entzwei . . . Ich habe mir gesagt: Das ist der letzte Schlag! . . . 's ist ein Zeichen, daß alles aus ist . . . Ich hatte nichts mehr von ihm. Meinen Schmuck hatt' ich aufs Leihhaus gebracht . . . Und dann hab' ich mir gesagt, daß, wenn ich mich zerstörte, ihm das Kummer machen, und daß ich mich damit rächen würde . . . Das Fenster stand offen und ich habe mich hinausgestürzt.«

»Aber, Sie Unglückliche, der Grund war ebenso frivol, wie die Tat strafbar!«

»Schön; doch was glauben Sie? Wenn man Kummer hat, überlegt man nicht. Glückliche Menschen können gut sagen: Seid vernünftig!«

»Ich weiß; Unglück ist ein schlechter Ratgeber. Doch inmitten der schmerzlichsten Prüfungen gibt es Dinge, die man nicht vergessen darf. Ich habe Sie in Sankt Rochus vor nicht langer Zeit eine Tat der Barmherzigkeit ausüben sehn. Sie haben das Glück zu glauben. Die Religion, meine Liebe, hätte Sie zurückhalten müssen im Augenblicke, wo Sie sich der Verzweiflung überlassen wollten. Ihr Leben haben Sie vom lieben Gott, es gehört nicht Ihnen . . . Doch ich tue Unrecht, Sie jetzt zu tadeln, arme Kleine. Sie bereuen, Sie leiden. Gott wird Erbarmen mit Ihnen haben.«

Arsène senkte den Kopf, und einige Tränen netzten ihre Wimpern.

»Ach! gnädige Frau,« sagte sie mit einem tiefen Seufzer; »Sie halten mich für besser als ich bin . . . Sie halten mich für fromm . . . ich bin's nicht sehr . . . man hat mich nicht unterwiesen und wenn Sie mich in der Kirche eine Kerze haben weihen sehn . . . so geschah's, weil ich nicht mehr wußte, wo mir der Kopf stand.«

»Nun, meine Liebe, das war ein guter Gedanke. Im Unglück soll man sich immer an Gott wenden.«

»Man hatte mir gesagt . . . daß, wenn ich Sankt Rochus eine Kerze weihte, . . . aber nein, gnädige Frau, ich mag Ihnen das nicht sagen. Eine Dame wie Sie weiß nicht, was man tun kann, wenn man keinen Pfennig mehr hat.«

»Vor allem muß man Gott um Mut bitten.«

»Kurz, gnädige Frau, ich will mich nicht besser machen als ich bin. Und es hieße Sie bestehlen und die Barmherzigkeit ausnutzen, die Sie mir erzeigen, ohne mich zu kennen . . . Ich bin ein unglückliches leichtfertiges Mädchen . . . Auf dieser Welt aber lebt man, wie man kann . . . Um ein Ende zu machen, gnädige Frau, ich habe also die Kerze geweiht, weil meine Mutter sagte, wenn man Sankt Rochus eine Kerze weihe, würde einem eine Woche lang nimmer ein Mann fehlen, der sich mit einem einlasse . . . Doch ich bin häßlich geworden, sehe wie eine Mumie aus . . . niemand wollte mehr etwas von mir wissen . . . Nun, es bleibt nur noch das Sterben übrig. Halb ist es schon geschehen!«

All das war sehr schnell gesagt worden, und zwar mit einer durch Seufzer unterbrochenen Stimme und in einem wahnsinnigen Tone, der Frau von Piennes mehr noch Entsetzen als Abscheu einflößte. Unwillkürlich entfernte sie ihren Stuhl von der Kranken Bett, vielleicht würde sie sogar das Zimmer verlassen haben, wenn nicht die Menschlichkeit, die stärker als ihr Ekel vor diesem Lustmädchen war, es ihr zum Vorwurf gemacht hätte, sie in einem Momente zu verlassen, wo sie Beute der wildesten Verzweiflung war. Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann murmelte Frau von Piennes mit gesenkten Augen schwach:

»Ihre Mutter! Unglückliche! Was wagen Sie da zu sagen?«

»Oh! meine Mutter war wie alle Mütter . . . alle Mütter von unsereinem . . . Sie hatte ihre erhalten . . . ich hab' sie auch erhalten . . . Glücklicherweise hab' ich kein Kind gekriegt. – Ich sehe, gnädige Frau, daß ich Ihnen Angst mache . . . doch was wollen Sie? . . . Sie sind wohl erzogen worden, nie haben Sie gelitten. Wenn man reich ist, kann man leicht anständig sein. Ich, ich würde anständig gewesen sein, wenn ich die Mittel dazu gehabt hätte. Ich hab' viele Liebhaber besessen . . . Geliebt hab' ich aber nur einen Mann. Er hat mich sitzen lassen. Wär' ich reich gewesen, würden wir uns geheiratet, anständige Menschen in die Welt gesetzt haben . . . Doch, gnädige Frau, ich rede mit Ihnen ganz freimütig von so etwas, obwohl ich genau sehe, was Sie von mir denken; und Sie haben Recht . . . Aber Sie sind die einzige anständige Frau, mit der ich in meinem Leben geredet habe, und Sie sehen so gütig, so gütig aus! . . . daß ich mir eben jetzt selber gesagt habe: selbst wenn sie mich kennen lernt, wird sie Mitleid mit mir haben. Ich werde sterben, und ich bitte Sie um eins: wenn ich tot sein werde, lassen Sie eine Messe für mich lesen in der Kirche, wo ich Sie zum ersten Male gesehen habe. Ein einziges Gebet, das ist alles, und ich danke Ihnen aus Herzensgrunde . . .«

»Nein, Sie werden nicht sterben!« rief Frau von Piennes tief bewegt. »Gott wird Mitleid mit Ihnen haben, arme Sünderin. Sie werden Ihre Ausschweifungen bereuen, und er wird Ihnen vergeben. Wenn meine Gebete etwas für Ihre Rettung tun können, sollen Sie ihrer nicht ermangeln. Die Sie erzogen haben, sind schuldiger als Sie. Haben Sie nur Mut und hoffen Sie. Versuchen Sie vor allem ruhiger zu werden, mein armes Kind. Der Leib muß heilen; auch die Seele ist krank, doch für deren Gesundung stehe ich ein.«

Beim Sprechen war sie aufgestanden, und rollte ein Papier zwischen den Fingern, das einige Goldstücke enthielt.

»Nehmen Sie,« sagte sie, »wenn Sie Lust auf irgend etwas haben . . .«

Und ließ ihr kleines Geschenk unter das Kopfkissen gleiten.

»Nein, gnädige Frau!« rief Arsène heftig, das Papier zurückstoßend, »ich will nur von Ihnen, was Sie mir versprachen, haben. Leben Sie wohl, wir werden uns nicht wiedersehn. Lassen Sie mich in ein Hospital schaffen, damit ich zu Ende komme, ohne jemandem lästig zu fallen. Nimmer würden Sie aus mir etwas Vernünftiges machen. Eine vornehme Dame wie Sie wird für mich gebetet haben; ich bin zufrieden. Leben Sie wohl.«

Und sich soweit abwendend, wie es der Apparat erlaubte, der sie an ihr Bett fesselte, verbarg sie ihren Kopf in ihrem Pfühle, um nichts mehr zu sehn.

»Hören Sie, Arsène,« sagte Frau von Piennes mit ernstem Tone, »ich habe Absichten auf Sie, will eine anständige Frau aus Ihnen machen. Das verspricht mir Ihre Reue zuversichtlich. Oft werde ich wieder zu Ihnen kommen, für Sie sorgen. Eines Tages sollen Sie mir Ihre eigene Wertschätzung verdanken.«

Und sie ergriff ihre Hand und drückte sie zart.

»Sie haben mich berührt!« schrie das arme Mädchen, »haben mir die Hand gedrückt!«

Und ehe Frau von Piennes ihre Hand zurückziehen konnte, hatte sie sie gefaßt, und bedeckte sie mit Küssen und Tränen.

»Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich, meine Liebe!« sagte Frau von Piennes. »Sagen Sie mir nichts mehr. Jetzt weiß ich alles, und kenne Sie besser, als Sie sich selber kennen. Ich bin der Arzt Ihres Kopfes, Ihres armen Kopfes . . . Sie sollen mir gehorchen, ich verlange es, ganz so wie Ihrem anderen Arzte. Ich werd' Ihnen einen mir befreundeten Geistlichen schicken, Sie werden ihm zuhören. Ich will Ihnen gute Bücher aussuchen, Sie werden sie lesen. Manchmal wollen wir plaudern, wenn es Ihnen dann besser geht, werden wir uns mit Ihrer Zukunft beschäftigen.«

Die Wärterin trat ein, ein Fläschchen in der Hand haltend, das sie vom Apotheker mitbrachte. Arsène weinte nur immer. Frau von Piennes drückte ihr nochmals die Hand, legte die Goldstückrolle auf den kleinen Tisch und ging fort. Mehr noch vielleicht war sie für ihre Sünderin eingenommen, als vor deren seltsamen Beichte.

»Warum, gnädige Frau, liebt man so leicht üble Existenzen? Vom verlorenen Sohne an bis auf Ihren Hund Diamant, – der jedermann beißt, und der das boshafteste Tier ist, das ich kenne, – flößt man stets umsoviel mehr Teilnahme ein, als man verdient. – Eitelkeit, pure Eitelkeit, gnädige Frau, ist das Gefühl! Freude an der besiegten Schwierigkeit! Der Vater des verlorenen Sohnes hat den Teufel besiegt und ihm seine Beute abgejagt; mit Zuckerkringeln haben Sie über Diamants üble Naturanlagen triumphiert. Frau von Piennes war stolz, die Verderbtheit einer Kurtisane besiegt, durch ihre Beredsamkeit die Schranken zerstört zu haben, die zwanzigjährige Verführung um eine arme aufgegebene Seele errichtet. Und dann vielleicht noch, – muß man's sagen, – mischte sich in den Stolz über diesen Sieg, dem Vergnügen, eine gute Tat getan zu haben, noch das Gefühl der Neugierde, die manche tugendhafte Dame verspürt, eine Frau aus solch anderer Schicht kennen zu lernen. Wenn eine Sängerin in einen Salon tritt, sah ich oft merkwürdige Blicke auf ihr ruhen. Nicht die Männer sind's, die sie am meisten betrachten. Sahen Sie nicht selber, gnädige Frau, neulich Abend im französischen Theater jene Schauspielerin aus den Variétés, die man Ihnen in einer Loge zeigte, endlos lange mit dem Operngucker an? Wie kann man zum Perseus werden? Wieviele Male stellt man sich nicht ähnliche Fragen!«

Frau von Piennes, gnädige Frau, dachte also lebhaft an Fräulein Arsène Guillot und sagte sich: Ich werde sie retten.

Sie sandte ihr einen Priester, der sie zur Reue ermahnte. Das Bereuen fiel der armen Arsène nicht schwer, denn außer einigen Stunden starker Freuden, hatte sie nur des Lebens Elend gekannt. Sagt zu einem Unglücklichen: »'s ist Deine eigene Schuld!« so ist er nur allzusehr davon überzeugt; und wenn ihr zur nämlichen Zeit den Vorwurf mildert, indem ihr ihm einigen Trost spendet, so wird er euch segnen, und euch alles für die Zukunft versprechen. Ein Grieche sagt irgendwo, oder vielmehr der berühmte Übersetzer Amyot läßt ihn sagen:

»Der einem Menschen seine Ketten nimmt, der Tag
Raubt wahrlich seiner frühren Tugend Hälfte ihm.«

In elender Prosa will dieser Aphorismus besagen, daß das Unglück uns sanft und gelehrig wie Lämmer macht. Der Priester sagte Frau von Piennes, Fräulein Guillot sei zwar sehr unwissend, doch im Grunde nicht schlecht, und er hoffe alles Beste für ihr Heil. Tatsächlich hörte Arsène ihm aufmerksam und ehrfurchtsvoll zu. Sie las oder ließ sich Bücher vorlesen, die man ihr vorgeschrieben hatte, und ebenso prompt gehorchte sie Frau von Piennes wie sie des Doktors Vorschriften befolgte. Was ihr aber vollends des guten Priesters Herz gewann und ihrer Beschützerin als ein entschiedenes Symptom moralischer Heilung erschien, war der Gebrauch, den Arsène Guillot von einem Teile der in ihre Hände gelegten Summe machte. Sie hatte gebeten, daß eine feierliche Messe für Paméla Guillots, ihrer verstorbenen Mutter, Seele gelesen werden solle. Sicherlich hatte nie eine Seele Fürbitten nötiger.

 


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