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Aus dem verwirrenden Vielerlei der Tagesfragen und Einzelgesetze erhebt sich ein Kampf um die Macht, um die Führung der Nation. In diesem Kampfe wird der Liberalismus wieder lernen, ein Faktor der Geschichte zu sein. Ob das heute alle beteiligten Einzelpersonen schon ganz erfaßt haben, ist dabei ziemlich gleichgültig. Die Heere formieren sich, und schließlich wird im Geschicke der großen Massen jeder an seinen Platz gedrängt, er mag wollen oder nicht.
Das fühlt auch die Sozialdemokratie. Lange Zeit hat sie den wilden Mann gespielt, den Todfeind der bürgerlichen Gesellschaft, die isolierte Partei gegenüber allen andern. Inzwischen aber zeigt sich doch, daß sie entweder mit dem Zentrum oder mit den Liberalen gehen muß, denn zum bloßen Zusehen ist sie zu stark und zum Überwinden aller übrigen viel zu schwach. Die Sozialdemokratie hat an Masse über vier Millionen Wähler. Das ist eine Million mehr als der Liberalismus hat. Diese Masse ist besser organisiert als die liberale Menge und darum an sich politisch verwendbarer, aber sie besteht ihrer Natur nach aus abhängigen Leuten und kann deshalb für sich allein die Staatsführung nicht übernehmen, denn ihr fehlen, solange sie isoliert bleibt, die Kräfte, die den Staatsapparat in die Hand nehmen können. Eine Partei, die außer einigen Rentiers nur Arbeiter, Angestellte und Gewerkschaftssekretäre besitzt, kann in Sozialpolitik viel, in Handelspolitik wenig und in auswärtiger Politik fast nichts von sich aus leisten. Es geht eben nicht, die Arbeiter als Welt für sich zu behandeln. Jeder Arbeiter hängt irgendwo mit den Lebensinteressen dieser von ihm bekämpften bürgerlichen Gesellschaft zusammen. Er ist entweder liberal oder konservativ in Fragen der Staatsgestaltung, ist entweder liberal oder klerikal in Fragen der Volkserziehung. Einige von ihnen fallen dem Zentrum zu, die andern aber müssen den Liberalismus fördern, sobald dieser anfängt, sich selbst als Einheit und Macht gegenüber den Konservativen auf die Beine zu stellen. Das wissen selbst die radikalsten Genossen und keineswegs bloß die Revisionisten Süddeutschlands. Noch oft wird zwischen Sozialdemokraten und Liberalen gestritten werden, und im Wahlkampf werden sie Gesichter machen, als ob sie sich auffressen wollten, aber das eine fangen heute Liberale und Sozialdemokraten an zu begreifen, daß sie trotz aller Gegensätze und Agitationskampeleien an denjenigen Tagen zusammengehen müssen, an denen einfach zwischen rechts und links gekämpft wird. Erst muß einmal überhaupt wieder Freiheitsluft wehen. Wer dann später der stärkere Teil ist, wird sich zeigen.
Der Liberalismus muß um seiner eigenen Selbsterhaltung willen für die Industrieverfassung sein, für freie Koalition, für Tarifverträge, für Arbeiterschutz, für alles, was den Wert der einzelnen Person in der Menge der Angestellten und Arbeiter erhöht. Tut er das nicht, dann begräbt er seine eigene urälteste Idee, dann begräbt er sich selber.
Der Sozialismus aber kann praktisch gar nichts anderes mehr tun als das, was ein neuer grundsätzlicher Liberalismus seinerseits tun muß. Er hat in sich von Hause aus zwei Elemente: das sozialistische und das demokratische. Das sozialistische Element im sozialdemokratischen Gedankengang ist aber nun inzwischen in so hohem Grade von der gesamten Wirtschaftsgemeinschaft der kapitalistischen Gesellschaft übernommen worden, daß die Regelung der Produktion heute kein besonderes Ideal der Sozialdemokratie mehr ist. Das Kohlenkartell, der Stahlwerksverband, die Großbanken besorgen diesen Teil des marxistischen Programms viel schneller und gründlicher, als es je die proletarische Bewegung würde gekonnt haben. Die Sozialdemokratie leistet zur Sozialisierung der Gesellschaft ihren Beitrag, indem sie die Arbeiterklasse organisiert. Dieser Beitrag ist wesentlich, aber er ist doch nur ein Stück der großen Gesamtentwicklung, zu der die ländlichen Genossenschaften, die Handwerkerverbände, Kaufmannsverbände, Beamtenvereine, Technikervereine, Unternehmervereine und Kartelle auch gehören. Das Sozialistische ist nicht mehr Spezialität der Sozialdemokratie. Die Idee der Genossenschaftlichkeit ist viel allgemeiner geworden, und die Idee des Staatssozialismus ist durch die Praxis zurückgedrängt worden. Was bleibt jetzt der großen sozialdemokratischen Bewegung übrig, als allen Nachdruck auf die Demokratisierung der Wirtschaftsordnung zu legen? Sie muß die Großbetriebe, Kartelle, Genossenschaften demokratisieren. Das aber ist die alte liberale Idee vom Kampfe der vielen um ihren Anteil an der Herrschaft, das ist die Idee der Persönlichkeiten, die sich nicht bloß als Maschinenteile des wirtschaftlichen Mechanismus wollen verbrauchen lassen. Auch die Sozialdemokratie hat in Wirklichkeit kein anderes Wirtschaftsprogramm mehr, als der zur Erkenntnis der Tatsachen gekommene Liberalismus.
Beide Teile versuchen, schon um ihres politischen und agitatorischen Gegensatzes willen, die Einheitlichkeit in allen großen Dingen zu verschleiern. Sie behaupten noch immer, daß eine ungeheure Kluft zwischen ihnen sei. Diese Kluft ist vorhanden, aber sie ist nicht mehr so ungeheuer groß, wie sie im Interesse der gegenseitigen Bekämpfung oft dargestellt wird ... Noch gibt es auf beiden Seiten Vertreter alter Denkformen, es gibt einen Liberalismus stehengebliebener Kleinbürger und einen Sozialismus unpraktischer Utopisten, aber zwischen diesen beiden absterbenden Formen, denen der Boden der Wirklichkeit mehr und mehr entschwindet, arbeitet sich die Gemeinsamkeit aller derer empor, die aus dem Boden der Tatsachen den Fortschritt und die Freiheit erringen wollen, indem sie die von selbst entstehende Gestaltung der Wirtschaft anerkennen, aber mit Persönlichkeitsrechten und Persönlichkeitsschutz füllen und durchsetzen wollen. Es entsteht die Weltanschauung derer, die für Technik und Freiheit kämpfen, es entsteht die neudeutsche Wirtschaftspolitik.
Daran, daß der bürgerliche Liberalismus ohne Sozialdemokratie noch einmal wieder zur politischen Führung gelangt, kann auch von seinen wärmsten Vertretern nicht mehr im Ernst geglaubt werden. Das liberale Prinzip wird siegen, aber nicht ohne den Liberalismus der Masse. Die Frage ist nicht, ob der bürgerliche Liberalismus die Sozialdemokratie wieder in sich aufsaugen wird. Das kann er nicht mehr. Die Frage ist, ob sich die Sozialdemokratie so entwickeln wird, daß auch sie die altliberale Aufgabe übernimmt und es den ehrlich liberalen Teilen des Bürgertums ermöglicht, sich der von ihr getragenen Gesamtbewegung ohne Opfer ihrer Überzeugungen anzuschließen.
Jeder sozialdemokratische Schritt zur Vernunft erleichtert die Sozialisierung des Bürgertums und jeder bürgerliche Schritt zur politischen Gerechtigkeit hilft zur Nationalisierung der Sozialisten. Im Hintergrund beider Umänderungen aber steht die harte Notwendigkeit, sich zu vertragen, wenn Deutschland nicht in den Händen der Agrarier staatspolitisch verderben soll.
Es gibt bis jetzt keinen einzigen politischen Nachteil, den die soziale Demokratie ohne bürgerliche Hilfe verhindern, und keinen politischen Fortschritt, den sie ohne solche erreichen könnte ... Wenn wirklich alles, was nicht sozialdemokratisch ist, eine einzige reaktionäre Masse werden, sein und bleiben sollte, dann würde die Überschrift über alle Arbeiterhoffnung der Überschrift gleichen müssen, die Dante über seine Hölle setzt: laßt alle Hoffnung fahren! Die eine, ungeteilte, reaktionäre Masse existiert aber nur scheinbar. Es gibt nicht eine, sondern mehrere Oberschichten, und die Gegensätze, die zwischen diesen Aristokratien sind, ermöglichen es der Demokratie, vorwärts zu kommen.
Was dem Sozialdemokraten zugemutet wird, ist Einschränkung seiner Illusionen zum Zweck der nützlichen Verwendung seiner wirklichen Kraft. Da er nun bisher gerade die Illusionen für das kräftigste hielt, was es geben kann, und da in der Tat die Illusion von gewaltiger psychologischer und agitatorischer Wirkung war, so opfert er sie nur mit dem peinlichen Gefühl des Mannes, dem man sein Herz zerbrechen will. Er ahnt, daß es nicht anders geht, aber warum das Notwendige beschleunigen, wenn es schmerzlich ist? Es gehört zu den Ironien, an denen das Leben so reich ist, daß Erfüllung von Wünschen innerlich ärmer machen kann. Wie mag sich vor 30 Jahren der Gedanke in einem sozialdemokratischen Kopf dargestellt haben: vier Millionen Wähler! Jetzt sind die vier Millionen da. Was nun? Jetzt ist es nötig, nüchterner zu werden, eben weil die Träume sich zu erfüllen beginnen.
Die Frage lautet nicht mehr: Was würden wir tun, wenn wir die Macht hätten? sondern sie lautet: Was tun wir, wo wir einen Teil der Macht haben? Es ist leichter, sich auszudenken: Was würde ich anfangen, wenn ich eine Million Mark erben würde, als zu entscheiden: wie verwende ich zehntausend Mark, die ich habe?
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Wie gewinnt die lohnarbeitende Masse Einfluß innerhalb des vorhandenen Staates, den sie zu stürzen zu schwach ist, in dem sie aber täglich an Bedeutung zunimmt? Der bisherige Zustand ist, daß die Masse an Macht zunahm, indem sie den Staat mit dem Untergang bedrohte. Dieser Weg ist nur so lange gangbar, als von beiden Seiten an die Möglichkeit des Umsturzes geglaubt wird. Fällt dieser Glaube in sich zusammen, so ist es nötig, daß die Masse einen Plan aufnimmt, wie sie ohne Erweckung revolutionärer Angst im Staat genug Macht erlangen kann, um die Gesetzgebung und Verwaltung zu ihren Gunsten zu wenden.
Mit anderen Worten: Das alte sozialdemokratische Ideal einer Vernichtung der bürgerlichen Gesellschaft verschiebt sich in das neue, kleinere, aber dafür aussichtsreichere Ideal, innerhalb dieser Gesellschaft ein Machtfaktor von steigender Wirksamkeit zu werden. In Wirklichkeit ist dieses neue Ideal längst an die Stelle des alten getreten, nur fehlt bisher die Anerkennung der vollzogenen Verschiebung.
Von »revolutionärer Sozialdemokratie« zu reden, ist dasselbe wie vom Königreich Hannover zu sprechen oder von der Unüberwindlichkeit der Spanier. Die Partei wird groß und damit vorsichtig. Mit einem Körper von vier Millionen macht man keine Experimente auf Tod und Leben.
Es kann harmlos und ungefährlich scheinen, daß das Wort »revolutionär« nicht fallen gelassen wird, aber sein falscher Weitergebrauch hat doch eine doppelte schädliche Folge. Einmal ermöglicht er noch immer jene öde Gespensterfurcht, von der wir vorhin redeten, und dann verbirgt er vor den Augen der Genossen selbst, wie groß die Veränderung ist, die sich wirklich vollzogen hat. Das Problem: wie gewinnen wir ohne Revolution Einfluß im Staate? wird nicht in aller seiner Schärfe gestellt. Man begnügt sich damit, die Ziele anzugeben, die man erstrebt und fröhlich zu agitieren, läßt aber die eigentliche politische Kernfrage, die Frage der Machtgewinnung, im Dunkel.
Ganz falsch ist es, zu sagen, daß Wolken nichts sind. Sie sind nur nicht das, was sie in ihrer stolzen Pracht zu sein scheinen. Der Regen, der von ihnen kommt, beweist, was und wieviel sie sind. Sie sind keine ganz neue Welt, sondern nur eine Befruchtung der alten, aufgestiegen aus den alten Bergen und Tälern, die dann wieder nach ihnen dürsten. Ohne sie wird das Land zur Wüste, vertrocknet, schattenlos und tot.
Mit nüchternen Worten: wir können ohne politische Generalideen nicht leben, obwohl wir den nur relativen Charakter dieser Ideen erkannt haben. Jede Zeit hat ihre eigenen Generalideen, da aber jede Zeit gleichzeitig Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich trägt, so hat sie auch gleichzeitig Ideen, die erst noch Illusionen, die eben Wahrheit geworden und die schon wieder verblaßt sind. Ein gewisses Stadium in der erst werdenden Idee heißt Utopie.
Was ist Utopie? Wenn hohe Wolken sich hoch über der Erde türmen und wenn die Sonnenstrahlen diese Wolken mit seligem Lichte bewerfen.
Als einst Israel durch die Wüste zog, da ging, wie die Bibel erzählt, tags eins Wolkensäule und nachts eine Feuersäule vor dem Volke her. So wandert die Illusion vor dem neuen Volke des Industriezeitalters. Wenn der Kampf um den Jordan wirklich beginnt, verschwindet die Säule.
Macht ist immer das Gegenteil von Deklamation, denn sie besteht in Benutzung vorhandener Kräfte und Verhältnisse.
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Keine Demokratie kann ohne Aristokratie leben, in doppeltem Sinne: sie muß ihr Gegenpart sein und muß dabei von ihrem geistigen, rechtlichen, materiellen Besitz mit zehren. Selbst wenn heute alle alten Aristokratien gebrochen sein würden, so würde aus der demokratischen Masse heraus sofort ein Teil als neue getrennte Aristokratie sich formieren. Im Heerzug der Völker sind stets einige Geschwader an der Spitze. Man kämpft um den ersten Platz. Auch Demokraten wollen nach vorn kommen.
An der Aristokratie sieht die Masse, was sie erstreben kann. Dieser Satz gilt von Erziehung, Lebenssitte, Hauseinrichtung, Kleidung, Nahrung, von jeder Verfeinerung und Kunst, von Selbstbewußtsein, Weltanschauung. Wenn darum die Demokratie gegen die Aristokratie kämpft, so bekämpft sie nicht den Fortschritt, sondern sie kämpft um ihren Anteil am Fortschritt. Diese Haltung ist nicht immer ganz leicht. Es ist für die Masse schwer zu sehen, wie jede neue Erfindung zehnfach mehr der besser gestellten Oberschicht zugute kommt als ihr. Die Eisenbahn, die den Arbeiter dritter oder vierter Klasse selten und kurze Strecken trägt, führt die Aristokratie in bequemen Durchgangswagen durch die halbe Welt. Wenn der Proletarier einmal von Berlin in den Spreewald fährt, fährt die Oberschicht nach Pontresina oder Neapel. Wenn der Arbeiter amerikanische Wurst hat, hat der Rentier Renntierbraten. Oft scheint es, als würde durch alle technischen Fortschritte die Kluft nur größer, die das Oben von Unten trennt. Und doch gibt es keinen anderen Weg für die Masse, um vorwärts zu kommen, als den: die moderne Gesamtentwickelung zu fördern, um in ihr gewinnen zu können.
Die Demokratie erhebt sich gegen Tyrannei, Alleinherrschaft, Klassenmacht, Bureaukratie und verlangt die Gleichberechtigung aller Staatsbürger. Indem sie das aber tut, bedarf auch sie der Führer und Herrscher und bekommt in sich dasselbe, was sie nach außen hin bekämpft. Auch die Demokratie schafft eine Art von Oberwelt.
Die Masse kann nicht ohne Beauftragte ihre politische Kraft ausüben, und je größer die Staaten sind, desto kleiner wird der Anteil an der Souveränität, der auf den einzelnen Staatsbürger kommt. Er wählt Vertrauensleute, Deputierte, Abgeordnete, und diese werden notwendigerweise zu Beamten mit allen Vorzügen und Nachteilen der Beamtenschaft.
Die Masse selbst kann auf direktem Wege nicht herrschen. Das ist technisch unmöglich, denn Herrschen ist ein gelernter Beruf. Das einzige, was die Masse vermag, ist, daß sie auswählen kann, von wem sie beherrscht sein will. Das war schon das Problem, über das der geistige Vater aller modernen Demokratie, Rousseau, nicht hinwegkam. Es gibt keine Demokratie und keinen Sozialismus ohne Direktoren, Präsidenten, Offiziere und Unteroffiziere der Verwaltung. Deshalb ist es falsch, die Sache so darzustellen, als sei es eigentlich das »Wesen der Demokratie«, eine direktorenfreie menschliche Gesellschaft herzustellen. Wer das glaubt, der hat eben die Demokratie noch nicht bis zu Ende durchgedacht. Die Demokratie ist nur die Einsetzung von Wahlrechten an Stelle von Erbrechten.
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