Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin - Zweiter Band
Malwida von Meysenbug

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Ein anderes Denkmal auf meiner via Appia.

Im Jahre 1883 erhielt ich die Nachricht, daß wieder einer der Freiheitskämpfer von 1848 und der Freunde aus dem Exil gestorben sei, Gottfried Kinkel, der, nachdem er England verlassen hatte, in Zürich am Polytechnikum als Professor angestellt gewesen war. Ich habe schon in früheren Aufzeichnungen aus meinem Leben erzählt, welch herzliches Freundschaftsband mich in England mit ihm und noch mehr mit seiner hochbegabten Gattin Johanna verband. Einige Zeit nach seinem Tod erhielt ich von seiner zweiten Frau den in seinen nachgelassenen Papieren gefundenen Brief Johannas, den sie ihm in das Zellengefängnis nach Spandau schrieb, nachdem ich ihr, von tiefster Teilnahme getrieben, ohne sie zu kennen, zum erstenmal geschrieben hatte.

Es war ein Geschenk, das mich auf das innigste rührte, denn gewiß nach beinah vierzig Jahren solch ein liebevolles Urteil über sich selbst zu hören, war keine geringe Freude. Johanna, die bis dahin nichts von mir gewußt hatte, schrieb: »Die Geister der Gleichgesinnten senden mir ihren Liebesgruß. Vor allem entzückte mich der Brief eines hohen Weibes, die mir ihre Freundschaft antrug und die auf einer Bildungsstufe steht, daß ich keine von den geistreichen Frauen, mit denen ich verkehre, neben sie stellen möchte, und das will etwas sagen, wenn Du an den Kreis unserer Korrespondentinnen denkst. Meine neue Freundin scheint einem nordischen adligen Geschlecht anzugehören; die hat jahrelang nur dem Kultus der Ästhetik gelebt, hat aber dann begriffen, daß es edler sei, helfend und tröstend zu den Leiden der gequälten untersten Menschenschicht herabzusteigen, als auf einsamen, nur von Göttern bewohnten Höhen zu weilen. Ihr Geist ist von kristallner Klarheit, und dabei besitzt sie eine Anmut der Ausdrucksweise, die verrät, daß sie nur in den allerfeinsten Kreisen geselliger Bildung muß erwachsen sein. Sie muß noch jung sein oder doch den ewigen Jugendzauber eines poetischen Geistes besitzen, über den das dreißigste Jahr keine Macht hat. Wer nach diesem jung war, bleibt es sein lebelang.«

Wie viele Erinnerungen weckten diese Worte in mir, schöne und traurige. Kinkel hatte gewiß zu den hervorragendsten Kämpfern der Jahre 48 und 49 gehört, denn er vereinigte die von hohen Idealen erfüllte Poesie der damaligen Zeit mit dem absoluten Mut der Tat. Diesen Mut, stets die Überzeugung durch die Tat zu bewähren, hatte er schon als Jüngling bewiesen, da er von der theologischen Laufbahn, die er betreten hatte, zurücktrat, sobald die Erkenntnis seines eigentlichen Berufs zu Kunst, Geschichte und Poesie ihn in die Sphären geistiger Freiheit führte. Er verlor dadurch alle Aussichten auf eine glänzende Laufbahn, die ihm die theologischen Gönner, die von seiner Rednergabe und seinem künstlerischen Sinn viel für die kirchlichen Aufgaben hofften, bereiten wollten. Als er dann gar in der ersten Zeit seiner Tätigkeit an der Universität Bonn durch seine Liebe zu der herrlichen Johanna – die zwar von ihrem ersten Mann, mit dem sie namenlos unglücklich gewesen war, getrennt wurde, aber als Katholikin sich nicht wieder hätte verheiraten dürfen – alle Erdenschranken durchbrach und mit ihr den edelsten Bund schloß, da empörte sich die orthodoxe Clique der Bonner Universität, und als Kinkel sich nicht beugte, sondern mit edlem Stolz sein individuelles Recht wahrte, da verfiel er dem Bann, den die Borniertheit stets über die ausspricht, die das Maß ihres Handelns in ihrem eigenen sittlichen Bewußtsein finden, indem sie sich an dem Adel freier Seelen, die um eines höchsten Gutes willen irdische Vorteile dahin werfen, dadurch zu rächen glaubt. Aus einem Bevorzugten wurde er ein Geächteter. Daß es ihn schmerzte, war natürlich, aber es konnte sein stählernes Herz nicht brechen, auch nicht, daß man ihn materiell in jeder Weise bedrückte und einengte, so daß er mit Recht in einer seiner späteren öffentlichen Reden sagen konnte: »Wir haben das Darben gründlich gelernt.«

Wichtiger aber als alle Not und aller Schmerz war seine eigene Entwicklung, die in diesem Kampf sich völlig losrang von der alten vermoderten Tradition und der vollen Freiheit zustrebte, für die er später noch größere Opfer bringen sollte. Doch gönnte ihm das Schicksal endlich die volle Vereinigung mit der geliebten Frau, als deren erster Mann starb; dann wurde ihm eine außerordentliche Professur der Kunstgeschichte zuteil, und sein Stern fing wieder an zu leuchten. Die Jugend strömte zu seinen Vorlesungen, seine literarischen Arbeiten hatten Erfolg, neue Freunde scharten sich um ihn, und wie es mit dem Erfolg zu gehen pflegt, so wurde das ausgezeichnete Paar jetzt aufgesucht und gefeiert. Es erschloß sich ihm die ganze Fülle des Lebens, und ganz naturgemäß in ruhiger Entfaltung gelangte er zu dem politisch-sozialen Radikalismus, den er bald mit der Tat verfechten sollte. Der Frühling 1848 kam. In den Völkern erwachte neues Leben. Die Keime, die still getrieben hatten in Hoffnung und Furcht, blühten rasch empor ans Licht, und die Herzen flogen jubelnd dem Ideal eines freien, von Gerechtigkeit und Schönheit verklärten Lebens entgegen. Wie mußte dieser Frühlingstraum den Dichter ergreifen, den feurigen Mann, der immer ganz und voll im Leben stand, mit Dichterglut alles erfaßte und mit Mannesmut alles tat. Mit voller Seele warf er sich in den Strom der Revolution, trat dem Volke am schönen Rhein, in dessen Mitte er lebte und das er liebte und kannte, innig nahe und verwendete seine Gaben, die das Entzücken aristokratischer Kreise gemacht hatten, nun im Dienste der Bauern, Handwerker und Proletarier, die in ihm das Herz des echten Volksmanns fühlten und ihn zu ihrem Führer wählten. Das geistige Reich der Freiheit und Brüderlichkeit, als dessen Bürger sich der Dichter längst gefühlt hatte, in Wirklichkeit erstehen zu lassen, das wurde sein Ziel; dazu warf er sich rückhaltlos in den heißen Kampf, und als er, vom Volk zum Deputierten gewählt, nach Berlin kam, donnerte er von der Tribüne in der Kammer die stolzen Worte herab, die nachher als Waffe gegen ihn gebraucht wurden: »Siegen wir, dann wehe euch, keine Gnade.«

Sein Freund und Schüler, Theodor Althaus, hat Kinkel charakterisiert wie folgt: »Kinkel gehört zu den bis jetzt noch selten öffentlich hervorgetretenen Charakteren, die revolutionär werden, weil sie im tiefsten und allein edeln Sinn konservativ sind. Der vulgäre, abstrakte Konservatismus ist eine bloße Verneinung und stößt nach rechts und links alles von sich, was das Individuum in einem geistigen, gemütlichen, materiellen Behagen zu stören droht. Der wahre Konservatismus ist eine tiefgewurzelte Treue gegen Vernunft und Freiheit in den philosophischen, eine unwandelbare Liebe zur freien, gesunden Natur in den poetischen Charakteren. In der letzteren Reihe steht Kinkel. Sein Sozialismus ist im edeln Sinne konservativ. Seine ganze Natur protestiert gegen die öden Systeme des uniformierten, bureaukratischen Kommunismus und der destruktiven Gleichmacherei, unter der das ewige Naturrecht der Individualität verschwindet. Den einzelnen und die durch freie Neigung verbundenen Genossenschaften ruft er zu eigener Tätigkeit auf: »Handwerk, errette dich selbst!« Sein sozialistisches Ideal ist ein freier Organismus, dessen Gesetze die Selbständigkeit des Individuums, die höchste Ausbildung aller Arbeitskräfte und jedes Handwerks in seiner Eigentümlichkeit zum Zwecke haben. Der Handwerker soll auf eigenen Füßen stehen, statt von den fabrikmäßigen Spekulationen des Kapitals ausgebeutet und erdrückt zu werden. Die soziale Gesetzgebung soll es ihm möglich machen, ein Haus und eine Familie zu gründen und ein Meister und Lehrer seines Handwerks, statt ein entreprenierender Kapitalist zu werden. Von dieser Gesetzgebung hofft der Dichter dann eine Wiedergeburt der einzig edeln Erscheinung des mittelalterlichen Zustandes, daß das Handwerk, so weit es ihm vergönnt ist, hinüberreiche in die höhere künstlerische Tätigkeit und daß damit auch diese Lebenssphäre hinaufgehoben werde in die Lichtregion des Geistes und der Schönheit. Aber eben weil nicht alle Arbeit in ihrer Eigentümlichkeit dieses Adels fähig ist, muß allen der Stolz der republikanischen Freiheit, geistige Bildung und der Genuß des Schönen erreichbar gemacht werden, damit auch der Geringste seines menschlichen Daseins so froh werde, wie ihm jetzt sein Pariatum die Seele zum Staube niederdrückt. Die Romantiker schaudern vor der Republik, weil ihre beschränkte Phantasie eine Nivellierung der Kontraste und Individualitäten und damit das Ausgehen des poetischen Stoffes fürchtet. Die gesunde Phantasie des modernen Dichters schaut den Reichtum der neuen Welt, und er fordert die soziale Revolution, damit endlich die vollbefriedigte Lust am Dasein die Seele der Poesie neu belebe. Er weiß es, daß nur eine großartige neue Weltgestalt eine ihr ebenbürtige Poesie aus sich zeugen kann, die dann wahrhaft konservativ sein wird.«

So dachten und hofften wir damals, 1848!

Daß Kinkel wirklich zur Tat schritt und als Blusenmann die Aufstände in der Pfalz und in Baden mitmachte, daß er gefangen und zum Tode verurteilt wurde, ist bekannt. Die allgemeine tiefste Teilnahme unterstützte die verzweifelten Anstrengungen Johannas, die ihn heldenmütig nicht zurückgehalten hatte, als er zum blutigen Kampf auszog, ihn zu retten. Eine Tochter Bettinas von Arnim warf sich dem damaligen König von Preußen zu Füßen, um Kinkels Leben zu erbitten, und eine kleine Schrift, die Johanna veröffentlichte, ließ wohl kein fühlendes Herz ungerührt. Auf dem Richtplatz vor den mit den Todeswaffen bereitstehenden Soldaten wurde dem Gefangenen die Begnadigung zu lebenslänglichem Zellengefängnis und Wollespulen verkündet. In ohnmächtigem Schmerz erbebten alle edleren Menschen, selbst unter seinen Feinden, und heiße Tränen flossen bei der Beschreibung seines letzten Erscheinens vor dem Gerichtshof in Köln, bei dem Lesen der tragisch-edlen Rede, die er gehalten, nach der sein Weib, die Schranken durchbrechend, ihm in die Arme gestürzt war, so daß selbst die feigen Schergen der Gewalt es nicht gewagt hatten, so erhaben Unglückliche zu trennen.

Nicht ohne tiefe Rührung konnte ich während vieler Jahre das Gedicht lesen, das Kinkel im Gefängnis zu Rastatt niederschrieb, als ihm sein Todesurteil verkündet war, und dessen Schlußverse also lauten:

»So warf ich in den Opferbrand
Ein reichbekränztes Leben,
O Glück und Stolz, mein Vaterland,
Für dich es hinzugeben!
Der müden, schwielenharten Hand
Ein sanftes Los zu werben,
Du vierter Stand, du treuer Stand,
Für dich geh ich zu sterben.
Euch Armen treu bis in den Tod,
Für euch zur Tat entschlossen,
Fall ich ums nächste Morgenrot
Vom kalten Blei durchschossen.
So haltet mich in treuem Sinn,
O Meister und Geselle;
Gedenke mein, du Näherin,
In deiner trüben Zelle;
Du Winzer, der am Fels der Ahr
Umsonst die Gluten leidet,
Du arme Tagewerkerschar,
Die fremde Garben schneidet –
Ich werde nicht vergessen sein,
Du Jugend wirst mich kennen
Und wirst an meines Geistes Schein
Zum Freiheitsdurst entbrennen;
Manch Frauenauge weint um mich,
Den Sänger süßer Lieder,
Als Gruß der Erde neigen sich
Viel Blumen zu mir nieder.
Den letzten Gruß dir überm Rhein,
Du edles Volk der Franken;
Die Völker sollen einig sein
In Herzen und Gedanken.
Stehn soll, so weit auf diesem Rund
Sich Aug' in Auge spiegelt,
Der ewige Bund, der Bruderbund,
Den euch mein Blut besiegelt.« –

So waren die Männer von 48! Deutsche Jugend, kennst du sie noch? Bist du an ihrer Erinnerung zum Freiheitsdurst entbrannt? Bist du bereit, wenn der Tag des großen Kampfes wiederkommt, für die Erinnerung heiliger Ideale den Reichtum des Lebens in den Opferbrand zu werfen? Schlag an deine Brust, frag dich, und wenn dir ein trauriges Nein antwortet, so ermanne dich, denke, daß das Leben keinen Wert hat, wenn es nur nach vergänglichen Gütern strebt, und schreibe auf deine Fahne: »Durch edelste Kultur zur wahren Freiheit.«

*

Leider ist auch in Italien jener edlen Generation der Kämpfer für ein hohes Ideal der Freiheit eine Jugend gefolgt, die mehr nach irdischen als nach ideellen Gütern strebt, und die ganze Form des öffentlichen Zustandes ist weit entfernt von dem, was z. B. Mazzini für ein neuerstandenes, einiges Italien geträumt hatte. Es ist wirklich immer, als ob die Natur sich erschöpfte, wenn sie den ideellen Trieb in einer Generation so stark und vorherrschend hervorgebracht hat und als ob dies Gebiet dann eine Zeitlang brach liegen müßte, gerade wie der Acker, der auch ruhen muß, um aufs neue hervorbringen zu können. Traurig stimmen aber mußte es den, der an Italiens Geschicken warmen Anteil nahm und jene edlen Idealisten gekannt hatte, zu sehen, wie falsche Wege seine Politik und Neuorganisation ging. Wie die eitle Sucht, plötzlich eine Großmacht zu sein, es zu Ausgaben und Unternehmungen verleitete, die weit über seine Mittel und seine Kräfte gingen, während die innere Wohlfahrt und die Ordnung erwerbtätiger, strebender Gemeinwesen vernachlässigt wurden. Wie das so hochbegabte, liebenswürdige Volk in manchen Gegenden in beinah barbarischen Zuständen, im äußersten Elend, in Schmutz und Unwissenheit blieb und durch die hoffnungslose Armut zur Massen-Auswanderung getrieben wurde, oder durch den Schreck vor dem ungewohnten Militärdienst und den ebenso ungewohnten, schwer lastenden Steuern in die Berge floh und sich dort durch freie Benutzung der Güter anderer, d. h. durchs Räuberhandwerk, zu helfen suchte.

Sagte mir doch in einem politischen Gespräch sogar einer der bedeutendsten, aber durchaus konservativen Staatsmänner Italiens (der jetzt auch schon längst geschieden ist): »Ja, wenn die Menschen die Geschichte recht verständen, so müßten sie immer zunächst an die Wohlfahrt der Völker im Innern des Landes denken. Würde von den ungeheuren Budgets des Krieges, der Marine, der Steuereinnahmen usw. nur die Hälfte für die innere Verwaltung verbraucht, so würde der allgemeine Wohlstand in solchem Maße wachsen, daß ein Land dadurch allein schon mächtiger werden würde, als durch Furcht einflößende Heere.« Dies aber sagte mir ein Staatsmann, der lange an der Spitze der Verwaltung stand! Wie schwer muß es daher sein, das einfach Vernünftige und Nahliegende im Staatsleben durchzusetzen.

Wie hoch standen daher die alten Inder, die ihre Könige nur priesen, wenn sie Wohltäter ihres Volkes waren und nicht um der Gewaltmittel willen, die sie in Händen hatten. Hierauf bezüglich fand ich eine treffliche Stelle aus dem Gâtahamâlâ, des Arga Sûra, von J. S. Speyer übersetzt, die lautet wie folgt: »Unser Monarch hat seine Macht durch seine Seelengröße erhalten. Seine Stärke beruht auf seiner Güte, nicht auf seinem buntgeflaggten Heer, das er nur hält, um der gewohnten Sitte nachzukommen. Redlichkeit ist der Hebel seines Handelns, nicht die politische Weisheit, diese niedrige Wissenschaft. Sein Reichtum dient ihm dazu, die Tugendhaften zu ehren.«

Welch schöneres Programm des wahren Herrschertums könnte man aufstellen als dieses, und wie weit steht unsere Zeit darin zurück, wo sich die Stärke der Regierungen nur auf die kolossalen, auch im Frieden stets zum Krieg bewaffneten Heere stützt, anstatt sich über die nationalen Grenzen hinaus die Hand zu reichen und den Völkerfrieden auf Gerechtigkeit und wahre Bildung zu gründen. Jawohl, der alte Inder hat recht, politische Weisheit, welch niedrige Wissenschaft! In ihr Gebiet gehört der moderne Schwindel der Kolonialpolitik. Auch Italien wurde ja leider davon ergriffen und unter dem Ministerium des schon alten, etwas hinfälligen Depretis siegte die Beredsamkeit Mancinis, eines trefflichen Rechtsgelehrten, aber unfähigen Ministers des Äußeren, und brachte Italien dazu, nach Afrika zu ziehen und noch dazu nach Massaua, das zwar ein Hafen am Roten Meer, aber einer der heißesten und unfruchtbarsten Orte der Erde ist. Daß englische schlaue Politik dabei im Spiele war, merkte man hier nicht, man jubelte über diese erste große Tat der jungen Großmacht; eine Freundin schrieb mir, sie habe Tränen der Rührung vergossen, als sie die Soldaten habe einschiffen sehen, um von dem Land, das Italien durch keinen Rechtsspruch zugehörte, Besitz zu nehmen, wie es nun seitdem, allem Menschen- und Völkerrecht zuwider, immer häufiger von den großen europäischen Staaten geschieht. Ich erlaubte mir damals schon nicht in den allgemeinen Jubel mit einzustimmen. Ich sah um mich her in dem Land, das ich liebe, kaum erst die Anfänge einer vernunftgemäßen Organisation, einer Ordnung der Dinge, die zu Wohlfahrt im Innern führen und die Grundlage einer neuen edlen Kultur werden könnte, und ich befürchtete gleich, daß diese Anmaßung, Kultur in die Ferne bringen zu wollen, während man selbst noch so kulturbedürftig war, schlimme Frucht bringen würde, was sich denn leider auch unter dem zweiten Ministerium Crispis, durch dessen noch viel größere Anmaßung, auf die allertraurigste Art für Italien bewährt hat. – Seltsamere Kontraste aber, als sie in jener Zeit, besonders in den achtziger Jahren, Italien darbot, hat kaum je ein modernes Land in der Geschichte gezeigt. Während der als Einheit noch so junge Staat im Innern noch völlig ungeordnet, seine kaum gebildete Militärmacht aussandte, um auf einem andern Kontinent Länder in Besitz zu nehmen, auf die er keinen Anspruch hatte, begab sich inmitten dieses jungen Staats, so recht in seinem Zentrum, in der kaum errungenen Hauptstadt selbst, ein Ereignis, das durch seinen Glanz das Recht ehrwürdiger Traditionen gegenüber der Anmaßung junger Eitelkeit ins hellste Licht zu stellen befähigt schien. Es war der 30. Dezember 1887, der Vorabend der Messa d'oro, mit der der Papst am 1. Januar in der Peterskirche die Feste seines Jubiläums einweihen wollte. Rom wimmelte von Fremden, freilich zumeist geistlichen Standes, die sich zu der hehren Feier eingefunden hatten; die Gasthöfe waren überfüllt, die ärmeren Pilger wurden in Klöstern und Hospizen einlogiert. Der Zudrang, um Billette zu erhalten, war ungeheuer, denn nur mittels solcher konnte man in das Gotteshaus gelangen. Zu Tausenden kamen die Gesuche darum täglich in den Vatikan. Um diesen und um die Peterskirche war ein Leben und ein Treiben, wie seit siebzehn Jahren nichts Ähnliches vorgekommen war. Ich hatte gerade eine Veranlassung, jemand aus der hohen Geistlichkeit im Vatikan aufzusuchen und konnte mich mit eigenen Augen davon überzeugen. Es kam mir vor wie ein Märchen, wo in einem verzauberten Schloß plötzlich der Entzauberer eintritt, und alles zu frischem, regem Leben erwacht. Scharen von Geistlichen aller Länder in den verschiedensten Trachten eilten geschäftig Trepp auf, Trepp ab. Die »Uscieri« in ihren malerischen Kostümen schienen wie in ferner Vergangenheit eingeschlafen, mit einem Ruck die Traumbefangenheit abzuschütteln und ihre Rolle mit Vehemenz wieder aufzunehmen, um den andrängenden Scharen zu wehren, die sich an den Türen einfanden, um zu den Audienzen zugelassen zu werden. Damen aller Art, Pilgerinnen, mehr alte als junge und mehr häßliche als hübsche, eilten dazwischen umher; hohe Prälaten mit ihrem Gefolge belebten noch das bunte Bild. In den Straßen, die nach St. Peter führen, war kaum durchzukommen, die Wagen in ununterbrochener Reihe sich folgend, mußten Schritt fahren. Die ganze Basilika war schon seit Tagen dem Publikum verschlossen, um die Vorkehrungen im Innern zu treffen. Doch fehlte es bei all dem erwartungsvollen Leben auch schon nicht an Verstimmungen und Klagen aller Art, und das römische Volk fing an zu murren, daß man ihm den Eingang zu seinem Gotteshause wehren wolle, in das es sonst so gut frei eintreten konnte, wie die Reichen und Begünstigten. Es waren daher von seiten des Kriegsministeriums mehrere Kompagnien Soldaten beordert, die auf dem Petersplatz Kordon bilden sollten, um bei etwaigen Unordnungen einzuschreiten. Schon dieses ein seltsames Schauspiel: das Fest des entthronten Herrschers beschützt von den Soldaten des Usurpators!

Vor 1870 würde eine solche Festlichkeit, ein solches Zusammenströmen der Gläubigen aus allen Weltteilen, mit Geschenken beladen, um sie dem Oberhaupt der Kirche huldigend darzubringen, nichts Außerordentliches gehabt haben. Aber nun war es anders geworden, und der Beobachter konnte nicht umhin, seltsamen Gedankengängen Raum zu geben. Hätte diese Feier einzig der ehrfurchtgebietenden Persönlichkeit eines Greises gegolten, den das Geschick an die Spitze einer universellen, geistigen Gemeinschaft erhoben hatte, so wäre die Sache immerhin noch ungewöhnlich, aber doch bei weitem einfacher und ohne die seltsamen Kontraste gewesen, die jetzt dabei zutage traten. Während drüben im Quirinal der König des noch so jungen Königreichs Italien die Neujahrswünsche von seiten seiner Staatsbeamten und der bei ihm beglaubigten Gesandten entgegennahm, feierte der, den er seiner irdischen Macht entsetzte, ein Fest, dessen universelle Bedeutung nicht zu verkennen war. Diese aus allen Ländern herbeigeeilten Verehrer und Bekenner einer Kirche, deren Oberhaupt alles galt, diese kostbaren Gaben, deren Menge die kolossalen Räume, die dafür bereitet waren, kaum faßten, diese Extragesandten aller gekrönten Häupter, ob katholisch oder nicht, die auch mit vollen Händen kamen, waren das nicht alles Zeichen, daß wir es hier noch immer mit einer Weltmacht zu tun hatten, gegen die das verlorene »potere temporale« nur ein verschwindend kleines Gewicht behält?

Vielleicht war dieser Gedanke Papst Leo XIII. auch aufgestiegen, als er von seinem Königssitz im Vatikan auf das Gedränge niederschaute, das den so lange verödeten Petersplatz belebte. Und wohl ihm, wenn er versucht hätte, diesem Gedanken volle Wirklichkeit zu geben, wenn er freudig der irdischen Krone entsagt hätte, um sich allein die geistige Krone aufzusetzen, deren Glanz heller strahlen würde, als die Diamanten der Tiara. Dann würde die Versöhnung mit dem König drüben im Quirinal, der jetzt der einzige ist, der ihm nicht huldigen kann, eine Möglichkeit, und der peinliche Konflikt, in dem die italienischen Patrioten, die noch an der Kirche hängen, sich befinden, wäre gelöst. Würde das die Folge dieses Festes sein, wer würde es nicht als den Anfang einer neuen vernunftgemäßeren Zeit begrüßen, wer würde Leo XIII. nicht als einen der größten Päpste ehren, die je gelebt?

Aber leider sah das Ganze mehr aus wie ein Fehdehandschuh, den man dem abtrünnigen Italien hingeworfen hatte. Es war zu viel Ostentation dabei, um es als ein bloßes Familienfest der katholischen Christenheit zu betrachten. Und gerade in dem Augenblick, welch schmerzlicher Kontrast für die Italiener! Während hier in der Hauptstadt dies glänzende Fest des vertriebenen Herrschers gefeiert wurde, mußten drüben im heißen Afrika die jungen Söhne des neu gewonnenen Vaterlands für einen großen politischen Fehler, im Kampfe mit wilden Horden, ihr Leben einsetzen, und während sich im Vatikan Millionen anhäuften, mußte das finanziell so schlecht bestellte Land Millionen hergeben, um einen mörderischen Krieg, der wenig Ehre und noch weniger Nutzen verspricht und nur von der beschränkten Eitelkeit und maßlos ehrgeizigen Herrschsucht einiger einzelnen in Szene gesetzt worden ist, durchzuführen. Diese Betrachtungen drängten sich dem Beobachter auf, wenn er auf das bewegte Leben dieser Tage niedersah, und wer Italien liebt, konnte sich der Wehmut nicht erwehren, die seine zweifelhaften, so schlecht geleiteten Geschicke hervorrufen.


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