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Will man die Wandlung, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Kunst Italiens durchmacht, mit einem Schlagwort bezeichnen, so kann man sagen: es ist die Reaktion auf Savonarola. Einer Periode des Spiritualismus folgt eine des Sensualismus, auf die Abtötung der Triumph der Sinne. Als Botticelli malte, hatte Savonarolas Rede ganz Italien in ein Gotteshaus verwandelt. Bei ihm strömten die Menschen zusammen, um vom Evangelium der Entsagung, von den Freuden des Paradieses zu hören. Die »Vertreibung der Laster«, die damals so häufig gemalt wird, ist keine zeitlose Allegorie. Es ist eine Huldigung an Savonarola, der die Laster aus Italien vertrieb.
Jetzt hatte der Scheiterhaufen der Piazza della Signoria den lästigen Störenfried begraben, und was er verfehmt hatte, Sinnlichkeit und Lebensgenuß, stieg phönixgleich aus der Asche empor. Wohl klingen auch in diese Zeit religiöse Töne herein. Luther hatte in Wittenberg seine Thesen angeschlagen, und ein Echo dieser Hammerschläge zitterte über den Boden Italiens. Aber ein leises Echo, das bald verstummte. Was im Ausland geschah, brauchte Italien nicht zu erregen. Auf die Generation, die dem Savonarola lauschte, folgte ein neues weltliches Geschlecht, das auskosten wollte, was das Leben an Genüssen bietet. Die Erde selbst ist zum Paradies geworden, und das schönste an diesem Paradies ist der Sündenfall. Wenn, wie es hieß, am Hofe Leos X. ein Kardinal sich sein Badezimmer mit Liebesgeschichten der alten Götter ausmalen ließ, wenn ein andrer meinte, daß zur Vollkommenheit des Hofes nichts fehle als schöne Frauen, wenn einer der nächsten Päpste auf seinem Totenbett dem Priester, der ihm die Freuden des Jenseits ausmalt, mit schmerzlichem Lächeln geantwortet haben soll: »dieser Genuß ist um so größer, je länger er aufgeschoben wird« – so wird durch diese Züge blitzartig die Zeitstimmung beleuchtet. Und was in Rom, der Stadt des Heiligen Vaters, geschieht, ist anderwärts noch mehr begreiflich. Auf 11 000 beläuft sich die Zahl der Courtisanen Venedigs. In Parma soll ein Nonnenkloster gewesen sein, wo man das Decamerone Boccaccios habe erleben können. Ein sinnenfroher Paganismus, wie einst in Athen und Alexandrien, ist wieder in die Welt gekommen.
Die Kunst ist die Chronik ihres Zeitalters. Sucht man eine Ueberschrift für die Epoche, die auf Savonarola folgt, so kann man nur schreiben: Die Kunst unter dem Zeichen der Sinnlichkeit. Und geht man zurück in die Vergangenheit, erkennt man schon in Leonardo den, der diese neue Aera eröffnet. Denn so sehr er in seiner psychischen Feinheit sich mit Botticelli, Bellini und Perugino berührt, ist doch die Seele, die er seinen Frauen gibt, eine andre. Für jene alle, so verschieden sie sind, war das christliche Evangelium der Weltentsagung maßgebend. Nicht nach irdischen Wonnen, schmachten die Augen dieser reinen und keuschen, blassen und bleichen Frauen. Ueber der Erde hinweg, in schwermütiger Frömmigkeit, kommender Leiden denkend, starren sie ins Leere. In dieser Resignation, diesem vollkommenen Verzicht auf alle Erdenfreuden verkörpern sie den ethischen Gehalt, den innersten Geist des Christentums. Leonardos Werke haben keine kirchliche Stimmung. Nicht mehr an Dome denkt man, wo der Weihrauch zitternd zum Himmel steigt. Das odeur de femme scheint an die Stelle des Weihrauchs getreten. Die Sinne dieser Weiber sind erwacht, und sie entsagen nicht. Wie ein verhaltenes erotisches Erbeben zuckt es um ihren Mund. Jener feuchte Schimmer, den die Griechen der Liebesgöttin gaben, glänzt in ihrem Auge. Während Botticelli seine Venus so keusch wie Maria malte, wird unter Leonardos Händen Maria zur Liebesgöttin.
Auch der Körper macht seine Rechte gegenüber der Seele geltend. Jene Aelteren dachten mit Millet: Wenn ich eine Mutter male, soll sie nur schön sein durch den Blick, mit dem sie ihr Kind betrachtet. Die irdische Grazie Leonardos kann nicht auf den Kopf sich beschränken. Denn Liebreiz ist an den Körper gebunden. Darum umkosen dünne Florgewänder die schwellenden Formen. In seinem Suchen nach sinnlicher Schönheit mischt er die Reize beider Geschlechter.
Auch in seinen Stoffen steht er zu den Künstlern der Savonarolazeit in Gegensatz. Die Kreuzigung Christi, seine Grablegung, die Beklagung seines Leichnams wurden damals gemalt. So düster pathetisch, als ob man die Donnerworte des Propheten hörte. An Leonardo da Vinci, dem stahlgepanzerten Jüngling, der auf Verrocchios Tobiasbild so ruhig daherschreitet, prallten alle Wogen der religiösen Bewegung ab. Bei ihm gibt es nichts Trauriges. Selbst sein Abendmahl ist nicht die Schilderung einer wehmütigen Abschiedsstunde, nur die meisterhafte Inscenierung eines großen psychologischen Dramas. Für sein Berliner Bild wählt er nicht den Moment der Kreuzigung oder der Grablegung, sondern den der Auferstehung. Christus ist nicht leidend dargestellt, sondern als Sieger über Leben und Tod. Nicht seine Freunde beklagen den Gemarterten, sondern zwei Heilige blicken in schwärmerischer Verzückung zum strahlenden Gottessohn auf. Ja, er geht noch weiter. Wie er kein Leiden kennt, kennt er kein Alter, keinen Verfall. Er hat es vermieden, je ein Thema zu behandeln, das es nötig machte, Maria als bejahrte Matrone vorzuführen, wie es Bellini und Botticelli in ihren Darstellungen der Pietà thaten. Selbst die heilige Anna gibt er, um keine Falten, keine Runzeln malen zu müssen, in gleich strahlender Jugendschönheit wie ihre Tochter Maria.
Wie sehr er damit das Herz seiner Zeit getroffen, zeigen die litterarischen Erzeugnisse der Epoche. Dieselbe Bedeutung wie für das 15. Jahrhundert die Traktate über Perspektive und Anatomie haben für das 16. die Schriften über Frauenschönheit: des Venetianers Luigini libro delle belle donne, des Florentiners Firenzuola Discorso della bellezza. Und der gleiche sinnlich erotische, olympisch heitere Geist waltet fortan in der Kunst. Der ganze Empfindungsgehalt der Zeit hält sich innerhalb des leonardesken Lächelns. Bei Kreuztragungen wird aller Schmerzensausdruck gemildert, der herbe Ernst des Themas durch weiche Anmut seiner realistischen Wahrheit entkleidet. Bei Martyrien wird nicht die Qual, das physische Leiden, sondern die verzückte Vorahnung paradiesischer Wonnen geschildert. Man liebt nicht mehr, bei traurigen Dingen zu weilen, geht allem Schmerzlichen scheu aus dem Wege. Das Haupt voll Blut und Wunden, die Passion Christi, die für die germanischen Meister den Angelpunkt des Schaffens bildet, ist für die Italiener nicht mehr vorhanden. Es widerstrebt dieser sinnenfrohen Zeit, Gott leiden, sterben, sich opfern zu sehen. Auch Maria ist weder mehr das bleiche Mädchen, noch die vergrämte Matrone, sondern eine elegante Modedame, die selbst in späteren Jahren die Anmut der jungen Witwe bewahrt. Sogar die Heiligen, die ihr als Ehrenwache dienen, gleichen nicht mehr den asketischen Wüstenmenschen, den verwitterten Greisen von früher. Es sind frohe Heilige, denen der Himmel einen Liebeshof bedeutet, galante junge Herren, die sich zärtlich vor einer umschwärmten Dame neigen. Ja, sie bekommen einen Zug weiblicher hermaphroditischer Schönheit. Der Täufer Johannes wird aus dem Greis in härenem Gewand der nackte lockige Jüngling mit dem verzückten Blick. Magdalena, die Büßerin, wird zur schönen Sünderin. Golgatha ist ein christlicher Olymp geworden, wo es kein Ringen, keinen tragischen Schmerz, nur ungetrübte Seligkeit gibt.
Von da zum wirklichen Olymp war der Weg nicht weit. So dringen, nachdem Leonardo mit seiner Leda die Bahn eröffnet, jetzt jene antiken Stoffe, die Savonarola verfehmte, in vollem Umfang in die Kunst ein. Der blasse Kreuzgenagelte von Golgatha ist auf Leonardos Berliner Bilde zum Himmel geschwebt, und die heiteren Scharen der Griechengötter nehmen Besitz von der Erde. Der Venusberg, den Botticelli als reuiger Büßer verlassen, wird zum Wallfahrtsort der Maler. Man weiß nichts von den ernsten Mächten der Unterwelt; nichts von den Kämpfen der Heroen: von Jason und Perseus, von Theseus und Meleager, nichts von den Helden der römischen Geschichte. Ovid allein ist das Breviarium der Zeit. Wie schon die religiösen Gestalten, soweit es anging, der Gewänder entkleidet wurden, liebt man die mythologischen nur deshalb, weil das Hellenentum eine so leichtgeschürzte, stark dekolletierte Epoche war. In schroffem Gegensatz zur mönchischen Kunst der Vergangenheit feiert man die weiche Linienrhythmik nackter Körper, malt fast ausschließlich die üppigen Liebesabenteuer der alten Götter, die sich verwandeln, um schöne Sterbliche zu bethören, verwendet das ganze Stoffgebiet der Antike nur, um sinnlich schmelzende Worte, lockende Liebesweisen zu flüstern. Eine Art cinquecentistisches Rokoko ist auf den pathetischen Barock der Savonarolazeit gefolgt.