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Meine Mutter ist, wie alle bezeugten, die sie gekannt hatten, die sanfteste, anmutigste Frau gewesen. O wie habe ich sie vergöttert, und wie habe ich geweint, daß sie von hinnen ging, ehe ich noch recht gelernt hatte, ihre seltenen Eigenschaften zu schätzen. Und wie habe ich mich selbst verdammt, wenn ich daran zurückdachte, daß ich im ersten Augenblick – ich zählte damals etwa sieben Jahre – ihren Tod eigentlich als Befreiung empfunden hatte. Ich fand es herrlich, obwohl ich wußte, daß ich das Gegenteil hätte finden müssen; aber ich konnte keine wirkliche Trauer empfinden, ich konnte zum Beispiel auch nicht weinen – ich fand es einfach herrlich, daß nun niemand da war, der mir ständig auf den Fersen saß und immerfort nörgelte: Dies dürfe ich nicht tun und jenes hätte ich zu lassen. »Habe ich dir nicht tausendmal verboten, am Bach zu spielen?« »Habe ich dir nicht gesagt, daß du nicht auf den Fahrdamm gehen darfst?« »Weißt du nicht, daß du dich nicht aus dem Fenster lehnen sollst?« »Wenn du dies nicht ißt, gibt es keinen Nachtisch.« Und so fort ins Unendliche.
Natürlich war das alles zu meinem Besten. Und später hörte ich denn auch von allen Seiten, wie entzückend meine Mutter gewesen sei. Nicht zum wenigsten von meinem Vater. Ich dachte oft, wie eben ein Kind denkt, ohne sonderlich tiefer darüber nachzudenken, ohne lange dabei zu verweilen, aber ich dachte es, wenn ich still für mich war oder auf dem Ort saß, den man heute W. C. nennt: Komisch, daß Vater so traurig ist und immer davon spricht, wie sehr er Mutter entbehrt. Denn in der Regel haben sie sich doch gezankt. Ich weiß, als ich noch ganz klein war und im Schlafzimmer bei ihnen schlief, daß Mutter, wenn Vater spät nach Hause kam und sie schon im Bett lag, sehr böse war, weinte und ihm Vorwürfe machte, weil er abends ausging und sie allein sitzen ließ. Ich erinnere mich, wie oft er ihr vorhielt, daß sie zu verschwenderisch sei; er könne unmöglich das viele Geld aufbringen, sie müsse unbedingt sparsamer sein. Es sei durchaus nicht nötig, daß sie schon wieder einen neuen Hut kaufe, und es sei toll, daß sie durchaus ein neues Kleid haben wolle. Auch im Haushalt gehe zu viel drauf. Frau Soundso komme mit weit weniger Wirtschaftsgeld aus, und sie müsse bedenken, daß er kein reicher Mann sei; er müsse sich abrackern, um das zu verdienen, was sie vergeude. Wie vieler Mahlzeiten entsinne ich mich, bei denen Mutter mit verweinten Augen dasaß, Vater kein Wort sprach und wir Kinder ängstlich an den Speisen würgten, ewig in der Furcht, angefahren zu werden, weil wir Löffel und Gabel schlecht hielten, die Suppe schlürften oder an den Kükenknochen knabberten.
Namentlich wenn Fräulein Jensen, Mutters jüngere Freundin, zu Besuch kam, sprach Vater von dem schweren Verlust, der ihn betroffen hatte. Er und Fräulein Jensen waren sich darüber einig, daß es kein vollkommeneres Wesen gegeben hatte als Mutter war, und Fräulein Jensen nahm mich auf den Schoß und sagte wieder und immer wieder: »Armes Kind, das seine liebe gesegnete Mutter verloren hat!«
Ohne Zweifel war die Ehe meiner Eltern selten glücklich und harmonisch gewesen. Die kleinen Zwistigkeiten, die auf mein welt- und lebensunkundiges Kindergemüt einen solchen Eindruck gemacht hatten, waren in Wahrheit ja gleichgültige Bagatellen. Später habe ich Ehen gesehen, die nicht entfernt so glücklich waren. Selbst zwischen zweien, die einander unsagbar lieben, können kleine Uneinigkeiten und Reibungen entstehen. Aber es ist häßlich, wenn zum Beispiel ein Ehepaar, wie ich als Geistlicher leider nicht selten zu erfahren Gelegenheit hatte, sich tätlich aneinander vergreift, noch dazu in Gegenwart der Kinder.
Da ich nun beständig hörte, wie schrecklich Vater meine Mutter entbehrte und wie unvergeßlich sie ihm war, überraschte es mich nicht wenig, als er uns eines Tages – ich war neun Jahre alt – die Mitteilung machte, daß Fräulein Jensen künftig unsere Mutter sein würde.
Ich wußte ja, daß niemand sich mit Mutter messen konnte und ging still auf das W. C., wie ich es immer zu tun pflegte, wenn ich in Ruhe nachdenken wollte, und weinte bei dem Gedanken, daß Vater uns wirklich Fräulein Jensen zur Mutter geben würde.
Ich bin jetzt alt und wohl bald mit dem Leben zu Ende. Und im großen und ganzen habe ich nur Grund, dankbar zu sein für alles Gute, das der Herr mir auf Erden geschenkt hat. Sicher war es meine Schuld, daß ich kein Herz zu Fräulein Jensen fassen konnte, trotzdem sie nach der Meinung aller uns Kindern eine außergewöhnlich liebevolle Stiefmutter war und meinem Vater neues häusliches Behagen bereitete. Uns beiden, mir sowohl wie meiner schwerhörigen Schwester, der sie ihr Leiden oft vorwarf, siel es nicht leicht, uns an ihre stramme, aber zweifellos wohlgemeinte Erziehungsmethode zu gewöhnen, nachdem wir zwei Jahre ohne mütterliche Aufsicht gewesen waren. Es gab viel, was ihr an uns verbesserungsbedürftig erschien, und das war wohl auch begreiflich, da wir so lange keine Mutter gehabt hatten. Ich habe später oft bereut, daß ich sie als Kind nicht genügend würdigte. Als ich älter wurde, erging mein Vater sich, wenn wir beide allein waren und plauderten, oft in Lobpreisungen über sie und versicherte mir, wieviel es für ihn und unser Heim bedeute, daß sie sich unserer angenommen habe. Er war gewiß sehr glücklich mit ihr, auch wenn er Mutter nie vergaß – aber es schien, als sei er plötzlich ein alter, müder Mann geworden. Vielleicht kam das nur daher, daß er neben der so viel jüngeren Frau älter wirkte. Und es mag wohl auch sein, daß verschiedenes bei uns im Hause sehr reformbedürftig war und Vater, obgleich er einsah, daß sie recht hatte, sich ein bißchen schwer daran gewöhnen konnte. Sicher wurde früher mehr Geld verbraucht, als seine Einnahmen erlaubten. Aber glücklicherweise war Fräulein Jensen, also meine Stiefmutter, eine ausgezeichnete Sparmeisterin, und Vater war ihr denn auch unendlich dankbar dafür, daß sie seine Geldangelegenheiten in Ordnung brachte. Nur ab und zu, glaube ich, fand er, daß sie zu weit ging. Ich erinnere mich zum Beispiel, daß sie an einem Novembertag, dem Geburtstage meiner rechten Mutter, Vater Vorwürfe machte, daß er uns Geld gab, um Blumen für ihr Grab zu kaufen. Sie fand, es habe keinen Sinn, für Blumen, die jetzt obendrein so teuer waren, Geld hinauszuwerfen. Das war, soweit ich mich erinnere, das einzigemal, daß Vater ihr heftig entgegnete. Sonst hatte er seinen alten Jähzorn ganz eingebüßt und fügte sich willig und ohne Widerspruch ihren klugen Anordnungen. Daß meine Schwester und ich, Kinder, die wir waren, sie geizig fanden, kann man nicht ernst nehmen. Wir fanden zum Beispiel, daß unsere Vesperbrote zu dünn gestrichen waren – aber das lag wohl nur daran, daß sie früher zu dick belegt gewesen waren.
Nach allgemeiner Aussage war ich ein selten begabtes Kind. Mir selbst kam es nicht sonderlich zum Bewußtsein. Allein mein Vater war stolz darauf, daß ich bereits mit zehn Jahren die Namen aller dänischen Könige der Reihe nach auswendig wußte – von Gorm dem Großen bis Christian IX. Deshalb kam ich auch aufs Gymnasium, und mein Vater, der nur Kolonialwarenhändler, aber der Enkel eines berühmten alten Bischofs war, dessen Bild im Ornat, mit dem Großkreuz auf der Brust, im Wohnzimmer über dem Sofa hing, wollte gern, daß ich das stolze Erbe der Familie antreten und die theologische Laufbahn wählen sollte. Jeden Sonntag nahmen er und Fräulein Jensen – es fällt mir schwer, sie anders zu nennen – oder wenn sie, was ziemlich oft vorkam, verhindert war, er allein mich zum Hochamt in die Domkirche mit, damit ich den hochangesehenen Dompropst Sommerkaer hören sollte. Mein Vater war ein gläubiger Mann und erfreute sich deshalb in den besseren Kreisen der Stadt allgemeiner Achtung. Es geschah gar nicht so selten, daß der Dompropst nach beendetem Gottesdienst zu uns kam, ein paar Worte mit meinem Vater wechselte und, während er gleichsam segnend seine Hand auf mein Haupt legte, liebevoll sagte, es sei gut, mich beizeiten daran zu gewöhnen, Gottes Haus zu suchen; er freue sich darauf, mich einmal, so Gott wolle, als Diener der Kirche zu sehen.
Es fiel mir gar nicht ein, Einwendungen gegen die Bestimmung meines Vaters hinsichtlich meiner Zukunft zu machen, und als ich das Abiturientenexamen mit Aufzeichnung bestanden hatte – allerdings mit großer Mühe (es war gewissermaßen, als hätte ich mich zu früh entwickelt und sei jetzt auf einem toten Punkt angekommen), kam ich nach Kopenhagen in Kost und Quartier zu einer Pastorswitwe mit drei unverheirateten Töchtern, von denen die älteste siebenundzwanzig, die jüngste siebzehn Jahre alt war.
Frau Bragesen war eine hervorragend tüchtige Frau, die unter schwierigen Verhältnissen, nachdem sie in jungen Jahren Witwe geworden war, ein nettes kleines Heim aufrechterhalten und ihren Töchtern eine musterhafte Erziehung gegeben hatte – alles nur mit Hilfe ihrer bescheidenen Pension, einigen Legaten, Freiplätzen in der Schule, dem Zuschuß von einem Pensionär, einer kleinen Leibrente und ein bißchen Unterstützung seitens wohlhabender Verwandter. In den kirchlichen Kreisen, wo ich dank der Empfehlung unseres Dompropstes und als Nachkomme meines berühmten Großvaters verkehrte, wurde von Frau Bragesen denn auch immer mit großer Wertschätzung gesprochen.
Aber Leute, die oberflächlich urteilten und nicht bedachten, was sie erduldet und erlitten hat, waren leicht geneigt, ihr anscheinend wehleidiges, klagendes Wesen mißzuverstehen. Auch war es – so komisch es klingt – für ihren Ruf von Nachteil, daß sie so ungewöhnlich beleibt war. Man hielt sich auch darüber auf, daß sie die Dienstmädchen so häufig wechselte. Ich indes, der ihre Hausführung am besten kennen mußte, kann versichern, daß sie nicht schlecht gegen ihre Mädchen war. Freilich gab es für ein Mädchen für alles viel zu tun in einem Hause, wo die Frau durch ihre Korpulenz am Mithelfen verhindert war und die Töchter eigene Pflichten hatten. Auch der Lohn konnte nicht sonderlich hoch sein, und von allzu vielen Freiabenden konnte selbst bei Frau Bragesens bestem Willen nicht die Rede sein. Außerdem war sie der Ansicht, daß ein junges Mädchen in einer großen Stadt wie Kopenhagen lieber nicht allzuviel Gelegenheit haben sollte, abends umherzuschwärmen, und daß es besser für sie sei, ein gutes Buch zu lesen, wenn einmal Zeit dafür übrig war. Das einzige, was man ihr meiner Ansicht nach in ihrem Verhältnis zu den schnell wechselnden Dienstmädchen vorwerfen konnte, war, daß sie bei den Mahlzeiten die Fehler der Mädchen allzu laut kritisierte. Es war nicht zu vermeiden, daß das Mädchen, das aus und ein ging, hörte, daß von ihm die Rede war. Das wirkte etwas peinlich, und ich gestehe, daß es mich persönlich oft verdroß, wenn Frau Bragesen, unmittelbar nach dem Tischgebet, das ich auf ihren Wunsch übernommen hatte, sogleich eine so weltliche Konversation begann. Aber freilich, darin hatte sie recht, daß Dienstboten nicht mehr das waren, was sie einst gewesen sind, und daß sie Ansprüche stellten, die man früher unerhört gefunden hätte, zum Beispiel einen Ofen in ihrem Zimmer, obwohl es doch in der Küche warm genug war.
Aber eine ausgezeichnete Mutter war Frau Bragesen. Wie sie diese Mädchen liebte, und wie ihre Gedanken unausgesetzt zärtlich mit ihnen beschäftigt waren! Selten hat wohl eine Mutter ihre Kinder so behütet. Selbst mit einem bereits damals jungen Mädchen allgemein erlaubten Vergnügen wie Schlittschuhlaufen konnte sie sich nicht befreunden. Ich sprach einmal mit ihr darüber – wie ich gestehe, auf Bitten der Jüngsten, die das mütterliche Verbot unbegreiflich fand. Und obgleich ich ihr nicht ganz recht geben konnte, mußte ich doch zugeben, daß in ihren Schlußfolgerungen manches Richtige lag. »Erstens,« sagte sie, »finde ich es unverantwortlich, daß man junge Mädchen mit Gott weiß wem zusammenkommen läßt. Und wenn man auch jemanden zum Aufpassen mitschickt, ist es doch unmöglich, zu verhindern, daß sie davonlaufen und womöglich mit ganz unbekannten Herren ins Gespräch geraten. Außerdem sind die Bewegungen, die ein junges Mädchen beim Schlittschuhlaufen machen muß, alles andere als graziös und schicklich. Rund herausgesagt, man sieht zu viel von ihren Beinen. Ich weiß, daß manche mich zimperlich nennen werden. Ich habe ja auch davon gehört, daß es in Frankreich und anderen Ländern Mode geworden ist, daß junge Herren und Damen zusammen baden. Ich für meinen Teil sage: Mögen sie im Auslande alle Sitte und Scham über Bord werfen. Wir aber leben doch zum Glück in einem Lande, wo eine derartige Verworfenheit kaum jemals Fuß fassen wird. In meiner Jugend existierte der Begriff Beine nicht für junge Mädchen. Man konnte zur Not von den Füßeneines jungen Mädchens sprachen, aber mehr wirklich nicht.«
Wie gesagt, ich muß zugeben, daß Frau Bragesen in ihrer Verurteilung des modernen sogenannten Freisinns recht hatte. Aber vielleicht ging sie in ihrer mütterlichen Sorgfalt doch etwas zu weit. Ich bin nicht sicher, ob nicht die strenge Abgesondertheit, in der die Mädchen gehalten wurden, Schuld daran trug, daß keine der beiden ältesten einen Mann gefunden hatte. Beide waren sie noch recht ansehnlich und früher mochten sie geradezu schön gewesen sein. Tüchtig und geschickt waren sie auch, die eine unterrichtete in einem Kindergarten, die andere stickte für ein Geschäft. Und herzensgut waren sie, wenn zuweilen auch ihre Lebensanschauungen etwas bitter waren. Es tat mir oft geradezu leid um sie. Sie hatten einen guten liebevollen Gatten und ein gemütliches Heim verdient. Vielleicht ist es ein Irrtum von mir – denn gewissermaßen konnten sie es sich ja nicht besser wünschen, als sie es hatten –, aber ich glaubte ihnen manchmal anzumerken, daß sie nicht ganz zufrieden waren. Es äußerte sich unter anderm darin, daß sie oft spitze Bemerkungen machten in bezug darauf, daß Ingeborg, die Jüngste, verwöhnt werde und weit mehr tun dürfe, als sie in ihrem Alter gedurft hatten. Und das war nicht etwa, weil sie ihre kleine Schwester nicht leiden mochten. Im Gegenteil, sie liebten und bewunderten sie wie jeder, der Ingeborg kannte.
Etwas so Reizendes, wie Ingeborg damals war, kann man sich nicht vorstellen. Sie war der Sonnenstrahl des Hauses, durch ihr fast himmlisch schönes Äußeres, wie auch durch ihre gottgesegnete Heiterkeit.
In diesem vortrefflichen Heim, unter vier feinen, warmherzigen Frauen, verlebte ich sechs glückliche Jahre, bis ich Kandidat wurde – zur Enttäuschung meines Vaters leider nur mit Zensur Zwei, was die Hoffnung auf eine besonders hervorragende Stellung innerhalb der Kirche völlig ausschloß. Aber ich tröstete mich damit, daß ein Diener des Herrn auch in einer bescheidenen Stellung zum Segen für viele wirken kann. Hinzu kam, daß ich überaus glücklich war, denn kurz zuvor war Ingeborg mein geworden.
Allein, ich greife vor.
Mir gegenüber war Frau Bragesen wie eine dritte Mutter. Nicht, daß ich jemals Neigung zu irgendwelchen Ausschweifungen in mir gefühlt hätte, aber ich darf sagen, daß ich es ihr verdanke, wenn ich in diesen schwierigen Jugendjahren, wo man sogar auf Straßen und Gassen allerlei Versuchung ausgesetzt ist, meinen Pfad rein erhielt. Nicht zum mindesten lernte ich durch sie Respekt und Bewunderung für das echte Weib und seinen erhabenen Beruf – zuerst als liebende Tochter, später als Gattin und Mutter. Durch Frau Bragesen lernte ich auch Genügsamkeit in Speise und Trank, lernte, daß man nicht den Bauch zu seinem Gott machen soll. Es verursachte ihr geradezu Pein, daß die Natur ihr diese Neigung zur Korpulenz gegeben hatte. Mehrmals hatte sie trotz großem Leiden und obwohl der Arzt erklärte, sie könne es nicht vertragen, eine Entfettungskur versucht. Sie pries uns andere glücklich, die wir nicht stets an Speise und Trank zu denken brauchten. Es wäre ungerecht, über die Kost in ihrem Hause zu klagen. Sie war bekömmlich, im großen und ganzen wohlschmeckend und entsprach den Vorschriften, die eine damals beginnende Ernährungshygiene zur Vermeidung von Überernährung anordnete. Die für sie und ihre Konstitution erforderlichen kleinen Extramahlzeiten nahm sie rücksichtsvoll zu den Stunden ein, wo wir nicht zugegen waren.
Ich kehre zurück zu Ingeborg. Daß ich sogleich entzückt von ihr, ja verliebt in sie war, war ja nur natürlich. Das Sonderbare war, daß sie, obgleich ich, wie ich wohl wußte, nicht mit den Eigenschaften ausgezeichnet war, die in der Regel Eindruck auf junge Mädchen machen, mir ein gewisses Interesse entgegen brachte. Sie verriet das auf die schönste und züchtigste Weise durch Blick und Händedruck und die Art, wie sie meinen Berichten über dieses oder jenes Buch oder über eine besonders interessante Vorlesung auf der Universität lauschte.
Unser Leben glitt in stiller, häuslicher Gemütlichkeit dahin. Dann und wann kamen ein paar weibliche Bekannte, zumeist Witwen und ältere, unverheiratete Damen aus gebildeten Familien, zum Nachmittagskaffee mit Kuchen, und diese kleinen Festlichkeiten, so bescheiden sie auch waren, konnten sehr lustig sein.
Zu öffentlichen Vergnügungen hatten wir alle nicht die Mittel. Ab und zu wurde wohl eine der Töchter von wohlhabenden Freunden oder Verwandten zu einem Konzert oder einer Theatervorstellung eingeladen. Ihrer Fülle wegen konnte Frau Bragesen nicht gut mit dabei sein (sie vertrug es weder zu Fuß zu gehen noch Omnibus zu fahren). Zweimal im Jahre aber veranstaltete sie eine größere Festlichkeit, zu der ich immer eingeladen wurde. Die eine war im Winter und galt einer Vorstellung im königlichen Theater, die andere war im Sommer und galt einem Ausflug in den Tiergarten. Bei beiden Gelegenheiten spendierte sie eine Droschke, und ich mußte auf dem Bock sitzen. Denn im Fond neben Frau Bragesen war kaum Platz genug für die schlanke Ingeborg, und Frau Bragesen mochte nicht, daß ich zwischen den beiden andern Töchtern saß, weil ich unwillkürlich in nahe Berührung mit ihnen kommen würde.
Mit welcher Dankbarkeit erinnere ich mich dieser schönen, unschuldsreinen Vergnügungen, die nur durch den einzigen Mißton getrübt wurden, daß Frau Bragesen auf der Fahrt in den Wald infolge der Hitze und der ihr ungewohnten Bewegung einen heftigen Anfall von Kolik bekam, oder daß nach dem Theater im Kaffeehause die beiden älteren Schwestern sich um ein Stück Butterbrot stritten, das jede für sich ausersehen hatte.
Zum Dank für alles Gute, das ich in Frau Bragesens Haus genoß, versuchte ich, mich nach geringem Können erkenntlich zu zeigen. Leider konnte ich so wenig tun. Aber ich konnte ihr doch diese und jene Besorgung abnehmen, die sie nicht allein erledigen konnte; ich tauschte ihr Bücher in der Leihbibliothek um und holte die Töchter abends ab, wenn sie eingeladen waren, ebenso wie ich die alten Damen, die Frau Bragesen besuchten, abends nach Hause begleitete. Auf diese Weise ersparte ich der Familie und ihren Freunden so manchen kleinen Betrag für Pferdebahn und Omnibus.
Ganz besonders brannte ich natürlich darauf, Ingeborg kleine Aufmerksamkeiten erweisen zu können. Allein hier galt es, mit Takt und Vorsicht vorzugehen, damit die anderen sich nicht zurückgesetzt fühlten.
Ich entsinne mich einer Gelegenheit, wo ich den anderen Schwestern leider eine Kränkung zufügte, die sie jedoch auf liebenswürdige Weise zu verbergen trachteten. Mein Vater hatte mir zu meinem Geburtstag zehn Kronen geschickt, und es traf sich, daß das königliche Theater wenige Tage später das schöne nationale Schauspiel »Der Elfenhügel« aufführte. Mit zehn Kronen konnte ich zwei Parkettplätze zu erhöhtem Preis, die Pferdebahn hin und zurück, eine Tüte Konfekt und nachher im Kaffeehause Tee und Kuchen bestreiten.
Wie gern hätte ich die ganze Familie eingeladen! Aber davon konnte nicht die Rede sein. Ich meinte ja auch, es ginge, daß ich Ingeborg allein aufforderte, denn sie war die einzige der Schwestern, die das herrliche Stück noch nicht gesehen hatte.
Leicht war es nicht, Frau Bragesens Erlaubnis zu erhalten, und auch die beiden älteren Schwestern äußerten allerlei Bedenken. Vielleicht beurteile ich sie falsch, allein ich hatte das Gefühl, als entsprängen diese Einwendungen bis zu einem gewissen Grade ihrer Verletztheit.
Nach einer langen Unterredung erreichte ich es endlich doch, daß Ingeborg mit mir ins Theater durfte. Freilich fiel ein kleiner Schatten auf meine Freude, als Frau Bragesen mir streng verbot, sie nachher ins Café einzuladen. Zu Hause sollten Tee und Kaffee auf uns warten. Das ersparte mir, wie Frau Bragesen sagte, eine unnütze Ausgabe. Und sie könne außerdem gar nicht verstehen, wie ich auf einen so leichtfertigen Gedanken gekommen sei, ein junges Mädchen ins Kaffeehaus zu führen, wenn die Familie nicht dabei war. Wie so oft mußte ich ihr auch hierin recht geben, so enttäuscht ich auch war.
Dennoch wurde es ein wundervoller Abend. Wie genoß ich es, mit dem schönen jungen Mädchen allein unter lauter unbekannten Menschen zu sitzen und die Phantasiewelt der Kunst auf mich wirken zu lassen! Auch Ingeborg unterhielt sich recht gut, obwohl das Stück sie lange nicht so ergriff wie mich. Schelmisch und übermütig, wie sie war, sagte sie, daß sie lieber etwas richtig »Schneidiges« gesehen hätte. »Schneidig« war damals gerade ein sehr beliebter Ausdruck unter den Jungen – ich für meinen Teil fand ihn ein wenig vulgär – aber Ingeborg kleidete eben alles. Ein paarmal mußte ich sie auch zur Ruhe ermahnen, besonders in dem Augenblick, als König Christian IV., gerade bei seinen erhabensten Worten, seinen Federhut verlor. In ihrer jugendlichen Heiterkeit brach sie in Lachen aus. Als ich ihr jedoch später erklärte, daß kultivierte Zuschauer sich von einem solchen Mißgeschick nicht aus der Stimmung bringen lassen, verstand sie mich und gab mir recht.
Die Jahre vergingen in unverändert stillem Zusammensein. Der Gedanke an eine Verheiratung der beiden älteren Schwestern mußte nun wohl als ausgeschlossen gelten. Sicher dachten sie selbst auch nicht mehr daran. Sie hatten ja ihren Beruf und widmeten sich neben ihrer Arbeit manchem schönen Liebeswerk, das ihnen Ersatz gab für den Segen, den sie über ein eigenes Heim verbreitet hätten. Mit unermüdlicher Opferwilligkeit beteiligten sie sich an der Samaritertätigkeil, die gerade in diesen Jahren von gutherzigen Männern und besonders Fraaen gebildeter Stande ins Werk gesetzt wurde – oft übrigens von Menschen, denen es selbst recht dürftig ging. Es war erhebend, sie von dem Glück der Armen erzählen zu hören, wenn sie an den langen Tischen tafelten und die gute warme Grütze und die dicken, soliden Brotschnitten von den seinen Damen serviert erhielten, die so tröstend und liebreich mit ihnen sprachen.
Unterdes hatte Ingeborg, die mit jedem Tage schöner wurde, ihre Ausbildung in Stenographie und Handelskorrespondenz vollendet und eine ausgezeichnete Stelle mit einem Monatsgehalt von fünfzig Kronen in einem unserer feinsten Geschäfte bekommen.
Somit schien alles licht und glücklich. Bis plötzlich Ingeborg eines Tages wie verwandelt war. Erst war sie eine Zeitlang übermütig, fast unnatürlich heiter gewesen und hatte sich mit einer Eleganz gekleidet, die in dem sonst so bescheidenen Hause auffallend wirkte. Einmal überraschte ich sie und ihre Mutter bei einer Debatte über ihre Toilettenausgaben. Ich hörte, daß die Mutter sie freundlich, aber ernst fragte, woher sie denn das Geld zu all dem Staat nehme. Ich hörte auch Ingeborgs durchaus glaubwürdige Erklärung, daß ihr Chef ihr als Belohnung für ihre Tüchtigkeit und ihren Fleiß eine nicht unbedeutende Gratifikation gegeben und ausdrücklich den Wunsch geäußert habe, daß sie sich schöne Kleider dafür kaufen solle, damit sie hinter den drei andern jungen Mädchen im Kontor, die alle aus wohlhabenden Familien waren, nicht zurückzustehen brauche. Das einzige, was mich wunderte, war nur, daß Ingeborg der Mutter diese frohe Neuigkeit nicht sogleich erzählt hatte. Aber ich dachte dann: vielleicht hat sie gefürchtet, die sparsame Mutter möchte ihr raten, nur einen Teil des Geldes für Kleider auszugeben, und wer will es einem schönen jungen Mädchen verargen, wenn es gern schöne Kleider und Stiefel und Hüte haben möchte. (Später, als ich Ingeborgs Vertrauen gewann, zeigte sich denn auch, daß meine Vermutung vollkommen richtig gewesen war.)
Zweifellos war diese Periode eine für Ingeborg sehr glückliche, auch wenn sie sie ein wenig um das harmonische Verständnis mit Mutter und Schwestern brachte.
Dann aber kam eine Zeit, wo ihr ganzer Humor wie verschwunden war. Wie habe ich in diesen Monaten gelitten! Wie traurig war es, das sonst so lebensfrohe Mädchen bleich und vergrämt zu sehen, oft mit Tränenspuren. Sie saß still in einem Winkel, ohne ein Wort zu sprechen; und sobald der Tee getrunken war, ging sie zu Bett. Ich wollte nicht aufdringlich sein, allein eines Tages, als wir beide allein im Wohnzimmer waren, konnte ich mich nicht enthalten, sie nach dem Grunde ihres Kummers zu fragen. Ich sagte ihr, wenn ich ihr irgendwie helfen könne, so könne sie sich ganz auf mich verlassen. Ich wagte sogar hinzuzufügen, wie sehr ich darunter litte, sie unglücklich zu wissen. Sie antwortete mir: »Meinetwegen brauchen Sie nicht betrübt zu sein. Es ist nichts!« Dabei liefen ihr die Tränen über die Wangen, und sie warf mir einen wundersam rührenden Blick zu und drückte mir rasch die Hand. Dann eilte sie aus dem Zimmer.
Ich war ganz verwirrt. Was bedeutete dieser Blick, dieser Händedruck? In mir jubelte es, aber ich wagte es nicht zu glauben: Sollte etwa ich die Veranlassung ihres Grams sein? Ging sie vielleicht und grübelte, ob ich es nicht ernst meinte mit der Verehrung, die ich in geziemender Sittsamkeit für sie an den Tag gelegt hatte?
Ich war wie betäubt. Die Nächte lag ich schlaflos und dachte, ob Ingeborg jetzt ebenso schlummerlos dalag und unsere Gedanken in der Stille der Nacht einander träfen. Aber ich wagte nicht mit ihr zu sprechen und sie zu fragen. Gesetzt, ich hätte mich geirrt! Vergebens bemühte ich mich, durch Mutter und Schwestern Klarheit zu bekommen. Sie antworteten immer dasselbe, daß Ingeborg an Bleichsucht leide und die sitzende Arbeit im Büro anscheinend nicht vertrage. Sie äußerten auch ihre Besorgnis darüber, daß das Geschäft allmählich immer mehr unter die Leitung des Sohnes des alten Chefs gerate, der nicht den besten Leumund hatte. Er war einer der reichen jungen Lebemänner, deren erotische Meriten Gegenstand des städtischen Klatsches waren.
Ich gab ihnen ganz recht, daß es unter diesen Umständen besser sei, wenn Ingeborg sich eine andere Stelle suchte. Und eines schönen Tages ging sie denn auch von da weg. Es schien, als würde sie nun ruhiger, und zu meiner Freude faßte sie immer mehr Zutrauen zu mir. Ich merkte, daß sie Wert darauf legte, vertraulich mit mir zu sprechen – eines Tages gestand sie mir, daß der Grund ihrer Niedergeschlagenheit tatsachlich Überanstrengung gewesen sei, da der junge Chef weit größere Ansprüche gestellt habe als sein alter Vater, und daß sie unter dem frivolen Ton gelitten habe, den er sich gegen die jungen Damen im Geschäft herausnahm. Sie sei, sagte sie, glücklich, aus dem allen heraus zu sein. Und sie wollte sehr ungern eine neue Stelle annehmen, seit sie die Erfahrung gemacht hätte, wie der Ton war und wie wenig Respekt man den jungen Kontoristinnen erwies.
Wenige Monate später wagte ich den entscheidenden Schritt. Eines Abends beim Gute-Nacht-Sagen steckte ich ihr einen zusammengefalteten Zettel in die Hand. Ich sah ihr Erröten, sie warf mir einen langen, innigen Blick zu, aber keiner von den anderen bemerkte etwas.
In meinem Briefchen schrieb ich ihr, daß sie sicher bemerkt haben werde, wie teuer sie mir schon lange sei, und daß sie mir noch teurer geworden sei in der Zeit, in der ich fühlte, daß sie traurig war. Ich schrieb weiter, sie würde mich zu dem seligsten Menschen auf Erden machen, wenn sie die Meine werden wollte, und mein ganzes Streben solle dahin zielen, sie zu beglücken.
Nach einer schlaflosen Nacht ging ich zeitig zum Frühstück, eine Viertelstunde ehe die andern sich einfanden, und ein paar Minuten später kam Ingeborg.
An ihrem reizenden Lächeln erkannte ich sogleich, daß ich gesiegt hatte. Sie sagte kein Wort, aber sie ging auf mich zu und legte mir die Arme um den Hals. Ich saß mit einem Stück gerösteten Brotes in der Hand und wußte weder aus noch ein. Als sie meine Verlegenheit und das geröstete Brot sah, brach sie in das lieblichste Lachen aus, nahm mir das Brot aus der Hand und sagte: »Danke – ich will gern!« Und sie lachte, während ihr die Tränen in den Augen standen.
Dann kamen die anderen herein, und alle lachten vor Freude und weinten vor Rührung. Sie hatten wohl alle eine Ahnung gehabt, dennoch waren sie alle sehr ergriffen. Es endete damit, daß wir uns auf Wunsch von Frau Bragesen in einem Dankgebet vereinigten und Ingeborgs Lieblingspsalm sangen: »Herr Gott, dich loben wir!«
Meines bevorstehenden Examens wegen hatten wir keine Zeit zu vielen Verlobungsvisiten, aber am nächsten Sonntag gingen wir alle gemeinsam zum Tisch des Herrn.
Von Vater, Stiefmutter und der schwerhörigen, leider jetzt fast tauben Schwester trafen herzliche Glückwünsche ein. Auch sie hatten alle geahnt, daß etwas im Entstehen sei, was nicht weiter verwunderlich war, da ich bei meinen Besuchen in der Heimat nicht hatte verbergen können, wie entzückt ich von Ingeborg war.
Mein Vater schrieb, er würde gern nach der Hauptstadt gekommen sein, um uns zu gratulieren und meine reizende Braut kennen zu lernen. Leider aber sei er in letzter Zeit kränklich. Der Arzt meine, es sei mit den Nieren etwas nicht in Ordnung. Als Beweis seiner rührenden Freude, mich in einem guten Hafen zu wissen, schloß er den Brief mit dem Versprechen, Ingeborg und mir fünftausend Kronen zur Aussteuer zu schenken. »Daß ich dir eine so große Summe anbieten kann,« fügte er hinzu, »verdanken wir deiner Stiefmutter. Durch ihre konsequente Sparsamkeit hat sie erreicht, daß meine Lage jetzt einigermaßen gesichert ist. Die fünftausend Kronen sind selbstverständlich ein Vorschuß auf dein Erbteil, aber wenn es so weiter geht wie bisher, wird im Lauf der Jahre noch eine nette kleine Summe für dich und deine Ingeborg abfallen – oder vielleicht für eure Kinder.« Diese letzten Worte des Briefes – ein Ausfluß von Vaters vielleicht allzu überströmender Freude über die Verlobung – habe ich Ingeborg und den andern natürlich nicht vorgelesen.
Daß ich mein Examen mit Zensur Zwei bestand, war wohl eine Folge der Gemütsbewegungen, die ich in der letzten Zeit durchgemacht hatte.
Allein weder Ingeborg noch mich focht es weiter an. Wir sehnten uns nur danach, bald unser eigenes Heim zu gründen. Nicht daß das Zusammenleben mit Mutter und Schwestern Ingeborg weniger beglückte als früher. Aber welches verliebte junge Mädchen träumt nicht davon, für sich und den Erkorenen das eigene Nest zu bauen! Außerdem schien es, als sehnte sie sich, von Kopenhagen fortzukommen, hinaus aufs Land, in die freie Natur. Sie war erst sechs Jahre alt gewesen, als ihr Vater starb, aber die Kindheitserinnerungen an den Pfarrhof und den Pfarrgarten standen in wundersamem Paradiesesglanze vor ihr.
Es war in jenen Jahren Mangel an Kandidaten der Theologie, und schon ein Jahr nach meinem Examen bekam ich auf Verwendung unseres Dompropstes eine kleine Pfarre in Nordjütland.
Große Einnahmen waren nicht damit verbunden. Aber es war ein gemütliches altes Pfarrhaus und ein schöngepflegter Garten mit vielen guten Obstbäumen.
Dank den fünftausend Kronen von meinem Vater brauchten wir uns wegen der Aussteuer keine Sorge zu machen. Außerdem bekam Ingeborg durch die Verbindungen ihrer Mutter noch ein Aussteuerlegat von zweitausend Kronen aus einer Unterstützungskaffe für Töchter von Pfarrerwitwen. Sie hatte auch noch manche Reste von den eleganten Sachen, die sie sich seinerzeit von der reichen Gratifikation ihres alten Chefs gekauft hatte.
Eine anmutigere Braut als Ingeborg kann man sich nicht denken. Der natürliche Schmerz über die Trennung von Mutter und Schwestern, welcher bewirkte, daß sie bleich war wie ein Heiligenbild und unaufhörlich weinte, so daß ihr Ja bei der Trauung fast unhörbar wurde – die Trauung vollzog mein treuer alter Gönner, der Dompropst – machte sie nur noch schöner.
Das Hochzeitsessen fand im engsten Kreise statt. Infolge der Krankheit meines Vaters konnte auch meine Stiefmutter nicht an der Hochzeit teilnehmen. Meine Familie war daher nur durch meine Schwester vertreten, die sich aus Anlaß der Feierlichkeit ein Hörrohr gekauft hatte. Von Fremden war nur der Dompropst anwesend.
Ich nahm bei Tisch die Gelegenheit wahr, meiner Schwiegermutter und meinen Schwägerinnen, so warm ich vermochte, meinen Dank auszusprechen, und ich darf sagen, daß das Fest so schön wie nur möglich verlief. Leider wurde meiner Schwiegermutter, die gewohnt war, ihre Mahlzeiten in kleinen Portionen in kurzen Zwischenräumen einzunehmen, ein wenig übel, weil sie soviel auf einmal aß. Zudem war sie nicht gewohnt, Champagner zu trinken, aber mein Vater hatte in seiner Güte ein paar Flaschen zum Fest geschickt, und da sie als Wirtin mit uns allen anstoßen mußte und der Wein ihr mundete – kein Wunder, da es die feinste Marke war, die Vater in seinem Laden führte – bekam sie während des Vanilleeises einen so heftigen Anfall von Kolik, daß sie sich zurückziehen mußte und nur knapp imstande war, uns eilig Lebewohl zu sagen.
Ich habe oft die Beobachtung gemacht, daß die erste Zeit einer Ehe nicht die glücklichste ist. Darin ist nichts Merkwürdiges: man bedenke die Schamhaftigkeit der jungen Braut, die unwillkürliche Angst der reinen Jungfrau vor dem Schmerz und der Wonne der Hingabe.
Jedoch bloß Ingeborg mein Weib nennen zu dürfen, allein mit ihr zusammen zu sein, an ihrer Seite zu ruhen, war ein Glück, das sich nicht beschreiben läßt.
Und dann wurde es ja auch anders. Jedoch kurz darauf war es, als gehe mit Ingeborg eine Veränderung vor. Sie, die früher nichts von Krankheit gewußt hatte, begann an nervösen Kopfschmerzen und anderen Beschwerden zu leiden. Immer war sie gleich anmutig, allein ihre fortgesetzte Kränklichkeit bewirkte, daß sie nicht, wie ich so unendlich gewünscht hätte, an meiner Arbeit in der Gemeinde teilnehmen konnte. So gut sie sonst war, sie konnte sich nicht überwinden, mit den Bewohnern des Kirchspiels Umgang zu pflegen. Und da diese guten Leute für ihre Krankheit kein Verständnis hatten, kam sie, die arme, liebe, gute Ingeborg, in den Ruf, hochmütig und ablehnend zu sein. Der Arzt, ein vortrefflicher älterer Mann, zu dem ich gleich in freundschaftliches Einvernehmen trat, meinte, ihre Krankheit rühre daher, daß sie in anderen Umständen sei. Aber ach! Der Herr, der uns so viel Segen zuteil werden ließ, meinte wohl, daß wir nun einer Prüfung bedürften: nach wenigen Monaten wurde Ingeborgs Hoffnung unter großen Schmerzen zunichte. Daß sie des unsäglichen Glückes der Mutterschaft verlustig ging, machte seltsamerweise keinen so schrecklichen Eindruck auf sie, wie ich gefürchtet hatte. Im Gegenteil, sie schien gleichsam wieder aufzuleben. Allein eine unüberwindliche Angst vor einer neuen Schwangerschaft blieb in ihr zurück. Dazu fühlte sie sich auch keineswegs kräftig genug.
Sie bat und flehte deshalb, ihr eigenes Schlafzimmer zu bekommen, und selbstverständlich mochte ich nicht nein sagen. Ich hoffte, daß es nur eine schwierige Übergangsperiode sein würde.
Leider war dem nicht so. Sie wurde immer leidender, ohne daß eine eigentliche Krankheit nachweisbar war. Und merkwürdigerweise zeigten sich auch keine direkten Krankheitssymptome. Ihr Appetit war sogar bedeutend besser als früher, und sie, die ehemals so elfenhaft schlank gewesen war, begann bis zur Fettleibigkeit zuzunehmen. Das letztere kam wohl von ihrem vielen Im-Bett-Liegen. Sie fühlte sich nämlich immer so müde, daß das Aufstehen sie große Überwindung kostete. In der Regel war sie erst um zwei oder drei Uhr angekleidet.
Natürlich litt ich angesichts der Krankheit meiner armen, schönen Frau, allein dafür hatte mir ja der Herr eine neue große und schöne Aufgabe zuerteilt, Ingeborg während ihrer Krankheit auf jegliche Weise zu helfen und beizustehen, sie ihr zu erleichtern, indem ich ihr alle mögliche Aufmerksamkeit erwies und alle ihre kleinen Wünsche erfüllte, selbst wenn ich mir deswegen eine Entbehrung auferlegen mußte. Aber das tat ja gar nichts. So hatte Ingeborg in ihrer Krankheit ein unüberwindliches Verlangen nach seinen Parfüms und – was früher nie der Fall gewesen war – nach Wein und Likören. Dadurch, daß ich das Rauchen aufgab, was mir ja nur zuträglich war, ersparte ich soviel, daß ich ihre kleinen Wünsche erfüllen konnte. Und welche Freude war es für mich, wenn es mir gelang, einen Wohlgeruch oder einen Wein ausfindig zu machen, der ihr behagte! Zuweilen kam es auch vor, daß ich, der in diesen Dingen keine Erfahrung hatte, mir etwas aufschwatzen ließ, was sie nicht recht vertrug. Mit welcher Nachsicht versuchte sie in solchen Fällen ihre Enttäuschung zu verbergen!
Das Schlimmste war, daß Ingeborgs Krankheit sie hinderte, sich des Hauswesens anzunehmen. Wir versuchten es mit Stützen der Hausfrau, allein Ingeborg, obgleich zumeist bettlägerig, behielt sie scharf im Auge und fand sie untauglich. Weder ihr Kochen noch ihr Aufräumen konnte sie zufrieden stellen. Ich sollte, wie sie sagte, nicht darunter leiden, daß ich eine kränkliche, zarte Frau besaß.
Nun war unterdes mein lieber, alter Vater zur ewigen Ruhe eingegangen. Zu meinem Schmerze konnte Ingeborg nicht an dem Begräbnis teilnehmen. Ich selbst habe ihm die Grabrede gehalten, und auch der Dompropst sprach ein paar herzliche, für uns Hinterbliebenen tief tröstliche Worte.
Bei dieser Gelegenheit fragte ich meine Schwester, ob sie zu uns auf den Pfarrhof kommen und die Führung des Hauswesens übernehmen wolle. Augenscheinlich hatte sie große Lust. Der Gedanke, mit unserer Stiefmutter zusammen zu bleiben, behagte ihr nicht, obgleich sie es an und für sich sehr gut bei ihr hatte. Unsere Stiefmutter beabsichtigte, das Geschäft, zu dem sie sich ja vorzüglich eignete, weiterzuführen, und meine Schwester hätte mit dem kleinen Haushalt dann keine sonderliche Mühe gehabt. Außerdem hatte meine Schwester ja eine erkleckliche Summe geerbt, so daß sie, wenn sie nicht mit Fräulein Jensen zusammenblieb, sich bei einiger Sparsamkeit ein eigenes kleines Heim errichten konnte.
Allein mein und meiner Schwester Plan fand keineswegs Ingeborgs Beifall, und ich mußte ihr in ihren Bedenken recht geben. Taub, wie meine Schwester war, wäre es ihr schwer gefallen, das Gesinde zu beaufsichtigen, und schwach, wie Ingeborg sich fühlte, wäre es ihr eine tägliche Qual gewesen, mit einem tauben Menschen verhandeln zu müssen.
Dagegen schlug Ingeborg vor – und ich wundere mich, daß eine so naheliegende Idee mir nicht schon lange gekommen war–, daß wir eine meiner Schwägerinnen bitten wollten, zu uns zu ziehen.
In ihrer Herzensgüte gingen meine Schwiegermutter und meine Schwägerinnen auf unseren Wunsch ein. Die Älteste kam zu uns. Das war eine große Hilfe für Ingeborg. Dank dem Rest meines Erbteils konnte ich mir diese vergrößerte Ausgabe leicht gestatten. Denn selbstverständlich schuldete ich ja meiner Schwägerin vollen Ersatz für die Stellung in dem Kindergarten, die sie um unsertwillen aufgab.
Auch für mich war es angenehm, meine Schwägerin im Hause zu haben. Mit großer Tüchtigkeit ordnete sie alles und konnte mit seinem weiblichen Verständnis weit besser als ich beurteilen, was Ingeborg brauchte. Bisher hatte ich mein Schlafzimmer neben dem Ingeborgs gehabt. Begreiflicherweise bezog es nun meine Schwägerin, um stets zur Hand zu sein, falls Ingeborg irgendeine Hilfe brauchte. Und da wir nur diese beiden richtigen Schlafzimmer hatten, wurde es so eingerichtet, daß man mir abends in meinem Studierzimmer ein Lager aufschlug.
Ich hatte keinen Grund, zu klagen. Es ging mir so gut, wie es mir nur gehen konnte, abgesehen von der Sorge, die Ingeborgs stetig zunehmende Kränklichkeit mir verursachte. Leider konnte ich sie jetzt nicht mehr so häufig sehen wie früher. Sie war nur wenige Stunden außer Bett, oft blieb sie den ganzen Tag liegen. Und da sie es nicht vertrug, viel zu sprechen, und meine Schwägerin stets um sie war, gab es Tage, wo ich ihr nur einen ganz kurzen Besuch machen durfte.
Frauen sind bewunderungswürdig. Ich konnte meiner Schwägerin für ihre unermüdliche Sorge um Ingeborg nicht dankbar genug sein. Auch mir war sie eine Erholung und Zerstreuung. Mit feinem weiblichen Takt bewog sie mich nach und nach, von meinen vielen schlechten Angewohnheiten zu lassen. So ordnete sie täglich meinen Schreibtisch, auf dem bisher alles Mögliche herumgelegen hatte, bis ich selbst einsah, wie verkehrt ich früher alles angefaßt hatte. Sie übernahm die Verwaltung meiner Geldangelegenheiten und ersparte mir dadurch zweifellos viele unnütze Ausgaben. Zum Beispiel brachte sie System in meine bescheidene Wohltätigkeit. Es fiel mir immer so schwer, nein zu sagen, wenn ein Bettler kam. Meine Schwägerin, deren Güte sicher größer war als die meine, führte das gewiß sehr richtige Prinzip ein, einem vagabondierenden Bettler niemals bares Geld zu geben. Wenn man ihm ansehen konnte, daß er wirklich hungrig war, gab sie ihm reichlich zu essen, allein Geld, das er wohl nur für Branntwein ausgab, niemals! Sie schaffte auch die Sitte der Bewirtung mit Kaffee und selbstgebackenem Kuchen ab, die noch von meinen Vorgängern her Sonntags nach dem Gottesdienst üblich gewesen war. Es war ja wirklich, wie sie sagte, noch eine alte Unsitte aus jener Zeit, wo der Geistliche der Matador des Sprengels gewesen war. Jetzt, wo die Bauern oft viel reicher waren als ihr Pastor, schickte es sich nicht mehr. Und namentlich hatte es keinen Sinn in einem Pfarrhause, wo die Frau krank lag und nicht als Wirtin auftreten konnte. Im Sommer hatten wir es besonders gemütlich, so gemütlich, wie es bei Ingeborgs Krankheit überhaupt sein konnte. Wir erhielten den Besuch meiner lieben alten Schwiegermutter, die allen Beschwerlichkeiten der Reise trotzte, um ihre geliebten Kinder zu sehen, und meiner andern Schwägerin. In der Regel erfreuten auch meine Stiefmutter und meine Schwester uns durch einen mehrwöchigen Besuch.
Jetzt hatten wir Platz, denn ich vergaß ganz, zu berichten, daß ich nach fünfzehn Jahren eine weit bessere Pfarre bekam, dieselbe, die ich noch jetzt inne habe.
Die Zeit vergeht – die Zeit bringt Veränderung. Zuerst starb meine Schwiegermutter. Sie starb bei uns. Trotz ihrem hohen Alter und ihrer Gebrechlichkeit hatte sie es riskiert, Ingeborg noch einmal zu besuchen. Aber so viel ich mich erinnere, hatte sie auf dem Schiff eine Portion Spickaal gegessen, den sie nicht vertragen konnte. Sogleich nach der Ankunft im Pfarrhofe mußte sie sich legen und stand nicht mehr auf.
Die teure Frau, deren ganzes Leben Aufopferung gewesen war, starb als ein Opfer ihrer Mutterliebe. Wir begruben sie auf unserem schönen kleinen Kirchhof.
Ihr Tod machte einen erschütternden Eindruck auf die arme Ingeborg, die nun allmählich ungefähr ebenso dick geworden war wie ihre Mutter. Und wenige Monate später starb auch sie. Der Herr sei gepriesen, er schenkte ihr einen sanften Tod. Noch abends vorher genoß sie eine Tasse Bouillon und ein halbes Küken. Dann legte sie sich zum Schlafen zurecht, nachdem sie einige der Schlafpulver genommen hatte, die ihr vom Arzt des Herzklopfens wegen, das sie zuletzt sehr quälte, verordnet worden waren. Um fünf wurde ich geweckt und kam gerade noch zurecht, ihren Abschiedsgruß zu empfangen. Während die Tränen still über ihr einst so schönes Gesicht rannen, sprach sie: »Vergib mir!« Schluchzend kniete ich vor ihrem Bette: »Ingeborg, du hast mich doch nicht um Vergebung zu bitten – du hast mich so unendlich glücklich gemacht!« Sie warf mir einen letzten Blick zu – seltsamerweise einen fast heiteren Blick: dann starb sie. Daß meine zweite Schwägerin nach dem Tode der Mutter zu uns zog, war ja nur begreiflich. Und jetzt, da Ingeborg tot war und die Taubheit meiner Schwester niemanden mehr stören konnte, siedelte auch sie ins Pfarrhaus über. Seit einigen Jahren habe ich sogar die Freude, Fräulein Jensen – ich meine meine Stiefmutter –, die allgemach zu alt geworden war, um das große Geschäft leiten zu können, bei mir zu beherbergen. Sie sowohl als meine Schwester bezahlen reichlich für ihren Aufenthalt, so daß wir in keiner Hinsicht über Mangel klagen können.
Abgesehen von Ingeborgs Verlust geht es mir so gut, wie ein Mann es nur wünschen kann.
Vier liebevolle Frauen wetteifern darin, mir meine alten Tage mild und glücklich zu gestalten. Wahrlich, ich kann sagen: Wie ich vom Weibe geboren bin, so ist mein ganzes Leben vom Weibe gesegnet. Weiche Frauenhände haben mich von meinen zarten Kinderjahren an bis in mein hohes Alter beschützt und gepflegt und mir ein lichtes, glückliches Leben bereitet.
Aber ich beginne mich müde zu fühlen. Ich sehne mich nach dem Wiedersehen mit der Geliebten meiner Jugend. Ich sehne mich auch nach meinem Vater, nach meiner rechten Mutter, die ich hienieden ja eigentlich nie wirklich gekannt habe. Und nach meiner guten Schwiegermutter. Und später werden mir die andern Lieben ja alle nachfolgen.
Sonderbar übrigens, wie Ingeborg allmählich ihrer Mutter ähnlich wurde. Allein in der Engelschar um den Thron des Höchsten werde ich sie wiedergeboren und verjüngt im Strahlenglanz der Gnade wiederfinden.