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Sie traf das arme Mädchen in einem mitleidserregendem Zustande an. Augenscheinlich war ihre letzte Stunde nahe, und seit dem Vortage hatte das Leiden schreckliche Fortschritte gemacht. Ihr Atmen war nur noch ein schmerzvolles Röcheln, und man sagte Frau von Piennes, sie habe am Morgen mehreremals Delirien gehabt, der Arzt glaube nicht, daß sie den anderen Morgen erleben werde.
Arsène indessen erkannte ihre Beschützerin und dankte ihr, gekommen zu sein, um sie zu sehen.
»Sie werden sich nicht länger ermüden, meine Treppe hinaufzusteigen,« sagte sie mit erloschener Stimme.
Jedes Wort schien sie eine furchtbare Anstrengung zu kosten und, was ihr an Kräften noch blieb, zu nehmen. Man mußte sich über ihr Bett neigen, um sie zu verstehen. Frau von Piennes hatte ihre Hand genommen, sie war bereits kalt und wie leblos.
Max erschien bald und näherte sich schweigend dem Bette der Sterbenden. Sie machte ihm ein leichtes Zeichen mit dem Kopfe, und als sie bemerkte, daß er in der Hand ein Buch in einer Hülle hatte, murmelte sie schwach: »Heute werden Sie nicht lesen.«
Frau von Piennes warf einen Blick auf das angebliche Buch: es war eine aufgezogene Karte von Griechenland, die er im Vorübergehn gekauft hatte.
Abbé Dubignon, der seit dem Morgen bei Arsène war, bemerkte, mit welcher Schnelligkeit der Kranken Kräfte sich erschöpften und wollte zu ihrem Heile die wenigen Augenblicke, die ihr noch blieben, ausnützen. Er entfernte Max und Frau von Piennes, und über das Schmerzensbett gebeugt, richtete er an das arme Mädchen die ernsten und trostreichen Worte, welche die Religion sich für derartige Augenblicke aufspart. In einer Zimmerecke kniete Frau von Piennes im Gebet und Max, der aufrecht am Fenster stand, schien in eine Statue verwandelt.
»Sie verzeihen allen, die Sie beleidigt haben, meine Tochter?« fragte der Priester mit bewegter Stimme.
»Ja! . . . mögen sie glücklich sein!« antwortete die Sterbende, indem sie sich anstrengte, um sich hörbar zu machen.
»Verlassen Sie sich auf Gottes Barmherzigkeit, meine Tochter,« fuhr der Abbé fort, »die Reue öffnet des Himmels Tore.«
Einige Minuten noch setzte der Abbé seine Ermahnungen fort; dann hörte er zu sprechen auf, da er nicht wußte, ob er nur noch einen Leichnam vor sich hatte. Leise stand Frau von Piennes auf, und jedweder blieb einige Zeit unbeweglich, voller Angst Arsènes fahles Antlitz anschauend. Ihre Augen waren geschlossen. Jeder hielt seinen Atem zurück, wie um den schrecklichen Schlummer nicht zu stören, der vielleicht für sie begonnen hatte, und deutlich hörte man in dem Zimmer das leise Ticken einer auf den Nachttisch gelegten Taschenuhr.
»Sie ist verschieden, das arme Fräulein!« sagte endlich die Wärterin, nachdem sie ihre Tabaksdose Arsènes Lippen genähert hatte; »Sie sehen, das Glas ist nicht angelaufen. Sie ist tot!«
»Armes Kind!« rief Max, aus seiner Betäubung erwachend, in die er versunken gewesen war. »Welches Glück hat sie auf dieser Welt gefunden?«
Plötzlich, und wie von seiner Stimme belebt, öffnete Arsène die Augen.
»Ich habe geliebt!« murmelte sie mit dumpfer Stimme.
Sie bewegte die Finger und schien die Hände ausstrecken zu wollen. Max und Frau von Piennes hatten sich genähert und nahmen jeder eine ihrer Hände.
»Ich habe geliebt,« wiederholte sie mit einem traurigen Lächeln.
Das waren ihre letzten Worte. Max und Frau von Piennes hielten lange ihre eisigen Hände, ohne es zu wagen, die Augen aufzuschlagen . . .
Nun, gnädige Frau, Sie sagen mir, meine Geschichte sei zu Ende und Sie wollten nichts mehr hören. Ich hatte geglaubt, Sie würden neugierig sein und wissen wollen, ob Herr von Salligny nach Griechenland reiste oder nicht; ob . . . Aber es ist spät, Sie haben genug. Schön! Hüten Sie sich wenigstens vor kühnen Meinungen, ich erkläre feierlichst, daß ich nichts gesagt habe, was Sie dazu ermächtigen könnte.
Zweifeln Sie vor allem nicht daran, daß meine Geschichte wahr ist. Oder sollten Sie zweifeln?
Gehen Sie auf den Père Lachaise: zwanzig Schritte links vom Grabe des Generals Foy, werden Sie einen ganz einfachen feinkörnigen Kalkstein finden, von immer gut gepflegten Blumen umgeben. Auf dem Steine können Sie in großen Buchstaben eingegraben den Namen meiner Heldin finden: Arsène Guillot, und wenn Sie sich über dies Grab beugen, werden Sie, wenn der Regen es nicht schon ausgelöscht hat, eine mit sehr feiner Schrift geschriebene Bleistiftzeile bemerken:
Arme Arsène! sie bittet für uns.