Guttenbrunn
Meister Jakob und seine Kinder
Guttenbrunn

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IV.

Wer die alte Hauptstraße des Dorfes entlang wandelte, merkte es auf den ersten Blick, dass hier der patrizische Mittelpunkt der Gemeinde lag. Namentlich rund um die Kirche sah es ganz stattlich aus und altväterlich bieder. Die schöne Kirche selber hatte noch Maria Theresia der Gemeinde von einem Wiener Meister bauen lassen, den sie mit vielen Plänen ins Banat schickte. Die Kolonisten führten allen Bedarf an Steinen und Ziegeln, an Sand und Kalk und Holz herzu und leisteten unentgeltlich, abwechselnd, jede Hilfsarbeit, die von ihnen gefordert wurde. Es war eine harte Robot. Aber so kamen sie früh zu einer Kirche, einer Schule, einem Pfarrhaus und dem Großen Wirtshaus. Und der Stil der Bauten übte seinen Einfluss auch auf die Nachbarhäuser aus, kein Bauer in Altrosenthal wollte zu weit zurückbleiben hinter den Vorbildern. Das schmale, langgestreckte Bauernhaus, wie die Hofkammer und das Militärärar sie für die Kolonisten bauen ließen, verschwand aus dem Mittelpunkt, man baute überzwerch und machte breite Gassenfronten. Vor den blendend weißgetünchten Häusern mit den grünen Fensterläden entwickelte sich eine Allee von Maulbeer-, Akazien- und Lindenbäumen. Nur vor den Toreinfahrten klaffte eine breite Lücke, denn sie mussten Raum bieten für bäuerliches Großfuhrwerk. Ein Heuwagen, ein breitgeladener Erntewagen, durfte mit keinen Baumästen in Streit geraten.

Und hier saßen nur ganze Bauern, die Wohlhabenheit lachte von jedem Giebel. Die spätere Erweiterung des Dorfes jenseits des Tales hatte keinen derartigen Mittelpunkt, sie war nur ein mächtiger Arm dieses Körpers. Und sie konnte sich auch lange die Gleichberechtigung nicht erringen; hier in Altrosenthal wuchsen die Richter, die sich die Gemeinde erwählte, hier saßen Pfarrer und Lehrer, die Krämer und der königliche Dorfnotär. Von hier aus wurde alles geleitet.

Nur zwei gute Köpfe von jenseits, ein Trauttmann und ein Lannert, setzten sich eine Zeitlang als Richter durch, dann fiel die Führung wieder an die alten Familien, die Luckhaup, die Geiß, die Wichner, die Klotz und Sehl und andere. Manche teilten sich schon in mehrere Linien, die Luckhaup hatten fünf Höfe besetzt, und ihr Anhang bei den Gemeindewahlen war groß. So viel ganze Sessionen standen ihnen in der Gemeinde freilich nicht zur Verfügung, sie erreichten diese Ausbreitung nur durch eine kluge Heiratspolitik. Dadurch bewahren sie ihre Nachkommen davor, Kleinbauern zu werden oder Handwerker. Und studieren hatten sie auch keinen lassen. Sie waren sich gescheit genug, brauchten keinen Herrischen in der Familie.

Kaspar Luckhaup, ein dunkelhaariger, bartloser Mann mit harten Augen, der dreimal Richter gewesen, saß mitten in der Hauptstraße auf dem Ursitz seiner Familie. Nie waren die dazugehörigen Gründe geteilt worden. Der älteste Sohn bekam stets den ganzen Hof, die jüngeren mussten gut heiraten, oder man kaufte ihnen einen verwaisten Grund, die Töchter wurden hinausgezahlt. In mageren Zeiten war das für einen jungen Bauern oft eine schwere Last, aber es haben sie noch alle getragen. Man pachtete in den zwei walachischen Nachbargemeinden ein paar Felder dazu und schaffte immer noch ein bisschen mehr. Den im Sommer geopferten Schlaf holte man im Winter wieder ein. Es ging schon, wenn man sich's einzuteilen verstand. Das wusste auch Kaspar. Er hatte vier Schwestern hinausgezahlt, wovor Gott je den Bauern bewahren möge, sagte er wie oft. Und er lebte nie in Frieden mit diesen Schwestern, ihre Männer hatten sich mehr erwartet. Und in Unfrieden hauste er auch mit seinen Eltern, die noch lebten und im Vorbehalthäuschen wohnten, das gegenüber dem Hauptgebäude im Hofe stand. Sie hatten keine guten Tage unter seiner Herrschaft. Aber jetzt ging auch diese zu Ende, er wird in einem Jahr in die Hinterstube ziehen und dort warten bis das Vorbehalthaus frei wird für ihn. Für ihn allein, denn er war Witwer. Aber noch war er der Herr. Und er wird einen gescheiteren Vertrag mit seinem Ältesten machen als sein eigener Vater einst mit ihm. Von seiner völligen Abdankung war noch lange keine Rede. Der Hannes hat geheiratet, gut geheiratet, die Frau brachte ihm noch eine halbe Session mit in die Ehe, aber Bauer blieb der Vater. Drei Jahre, das war ausgemacht, standen sie noch unter seiner Fuchtel, bis die Frau sich eingelebt hatte in die Luckhaupsche Hausordnung. Was der Vater wollte, das hatte zu geschehen. Für den zweiten Sohn, den Peter, war auch ein warmes Nest gefunden. Jetzt blieb nur noch der Christof zu versorgen. Und der musste dazusehen, sonst war er in einem Jahr der Knecht des Bruders. Einen Batzen Geld hat er ja zu erwarten, aber den Hof, den er brauchte, den wird er sich doch wohl selber suchen müssen.

Seitdem die Bäuerin tot war, führte eine verwitwete Base die Wirtschaft des Kaspar Luckhaup. Auch der Einzug der jungen Bäuerin änderte daran nichts, der Vater begab sich nicht in ihre Kost und Pflege, sie hatte drei Jahre an seinem Tisch zu essen wie eine aufgedingte Magd. Das war der Brauch des Hauses und davon ließ er nicht. Und wenn der Vater abend sagte: ihr geht morgen in die Kartoffel, so ging man in die Kartoffel; oder: »Hannes, du ackerst morgen im Überland, und die Margret geht mit de Leut' in Wingert«, so lud der Hannes seinen Pflug auf und fuhr hinab ins Überland an der Marosch, die Margret aber ging, so sehr sie innerlich widerstreben mochte, mit den Taglöhnern in den Weingarten. Widerspruch gab es keinen.

Der Schnitt war vorüber. In hohen, kunstvoll aufgebauten Tristen saß das Getreide rings um die Tretplätze draußen auf den Feldern, und die lustige Tretarbeit hatte auch schon begonnen, überall liefen die Pferde die Runden. Jeder Bauer besaß in dieser Zeit seinen eigenen Zirkus und alles, was Beine hatte, tat mit. Früh fuhr man aus und nahm noch ein Fass Wasser mit, um den festgestampften, wohlvorbereiteten Tretplatz am Abend fürsorglich zu besprengen. Die große runde Scheibe dieser Tenne im Ackerfeld erglänzte wie Marmelstein, aber sie wurde leicht spröde und bekam Risse und Sprünge. Kaspar Luckhaup war wie ein Teufel hinter seinen Söhnen her, dass da nichts versäumt wurde, denn der Weizen war wohl von der Spreu zu sondern, nicht aber von Sand und Erde. Und er selber stand Tag für Tag auf dem Tretplatz und ließ sechs Pferde, die er an langen Leinen hatte, die Runde laufen. Die Söhne lösten die herbeigebrachten Garben und legten sie auf. Mit den Ähren nach innen, mit dem Stroh nach außen.

Zuerst zwei Schichten. Und die Pferde liefen ohne Eisen, mit natürlichen Hufen traten sie das Getreide aus. Zuerst liefen sie kurz. Aber der Kreis erweiterte sich immer mehr, das Stroh verschob sich, und sobald es leer schien und die Pferde eine Pause brauchten, wurde es im Fluge mit Heugabeln aufgebeutelt und aufgeschüttelt. Alles beteiligte sich daran. Und der Vater entschied, ob es schon abgeräumt und neues Getreide aufgelegt werden konnte. Das ging den liebenlangen Sonnentag so fort, der Tretplatz wurde immer höher, denn unter dem Stroh lag ein Berg von Weizenkörnern in der Spreu. Mit der Vespermahlzeit schloss diese heiße, fröhliche Arbeit, die mit Behagen und Humor betrieben werden konnte.

Bald hatten die Menschen ihre Arbeitspause, bald die Pferde, bald lagen diese hinter den Tristen im Schatten, bald standen die Pferde dort und fraßen aus vollen Futterkrippen. Oder ein Knecht ritt sie während der Mahlzeiten der Leute zur Tränke. Es kam nur auf die gute Laune des Bauern an, des Führers, diese Erntetage zu guten oder zu schlimmen zu machen. Dem Kaspar fehlte der Humor, es ging immer ernsthaft und trocken zu bei ihm, und mancher Donnerkeil sauste nieder, wenn irgend etwas passierte, wenn die Heugabeln nicht flink genug waren oder gar, wenn ein Pferd seine Notdurft ablassen wollte ins Getreide und kein Bub zur Stelle war mit einem Sechter. Seinen Hut hielt der Bauer unter und warf ihn dem Säumigen an den Kopf, der zu spät kam.

Aber nach der Vesperzeit, wenn der Vater ein wenig geruht hatte und der Tag ohne Gewitter verlief, setzte er eine andere Miene auf. Jetzt kam sein Hauptstück, das Worfeln des GetreidesWorfeln - das Getreide mit der Worfel (Holzschaufel) gegen den Wind werfen, das Getreide von der Spreu trennen. An der Leine ließ er sich ja manchmal vertreten, beim Worfeln nie, das war die Sache des Bauern. Da lag die Ausbeute des ganzen Tages. Nicht in zwanzig Säcke war sie zu fassen, aber über und über mit Spreu und kleinen Ährenknollen durchsetzt. Die Weiberleute reuterten daran und schüttelten den Weizen durch weitmaschige Drahtsiebe, so dass das Gröbste beseitigt wurde. Was schwer war, musste weg. Aber die Milliarden Spreufaserchen, die das Getreide unbrauchbar machen, mussten auch fort. Und dazu brauchte man Gottes Beistand, er musste immer einen leisen fröhlichen Abendwind wehen lassen, wenn das Tagewerk ganz gelingen sollte. Und gegen diesen Wind musste das Getreide hoch in die Luft geworfelt werden. Man legte die Tretplätze ja, wenn möglich, auf höher gelegenen Flächen an, wo die regelmäßige Luftbewegung durch die Überlieferung festgestellt war, aber manchmal blieb sie auch dort aus und der Tag galt als halb verloren. Man musste das unreine Getreide in Säcke tun, oder wenn das Wetter ganz sicher war, es nächtlich bewachen und bei Sonnenaufgang worfeln.

Jenseits der Marosch hatte es heute ein Gewitter gegeben, und von dorther strich jetzt ein kühler erfrischender Wind über die Felder. Kaspar Luckhaup ergriff sogleich seine schmale langstielige Schaufel aus Tannenholz, eine sogenannte Worfel, die sich durch ihre Schlankheit von den anderen Schaufeln unterschied, und trat an den großen Getreidehaufen heran. Er hatte ihn schon vorher nach Süden schaufeln lassen. Alle Blicke hingen an ihm. Und so freundlich, so väterlich war seine Miene schon lange nicht. Er hatte alles abgeworfen, in Hemd und Leinenhose stand er da und setzte an. Hoch flog die Worfel gegen den Ostwind, der goldige Weizen prasselte auf den Tretplatz nieder, und die Spreu flog weit nach Westen in die Stoppeln.

»Des is a Freud, Kinner, wie's heunt geiht«, sagte er. Und er worfelte und worfelte. Die jungen Männer schauten zu, die Mägde arbeiteten mit feinen Besen und fegten die versprengten Getreidekörner zusammen. Die Margret aber wurde vorausgeschickt, daheim nachzusehen, was die Base Gutes gekocht habe für ihre Drescher. Solch einen freundlichen Auftrag ließ sie sich nicht zweimal erteilen. Die verdrießliche Stimmung, die der Vater während des Tages oft um sich verbreitete, war vergessen, sobald ein guter Abendwind wehte und er mit Glück worfelte.

In zwei Stunden war das Getreide in den Säcken und aufgeladen, der Tretplatz tüchtig mit Wasser besprengt, und man fuhr in der Dämmerung heim. Der Vater hatte wieder einmal gezeigt, dass er der Meister war. In Schweiß gebadet stand er am Schluss des Werkes da, aber gut gelaunt. Christof hing ihm den mitgebrachten Kepenjek um und trocknete ihm den Kopf. Auf dem Heimweg saß er neben dem Sohn, der die Pferde lenkte. Den zweiten Wagen fuhr der Hannes. Die Helfer gingen zu Fuß heim, denn die Pferde waren müde, das Getreide schwer.

Als sie Wagen an Wagen mit anderen Bauern, die vom gleichen Geschäft kamen, dahinfuhren, wurde der Vater gesprächig. »Sag mer, Bu«, begann Kaspar Luckhaup, der jetzt seine kurze Pfeife rauchte, die er im Erntefeld weder sich noch sonst wem gestattete, »was du vorhascht. Jetzt kimmt bald die Wallfahrtszeit, wo die Weiberleut alle unnerwegs sin, dernoo die Kerwa, wo sie sich schön mache - hoscht denn noch immer kein Mensch? Werd nix mit dir? Ich kaaf dich los von de Soldate, stell d'r ein Ersatzmann, äwer du muscht doch gucke, dass d' bald ins eige G'schirr kimmscht. In ei'm Jahr übernimmt der Hannes alles, und ich geih' in die Ausnahm'. Willscht du ehm diene? Die Motter hätt' dich g'wiß schon lang verkuppelt, wenn se lebe tät. Ich versteih des G'schäft nit. Ich schlag' dir keine vor. Du bischt ja nit aufs Maul g'falle... Warum redscht denn nix?«

»Vater, mich drückt was«, erwiderte Christof. »Ich konn's äwer noch nit sage. 's besser, mer rede ein annermal davon.«

»Des werd ja was Sauberes sein!« rief Kaspar Luckhaup. Der Zorn schäumte in ihm. »Willscht du uns a Schand mache?«

»Naa, naa. Ich waaß nit, warum Ihr glei so uffahrt. Was ich vorhäb', möcht euch vielleicht nit ganz passe. Es will noch überlegt sein.«

»Na, dann überleg d'r's gut«, schrie der Vater und warf im Zorne seine ausgegangene Pfeife auf den Straßendamm, dass sie in Scherben ging. Und redete kein Wort mehr. Auch Christof schwieg. Er dachte an Susi... Wie sie schön sein wird zur Kirchweih, wie er sie dem ganzen Dorfe vorführen werde als seine Erwählte... Gern hätte er den Vater etwas gefragt, aber er wagte es nicht. Er wusste einen halben Grund, den man billig kaufen konnte. Sollte er das jetzt sagen? Nein. Man musste den Vater langsam gewinnen, stufenweise, das wusste er seit seinen Kindertagen. Auch die Mutter setzte nie etwas im ersten Anlauf durch, sie konnte nur Schritt für Schritt ihre Absichten verfolgen. Sie hat keine guten Tage gehabt, sie litt mehr als sie eingestand, aber was sie wollte, was sie für nötig hielt, das erreichte sie doch immer. Wenn sie noch lebte! Sie würde ihm gewiss beistehen in seiner Not. Aber es wird auch ohne sie gehen müssen... Wenn er den Vater doch lieber heute nicht gereizt hätte. Jetzt wird er fragen, sich erkundigen, und es wird ein Geklatsche geben, ehe die Kirweih da ist.

Sie fuhren in das Tor ein, das die Margret weit geöffnet hatte, und der Vater sprang als erster vom Wagen. Pallatschinken habe die Base gemacht, berichtete sie und half beim Ausspannen. Aber Kaspar Luckhaup sah sie nicht an und ging ins Haus. »Was hot er denn?« fragte sie den Christof, und auch dieser antwortete nicht. Sie dachte sich ihr Teil und ging dem Wagen ihres Hannes entgegen. »In dem Haus wechselt's Wetter g'schwieder wie drübe über de Berge«, sagte sie zu ihrem Manne. »Kein's gibt ei'm a Antwort. Was is denn g'schehga?«

»Waaß ich's? Der Vatter hot uf amol g'schriee und sei' Pfeif' wegg'schmessa, so wild war er. 's muss mit'm Christof was sein.«

»Aaha!« sprach Margret. Und sie warf einen Blick nach Christof, der seine Pferde schon in den Stall führte. »Mer geiht a Licht uf.«

Die Großeltern saßen in der Dämmerung noch auf einer Bank neben der Tür des Vorbehalthauses, und Hannes bot ihnen einen guten Abend. »Na, git's aus, Hannes?« fragte der alte, schneeweiße Luckhaups Adam. »Ja, Großvatter, mer sein zufriede.«

»Mer tut des gut Jahr heunt rieche«, sagte die Großmutter. »Drüwe wird jo ufgekocht wie zur Kerwa.« »Pallatschinke git's«, sprach die Margret. »Ich bring Euch ein' zum Verkoschte.«

»Loss des gut sein, Margret«, sprach der Großvater. »Es möcht' dem Kaspar nit recht sein. Mer geihn schlofe. Gude Nacht.« Und er zog seine Alte mit ins Haus. Noch unter der Türe schnupperte diese hinüber nach der duftenden Küche. Sie war so stolz nicht, wenn es was Gutes gab.


Der Johann Weidmann hatte aus Szegedin geschrieben. Wie er über der Theiß drüben war, sei er ins Ungrische gekommen, aber einen deutschen Meister habe er auch dort gefunden. Und er sehe und lerne da allerlei. Ungarisch fluchen zu allererst. Das gehe wie geschmiert. Aber das Heimweh sei über ihn gekommen, und er müsse bald weiter fort, damit er nicht am Ende noch umkehre. Er grüße alle tausendmal, die Eltern, die Geschwister, die Freunde und Nachbarn. Sie sollen seiner nicht vergessen. So schön wie daheim sei es nirgends.

Meister Jakob hatte den Brief zweimal vorgelesen. Die Mutter wischte sich die Augen und steckte ihn zu sich. Sie konnte Geschriebenes nicht lesen, aber sie wollte den Brief haben. War er doch von ihrem Buben. Und die Kathl las ihn ihr noch einmal vor. Das war eine neue Mode, dass auch die Mädchen den Schulunterricht mitmachten. In ihrer Jugend gingen die Mädchen nur in die Christenlehr. Gedrucktes lernte man dort auch ein wenig lesen, damit es fürs Gebetbuch langte. Und wenn eine einen guten Kopf hatte, konnte sie auch den Kalender buchstabieren. Briefe schrieben und lasen nur Männer. Sie ließ sich ihren Brief am nächsten Tag bald von der Susi, bald wieder von der Kathl vorlesen, bis sie ihn auswendig wusste.

Nach dem Schnitt kam den Dorfleuten ihr Alltagsleben vor wie eine große Faulenzerei. Es gab rein gar nichts zu tun. Manche Frauen gingen schon jetzt nach Maria Radna wallfahrten und warteten die große Prozession gar nicht ab, die der Herr Dechant alljährlich nach der Ernte, unter Beteiligung der ganzen Gemeinde, hinführte. Diese Wallfahrt, die sich zuletzt in einen Hoffahrtszug der Schwaben umwandelte, denn die Gemeinde wurde von vielen hundert nachfahrenden Wagen wieder heimgeholt, war wenig geeignet für ein wahres Gebitt an die Heilige Maria. Wer von echter Andacht beseelt oder von einem schweren Leid heimgesucht war, der ging allein zu ihr. Die Anmerich war fromm, sie wollte schon lange nach Maria Radna, um der Gottesmutter zu danken für den Philipp, mit dem sie sich versprochen hatte. Und sie ging gern darauf ein, als die Susi zu ihrer Verwunderung auch solch ein Vorhaben bekundete.

Diese war bei der Großmutter Zengraf gewesen. Und deren Worte gingen ihr tief zu Herzen, sie sah die Welt auf einmal ganz anders an, es war alles dunkel um sie und aussichtslos. Was ihr dummes Mädchenherz seit langem gesponnen, war zerrissen und zerfetzt von den warnenden Worten der alten Frau. Sie sehnte sich nach Licht, sie hoffte auf Erlösung von ihrer geheimen Qual... Der Christof will ihr zur Kirweih seinen Hut schicken, sie soll ihm den Strauß draufmachen, und sie hat es versprochen. Darf sie es? Wird sein böser Vater es leiden? Stellt sie sich nicht bloß vor dem ganzen Dorfe, wenn sie der Christof am Ende doch nicht nehmen darf? Und kann sie denn noch zurück ohne Schande? Sie weiß es nicht. Aber sie will sich der Maria zu Füßen werfen und ihre Gnade erflehen.

Anmerich und Susi pilgerten frühmorgens zu Fuß nach Maria Radna. Und sie beteten unterwegs und redeten wenig. Ihr Weg führte sie durch den halbwalachischen Vorort des Dorfes, sie kamen am Postgrund vorbei, wo auch sie Felder hatten, und durch den Schwarzwald, wo immer das Majalis der Schuljugend stattfand. Mit einer Fahne zogen sie alljährlich aus, Buben und Mädeln, der Oberlehrer und der Unterlehrer führten sie, und das Kaiserlied wurde mit hellen Stimmen gesungen, wenn sie von der Schule, wo sie sich versammelt hatten, aufbrachen. Die Fahne aber trug der Erste der Klasse voraus. Und das war der Christof... Die Susi musste in ihrem stillen Gebet solch eines Tages gedenken. Das ganze Dorf guckte zum Fenster heraus, als sie singend auszogen, mittags kamen die Mütter nach mit guten Sachen und vor Abend auch die Väter. Und der Herr Pfarrer. Sie spielten auf dem freien Platz im Walde, und es war ein großer Feiertag der Kinder. Schon damals musste sie dem Christof gefallen, denn er war fort um sie herum, und sie tat nicht wenig stolz auf ihren Fahnenträger. Und auch später... Aber in die Spinnreih nach Neurosenthal war er nie gekommen. Das war nicht üblich, da hätte es Streit gegeben... Fort mit diesen weltlichen Gedanken! Sie rief sich zur Ordnung... Die beiden Wallfahrerinnen beteten sich still durch Neudorf hindurch und durch Lippa, sie erlegten einen Groschen Zoll bei der Schiffbrücke über die Marosch, die da von Siebenbürgen herabströmte, und kamen hinüber nach dem Gnadenort, der sich hoch an der Bergwand erhob. Eine Prozession war vor ihnen, die in einer fremden Sprache sang und betete. Sie schlossen sich unbeachtet an, als sich der Strom der Gläubigen in die Kirche ergoss und warfen sich in inbrünstigem Gebet zu Füßen Marias nieder. Sie waren allein in der fremden Menge. Da knieten Hunderte, und jeder hatte eine andere Bitte, ein anderes Anliegen vorzutragen, jeder wollte von einem anderen Leid erlöst sein durch Maria. Und sie redeten in verschiedenen Sprachen zu ihr und reckten die gefalteten Hände nach ihrem gütigen Antlitz empor. Viele weinten und flehten laut um ihre Gnade, um ihre Fürbitte bei ihrem allmächtigen Sohne. Kann eine Bitte aus solch heißem, reinen Glauben ungehört verhallen?

Der Anmerich wurde ganz schwül in diesem fremden Gelärm. Wie laut die mit ihrem Herrgott redeten! Das empfand sie unbewusst als fremd. Es störte ihre Andacht. Und sie sah sich nach ihrer Begleiterin um. Die Susi kniete still und versunken neben ihr, sie schien nichts zu hören von allem, was um sie hervorging, ihre Lippen bewegten sich und der dunkle Rosenkranz glitt langsam durch ihre Finger. Um der Andächtigen willen harrte die Anmerich noch aus. Aber dann, als sie sah, dass der Rosenkranz durchgebetet war, zupfte sie die Susi am Leibchen und erhob sich.

Ganz heiter war die Anmerich, als sie auf einer Waldwiese saßen und sie das mitgebrachte Essen auspackte. Und auch die Susi lächelte wieder, auch von ihrem Herzen schien eine Last genommen zu sein. Die Anmerich war viel zu sehr mit sich und ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt gewesen in der letzten Zeit, um auf die Susi zu achten, aber ihr heutiger Ernst, ihre Zerknirschung fiel ihr doch auf. Die muss den Christof doch stark gern haben, wenn sie so andächtig um ihn bitten konnte. Wenn's ihr nur glückte. Ordentlich zärtlich war sie mit der Schwester und gab ihr die besten Bissen. Darüber zu reden vermochte sie nicht. Wenn die Susi will, wird sie schon selber den Mund aufmachen. Genug, dass sie wieder heiter blickte und lachte.

Ein erquickender Spätsommertag lag über der Welt, als sie den Heimweg antraten. Auf den Hängen der Berge, die auch von da als letzte Ausläufer der Siebenbürger Karpaten in die Arader Tiefebene hinabstürzen, um in ihr zu versinken, lachten die Weinrieden voll edler Trauben, links und rechts ihres Weges reifte in weiten Feldern der Kukuruz in Riesenkolben, und aus den Obstgärten in den Auen der Marosch, zu denen sie kamen, lugten tausend rotbackige Äpfel und goldige Birnen. Aber die Zwetschgen- und Pflaumenbäume, die sich über unübersehbare Flächen hinzogen, schlugen alles durch die Fülle ihrer Gaben. Und sie wurden schon geschüttelt, da hatte die »Griechalese« schon begonnen. Das war ja auch daheim die nächste Arbeit, und die Mädchen freuten sich schon darauf. Der Trauttmanns Philipp hatte ein paar Joch und wollte die Weidmannsmädeln einladen zur Lese, verriet die Anmerich.

Ein Wagen kam ihnen nach. Ein Rosenthaler Wagen, das erkannte die Anmerich sogleich. Wer es wohl sein mochte? Ob er sie mitnahm? Heute war ja Wochenmarkt in Lippa, da werden noch mehr nachkommen als der eine, meinte Susi. Die Anmerich blickte noch einmal nach dem Wagen aus und sagte voll Humor: »Mir scheint, die Mottergottes hot dich schon erhäert...« Wie erblasste jetzt die Susi, als sie mit dem ersten Blick, den sie nach der Seite warf, die Füchse des Luckhaup erkannte. Und der Christof lenkte den Wagen, neben ihm saß die Bas' Liesl, die wohl Butter und Eier und Schmalz auf den Markt gebracht haben mochte.

»Mädscha«, rief der Christof, »kummt, gebt uns die Ehr', steigt uf. So a Überraschung!«

Susi, blutrot im Gesicht und verlegen, zierte sich, aber die Anmerich war gleich bereit. »Werd mit Dank angenumme«, erwiderte sie und gab der Susi einen Puff in den Rücken.

»Geilt, Bas' Liesl, setzt Euch mit der Anmerich uf de Rücksitz und lasst die Susi newer mich«, sagte der Christof, »ich muss ihr was verzähle!«

Die alte Bäuerin, die Wirtschafterin seines Vaters, machte kein sehr freundliches Gesicht, aber sie tat, was Christof wollte. Es war ja etwas Selbstverständliches, dass man jemand aus der Heimat, den man auf der Landstraße traf, mitnahm. Es gab kein Ausweichen. Aber dieser Zufall... Am Ende war es abgemacht... Die Bas' Liesl hatte schon allerlei läuten gehört. Was wird der Vetter Kaspar dazu sagen?

»In Radna seid'r gewest? So, so!« Und die Base führte ein einsilbiges, stockendes Gespräch mit der Anmerich. Ihre Ohren waren auf dem Vordersitz. Aber da war wenig aufzuschnappen bei dem Wagengerassel. Bis in den Nacken war die Susi rot. Ihr rundes glattes Gesicht strahlte, die grauen Augen, die sie von der Mutter hatte, funkelten den Christof an. Sie selber redete wenig. Aber der Christof um so mehr.

Warum er sie nicht wiedersehen könne, warum sie ihm ausweiche seit damals? Sie solle doch öfter zur Großmutter nach Altrosenthal gehen, solle abends kommen, er müsse mit ihr reden. Der Vater sei fuchsteufelswild, aber das mache nichts, nach der Kirweih werde er schon mit sich reden lassen. Susi sagte kein Wort, sie fürchtete die Aufpasserin hinter sich. Sie war voll Scham und voll Qual darüber, dass sie sich an jenem Tanzabend trotz aller guten Vorsätze hatte überrumpeln lassen von dem Christof. Er war ja ein guter Bub, aber was sollte werden? Die Fraala hatte ihr zu spät die Augen geöffnet. Der dritte Sohn eines Bauern musste Knecht werden, wenn er kein Bauernmädel mit einem Grund kriegte, oder Soldat. War er sich dessen nicht bewusst? Sie konnte es ihm doch nicht sagen. Hier nicht sagen. Und sie nickte zu allem und versprach ihm die Zusammenkunft.


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