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Der Mann ohne Schlaf.

Du siehst wirklich etwas angegriffen aus, lieber Franz, sagte ich zu meinem Freunde, als ich ihn an der Josty-Ecke traf; wobei zu bemerken, daß Franz Trünius eigentlich gar nicht mein Freund ist, sondern nur so ein entfernter Kollege. Wir sahen einander wochenlang nicht und konnten sehr gut ohne einander auskommen. Gerade hierin lag die stillschweigende Übereinkunft, uns wechselseitig als Freunde zu betrachten.

Ich brauchte also jene bekümmerte Redensart über seinen Gesundheitszustand, obschon er in Wahrheit aussah wie immer und ein angenehmes Rosa auf seinen Bäckchen aufwies.

Franz aber nahm das Wort bitterernst: »Angegriffen seh' ich aus? Ich werde bald gar nicht mehr aussehen. Es bringt mich unter die Erde. Hast du eine Ahnung, Alex, wie das ist, wenn man nicht schlafen kann?«

»So so. Schlaflosigkeit. Aber das gibt sich wieder. Man nimmt ein bißchen Sulfonal oder dergleichen, dann wird man's los. Ich selbst habe daran gelitten, ...«

»Stümper! Du redest mit einem Fachmann der Schlaflosigkeit! Ganze Apotheken voll solchen Zeugs hab ich schon geschluckt, ebenso gut könnte ich Kaffeebohnen kauen.«

»Dann zähle doch im Bett ganz langsam von eins bis hundert; oder bis zweihundert, du sollst mal sehen ...«

»Und wenn ich bis fünf Milliarden zähle, bleibe ich wach. Hab's ja probiert; mir ist aber nicht zu helfen, und ich gehe daran zugrunde.«

»Wie hast du dir denn das zugezogen?«

»Das hängt mit dem Krieg zusammen; erstens habe ich mich überlesen; ich lese täglich meine zwanzig bis dreißig Zeitungen, deutsche und ausländische. Man will doch wissen, was vorgeht.«

»Na ja, Anlage zum Zeitungshamstern hast du ja schon immer gehabt.«

»Orientierungsbedürfnis in Verbindung mit Schaffensdrang. Ich habe nämlich zwölf verschiedene Werke unter der Feder; erstens: Englands Raubpolitik im Lichte des einundzwanzigsten Jahrhunderts; zweitens: Vergleich dieses Weltkriegs mit dem Peloponnesischen Kriege; drittens: der Einfluß der Dolomitenkämpfe auf den holländischen Export; viertens ...«

»Hör' auf, Franz, ich kann nicht folgen. Übrigens muß ich jetzt fort. Also gute Verrichtung und vor allem: wohl zu schlafen!« Damit entfernte ich mich nach der Potsdamer Straße, während mein Freund im Kaffeehaus unter einem Berg von Zeitungen verschwand. –

Nach einigen Tagen fiel es mir doch aufs Gewissen, daß ich meinem Kollegen so wenig innere Teilnahme gezeigt hatte. Wirst dem Patienten eine Krankenvisite machen, dachte ich und klingelte vormittags um neun an seiner Flurtür. Sein Dienstmädchen öffnete, legte den Zeigefinger an die Lippen und machte: »Psch-sch-sch-t!«

»Warum denn Psch–sch–t?«

»Der Herr schläft.«

Ich verduftete auf den Fußspitzen. Am nächsten Dienstag erneuerte ich meinen Besuch um Mittag gegen halb zwölf. Diesmal kam ich gar nicht die Treppen hinauf, sondern wurde schon unten vom Pförtner abgefertigt: Zu wem wünschen Sie denn?

»Na, Sie kennen mich doch, – ich will zu Herrn Trünius.«

»Da darf keener ruff. Der Herr schläft.«

»Na, er muß doch einmal zum Vorschein kommen!«

»Det is nich gesagt. Manchmal kommt er zum Vorschein, manchmal ooch nich. Seit vorjestern is er überhaupt nich zum Vorschein gekommen!«

»Ja, was macht er denn immerzu in der Wohnung?«

»Herrjott, sind Sie bejriffsstutzig; ich hab's Ihnen doch jesagt: er schläft.«

»Seit wann schläft er denn so?«

»Mit kleenen Unterbrechungen unjefähr so zwei Jahre. Einjezogen is er hier April 1914, seitdem is et so. Er wird wohl 'n sehr jutes Gewissen haben.«

Am anderen Freitag probierte ich es wiederum, so gegen sieben Uhr nachmittags. Der Zustand schien sich verschärft zu haben, ich gelangte nicht einmal bis zum Pförtner. Auf der Straße wurde Stroh geschüttet, wie für einen Schwerkranken; und ich hörte die Leute reden: »das ist wegen dem Herrn im zweiten Stock; – damit, daß die Wagen keinen Lärm machen; und ein ernstbebrillter Herr mit Medizinalvollbart fügte hinzu: Wahrscheinlich ein Fall von Lethargie!«

Aber am übernächsten Tage fand ich den Patienten wieder im Kaffeehaus hinter einer Verschanzung vielsprachiger Zeitungsblätter. Na, alter Junge, rief ich, du hast dich ja gründlich auskuriert! bist inzwischen unter die Siebenschläfer gegangen!

»Wer? – Was? – Ich? – Wieso?«

»Bekenne nur, ich weiß Bescheid: du bist eine Schlafratze erster Ordnung!«

»Also das ist geradezu beleidigend. Meine letzte Nacht hättest du bloß erleben sollen: mit starren offenen Augen dazuliegen, in dieser Totenstille, immer bloß die Sekundenschläge der Taschenuhr zu verfolgen, dabei über zwölf verschiedene Kriegswerke nachzudenken ...«

»Das muß wirklich eine schwere Arbeit gewesen sein; namentlich da es in dieser totenstillen Nacht unausgesetzt gewittert hat, mit einem Gedonner ohne Ende. In Groß-Berlin haben alle Betten gewackelt, und du bist der einzige, der's nicht gemerkt hat!««

Unwillig wandte er sich ab. Denn den angeblich Schlaflosen – wie viele zählt jeder in seiner Bekanntschaft! – kann gar nichts ärgerlicheres widerfahren als die Entdeckung, daß sie eigentlich an Wachlosigkeit leiden!


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