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»Stimmung: Frühlingsanfang«, hatte der schweizerische Konsul aus die Einladungskarten setzen lassen. Also wollten alle heiter sein. Plaudernd, lächelnd, glänzend wogte es durch die Säle.
Aber einer mußte den Vordruck nicht gelesen haben. Bekümmert ragte sein Gesicht aus dem Geplätscher. Wer das wäre, ging es flüsternd um. Ein bekannter Staatsmann, hieß es. Von Mund zu Mund ein Name ging, der im Krieg geleuchtet hatte. Nach dem Kriege warf er Schatten. Wie eine Lichtkapuze trieb sein ruheloser Schädel über den Gesichtern und löschte Licht um Licht und alle vorgenommene Fröhlichkeit. Ein dunkles Petschaft drückte feinen düsteren Stempel auf die Mienen: Was soll nun aus unserem Lande werden …
Der gastliche Konsul focht beweglich gegen diese Trübe. Von Gruppe eilte er zu Gruppe, suchte freundlich aufzuheitern: »Aber Kinder, 's ist ja Frühlingsanfang heute, morgen ist auch ein Tag, heute ist heut' …« Soviel Güte und Vertrauen strömte von ihm aus, daß er hell zurückließ, was er angesprochen hatte: »Recht hat er, laßt uns wieder froh sein – – auf Ihr Wohl, gnädige Frau –«
Sie tat ihm nicht Bescheid. Sie sah dem mit der bekümmerten Stirne nach: »Der dort meinte, es sei keine Zeit fürs Gläserklingen.« – »Nun ja, mag sein, aber trotzdem –« – »Gewaltsam fröhlich sein macht nur noch trauriger.« – »Gott, was soll man denn –?«
»Trost gäbe höchstens ein Zuendedenken, sagte mir der Bekümmerte.« – »Hm, er selber aber scheint –« – »Er kann nicht zu Ende kommen, sagt er, die Zukunft sei verrammelt.«
»Nur für solche, die sich der Vergangenheit verschließen,« tauchte der Konsul ins Gespräch, »die Geschichte lehrt –« – »– im Grunde nichts,« stand der Bekümmerte plötzlich mitten unter ihnen. Man schwieg betreten. »Hm, immerhin, Exzellenz, wenn man sich in sie vertieft –« – »– lieft man nur heraus, was man vorher hineingelesen hat – Selbstbetrug – Gaukelei – totes Wissen – ja, wer Versunkenes lebendig machen könnte –«
Der Konsul blickte nachdenklich vor sich bin. »Vielleicht gelingt's mir heute,« murmelte er für sich.
Sie sahen sich an. Lächelnd, nachsichtig, wohlerzogen, wie der gute Ton es vorschreibt: Er meint's ja gut, indes –
»Daß ich nicht falsch verstanden werde,« sagte der Konsul, »ich selbst bin kein Beschwörer der Vergangenheiten – ich war immer mehr fürs Heute – habe aber einen Zeugen, der die letzten fünfundzwanzighundert Jahre –«
»Weiß schon,« sagte der Bekümmerte, »Felsblock oder so was ähnli–«
»Sie irren, Exzellenz, mein Zeuge hat die letzten fünfundzwanzighundert Jahre wirklich erlebt, winterlich erschauernd, frühlingshaft erwachend, Jahr um Jahr, fünfundzwanzighundertmal –«
»Ei, Herr Konsul, Sie sind doch sonst kein Flunkerer – seit wann sind Sie ins billige Reich der Dichtung eingeschwenkt?« sagte jemand.
»Jetzt ist Ihre Ehre dran beteiligt,« lachte ein anderer. »Gnade Ihnen, Herr Konsul, wenn Sie Ihren Zeugen schuldig blieben!«
Der Konsul bekam einen merkwürdigen Zug von Ueberlegenheit: »Darf ich die Herrschaften zu – Tisch bit–«
»Zu Tisch? da kommen wir ja her – ach, in den Garten, meinen Sie? – zwar noch ein wenig kalt …«
Mit hochgeschlagenen Kragen schritten sie hinter ihm über den frischen Kies. Der Konsul drehte sich um: »Exzellenz dürfen nicht zurückbleiben – – gerade Sie nicht.« Zögernd und im Abstand von der wieder fröhlich lärmenden Gruppe folgte der Bekümmerte. Frühlingswind umbrauste ihn. Fällige Eichenblätter vom vorigen Jahr wehte es ihm auf die Schultern. Birkenzweige stäubten ihm den aufbewahrten letzten Regen neckisch sprühend ins Genick. Er spürte nichts. Er blieb bekümmert.
Der Schwarm dort vorne hielt. Sie umstanden eine lichte Wiese. Darin das weitausholende Runddach eines Sommerhauses. Der Konsul sperrte ein schmales Türchen auf. Man trat ein, wollte in dem fensterlosen Düster weitergehen –
»Halt!« rief der Konsul, »nicht weiter! auf die Bank am Rande setzen! der ganze Raum ist ausgefüllt.«
»Von?« sagte eine Frau, neugierig mit den Händen vortastend, »wovon, Herr Konsul?«
»Von meinem Zeugen – darf ich vorstellen –« Er hatte eine elektrische Taschenlampe angeknipst. Der Strahl fuhr über eine riesige ebene Fläche, wanderte langsam im Kreise –
»Kolossale Tischplatte,« sagte jemand, »schätze fünf Meter Radius, Konsulchen.«
»Fünfeinhalb.«
»Na, schön, und jetzt den Zeugen, bitte.«
»Sofort – alle Platz genommen?« Der Lampenstrahl erhob sich, huschte rings über gespannte Gesichter, verweilte einen Augenblick lang auf der Exzellenz. Die resignierten Züge schienen sich zu lösen. Interesse wachte auf. Aufmerksam glitten seine Augen über die gewaltige Platte, indes es wieder um ihn babbelte und lachte.
»Nette Tafelrunde was?« … »Bißchen breit – nicht leicht, sich aus einem Tafelaufsatz in der Mitte zu bedienen?« – »Immerhin günstig, daß man von seinem Gegenüber nicht behelligt –« … »Eichen oder Mahagoni wie?«
»Kalifornische Zeder, nicht wahr, Konsul? Sequoia sempervirens oder gigantea – bin nämlich ein wenig Botaniker in meinen Mußestunden.«
Er stockte. Das letzte Wort hing in der Luft. Setzte sich auf die große Platte. Lächelte fatal. »Mußestunden?« dachten sie im Kreis, »so wie die Lage heute ist, wird er sich gänzlich der Botanik widmen kön–«
»Na, schön, und jetzt den Zeugen, bitte,« wiederholte der Fidele.
»Sofort.«
»Unbegreiflich,« sagte der Staatsmann, »wie Sie dieses Riesenstück hierher –«
»Ein Freund von drüben hat es mir geschickt – zerlegt natürlich –«
Weitere Laternen wurden angeknipst. Man untersuchte da und dort. Man schüttelte den Kopf: »Prachtvoll gefügt, keine Fuge zu entdecken, Herr Konsul – übrigens, warum lassen Sie kein Licht herein?«
»Weil dann Aussicht ist, daß die Tischplatte sich solange hält, als die Zeder vorher alt geworden ist.«
»Na, schön,« sagte der Fidele, »aber nu sagen Sie mal, warum haben Sie die Platte nicht polieren –?«
»Unpoliert erzählt sie besser.«
»Erzählen?« sagte der Fidele verdutzt, bog aber gleich im rechten Winkel ab: »Na, schön, und jetzt den Zeu–«
»Die sequoia gigantes,« sagte der Bekümmerte wie zu sich selbst, »wird bis zu 135 Meter hoch –«
»Donnerwetter, höher als der höchste Münsterturm!« sagte jemand.
»Nicht nur höher,« sagte die Exzellenz langsam.
»Sondern auch älter,« ergänzte der Konsul, »die sequoia gigantes wird bis fünfundzwanzighundert Jahre alt.«
»Na, schön, und jetzt den Zeugen,« repetierte der Fidele.
»Sie sitzen vor ihm,« sagte der Konsul.
Stille ward im Raum. Fünfundzwanzighundert Jahre wuchsen aus dem Boden. Fünfundzwanzighundert Frühlinge sproßten. Fünfundzwanzighundert Sommer wehten heiß von Kalifornien her. Fünfundzwanzighundert Herbste rüttelten an den Aesten eines Baumes. Fünfundzwanzighundert Winter fingen an zu knirschen. Sogar der Fidele wurde besinnlich. Erinnerte sich an Gelesenes: »Niedliches Bäumchen, was? Sah mal eine Kalifornienfoto, wo die Straße durch 'n solchen Baum ging, einer lenkte eine dicke Kutsche durch, komische Geschichte, wie?«
Niemand gab ihm Antwort. Der Konsul ließ einen Lichtstrahl über die Exzellenz gleiten: »Mit der Sendung kam ein Brief: Die sequoia, deren Querschnitt wir hier sehen, habe er im Jahre 1915 fällen lassen –«
Licht spielte um den Tischrand. Tief bog der Staatsmann sich herab. Aug' und Zeigefinger tasteten: »Dann ist also dieser letzte Jahresring noch im ersten Kriegsjahr gewachsen – merkwürdig …«
»Und in dem Brief stand weiter, wenn der Krieg uns Kummer brächte, möchte dieser Querschnitt uns ein Trost sein –«
»Trost?« sagten zweiflerische Lippen. »Trost?« Ungeduldig trommelten die Finger auf der Kante.
»Wir werden von der Außenrinde tiefer bringen müssen, um ihn aufzufinden,« sagte der Konsul.
Einwärts tasteten die Lichter. Quersprünge sprangen auf, die nach der Mitte zielten. Wie Schmisse zorniger Semester schienen sie zu schwellen.
»Ich kann nicht finden,« sagte der Staatsmann, »daß diese Risse jene anderen vergessen machen, die durch unser Land –«
»Die Ringe mein' ich, nicht die Risse.«
Die Jahresringe wurden klarer. Breite waren da und schmale, glatte und gekerbte. Wind und Wetter hatten ihre Ringschrift in den Zederbaum geschrieben, unverwüstlich. Deutlich war zu sehen, wo die linden Lüfte mit dem Riesen kosten, wo die Stürme mit ihm kämpften, wo der Frost ihn biß und das Knie ihm auf die Lungen setzte, daß er kaum noch atmen konnte.
»Wer das alles daraus lesen könnte,« sagte jemand.
»Kann man,« sagte der Konsul, »und mehr als das.« Der Lichtkegel glitt über ein paar Außenkreise und zitterte um etwas Eingeritztes: »Lesen Sie.«
»Russisch-japanischer Krieg – was bedeutet –?«
»Daß dieser Ring, lebendig wachsend, sich um die Zeder legte, als die Schlacht von Mukden tobte und Rußlands Flotte bei Tschuschima sank.«
Weiter einwärts tastete der Strahl. Neue Zeichen traten vor: »Lesen Sie.«
Sie lasen stumm. Stumm trat es ihnen ins Bewußtsein, daß der Jahresring sich fügte, als im Spiegelsaale von Versailles das Deutsche Reich gebaut ward.
Weitersuchend ging das Licht. Eine neue Inschrift schwoll blutrot: »Als an jenen Ringen sich die Frühlingstriebe setzten, blitzte in Paris die Guillotine, dröhnte es vom Tritt des Korsen durch Europa.«
Weiter ging das Licht. Der große Friedrich glühte auf, die Schlacht von Leuthen wurde wach. Dann, als hätte er was übersprungen, suchte der Lichtkegel rückwärts. Leise las der Staatsmann ab: »Goethe.« – »Ja,« sagte der Konsul, »als in Kalifornien sich die Zeder diese Ringe um den Leib gelegt hat, legte sich um Faust Ring um Ring.«
»Wo Faust wuchs, ist das Knien keine Schande,« murmelte der Staatsmann und glitt auf dem Zederntisch dem Lichtstrahl nach, einer Schlange gleich, die Weisheit sucht. Eine seltsame Unruhe war über ihn gekommen: »Konsul, Ihr Licht – selber muß ich es entdecken, wohin der Weg im Baume der Erkenntnis führt.«
Wie sich seine dunkle Masse, mit dem leuchtenden Glasauge voran, über die Fläche schob, war es ihnen, als kröchen sie mit ihm die Jahrhunderte in die Vergangenheit zurück. Ein dunkler Vorhang nach dem anderen schob sich schweratmend auseinander.
Dreißig düstere Ringe drehten sich im Kreise. »Der dreißigjährige Krieg,« stand eingeschnitten. Schwedenfluten brandeten an deutschen Alpen hoch.
Ein Stückchen weiter: Cromwells Eisenseiten klirrten.
Hartnäckig bohrte sich des Lichtes Kegel jetzt in einen Ring und wich und wankte nicht. Wie aus fernen Zeiten wehte voller Ehrfurcht einer Stimme Klang: »Als in den Zweigen, die um diesen Jahrring wuchsen, Kaliforniens Vögel sangen, sang bei uns die Wittenbergisch Nachtigall …«
Luther sank zurück. Weiter in das Mark der Weltgeschichte tastete der Lichtstrahl. »1492,« blitzte eine Jahreszahl auf, und aus den Morgennebeln rauschte das Kolumbusschiff auf Guanahani zu. Spinnwebartig wob sich die erste dünne Brücke zwischen Europas Eichenkronen und den Zedernwipfeln Kaliforniens.
»Weiter, weiter!« drängte es im Kreise. Hatte doch die Zeder drüben keinen Augenblick mit Wachsen eingehalten. Lag doch das Drängende, das ihr entströmte, jetzt noch in dem Blute, das, schwerer Tropfen voll, in seine eigene Vergangenheit zurückfloß.
Weiter tappte das Licht und umzirkelte ein neues Datum feurig: »Barbarossa aus dem Kreuzzug.« Hochauf leuchtete seine Kaisermacht und ertrank im selben Jahresring im Saleph in Zilizien
Wieder hielt das Licht. Der vierte Heinrich stieg aus einem Ring und stritt und fror im Schnee des Hofes von Canossa.
Weit nach Osten griff die Zeder jetzt. Die Mongolenhorden Dschings Khans wälzten ihre gelben Fluten in den gleichen Jahren durch Europa, wo des Sakramentos helle Fluten, Gruß um Grüße tauschend, an dem halbgewachsenen Zedernbaum vorüberwallten.
Weiterforschend schob sich's über der Geschichte Querschnitt. »Zu denken,« murmelte es aus dem Dunklen, »daß die Stürme Kaliforniens diesen Jahresring gemodelt haben, als sie in Mailand Karl den Großen mit der Römerkrone krönten, die geschmiedet war aus Christi Kreuzesnägeln …«
Ring rollte ab um Ring. Rom fiel. Vorüber zog der Nibelungen Not. Vorüber zog die Völkerwanderung. »Ha,« klang es schwörend, »in diesem Ring stand Cäsar, als er, von Mörderdolchen wie ein Sieb durchbohrt, an der Säule des Pompejus niedersank …«
Immer weiter glitt der Sucher der Vergangenheiten schürfend über die Jahrhunderte: »Noch kein Ende? warst du ewig, Zeder … still, o still, neigt betend eure Angesichte: Zu der Zeit, da diese Ringe wuchsen, hätte Jesus, an des Sakramentos Ufern wandelnd, segnend seine Hand an diese Zeder legen können: »Wachse, wachse – stirb und werde! – Baum des Lebens, du bist meine Lehre – einer Zeder Samen wenig größer denn ein Senfkorn – so leicht bist du, daß eines Liebeswortes Flüsterhauch dich in die Weite tragen könnte – so schwer, daß du dich senktest in das Erdreich, Wurzeln schlugst, ein Baum wardst, Ringe um dich legtest, die gestern sterben mußten, damit morgen neue Ringe aus dir brechen – stirb und werde! Baum des Lebens, du bist meine Lehre …«
Eine seltsame Ergriffenheit war über sie gekommen. Andächtiger hat sich in dunklem Raum niemals Hand zu Hand gefaltet. Indessen glitt es auf der Runenfläche rastlos immer weiter in die Vergangenheit hinaus. Hinüber über Christus …
»218 vor Christus,« las der Forscher ab, »Hannibals Zug über die Alpen – ah, und hier: Großer Alexander, wirst du uns lebendig. – Ring 330 vor Christus, ich grüße dich – du hast wachsen dürfen, als dein großer Zeitgenosse den Indus überschritt – den Indus! – weit im fernen Westen scheuerte der Kaliforniahirsch sein Geweih an deiner Rinde, unter der es lautlos wuchs, unterdes im fernen Osten mit Gedröhn das Riesenperserreich in Trümmer fiel – Reiche blühten, Reiche sanken – o Zeder du Allwissende dessen, was gewesen, wenn du auch in die Zukunft schauen könntest! – die du durch alle Reiche dieser Erde durchgewachsen bist, sequoia sempervirens, sage an: was wird aus unserem zerschlagenen Reiche …«
Er war herabgestiegen. Er lauschte. Alle lauschten in die Zukunft. Die Zeder aber schwieg. »Kein Mitgefühl und keine Antwort,« seufzte jemand.
»Hier ist beides,« sagte der Konsul und brach vom Rindenrande goldgelb eine harzne Träne, in welcher, gegen's Licht gehalten, kleine Zedersamen sichtbar wurden, »Tränen bergen Zukunft – diese Samen können noch nach vielen Jahren Wurzeln schlagen, neue Schösse treiben – so wenig dieser Riese, der uns seinen Querschnitt schauen ließ, gestorben ist – so sicher irgendwo und irgendwann seine Samen neu in alle Himmel wachsen – so sicher wird das Deutsche Reich in neuen Formen neue Ringe seiner Tüchtigkeit und Treue um die Erde legen – irgendwann und irgendwo und gleich unsterblich wie die Zeder.« –
Sie waren aufgestanden. Sie hatten sich gefaßt. Ein Gelöbnis rann durch ihrer Hände Kette. Es knisterte. Lebendig ward der Baum. Seine Ringe, seine Risse trieben einen neuen Ring nach außen, einen Ring von Menschen, die gelobten … Freunde, könnt ihr unsere Kinder in der Ferne sehen: Aus Deutschlands Zedernzukunft in den nächsten fünfundzwanzighundert Jahren!