Helene von Mühlau
Frau Doktor Breuer
Helene von Mühlau

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3

Der Pastor Lerch war ein Mann, der zu Ende der Vierzig stand, aber sein Haar war schon stark ergraut. Das Gesicht hatte den Ausdruck einer gewissen Gutmütigkeit, aber in den Augen lag etwas, was auf Erregbarkeit schließen ließ. Daß diese Erregbarkeit zum Zorn werden konnte, wußten nur wenige Mitglieder seiner Gemeinde und unter diesen zumeist nur die Jugend, die zu ihm in den Konfirmandenunterricht ging.

In seinem Hause ließ der Pfarrer seinem Temperament niemals die Zügel schießen, wahrscheinlich wäre ihm das auch nur bis zu einem gewissen Grade gelungen, denn die ganze Erscheinung seiner Frau wirkte um so vieles energischer und zielbewußter als die seine, daß der Versuch eines Zusammenstoßes mit ziemlicher Sicherheit zu einem Sieg der weiblichen Partei geführt hätte.

Da der Pastor aber – ohne ein Pantoffelheld zu sein – alles in sich herunterschluckte, was das Temperament seiner Frau herauszufordern vermocht hätte, lebten sie ganz gut miteinander. Die Frau lebte sogar sehr gut und war überaus zufrieden mit ihrem Dasein. Der sehr geistige Mann mit viel Idealen, mit einer Neigung zur Schwermut und überhaupt einem komplizierten Innenleben, führte das still entsagende Leben, das solche Menschen, wenn sie fühlen, daß sie nicht verstanden und höchstens bei einem Ausbruch belächelt oder überschrien werden, zu führen pflegen. Die Frau Pastor Lerch war durchaus nicht unsympathisch zu nennen; sie erfreute sich in ihrem kleinen Bezirk sogar einer gewissen Beliebtheit, denn sie hatte in ihrer Art das Herz auf dem rechten Fleck und griff zu, wo andere ängstlich beiseite standen. Das tat sie bei arm und reich, wie es sich gerade bot. Sie war geradlinig in allem, nicht klein gegen Höherstehende und nicht tyrannisch gegen die Kleinen, sondern gegen jedermann von einer Offenherzigkeit, die oft wohltat und dann auch wieder verletzte.

Der Pastor hatte dicht neben der Kirche und dem anstoßenden kleinen Gottesacker sein weinumranktes Wohnhaus, weiß gestrichen, mit grünen Läden und einem lustigen, roten Dach. Vor dem Haus war ein hübscher Blumengarten und nach hinten lag eine Fläche, die den Wirtschaftszwecken diente und von der Pfarrerin selber und einer starkknochigen Magd besorgt wurde.

Das Haus hatte weit mehr Räume, als man von außen vermuten konnte; kleine, aber behagliche Zimmer, mit Hausrat angefüllt, der aus drei verschiedenen Generationen stammte. Im Erdgeschoß lag des Pfarrers Studierstube und daneben ein enger Raum, in dem die Besucher, die an Sonntagen oft reichlich zu ihm kamen, zu warten pflegten. Dann war da noch ein Zimmer, in dem er seine Bibliothek, auch aus verschiedenen Generationen stammend, verwahrte, und außerdem eine Sammlung von Schmetterlingen und ausgestopften Vögeln.

Ebenfalls im Erdgeschoß lag die sogenannte gute Stube, deren blaue Polstermöbel das ganze Jahr mit weißen Schutzdecken behangen waren. Hier standen alle Nippessachen und Kostbarkeiten, über die das Pastorenehepaar verfügte, und es war nichts von billigem oder geschmacklosem Tand darunter zu finden, sondern lauter Dinge, die entweder einen idealen oder einen wirklichen Materialwert besaßen.

An den Wänden der guten Stube hingen ein paar umfangreiche Oelgemälde, die verstorbene Vorfahren darstellten, und einige Kupferdrucke, die von besonderer Feinheit und Originalität waren. Ein paar Schlachtgemälde von zwar unbekannten Malern, aber so lebendig und charakteristisch in ihrer Darstellung, daß man nicht ohne Interesse daran vorübergehen konnte. Eine Büste von Napoleon und eine von Schiller – beide aus Marmor – standen auf dem weißen Kaminsims und unzählige gestickte Decken und Kissen lagen auf Tischen und Tischchen und auf den verhangenen Polstermöbeln. In diesem Zimmer waren fast immer die Läden geschlossen; ein jeder im Ort, denn sie verkehrten fast alle im gastfreien Pastorenhause, kannte die gute Stube bis in ihre Einzelheiten, aber jedem schwebte ein Lächeln um den Mund, wenn er davon sprach.

Im oberen Stockwerk waren zwei Schlafräume für das Pastorenehepaar, der eine war während des Sommers, der andere während der kalten Jahreszeit in Gebrauch, und daneben noch ein großes helles Fremdenzimmer mit zwei Betten.

Das Schönste aber war das Wohnzimmer, mit alten Mahagonimöbeln angefüllt, mit behaglichen Lehnstühlen, einem Ohrsessel und Schaukelstuhl, und alle vier Wände voll von Photographien und farbigen Familienbildnissen.

Vor einem großen, dunkelbraun überzogenen Sofa stand ein runder Tisch, an dem das Pastorenehepaar die Mahlzeiten einnahm und an dem es seine Abende zu verbringen pflegte.

Im Erdgeschoß war vor zwei Jahren elektrisches Licht gelegt worden, hier oben aber brannten sie die Lampe, hauptsächlich deshalb, weil der Pastor bei dem hellen, weißen Licht dieser neuartigen Beleuchtung nur schwer zu lesen vermochte und weil er sich überhaupt ungern von alten Gewohnheiten trennte.

Die Pastorin hätte lieber im ganzen Haus die bequeme neue Art der Beleuchtung gehabt, aber in Dingen, die auf das körperliche Wohlbefinden ihres Mannes Einfluß hatten, beugte sie sich immer seinem Willen.

Auch in seinem Studierzimmer stand trotz der großen elektrischen Hängelampe eine Petroleumlampe auf dem Schreibtisch, und als Zeichen der noch heute vorhandenen Liebe seiner Gattin war dieser Schreibtisch nie ohne einen kleinen Blumenschmuck – der im Sommer bunt und umfangreich war, im Winter bescheiden und oft nur aus ein wenig grünem Laub bestand.

Sie lebten in der Tat gut zusammen, denn die Pastorin war eine vorzügliche Hausfrau, verstand sich aufs Kochen wie vielleicht keine andere Hausfrau am Ort, und hatte daneben doch mancherlei geistige Interessen und musikalische Fähigkeiten.

Der Tag verging ihr außer einer kurzen Mittagsruhe in beständigem Hin- und Herlaufen, aber am Abend merkte kein Mensch ihr an, daß sie so viel bewältigt hatte, wie eine Frau, die Mutter von einem halben Dutzend Kinder ist.

Eigene Kinder hatte sie nie gehabt, aber im Ort hatte sie unzählige Kinder, denen sie eine strengere Mutter war, als die eigenen Mütter es waren. Aber sie war auch gerecht und konnte gutherzig sein und darum liebten die Kinder sie mit der Scheu, die man guten, festen Vorgesetzten gegenüber empfindet.

Abends las die Pastorin das kleine Lokalblatt des Ortes von Anfang bis zu Ende durch, und wenn etwas besonders Bemerkenswertes unter den Nachrichten stand, störte sie ihren Mann aus seiner Lektüre auf und las ihm vor und verlangte Teilnahme und Aussprache.

»Viktor,« sagte sie an einem Aprilabend, der so mild war, daß sie die Fenster noch um die neunte Stunde offen stehen hatten, »denke dir, Viktor, das Gormannsche Grundstück ist verkauft. Hier steht es. Ich war schon vor ein paar Tagen erstaunt, weil das Verkaufsplakat aus dem Garten genommen war. Du weißt doch, es war an einem Pfahl mitten im Vorgarten angebracht und dann war es mit einemmal verschwunden, aber ich fand nichts weiter dabei, sondern dachte mir, daß sie vielleicht den Garten umgraben ließen. Und nun ist es wirklich verkauft. Hier steht es: ›Das Gormannsche Villengrundstück ist käuflich an Herrn Dr. Breuer aus B. übergegangen.‹ Merkwürdig, nicht wahr? Aber sie haben ja ganz recht, die Gormanns, sie waren nur ein paarmal im Jahr einen Sonntag draußen und das lohnt sich ja natürlich nicht. Und da Frau Gormann selbst im Geschäft tätig ist und, wie sie selbst sagt, nicht so sehr viel Sinn für die Natur hat, wird es eine große Erleichterung für sie sein, daß sie es los sind. Ich verstehe ja eigentlich nicht, wie jemand keinen Sinn für die Natur haben kann, da sie doch das Beste und Schönste im Leben ist. Aber es gibt eben verschiedene Menschen, und Frau Gormann ist im Grunde ja auch wirklich eine richtige Stadtdame, immer in auffallenden, modernen Kleidern, und immer, wenn man sie mal sprach, erzählte sie von Theater und Läden und neuen Moden. So eine paßt nicht aufs Land, wo man außer Natur und seinem bißchen Verkehr nichts weiter hat. Aber was mag das für ein Doktor sein, der es gekauft hat? Wenn er Arzt ist und sich hier niederlassen will, wird er unseren Dr. Müller sehr in die Quere kommen, meinst du nicht? Denn Müller hat vier Kinder, und da hier draußen die meisten Leute gesund sind, ist seine Praxis nicht allzu groß.«

Ihr Gesicht war lebhaft und ein wenig erhitzt, als sie über diesen Fall, der ihr Interesse in höchstem Maße erregte, sprach.

»Wo könnte man da nur etwas Näheres erfahren, Viktor?«

Pastor Lerch hatte ein gutes, geduldiges Lächeln um den Mund.

»Warte es doch ruhig ab, Elisabeth, Du wirst es schon bald genug erfahren, wenn sie erst hier sind!«

»Ach, du willst dich wieder über mich lustig machen!« sagte sie ärgerlich. »Ich habe eben nicht so viel Phlegma wie du und interessiere mich für meine Mitmenschen!«

Er hatte ihr die Hand auf den Arm gelegt, um sie zu begütigen.

»Interesse habe ich auch für meine Mitmenschen, aber ich kann mich nicht über etwas ereifern, was noch gar nicht ist. Die Zeitungen bringen heute etwas, und morgen wird es oft schon widerrufen!« »Aber wenn es doch hier mit voller Namensnennung steht, mit Wohnort und allem! Und überdies hat sich Gormann ja lange genug um den Verkauf bemüht. Was mag er nur bekommen haben? Es ist doch eigentlich ein recht hübsches Haus und hat einen netten Garten!«

Der Pastor hatte einen fast unhörbaren Seufzer ausgestoßen, klappte das Buch, in dem er gelesen hatte, zu und widmete den Rest des Abends der Unterhaltung mit seiner Frau, die ihn vom hundertsten zum tausendsten führte, aber dann immer wieder auf diese Neuigkeit des Hausverkaufes zurückkam.

Am nächsten Tage wußte sie schon etwas Näheres. Frau Gormann war draußen gewesen, um den Möbelbestand aufzunehmen und hatte mit der Apothekersfrau gesprochen. Der hatte sie erzählt, daß der Dr. Breuer ein Gelehrter sei, der an einem Werke schrieb, und seine Frau sei die Tochter eines sehr reichen Fabrikdirektors. Kinder hätten sie nicht.

»Eigentlich schade, daß sie keine Kinder haben,« sagte Frau Lerch, denn durch die Vermittlung von Kindern kam sie immer am schnellsten in Fühlung mit Menschen, die hier heraus zogen. »Es sollen noch junge Leute sein, Viktor, und wenn sie die Tochter eines so reichen Mannes ist, werden sie das Haus wohl nur im Sommer bewohnen und im Winter in der Stadt leben. Frau Gormann sagt, daß sie schon bald einziehen. Nun, der Major, der Garten an Garten mit ihnen wohnt, wird sich freuen, daß er nicht eine Kinderschar zur Nachbarschaft bekommt, denn der will doch nicht gern gestört sein. Hörst du eigentlich zu, Viktor?«

»Ja, natürlich höre ich zu, Elisabeth!«

»Ich dachte nur, weil du doch eben die Seite in deinem Buche umschlugst! Was meinst du, ob man ihnen entgegenkommen und sie zuerst besuchen soll? Man weiß da nie, wie man es am besten macht! Die einen erwarten ein Zuvorkommen, die anderen wollen Zurückhaltung. Was mich betrifft, so würde ich mich freuen, wenn man mir freundlich entgegenkäme!«

»Laß sie doch nur erst hier sein, Elisabeth. Es ist ja hier nicht schwer, jemand zu begegnen, und wenn du erst weißt, wie sie aussehen, wirst du auch wissen, wie du dich ihnen gegenüber verhalten mußt.«

Sie gab ihm recht und las weiter in ihrer Zeitung und ließ auch ihn lesen, aber ihre Ruhe war aufgestört.

Niemand im Ort, außer der Apothekersfrau wußte irgend etwas über die Angelegenheit und fürs erste blieb das Gormannsche Haus ohne Bewohner. Zu Anfang Mai aber kamen die neuen Besitzer; sie kamen von der Bahn zu Fuß, und ein paar Stunden später traf ein kleiner, offener Möbelwagen ein, der eigentlich nur Dinge enthielt, die keineswegs auf Reichtum schließen lassen konnten.

Eine Schar von Kindern stand um den Wagen herum, und die Haushälterin des Majors hatte im Nachbarhaus die Gardinen eines Fensters ein wenig zurückgezogen, so daß sie das Notwendigste sehen konnte. Sie war in einem fassungslosen Staunen, beruhigte sich dann aber in dem Gedanken, daß dieses hier wohl nur der kleine Restbestand der Möbel sei, der vielleicht im richtigen Möbelwagen keinen Platz mehr gefunden hatte.

Es fiel ihr dann allerdings ein, daß die Gormanns ihre paar Möbel, die sie hier hatten, gar nicht herausgeholt hatten, und dann war das Haus ja auch noch gar nicht von Grund auf gereinigt worden, und je mehr sie dachte, um so voller ward ihr das Herz, und sie war unglücklich, daß sie niemand hatte, mit dem sie ihre Eindrücke austauschen konnte, denn mit ihrem Herrn ließ sich ja überhaupt nicht reden. Der war, wenn man es recht bedachte, nur ein halber Mensch, der gleichgültig am Leben und an Menschen vorüberging.

In der Abendstunde dieses Tages aber fügte es sich, daß die Pastorin Lerch und die Haushälterin des Majors zusammentrafen und beide beschwerten und erleichterten sich das Herz. Die Pastorin ging, obwohl es Abendbrotzeit war, noch einmal am Gormannschen Grundstück vorüber, und da Licht hinter den Scheiben sichtbar war und da die Gormannschen Gardinen noch an den ungenutzten Fenstern hingen, mußte es wohl so sein, wie die Haushälterin beschrieben hatte: die neuen Besitzer waren eingezogen und schienen schon dauernd bleiben zu wollen.

Am nächsten Tage kam zwar eine Frau, die putzte und klopfte und fegte, aber ein Möbelwagen kam nicht mehr und die Gormannschen Gardinen blieben vor den jetzt blank geputzten Fenstern.

Der Pastor Lerch mußte über diesen Fall mehr hören als ihm lieb war; sein Gesicht sah ein wenig traurig und abgespannt dabei aus, aber er blieb liebenswürdig, und merkwürdigerweise verfehlten die vielen Schilderungen und Mutmaßungen seiner Frau nicht ganz ihren Eindruck auf ihn: seine Gedanken begannen sich mit den neuen Ankömmlingen, die ihr Haus noch nie verlassen hatten, zu beschäftigen und er wünschte nun auch, ihnen einmal zu begegnen oder sie in seinem Hause zu empfangen.

»Ich würde zu Ihnen gehen,« sagte die Pastorin, »aber ich weiß nicht, was es ist, irgend etwas in mir hält mich davon zurück, ich bin ordentlich ängstlich, und Aengstlichkeit ist doch sonst nicht meine Art!« Worin ihr der Pfarrer recht geben mußte.


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