Helene von Mühlau
Frau Doktor Breuer
Helene von Mühlau

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20.

Magdalene hatte in der finsteren Arbeitsstube ihres Mannes, auf dessen Sofa in zusammengebrochener Haltung gekauert – lange – lange. Sie fühlte die Zeit! Jede Minute, jede einzelne Sekunde hämmerte sich in ihr Hirn ein, und doch war eine Stunde und war noch eine zweite Stunde vergangen.

Von draußen fiel jetzt der rötliche Schein einer Laterne ins Zimmer und führte sprunghafte Bewegungen auf dem abgenutzten Teppich aus. Magdalene sah dem Spiel zu. Es war ein unruhiges und aufregendes Spiel und zog die Gedanken in allerlei Abgründe, in denen sich furchtbare, grauenerregende Dinge abspielten.

Schwarz starrte der offenstehende Schrank, aus dem das Manuskript genommen war, sie an.

»Warum hat er die Arbeit mit sich genommen?« fragte sie sich. »Wenn es sich um eine harmlose Fahrt, die er gern allein machen will, handelte, dann würde er doch das Buch nicht mit sich genommen haben!«

Er und seine Arbeit! Beide fort – geflohen! Vor wem geflohen? Vor ihr – nur vor ihr!

»Du lähmst mich, Magdalene!« hörte sie ihn sagen. »Es ist etwas an dir, das mir die Kraft, die Freudigkeit nimmt!«

Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Ach – daß es so kommen mußte – daß ein Mensch, für den man alles hingegeben hatte, was man besaß und was einem lieb und wert war, so reden konnte!

Das rote Licht tanzte und schnörkelte vor ihr in bizarren Kreisen. Sie stand auf und zog die Vorhänge am Fenster zu. Nun war der Schein so stark gedämpft, daß kaum noch ein blasses Leuchten sichtbar war.

Magdalene saß wieder am Schreibtisch. Sie zündete eine Kerze an, die auf einem Leuchter steckte. An der Kerze klebte roter Siegellack, der wie große, schwere Blutstropfen aussah. Ihr schauderte, und die Phantasie malte wieder wilde Bilder aus.

Dann plötzlich etwas Erlösendes.

Hatte er nicht vor einer Spanne Zeit einmal gesagt: »Ich werde so weit herabsteigen und deinem Vater beweisen, daß ich materiellen Erfolg haben kann, wenn ich ihn zu haben wünsche! Ich werde einen Teil meiner Arbeit schon bald in Druck geben und ihm den Band überreichen!«

Sie stand auf und ging mit lebhaften Schritten im Zimmer auf und nieder.

Mein Gott, ja – war es denn nicht möglich, daß er in die Stadt gefahren war, um mit einem Verleger zu sprechen und aus diesem Grunde das Werk mitgenommen hatte?

Und kam vielleicht glückstrahlend nach Hause, um ihr endlich eine frohe Botschaft zu bringen?

Für die Dauer von ein paar Minuten gaukelten diese glücklichen Möglichkeiten vor ihr. Aber dann versanken sie wieder in das alte trostlose Grau dieser vielen Jahre, in das niemals ein Lichtstrahl gedrungen war. Nein, wenn er wiederkam, dann fing dasselbe wieder an – dann saß er wieder hier unten in dieser traurigen, nüchternen Umgebung, und sie saß oben in ihren Zimmern, und das Beste, was sie ihm antun konnte, war, sich von ihm fern zu halten, denn sie lähmte ihn ja – nahm ihm Kraft und Luft zur Arbeit.

An der Tür ihres Zimmers pochte es. Die Bedienungssfrau trat ein, fand sich in dem von der Kerze nur matt erhellten Raum nicht gleich zurecht und mußte eine Weile suchen, bis sie Magdalene am Schreibtisch sitzend fand.

»Gnädige Frau, sagte sie, und ihre Stimme klang, als ob sie heftige Erregung und aufsteigendes Schluchzen verbergen wollte. »Gnädige Frau – das geht doch so nicht. Es muß doch etwas geschehen! Wir können doch nicht ruhig hier sitzen, während der Herr – –« Sie stockte.

Magdalene war aufgestanden und zu ihr hingetreten.

»Was sollen wir tun?« fragte sie tonlos.

»Suchen!« sagte die Frau, »der Polizei Anzeige erstatten! Gott im Himmel – womöglich liegt er in irgendeinem Winkel ohne Hilfe!« Sie weinte jetzt laut auf. »Gnädige Frau, ich glaube an Ahnungen; mein ganzes Leben hat's mich noch nicht betrogen, wenn ich Ahnungen gehabt habe. Und in dieser letzen Nacht und diesen ganzen Tag über läßt's mich nicht los. Ich sehe die schrecklichsten Dinge. Mit dem Herrn Doktor stimmt es seit langem nicht. Ich weiß vieles, was die gnädige Frau nicht weiß, und ich würde es nie aussprechen, wenn alles ruhig geblieben wäre. Aber so – wo es doch möglich ist, daß etwas Schreckliches passiert! Wissen Sie, was die Haushälterin vom Major sagt? Die sagt, der Herr Doktor sei jeden Abend in dieser letzten Zeit zu den Rallings, die draußen am See wohnen, hingegangen – aber nicht zu ihnen ins Haus, sondern habe draußen am Garten gestanden und zu dem Haus hingestarrt, wie einer, der nicht mehr weiß, was er mit sich anfangen soll. Die Haushälterin hat das von Leuten gehört, die ihn dort stehen sahen, und sie meint, vielleicht sei der Herr mondsüchtig oder habe sonst eine innere Krankheit, von der kein Mensch etwas wisse.«

Das Wort »mondsüchtig« traf Magdalene stark. Sie mußte an jenen Abend im vergangenen Sommer denken, an dem sie im Mondschein mit ihrem Mann die Seepromenade entlang gegangen war und an dem er ihr all die seltsamen Dinge gesagt hatte, die sie damals schmerzten und die sie dann über vielem anderen wieder vergessen hatte.

Die Frau stand wartend an der Tür.

»Soll ich vielleicht zu Pastor Lerchs gehen?« fragte sie. »Die Frau Pastorin meint es doch gut, und vielleicht kann der Pastor einen Rat geben.«

Magdalene schüttelte den Kopf.

»Pastor Lerchs sind nicht zu Hause, und überhaupt möchte ich nicht, daß man hier im Ort über den Herrn spricht. Ich bin sicher, daß ihm nichts passiert ist. Er hat seine Arbeit mitgenommen und ist wahrscheinlich in die Stadt gefahren und wird da aufgehalten. In seiner Zerstreuung denkt er nicht daran, mich zu benachrichtigen. Sie können ruhig sein; wenn ein Grund zu Befürchtungen da wäre, würde ich nicht still hier sitzen können.«

Die Frau sagte noch etwas von Ahnungen und ging dann; aber sobald sie aus dem Zimmer war, hatte Magdalene das Gefühl, als müsse sie laut schreien, um Hilfe rufen, sich an jemanden anklammern, denn der Boden bewegte sich unter ihren Füßen, die Wände des Hauses schwankten und wollten sich auf sie niederstürzen. Sie sank vor dem Sofa auf die Knie.

»Mein Gott – was soll ich tun? Wer kann mir helfen?« Sie sah nun den Mann auf seinen irren Gängen, sah ihn vor dem Garten der Frau Ralling stehen und zu deren Fenstern hinaufstarren.

»Warum muß es eine Frau wie diese sein?« fragte sie sich verzweifelt.

»Es ist hart, wenn der Mann von der, zu der er einstmals aus Liebe kam, fortbegehrt – aber doppelt hart ist es, wenn er zu einer solchen hinstrebt, die nur ein paar körperliche Vorzüge aufzuweisen hat!«

Sie sah die blonde Frau und sah ihren Mann – sah die große Verwandlung, die mit ihm vorging in der Nähe dieser Frau, und das Herz schnürte sich ihr zusammen.

Also nicht die Arbeit ist es, die ihn vielleicht zur Verzweiflung treibt, sondern eine Frau – eine hübsche blonde Frau, die zu plaudern und zu lachen versteht und einen besonderen Duft an sich hat!

War das Eifersucht, was ihr das Herz zusammenkrampfte, daß es ihr einmal körperlichen Schmerz verursachte? Nein – nicht Eifersucht – ganz gewiß nicht Eifersucht. Sie hatte diesen beiden ja selbst die Wege geebnet – hatte es so gewollt, daß der arme Mann sich nehmen sollte, wonach sein Verlangen ging.

Und plötzlich wußte sie auch, daß kein Grund zur Eifersucht vorlag, wußte mit voller Sicherheit, daß ihr scheuer, weltfremder Mann sich nie in das Haus der Frau hineingewagt hatte, und tiefes Mitleid kam in ihr Herz, als sie ihn im Geiste vor dem Rallingschen Garten stehen sah – kein anderes Verlangen im Herzen als das, in ihrer Nähe zu sein, zu ihren Fenstern hinaufsehen zu dürfen.

Wie ein Junge, oder doch wie ein ganz junger Mensch, der unter dem Bann des ersten übergroßen Liebeserlebens steht!

Das tat er, der die Mitte der Dreißig überschritten hatte, dessen Haare dünn wurden, dessen Gesicht schon längst kleine Falten hatte!

Sie fühlte jetzt wieder für ihn, wie eine Mutter für ein Sorgenkind fühlt – traurig und voll banger, tiefer Sorge.

Wo war er? Was hatte er getan in diesen beiden Nachten?

Draußen ging die Gartentür. Magdalene lauschte und hörte Schritte.

War er das? Kam er?

Das Herz schlug ihr laut. Sie rief seinen Namen: »Martin – Martin!« Wieder die Bedienungsfrau, und in der geöffneten Tür der Schatten eines Menschen.

»Gott – mein Gott!« schrie Magdalene auf, als sie wieder den Major Schwertes vor sich stehen sah. Kam der, um ihr Furchtbares zu künden? Kam der zum zweitenmal in ihr Haus, nur um sie zu trösten!

Er nahm ihre beiden Hände, die sie ihm entgegengestreckt hatte. Die Frau zündete das Licht an. Der Major zog Magdalene ins Zimmer. Er war in Aufregung. Aber er hatte keine Kunde zu bringen – nichts von einem grausigen Ereignis war zu ihm gedrungen. Er war gekommen, einfach weil er kommen mußte, weil die Sorge um die einsame Frau ihm keine Ruhe ließ – weil er Stunde um Stunde dieses Tages, weil er in jeder Minute, jeder Sekunde an sie gedacht und mit ihr gelitten hatte.

»Was kann geschehen sein?« fragte sie ihn, und der Major sagte mit einer Stimme, die sehr fest klang:

»Ich habe das sichere Gefühl, daß nichts geschehen ist – daß es sich einfach um den Einfall eines Augenblicks bei Ihrem Gatten handelt. Aber ich begreife, daß Ihre Sorge wächst – fürchte auch, daß man Ihre Angst steigert – –«

Er sah nach der Frau, die in der Nähe stehen geblieben war und leise weinte und wieder etwas von Ahnungen sagte.

»Er ist nie zuvor von mir fortgegangen, ohne mir eine Erklärung zu geben. Ja, er ist überhaupt niemals ohne mich für eine Nacht aus dem Hause geblieben.«

Es war ein Beben in ihr, als sie das sagte. Die Frau ging aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich ins Schloß. Der Major saß nahe bei Magdalene, und er hatte jetzt nicht mehr das peinigende Gefühl, das er am Morgen gehabt hatte:

»Wie kommst du dazu, dich einzudrängen? Was gehen dich anderer Leute Angelegenheiten an?«

Er wußte jetzt, daß die arme Magdalene eines Menschen bedurfte, der mit ihr sprach, der ihr das Entsetzen aus der Seele nahm.

»Ich bin durch Welten voll Grauen und Qual gegangen an diesem Tage!« sagte sie. »Meine Phantasie hat mir Dinge vorgespiegelt, die ich in Worten nicht ausdrücken kann, und doch und trotz allem kann ich an das eine nicht glauben – an das selbstgesuchte Ende! Nein –!« sagte sie laut und fest, »ich kann nicht daran glauben – ich weiß, daß er das nicht tut – daß er das gar nicht tun kann. Mein Gott – verstehen Sie mich recht, Herr Major, ich will nicht sagen, daß ihm der Mut dazu fehlt – nein, sicher nicht – den Mut zu solch einer Tat würde er haben. Aber trotz aller seiner Qualen, die er durchkostet – er ist noch lange nicht am Ende seiner Hoffnungen – er steht ja überhaupt noch wie ein Kind vor dem Leben – will ja noch alles einholen, was er bisher versäumt hat.

Ich weiß nicht, woher mir diese Gedanken kommen – weiß nicht, warum mir erst jetzt sein Wesen so ganz klar werden will! Aber wie ich ihn jetzt – in diesen Augenblicken – vor mir sehe, ist er ein Mensch, der in Sturm und Drang steht, der aber eines Tages all das, was ihm zu schwer an seiner Bürde wird, von sich wirft und dann leicht und zu einem neuen Dasein fähig dasteht!«

Der Major nickte beistimmend, aber sein Geist war sehr ernst dabei.

»So war meine Ansicht über ihn vom ersten Tage an, da ich ihn sah. Einer von jenen, deren es leider in unserer Zeit viele – allzu viele gibt. Man möchte sagen: Glücksritter des Geistes! Seien Sie nicht böse, wenn ich so von dem Manne spreche, der eng mit Ihnen verbunden ist. Es soll keine Kritik seiner Person sein – höchstens eine Kritik unserer Zeit, die es den Menschen möglich macht, sich diese Art von Dasein zu gestalten. Woher kommt es, daß heute unter einem Dutzend Menschen ganz gewiß immer einer ist, der sich für zu gut hält, einen vernünftigen bürgerlichen Beruf zu ergreifen – der das Gefühl hat, auf außergewöhnliche Weise seine Daseinsberechtigung beweisen zu können? Unselige Menschen, die weder ins praktische Leben hineinpaßten noch auf dem Gebiet der Kunst oder der Wissenschaft etwas zu leisten vermochten, hat es ja wohl immer gegeben. Das waren dann sehr oft wirklich Kranke, die an sich selbst zerschellen mußten. Aber diese nicht wirklich Kranken, diese, die heute in so großer Zahl herumlaufen und die eigentlich an nichts anderem als an einer grenzenlosen Selbstüberhebung leiden, die hat man doch früher nicht gekannt.

Nein, ich rede jetzt nicht von Ihrem Gatten – wenigstens nicht direkt von seiner Person! Aber es ist ein Groll in mir – ein riesengroßer Groll, der mich schon ein paarmal gepackt hat. Solche Menschen, wie die vielen, von denen ich eben sprach, solche Menschen mögen ja schließlich tun und lassen, was sie wollen, wenn sie damit niemand anderem als sich selbst schaden. Aber einen andern Menschen an sich fesseln und ihn zwingen, diese ganze bizarre Welt, die sie sich zurecht gemacht haben, mit durchwandern zu müssen – an all den tausend und abertausend Stimmungen, Erregungen, Enttäuschungen und Gefühlsschwankungen teilnehmen zu müssen, das ist ein Frevel. Ja – ein Frevel ist das. Und immer, wenn ich Sie vor mir sehe – jung und doch schon müde – immer diese Angst im Blick, ewig bereit, jedes – auch das größte Opfer zu bringen, dann wird dieser Groll so riesengroß in mir, daß ich ihn kaum zu ersticken vermag.«

Sein Gesicht sah erregt aus, als er das sagte. Magdalene sah staunend, verwirrt, von einer jähen Furcht befallen, zu ihm auf.

»Ich bin kein impulsiver Mensch,« fuhr er fort, »pflege nicht einer augenblicklichen Eingebung zu folgen und pflege auch nicht in die Häuser anderer Menschen zu gehen und ihnen meine Meinung und meine Ratschläge aufzudrängen. Aber zu Ihnen mußte ich kommen, und zwar mußte ich kommen, um Sie zu warnen, um Ihnen etwas zu sagen, was Ihnen vielleicht grausam erscheinen mag. Hören Sie mich an, und wenn Sie mir dann böse sind, dann können unsere Wege sich ja wieder trennen, wie sie vordem getrennt waren. Ich muß Ihnen sagen: Sie tragen mit Schuld an dem vermeintlichen Unglück Ihres Gatten – an seiner Ruhelosigkeit, an all diesen krausen Wegen, die er sich selbst schafft und von denen er glaubt, daß das Schicksal sie ihm vorgezeichnet habe.

An Ihrer Güte, an Ihrer Opferbereitschaft, an Ihrer grenzenlosen Selbstentäußerung geht Ihr Mann zugrunde. Er verträgt es nicht, einen Menschen, der sich ihm klaglos in allen Dingen fügt, um sich zu haben; er hat keine Ahnung von Ihren Leiden, von den furchtbaren Kosten, die Sie zu tragen haben, damit er auf seinen wilden Geistespfaden dahinsausen kann. Wären Sie hart, kühl und egoistisch, oder sagen wir einmal: wären Sie nur so, wie unsere gute Pastorin Lerch es ist: praktisch, ein wenig rücksichtslos, wenn sich ihr etwas in den Weg stellt, und von einer gewissen gutherzigen Dreistigkeit in geistigen Dingen, dann würde Ihr Gatte längst ein anderer geworden sein ...«

»Nein, nein,« wehrte hier Magdalene ab und mußte ein ganz klein wenig lächeln. »Bei einer Frau wie die Pastorin Lerch eine ist, wäre mein Mann nicht ein einziges Jahr geblieben.«

»Das glaube ich auch. Aber dann wäre er eben fortgegangen, und das wäre das einzig Richtige gewesen. Menschen vom Schlag Ihres Gatten müssen entweder allein sein oder Sie müssen als Kameraden einen Menschen haben, der stärkere Nerven, einen stärkeren Willen und stärkere Eigenliebe hat, als sie selbst es haben. Eine jede Ehe ist ein Kampf, und das schadet nichts. Auf Kampf folgt Waffenstillstand und endlich Friede – oder aber der Ehekampf endet im Auseinandergehen.

Jeder Kampf aber ist besser als lautloses Sichopfern von einer der beiden Parteien. Glauben Sie es mir, verstehen Sie mich: Kein Mann verträgt das – kein Mann kann dabei glücklich sein, wenn er nichts als Güte, Weichheit, Nachgiebigkeit neben sich hat. Es sei denn, daß dieser Mann entweder ein Ausbund aller Geduld und aller Tugenden sei, oder aber er muß selber schon durch schwere Zeiten gegangen sein. Ein gewöhnlicher Mensch, dem jeder Vergleich fehlt, der noch nicht das Bedürfnis und die Fähigkeit hat, in der Frau das Beste, Schönste und Höchste, was das Leben geben kann, zu sehen, der versteht so etwas eben nicht! Im umgekehrten Verhältnis ist es genau dasselbe. Die Frau kann auch dem allzu nachgiebigen, großmütigen Mann nicht dauernd ihre Zuneigung und den Respekt, der zu einem Zusammenleben so unbedingt notwendig ist, bewahren.«

Er machte eine Pause und wartete vielleicht auf einen Einwurf von ihrer Seite, aber sie schwieg und sah nur sehr hoffnungslos vor sich hin.

»Was ich Ihnen da sage, das ist ja alles nicht aus der Luft gegriffen oder aus Büchern zusammengelesen,« fuhr er fort, »es ist die sehr bittere Erfahrung des Lebens – meines Lebens, gnädige Frau! Ich habe auch nicht verstanden und habe nicht begreifen wollen, daß es so sein muß, wie ich Ihnen sage, daß selbst die größte und tiefste Liebe sich nicht nur in Opfern und Entsagen äußern darf! Darum kam ich noch einmal zu Ihnen; ich mußte Ihnen das sagen, ich hatte keine Ruhe drüben bei mir, obwohl es mich einen großen Entschluß gekostet hat, zum zweitenmal ungebeten in Ihr Haus zu kommen.

Ihr Gatte wird zurückkehren, dessen bin ich genau so sicher, wie Sie es sind, denn er ist in der Tat noch längst nicht am Ende seiner Hoffnungen. Er wird es vielleicht nicht einmal für nötig halten, Ihnen eine Erklärung für sein Ausbleiben zu geben. Und das muß dann der Anfang für Sie sein, das muß Ihnen den Mut und die Kraft geben, ihm eine gewisse Grenze zu ziehen.«

Er schwieg wieder eine Weile, und die Gedanken kämpften einen großen Kampf in ihm.

»Ich weiß nicht, ob Sie mich und mein Kommen richtig beurteilen werden,« sagte er gequält, da sie schwieg. »Wenn mir Ihr Schicksal nicht so sehr am Herzen läge, wenn ich nicht diesen gar nicht zu erstickenden Drang gefühlt hätte, Sie vor einer Tragödie zu bewahren, so wäre ich sicher nicht gekommen.«

Sie gab ihm die Hand.

»Ich danke Ihnen und ich verstehe Sie!« sagte sie leise.

»Und glauben Sie, daß Sie die Kraft haben werden, meinen Rat zu befolgen?«

»Ich weiß es noch nicht, es ist schwer, mit der Gewöhnung von vielen Jahren zu brechen!«

»Ja, es ist schwer. Jeder Kampf ist schwer, aber allzu große Passivität hat noch nie zu einem Sieg geführt!«

Er stand auf, unschlüssig, ob er gehen oder bleiben sollte.

Magdalene hatte bis jetzt mit großer Mühe ihre Fassung bewahrt, nun war sie plötzlich am Ende ihrer Kräfte. Etwas Neues drang auf sie ein, sehr stark, sehr erschütternd. Das grenzenlose Verlangen der Frau nach einer Liebe, die nicht nur nehmen will, sondern die gibt, die beschützt, die hilft und leitet.

Und wie sie den Major Schwertes vor sich stehen sah, mit einem Gesicht, in dem es zuckte und arbeitete von den inneren Kämpfen, die jetzt in ihm wogten, da wußte und erkannte sie etwas, was ihrer Verzweiflung den Höhepunkt gab.

Nein, sie war nicht die richtige Frau gewesen, um einen armen, mit sich selbst ringenden, noch ganz unfertigen Menschen zu stützen und zu stärken, sondern sie war ein armes, selbst schwaches und hilfsbedürftiges Geschöpf, das der Kraft eines anderen bedurfte, um sich auf den Füßen zu halten. Der ganze riesengroße Irrtum ihres Lebens lag vor ihr; sie sah und hörte den Vater, der sie so eindringlich, so flehentlich gewarnt hatte, sah den Mann, ihren Mann, der die große Macht über sie besessen hatte und für den sie das, was »Liebe« heißt, vielleicht nie empfunden hatte.

Es ward dunkel vor ihren Augen.

»Gehen Sie jetzt!« bat sie den Major Schwertes, denn sie fühlte, daß auch die letzte Kraft von ihr weichen würde, wenn er noch länger hier vor ihr stand, daß dann das arme Herz aufschreien, und daß ihr Mund Dinge sagen würde, die nie ausgesprochen werden durften.

Der Major drückte ihr noch einmal die Hand und ging, ging sehr unzufrieden und uneins mit sich selbst. Hatte er Hilfe gebracht? War dies arme, müde, verzagte Geschöpf, dieses weiblichste Weib, das er je gesehen, noch fähig, sich zu einem Kampf, der lang und zäh und schwer sein würde, aufzuraffen?

Er schüttelte den Kopf. »Vergeblich!« sagte er vor sich hin, »diese beiden werden ihren Weg weitergehen, genau so wie sie ihn bisher gegangen sind. Sie werden sich aneinander zerreiben, bis es so weit ist, daß einer von ihnen im Kampfe fallen muß und so dem anderen die Kraft gibt, sich aufzurichten und ein neues Leben zu beginnen!«

Gleich nachdem die Tür seines Hauses sich hinter ihm geschlossen hatte, öffnete sich die des Nachbarhauses. Magdalene glitt wie ein schmaler Schatten durch den verschneiten Garten, die Straße entlang und verschwand dann in einem Seitenweg. Das Haus hatte über ihr zusammenstürzen wollen, sie hatte fliehen müssen vor tausend Gefahren, die sich neu vor ihr aufzutürmen drohten.


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