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Anblick

Gegen sieben Uhr abends hielt es Hoff im Zimmer nicht mehr aus. Er war hin und her gegangen, hin und her, immer die acht Schritte zwischen der Stiegentür und der Korridortür, bis ihn Frau Hansmann, den besorgten Kopf ins Zimmer steckend, an seine Krankheit erinnerte. Er hatte sich wieder aufs Bett gelegt, um vor ihr Ruhe zu haben; denn er fürchtete ihr Interesse an dem wunderlichen Besucher und an dem langen, zuweilen wohl auch lauten Gespräch. Er hatte vor den Wortfetzen Angst, die bis zur Küche hinübergeflogen sein mochten, trotzdem er wußte, daß die Alte schlecht hörte und niemals horchte. Er befürchtete dies und das, lauschte auf das Treppenhaus hinaus, mißtraute jedem Gänger draußen und beschimpfte sich wegen seiner Nervosität.

Er sei jetzt mittendrin, wiederholte er sich wie zur Entschuldigung; aber er war es gar nicht: er tappte in seiner Angst umher wie in einem Nebel und sah nichts, keinen Gedanken, keinen Halt, keine Haltung. Er sah nicht einmal recht die Tat. Er fühlte nur kleinliche und selbständige Beängstigungen. So konnte er natürlich auch keinen Schlaf finden, so gerne er in ihn hineingekrochen wäre.

Hoff stahl sich fort, aus Angst vor der Mutter Hansmann, einer lächerlichen Angst, wie er sich ohne weiteres zugab. Aber es war heute mit ihm schlecht bestellt; das Gespräch mit dem Zwerg Paula hatte es gezeigt. Er kam heute gegen keinen auf, der einigermaßen sicher stand. Das war begreiflich, weil er noch keinen Boden unter den Füßen hatte. Frau Hansmann besaß eine schmale, aber verankerte Position des Lebens. Dazu kam ihr gütiger Hang für ihn, wie er nicht mehr war: dieser mütterlich deutliche und nicht auszuhaltende Irrtum. Sie konnte ihn damit bis zum Geständnis treiben. Es war besser, sich von ihr nicht zu verabschieden.

Auf der abendlichen Straße fühlte er sich viel wohler. Es war auch wieder neblig. Er tauchte in eine graue Anonymität und ließ sich treiben. – Ob es nicht möglich gewesen wäre, überlegte er jetzt, sich und den Zwerg in der Schwebe zu lassen, also ihm nichts einzugestehen? – Aber er ist doch ein Freund, Hoff, vielleicht der nützlichste, und die paar Dutzend Männer vom Aktionskomitee wissen es doch schließlich auch. – Doch das Überspieltwerden war bedenklich, und noch bedenklicher war die Bereitschaft zum Geständnis, wenn es einer mit ihm gut meinte. Er mußte wieder härter werden. – Wieder härter? Muß ich nicht ganz im Gegenteil noch viel weicher werden, um erst einmal in die richtige Form zu kommen? – So kann es doch nicht bleiben.

Ob ich heute zu David Hertz gehe?

Aber jetzt hing doch wieder ein neues Gewicht an diesem Namen. Der Zwerg war ein gefährlicher Freund. Was für ein toller Gedanke von ihm, den Zufall einer halben Ähnlichkeit auszuschlachten! – Hoff blieb stehen. – Ganz ehrlich, Hoff: lauerte vorgestern abend hinter der Absicht der Damenwahl nicht schon die Verruchtheit dieses vagen Gedankens?

Hoff stand vor einem Zeitungskiosk. Die Abendblätter brachten das Bild des erschossenen Regierungschefs. Der Verkäufer hatte mit ihnen den Stand wirkungsvoll tapeziert. Der vermummte Mann im Ausschnitt des Häuschens war von den vielen Köpfen des Ermordeten eingerahmt. Ein wenig seitlicher hingen illustrierte Zeitschriften der letzten Wochen, die den Lebenden zeigten: als Redner, als Händedrücker, als Unterzeichner, als Privatmenschen. Hoff kam von seinen Gedanken ab und sah sich die Bilder an.

Er kaufte sich die Zeitschriften, in denen sich der Minister liebenswert zur Schau trug – zumal alle Bilder des Lachenden oder Lächelnden, das gewinnende und ganz bürgerliche Bild mit seiner ernsten und angenehmen Frau und schließlich das bedeutsame Photo seiner Abholung aus dem Gefängnis durch die revolutionäre Masse. Außerdem kaufte Hoff die ausliegenden Abendblätter, mit Ausnahme eines Boulevardblattes, das schon ein Bild von dem Transport des getöteten Körpers in ein Sanitätsauto brachte.

Er verteilte im Weitergehen die Blätter in die Manteltaschen, als ob ihn das Pack Zeitungen verdächtig machen könnte. Er hatte plötzlich das Bedürfnis zu lesen: nicht über die Tat und den Täter, sondern über das Opfer. Es verlangte ihn vor allem nach einer gründlichen und ungestörten Beschau der Bilder. Es fiel ihm eine stille Weinstube in der Altstadt ein. Er nahm sich einen Wagen und fuhr hin.

Das Lokal war leer. Ein Kellner stürmte gegen den Eintretenden und wollte ihm Hut und Mantel ablocken. Hoff wehrte ab, wählte ein Wandtischchen, über dem sich ein Kleiderhaken befand, und hängte den Mantel neben sich auf, so daß er bequem die Taschen mit den Zeitungen erreichen konnte. Er gab etwas auf die Handlichkeit der Lektüre. Der Kellner bezog es auf die Kleidungsstücke, die zu jener Zeit vielfach aus den Wirtsstuben verschwanden, und lobte die Vorsicht, um sich des Gastes Wohlwollen zu verschaffen. Hoff sah ihn erstaunt an. Der Kellner wandte sich ab und brachte dem leider schwierigen Herrn die magere Speisekarte. Hoff hatte keinen Hunger, trotzdem er heute noch nichts gegessen hatte. Noch nichts? Er dachte nach. Er hatte seit dem Frühstück nichts gegessen. Das Frühstück war vor der Tat.

Die Tat war noch nicht zwölf Stunden alt.

War nicht die Tat zwölf Jahre alt?

Wie war dieser tückischen Zeit zu glauben? Wie konnte er mit ihr jemals wieder zurechtkommen?

Hoff hatte keinen Hunger; aber er bestellte das Menü, um sich wieder an das zeitfolgende Essen zu gewöhnen. Er verlangte eine Flasche ziemlich schweren Rheinwein: 1915er Niersteiner Fritzenhölle. Er erinnerte sich sogar, diesen Wein zu kennen: Es würde also mit dem Trinken zwangloser gehen als mit dem Essen. Der Kellner enteilte zufrieden; denn er hatte nur mit Schoppenwein gerechnet.

Hoff war nicht zum Essen und Trinken gekommen, sondern zum Lesen. Er hatte sich sogar schon die Reihenfolge festgesetzt: zuerst die Bilder, dann die Zeitungen. Er nahm die illustrierten Blätter und ordnete sie. Er wollte mit dem Gesicht beginnen, mit dem menschlichen Antlitz, dem keine Körpergeste und keine Zeitgeschichte anzumerken war. Er erinnerte sich an eine Großaufnahme, an ein Titelbild: so fand er es leicht. Schon im Moment des Entdeckens vergaß er die anderen Bilder und ihre geplante Abstufung vom lachenden Ehemann bis zum befreiten Sträfling. Er strich das mächtige Gesicht glatt und sah es an. Es war ein Blatt großen Formates. Das Gedeck störte: er schob es weg. Er stützte die Arme auf, so daß das Bild zwischen seinen Ellbogen lag und kein Rechts und Links den Blick störte.

Er sah es an. Das Bild sah ihn an.

Der Minister hatte einen hellen und geraden Blick. Hoff sah in die Augen. Und wie es so ist: neigst du dich ein wenig nach rechts, nach hinten, nach links – er folgt dir mit den Augen. Es ist nicht ganz leicht, den Blick auszuhalten.

Dir wird heiß und das Herz beginnt zu poltern, wie seit dem »Abschnitt« nicht mehr. Du weißt jetzt sehr genau, wie dann das Herz zu stechen begann und wie dann die Zählerei losging. Eins, zwei, drei ... du brauchst wahrhaftig nicht weit zu zählen und hast das Gesicht vor dir. Es ist mit ungeheurer Gewißheit sein Gesicht. Es ist ein Erkennen – nein, ein Wiedererkennen von solcher Schärfe, Härte und Schwere, daß es dich in der Brust schmerzt wie ein verschluckter Knochen. Du atmest und schluckst und hebst die Brust und schluckst – und dieses verfluchte Schlucken war sowohl auf dem »Abschnitt« als auch auf der Rückfahrt. Du weißt, wie es dann mit dir im Staatsforst ging, bevor du die Pistole vergrubst ...

Mein Gott, mir wird schlecht – mein Gott, mir wird wieder schlecht: das geht hier doch nicht. Du bist hier in einem Restaurant. Du bist nicht in dem Wald, du hast auch nichts mehr zu vergraben. Du mußt dich zusammennehmen. Du hast das Bild anzusehen. – Ich nehme mich zusammen, ich sehe nicht immer den Tod des Bildes und den Töter des Bildes, sondern das dargestellte Leben.

Ich bin ruhig, ich bleibe ein wenig bei der ruhigen Stirn. Sie hat ein paar tiefe Falten und wirkt trotzdem glatt und klar. Es ist beinahe eine fröhliche, auf jeden Fall eine zuversichtliche Stirn. Der Haaransatz ist fest und noch wenig nach hinten getrieben. Die Haare sind noch jugendlich voll und in etwas romantischer Aufmachung: Stürmer und Dränger, man soll es ruhig merken. Dabei scheinen sie doch viel mehr weiß als grau. Wie alt ist denn der Mann? – Nein, das kommt später. –

Ich werde gestört – natürlich werde ich hier gestört, ich höre den Kellner heranklappern. Ich könnte das Bild gegen die widerlichen Speisen verteidigen, ich könnte dem Kellner grob bedeuten, daß auf meinem Tisch für seine Suppe kein Platz sei: aber ich will klug sein, ich muß klug sein. Hier ist ein Restaurant, ich bin ein Gast, ich habe zu essen.

Der Kerl langt mit seinen Fettfingern nach meinem Bild. Ich rette es vor der Befleckung. Kellner haben wendige Augen: er hat das Bild erkannt, von rückwärts. »Ja, ja«, biedert er sich vorsichtig an, »der ist hin.« Ich falte das Blatt vorsichtig zusammen und lege es zu den anderen auf den leeren Stuhl neben mir.

Der Kellner prüft meine politische Gesinnung mit einem schrägen Blick, während er die Suppe aus der Neusilbertasse in den Teller gießt. »Schließlich war er auch ein Mensch«, bemerkt er dann. Das ist die beste Bemerkung, die er machen kann. Ich nicke. Er dreht die Flasche im Eiskühler. »Schade, schade«, sagt er dabei, schon mutiger.

Ich will das nicht. Ich brauche das nicht. Ich bin nicht der und jener in dieser Affäre: »Nicht zu kalt«, befehle ich. Der Kellner nimmt gehorsam die Flasche aus dem Eis, schenkt ein und stellt sie auf den Tisch. Ich danke, er geht. Ich löffle in der blassen Suppe.

Wie kann man neben einem Toten essen! Ich schiele auf den Stuhl neben mir. Ich habe das Bild dreifach gefaltet; Stirn und Augen liegen frei. Die Augen sehen mich natürlich an. Ich weiß, es ist Zufall und ich will mich nicht gegen das Bild, sondern gegen den Zufall wehren. Ich koste die Suppe, ich schmecke warmes und fettiges Salzwasser. Ich kann sie nicht essen. Ich esse Brot. Es läßt sich schlucken. Ich trinke Wein; er ist wohlschmeckend und voll, herbsüß, gutmütig, ermunternd. Ich trinke das Glas aus und bekomme warme Hände. Ich nehme das Bild, entfalte es und spanne es zwischen mir und dem Tisch aus.

Unter seinen Augen sind dicke Säcke, die den heiteren Blick gehörig mit Ernst unterbauen, mit Erleben und Erfahrung bedrückender Art. Der Mann hat augenscheinlich viel durchgemacht. Er ist übrigens, von den Augensäcken abwärts, recht alt, im Gegensatz zur oberen Partie. Es ist ein Gewirr von Runzeln und Fältchen, die ihn zugleich verbraucht und gütig machen. Die Nase ist, sieht man genauer hin, unschön, kleinlich, knollig. – Der Kellner ist schon wieder da. Ich schütze mich vor ihm durch das Bild, das ich noch etwas höher halte.

Ich habe gleichzeitig vor dem Mund des Ministers etwas Angst; denn es bedarf nur einer kleinen Anspielung, um ihn wieder aufgerissen zu sehen und brüllen zu hören. Ich bin deshalb mit der neuerlichen Störung nicht einmal unzufrieden, halte die Augen wohl auf das Bild, aber sehe es nicht mehr an.

Der Kellner hat schweigsam die Suppe weggenommen, ein neues Gericht hingestellt und das Glas neu gefüllt. Ich danke, er geht. Ich lege das Bild immer noch nicht fort; denn ich frage mich etwas und will dabei das Gesicht nicht frei haben.

Ich frage mich, ob ich jetzt schon alles weiß, was ich getan habe. Ich sage weder ja noch nein; ich kenne wohl auch den Mann vor mir noch zu wenig. Die Kupplung zwischen uns beiden geschieht auch zu schnell, zu fiebrig und zu einseitig von mir aus. Dieser Prozeß darf nicht durchgepeitscht werden; denn er ist zu folgenschwer. Ein glatter Einsturz der Nerven ist ein viel zu simpler und viel zu bequemer Vorgang. Man soll auch hier keine Schaustellung geben und sich nicht aus der Hand verlieren. Der richtige Weg ist ja schon beschritten: man muß den Toten kennen und lieben lernen. Zusammenbruch und Umnachtung sind Ausflüchte. –

Hoff legte das Bild zusammen und steckte es mit den anderen Zeitschriften in die innere Manteltasche. Er wollte die Prüfung in der Nacht und im Bett fortsetzen. Er hatte Durst und trank. Das graue Stückchen Rindfleisch aß er langsam und mit Zwang. Er wollte nicht berauscht werden. Der Wein war schwer und rückte gegen den Kopf vor. Am besten schmeckte ihm trockenes Brot.

Es kamen ein junger Mann und ein junges Mädchen. Sie verrieten ihre Liebe schon in der Tür, wie sie einander nicht leicht loszulassen vermochten. Der junge Mann betrat die Weinstube mit so kühnem und beinahe streitbarem Gesicht, daß sich die Ungewöhnlichkeit dieses Besuches ebenfalls sofort offenbarte. Das Mädchen hielt sich dicht hinter ihm und schaute sehr schüchtern. Die Anwesenheit nur eines Gastes lockerte seinen Kraftaufwand: er blickte jetzt vergnügt und erleichtert um sich, ein hübscher Junge. Das kleine Lokal, das von Weinkennern und nicht von Liebespaaren lebte, hatte keine Nischen, wie sie der junge Mann vielleicht erwartet hatte. So wählte er einen Tisch, der von Hoff möglichst entfernt war. Aber da die Stube von geringem Ausmaß war, die Tische längs der Wände standen und Hoff zudem etwa in der Mitte saß, blieben die anderen nahe genug.

Der junge Mann hatte seine Dame nicht gefragt, ob ihr der Tisch gefiele. Sie schien sehr gefügig. Die beiden setzten sich eng zusammen und verbanden sich sofort gegen den überlegenen Kellner. Der junge Mann bestellte mit forscher Stimme die Speisen und war auch jetzt des Einverständnisses seiner Begleiterin durchaus sicher. Er ließ sich auch durch die vorgehaltene Weinkarte nicht beirren und entschied sich auf das rascheste für die Nummer neun. Sie schaute zu ihm auf; sie schien ihn gerne zu bewundern. Sie war sehr jung, vielleicht siebzehn, und schon deshalb hübsch, weil sie liebte. Sie umfing auch, kaum daß der Kellner gegangen war, seine Hand und spielte mit seinen Fingern. Er sah zu Hoff hinüber und sagte, daß es ja gleich sei, wo man esse, und daß heute bei der frühen Sperrstunde die Zeit dafür sowieso knapp bemessen sei. Sie sagte: »Gott sei Dank«, mit einer so wundervollen Ungeduld, daß Hoff plötzlich einen heißen Kopf bekam. Er ärgerte sich über sein Interesse an den beiden Kindern und nahm eines seiner Abendblätter, um sich von ihnen fortzubringen.

Er begann den trockenen und vorsichtigen Leitartikel des bürgerlichen Blattes über die durch das Attentat geschaffene Situation zu lesen. Man konnte zwischen den Zeilen die Spekulation auf eine Wandlung der Lage erkennen. Hoff fand diese ängstlich eingewickelte Hoffnung auf das Gelingen der Gegenbewegung unangenehm. »Das Attentat dürfte wohl nur der planmäßige Auftakt einer großangelegten Aktion der weißen Verbände sein«, las er, und er hörte zu lesen auf.

Warum ging ihn das jetzt nichts mehr an? Hier war doch der Sinn der Tat, das Kommando, der Sinn seiner und vieler anderen Energien gewesen! – Auch darüber muß ich noch mit Hertz sprechen, entschied er. Jetzt ging ihn nur seine persönliche Bewegung an. Und die Zeitungssätze waren nicht nur unangenehm: der kalte Ton, den sie für den toten Mann hatten, verletzte ihn. Wie leicht machten es sich diese Etappenschreiber! Da fand sich einer, der den Führer abschoß, und nun rollt die Zeitgeschichte wieder hübsch nach rückwärts, und man saß gebührend abseits und registrierte die angenehme Bewegung!

Hoff warf die Zeitung auf den Stuhl. Er hatte getrunken. Da fand sich einer! da fand sich einer! tobte er heimlich.

Dann hörte er wieder die kleinen dummen Liebesworte vom anderen Tisch deutlicher. Er hatte Durst und trank: die Flasche war bald leer. Er dachte brutal: ich möchte dieses kleine Mädchen haben, ich gönne dem Jungen nicht das Glück. Daß es an einem Tag wie heute noch ein solches Glück gibt und solche kleine starke Sicherheit in der großen Unsicherheit! Die beiden waren jetzt still; denn sie aßen mit Eifer. Die Tische waren zu jener Zeit der Wäscheknappheit nur mit Kreppapier bedeckt. So konnte Hoff gut sehen, wie sie ihre Knie gegeneinander drückten, um keinen Augenblick den Kontakt zu vermissen. Ihr Appetit steckte an. Hoff aß seinen Nachtisch. Das Mädchen ließ nichts auf der Platte zurück, trotz seiner Freude über die kurze Eßzeit. Hoff sah auf die Uhr: es war Viertel nach Acht.

Wo soll er um neun Uhr sein? Auf seinem Zimmer? Dort fand er noch Frau Hansmann wach. Warum die Ausreden: du willst nicht nach Hause gehen. Du willst dich nicht ins Bett legen und die Bilder ansehen. Du hast getrunken. Du willst nicht zu David Hertz gehen. Du wirst nicht zu Herrgott gehen, weil du, Gott sei Dank, nicht seine Adresse weißt. Du hast getrunken, du bist von allen Sinnen aufgewühlt, du bist von halben Erkenntnissen angeschlagen, du bist von gegensätzlichen Stimmungen hin und her gerissen. Du wirst dir doch keine Frau von der Straße holen? Du hast es nie getan, Hoff, du wirst es nicht tun! Du springst sonst morgen früh von deinem fünften Stock in den Hof, wo die widerlichen Abfalleimer stehen, oder du springst in einen Kanal, wenn du nicht mehr bis nach Hause kommst. Du hast noch etwas Wichtiges vor, Hoff, du darfst nicht abspringen! –

Das Mädchen wischte sich den Mund mit der Papierserviette und sagte: »Von mir aus, Charlie, darf jeden Tag so ein politischer Mord passieren; dann liegen wir schon um neun Uhr im Bett, Charlie.« Charlie nannte seine Freundin lächelnd und glücklich einen Gemütsmenschen, bückte sich, als sei ihm etwas auf die Erde gefallen, und küßte sie schnell auf den Schoß. Sie streckte sich und schloß die Augen.

Hoff saß starr. Das war doch von diesem feinen Geschöpf eine unfaßbare Roheit, eine Lästerung, eine Todsünde! Aber es ist schon so: sie ist nicht zu fassen, nicht einmal vom lieben Gott, der eine offenbare Schwäche für die Kleine hat und auf ihr Stirnchen von solchen Worten keinen Schauder kommen läßt. Auch Hoff faßte nur die Worte und ließ die Sprecherin frei ausgehen. Es war nicht einmal zweierlei Maß für sie und für ihn; denn sie durfte sich alles erlauben, sie war eine kleine Göttin, sie war in ihrem Zweikörperreich souverän, und von allen ihren Gaben der künftigen Nacht war die bedeutendste nicht, das Schwere leicht zu machen. Außerdem gab es ja noch andere und geringere Nutznießer seiner Tat, wie er gelesen hatte. Er sah sie von der Seite. Sie flüsterte ihrem Freund kleine Sätze ins Ohr, dazwischen lachte sie ganz leise, so als sei auch das Lachen für ihn geflüstert. Der Geliebte hatte viel von seiner Forschheit verloren. Er war jetzt nichts als ein erregter Knabe und ihr nicht ebenbürtig. Sie hatte ihn mit ihrer Zärtlichkeit entthront, regierte schon und wird heute noch, wußte Hoff, bis zur Tyrannei kommen. Sie wurde immer schöner. Jetzt fühlte sie auch den Blick vom anderen Tisch und wurde nicht verlegen, sondern warf ein kleines Geschenk von ihrem Überfluß mit den Augen zu dem Einsamen hinüber. Hoff senkte dankbar und artig den Kopf. – Nur keinen Kampf mit Knaben, sagte er sich und dachte an Lys Kavalier von letzter Nacht. Aber der junge Mann drüben hatte ihren Seitenblick nicht bemerkt, vielleicht schon weil sie ihm verboten hatte, ihn zu bemerken. »Zahlen, Charlie, zahlen!« drängte sie.

 

Es war kurz vor neun Uhr, als Hoff vor Lillys Tür stand. Die Zeit war etwas hinterlistig gewählt, weil sie ihn nicht gut auf die gesperrte Straße schicken konnte, zürnte sie ihm wegen seines Verhaltens von gestern nacht. Er schätzte außerdem die Dauerhaftigkeit ihres Zornes nicht sehr hoch ein: er verstand sie ja zu nehmen.

Lilly Schmid besaß eine hübsche Zweizimmerwohnung, die ihr ein früherer Freund, Angehöriger eines Staates mit hochwertiger Valuta, eingerichtet hatte. Sie war, wenn es ihr der Beruf erlaubte, sehr häuslich, wie viele Frauen ihrer Art, für die die eigene Wohnung die einzige Konzession der ersehnten Bürgerlichkeit bedeutet. Hoff konnte damit rechnen, daß sie das Geschenk eines freien Abends nicht außer Haus vergeudete, auch wenn keine Straßensperre einen Zwang ausgeübt hätte. Er läutete und hörte drinnen sofort die Tür gehen. Er hörte das Klappern von Pantöffelchen mit hohen Hacken. Er freute sich. Sie fragte, wer da sei, und sah durch das Guckloch. Er schlug leicht die beiden Flaschen Wein zusammen, die er mitgebracht hatte und antwortete wie eine Parole: »Umberto und Ly.« Er hörte ihr freudiges Auflachen und dann die Geräusche von allerlei Sperrketten, Sicherheitsschlössern und Riegeln.

Sie öffnete, lachte noch und lobte noch den guten Einfall beim Öffnen, sah ihn an und war ernst, sogar erschrocken: »Was hast du denn?«

Hoff war betroffen; denn er vergaß sein neues Gesicht ohne Schnurrbart und dachte an die Tat, die sie von ihm abzulesen schien. »Ich?« fragte er kehlig. Sie schloß zunächst die Haustür und verriegelte sie mit Sorgfalt. Dann wandte sie sich ihm zu.

Er stand noch immer mit den Flaschen im Arm. Sie mußte lächeln, weil er verlegen aussah, nahm seinen Kopf zwischen die Hände und bog ihn ins Licht. »Es steht dir nicht einmal schlecht«, entschied sie.

»Das freut mich«, sagte er erleichtert. Sie küßte ihn leicht auf die bartlose Lippe. Sie schien ihm gegenüber sehr viel sicherer als gestern, vielleicht weil es ihre Wohnung war und er zu ihr kam – vielleicht, dachte Hoff, weil ich ihr etwas von dem Zauber der kleinen Göttin in der Weinstube mitgebracht habe.

Er fühlte sich noch etwas unfrei, im Gegensatz zu ihr. Die Schuld mochte doch das Mißverständnis tragen, der fatale Irrtum über den Grund ihres Erschreckens bei seinem Eintritt; oder es war die rote Stehlampe in ihrem Wohnzimmer und das rote Licht, das aus dem Schlafzimmer kam. Hoff konnte rotes Licht nicht leiden, sie wiederum liebte es augenscheinlich; und er dachte etwas, das ihr gerade in diesem Augenblick nicht in den Sinn kam, trotz ihres Hanges zur Selbstkritik. Er dachte: sie bleibt doch ein Kokottchen. Sie aber machte die Hausfrau und sah überdies in ihrem roten Kimono sehr hübsch aus. – Auch das kommt von der kleinen Göttin, sagte sich Hoff und setzte sich auf den Diwan mit den zahllosen Kissen.

Sie kam aus der Küche zurück, stellte die beiden Weingläser ab und musterte ihn wieder. »Warum hast du das eigentlich gemacht?« fragte sie.

»Was?« gab er nervös zurück.

»Warum hast du dir den Bart abnehmen lassen?«

Hoff lächelte etwas boshaft. »Damit du mich von Hoffnung unterscheiden kannst, Lieschen.«

Sie hob die Schultern. Sie sah in der losen Seide voller und jünger aus als in den Tanzkleidern und in der heftigen Aufmachung der beruflichen Abende. Ihr Körper, den er nur durch die Berührung im Tanzen kannte, schien viel schöner zu sein und auch reizvoller, als er angenommen hatte. Er gab sich um sie als Frau rechte Mühe; denn er war doch zu diesem Zweck gekommen.

»Ach ja«, sagte sie und wollte seine Bosheit nicht gelten lassen, »du warst ja angeblich gestern noch bei ihm.«

»Ich war in der Tat bei ihm.«

»Das war doch eine so wichtige Unterredung ...«

»Eine sehr wichtige, Lieschen.«

»Worüber habt ihr denn so Wichtiges gesprochen – na?«

»Über das Gewissen, Lieschen.«

Sie sah ihn nachdenklich an. – »Was ist er denn?« fragte sie nach einer Weile.

»Er ist Arzt«, sagte er.

»Wie heißt er denn mit richtigem Namen?«

Hoff lächelte wieder. »Das habe ich zu fragen vergessen, Lieschen.« – Sie schüttelte den Kopf: das glaube sie natürlich nicht. – »Dann heißt er also Hoffnung«, meinte Hoff, »für einen Arzt ein sehr hübscher Name.«

»Bist du denn krank, Hoff – ich meine wirklich krank, nicht nur ein bißchen vergrippt.«

»Ja was soll man da sagen«, überlegte Hoff, »da ist das Herz, da sind Lunge, Nieren, Magen, da ist der Kopf – am wenigsten gesund scheint mir der Kopf, Lieschen.«

Das war kein Anfang für ein Liebesgespräch. Hoff war mit sich wenig zufrieden. Er fühlte sich schwunglos und verkümmert. Ihm war auch, als schiebe sich der Raum, der seinem Leben noch zur Verfügung stand, immer mehr zusammen. Der kranke Kopf mochte keine Andeutung mehr sein, sondern schon eine Drohung. Er saß auf dem Sofa sehr niedrig, er sackte jetzt noch mehr zusammen, und alles um ihn herum war sehr groß, sogar die Frau. Ly ließ die Arme hängen und schaute auf ihn herunter. Sie hatte das richtige Gefühl, daß der Mann, der zur Frau kommt, nicht über Lunge, Niere und kranken Kopf brüten dürfe und daß sie, die bereite Frau, falsch oder sogar ungebührlich behandelt werde. Sie glaubte auch nicht an seine Krankheit. Sie glaubte viel eher an seine Mißachtung und dachte an den letzten Abend und an sein Spiel mit ihr. Das war doch Spiel, sie anzuziehen und abzustoßen, zu reizen, zu verwirren, zu enttäuschen. Es war auch unheimlich und unverständlich, und seine Unterhaltung mit Hoffnung über das Gewissen gefiel ihr nicht. Aber hier war ihre Wohnung, jetzt war sie kein Tanzmädchen und hatte etwas zu sagen. Sie sagte: »Warum kommst du eigentlich zu mir, wenn du doch nicht gut zu mir sein kannst?«

»Ich kann ja«, antwortete er angestrengt und winkte sie zu sich heran. Sie aber ging wieder in ihre kleine Küche.

Hoff hatte sie im gleichen Augenblick vergessen. Er war mit einemmal Gedanken einer ganz bestimmten Richtung ausgesetzt. Die Tat war rund um ihn herum, über ihm und unter ihm; sie konnte von allen Seiten auf ihn einschlagen und nützte ihre Überlegenheit mit überraschender Tücke aus. Er war wehrlos. Er wollte doch an die Frau denken, aber er hatte zu denken, was die Tat wollte. Sie traf ihn jetzt wieder aus der Richtung David Hertz.

Warum bist du nicht zu ihm gegangen, Hoff? Soll ich dir sagen, warum? Weil du wie jeder Verbrecher von einiger Intelligenz nicht gerade zu exponierten Stellen läufst. Jawohl, das hat nichts mit der Reife des Gewissens und Bruderschaft und großem Dialog der Seelen zu tun. Mein Lieber, du lügst, du lügst – du hebst Pappgewichte, und selbst dein Ringkampf mit der Tat scheint eine arge Schiebung!

Hoff sank nach vorne über auf das Sofa. – Mein Gott, das ist nicht wahr, ich weiß, daß es nicht wahr ist! Ich weiß, daß ich mich nicht drücke! – Bitte, mein Lieber: die Polizei kann, wie du weißt, auch ohne die sinnlose Anzeige Paulas auf David Hertz kommen. Es kann auf die einfachste Weise vor sich gehen. Sie wird Photos von dem unter Aufsicht Stehenden haben. Es wird ein fatales Album sein, das der Sekretär zum Durchblättern bekommt. Keiner von allen Ähnlichen ist leichter zu haben als David. Bitte, Hoff, nimm den leichten Fall seiner Inhaftierung an. Du brauchst jetzt durchaus nicht hitzig zu folgern: daß er sagt, ich bin es nicht, aber ich weiß, wer es ist. Wie du ihn kennst, wird er das nicht tun. Er wird einfach sein Alibi nachweisen; es wird ihm etwas schwer fallen, weil er zur Zeit der Tat sein Haus verlassen hat, wie Paula behauptet. Es wird ihm aber doch der Nachweis gelingen, daß er sich auf einem harmlosen Spaziergang befand, wie an jedem Morgen. Gut, man wird es trotzdem nicht ohne weiteres glauben und seinen täglichen Gewohnheiten nachforschen, falls man sie nicht schon kennt. Man kommt also unweigerlich auf die Imperial-Bar, und dort wird jeder Kellner aussagen, daß das Pseudonym Hoffnung von Hoff abgeleitet ist. Welche Deduktion für Tertianer, mein Lieber! Und wie du deine neue Bruderschaft und die Bartrasur zu bereuen haben wirst oder vielleicht in einer Ecke deiner winkligen Gedanken schon bereust! Und welche Schläue, nicht zu ihm hinzugehen, Hoff! Welche Schläue, nicht nach Haus zu gehen – man kann ja nicht wissen, Hoff ... Und morgen gehen ja doch wohl noch Züge nach Basel, nicht wahr?

Er lag auf dem Sofa und hatte das Gesicht in den Kissen. – Sie rochen nach den Parfüms der Frau und auch nach ihren Haaren, deren leichten Duft er kannte; denn wenn sie tanzten, waren ihre grellen Locken seinem Gesicht so nahe, daß sie es manchmal kitzelten. So dachte er wieder an sie. Er wollte sich aufrichten, damit sie ihn nicht so sähe; aber das Liegen auf dem Gesicht war wohltuend: er sah nichts, er fühlte und roch nur.

Er hörte sie wieder hereinkommen und bettelte in die Kissen hinein: »Komm doch her!« Sie kam auch und beugte sich über ihn. Er fühlte ihre Brust an seiner Schulter. Sie sagte ihren alten Spruch: »Bei dir kenne sich einer aus.« Sie legte ihr Gesicht auf seinen Nacken. Das tat gut. Das sanfte kühle fremde Fleisch auf dem Genick nahm durch sein schmiegsames Gewicht die Last vom armen Kopf fort. Warum hatte er zu alledem noch die neue Angst vor der Krankheit des Geistes? Er dachte doch überscharf.

»Bleib so – bitte«, flüsterte er, weil sie sich rührte. Sie bewegte leise ihre Lippen, fühlte er. Das war ein Ja oder ein Kuß.

Sie ist die beste, dachte Hoff, noch besser als der Zwerg, noch besser als David: das verpflichtet, verstehst du mich? Was es für gute Menschen gibt! Warum habe ich denn Angst, daß der Kopf den Kampf nicht aushält? Man wird doch wohl zumeist aus Einsamkeit wahnsinnig. Ich bin ja noch nicht einsam. Und warum sind die Gedanken manchmal so grob zu mir und so niederträchtig? Ich weiß doch, daß ich nicht wegfahren werde. Ich würde schon aus Widerspruch jetzt noch zu David gehen, wenn ich hinkäme: aber die erste Patrouille fängt mich ja ab. Ich bin wahrhaftig nicht so, wie ich beschimpft werde. Ich werde es schon noch beweisen. Oh, ich kenne meine Verpflichtungen ...

Lilly sagte plötzlich: »Ich habe dich viel zu lieb – dabei fällt man immer herein, das kenne ich.« Hoff drehte den Kopf. Ihr Gesicht glitt über seine Wange ab und lag jetzt neben ihm auf dem Kissen. Sie sahen sich an.

Sie hat sich heute nicht zu ondulieren brauchen, dachte er; die schlichten Haare stehen ihr viel besser; und das Gesicht ist hübsch, trotzdem es katzenköpfig ist, mit den breiten Backen und dem winzigen Kinn; vielleicht ist es so hübsch, weil ich sie immer auf ihre Hübschheit anschaue: es hängt ja so viel von dem Blick ab, den man auf die Gesichter tut – weiß Gott, wie sich das Ministergesicht unter meinem Blick verhäßlichte, wenn er lebte.

Sie dachte: er liebt mich vielleicht doch; aber er hat schrecklichen Kummer, er sieht glattrasiert nicht einmal jünger aus, er sieht so aus der Nähe sehr mitgenommen aus, ganz zerknittert und zerrieben: ach Gott, ich bin viel zu dumm für ihn.

Er fragte sie, was sie mit dem Hereinfallen meine. Sie war verlegen, weil sie die Bemerkung innerlich ja schon zurückgenommen hatte. Sie küßte ihn und antwortete nicht.

»Du meinst vielleicht damit den Kummer, der dir von dem Mann allein zurückbleibt?« fragte er mit sanfter Hartnäckigkeit.

»Ich meine: einmal und dann Schluß«, sagte sie es auf ihre Art.

Er strich ihr über Stirn und Haar. »Wenn ich nun selber Angst habe, daß du mit mir hereinfällst, Lilly?«

Sie hielt seine Hand fest, preßte sie gegen ihre Wange und sagte sehr schön: »Wenn du Angst hast, ist ja alles gut.«

Er dachte über ihre Antwort nach und bewunderte sie. Was für ein tiefer Sinn sprach aus der Frau und welches Vermögen an Freundschaft! Aufwand verlangt Aufwand, Bereitschaft verlangt Bereitschaft. Sie hat eine kleine, aber stämmige Stirn und feste Gelenke: sie hält etwas aus. Gab es eine größere Forderung an ihn?

Er richtet sie und sich auf. Sie lehnte sich an ihn und sagte, daß man überhaupt nicht so viel nachdenken sollte: es käme ja doch, wie es kommen müsse. Er lächelte und sah das nette Tischchen, das sie gerichtet hatte, mit sehr neuen Deckchen, Servietten und Bestecken, mit belegten Broten auf hübsch mit Grün garnierter Platte, mit Gebäck und schon entkorkten Flaschen. Er lobte ihre hausfraulichen Fähigkeiten. Sie hörte es gerne und bat ihn, zuzugreifen. Er gehorchte, um sie nicht zu kränken; aber er konnte nichts essen und hatte auch jetzt kein Verlangen nach dem Wein. Es war die gleiche Fritzenhölle, die er im Lokal getrunken hatte. – Was für ein dämonischer Name für einen Wein, dachte er und trank einen Schluck; denn er hatte mit ihr angestoßen. Sie schien Durst zu haben oder wollte lustig werden; sie trank ihr Glas auf einen Zug. – Es wird ja nicht lustig, lächelte er für sich und zerbröckelte das Gebäck auf dem Teller. Sie brauchte nicht zu bemerken, daß er nichts aß. Sie lehnte sich neben ihm in die Kissen zurück, rauchte und schlug die Beine übereinander.

Sie hatte ungewöhnlich schöne Beine, langgestreckt, schlank und doch von ausdrücklicher Form, auch ganz ohne die peinlich sichtbaren Muskeln der Athletin. Hoff kannte sie gut. Es waren sehr selbstbewußte Beine, die gewohnt waren, betrachtet zu werden. Sie zeigte sie gerne, und jetzt zeigte sie auch, da das Kimono auf der Brust auseinanderklaffte, ihre sehr elegante Seidenwäsche, die sie ohne Zoll über Köln aus Brüssel bezog. Auch das wußte Hoff und lächelte wieder. – Es wird ja nicht lustig, wiederholte er sich. Aber sie konnte es nicht wissen.

Er begann. Er saß nach vorne gebeugt, den Arm auf das Knie gestützt, das Kinn in der Hand. Er sah von ihr neben sich nur ihre Beine, die jetzt noch leise wippten. Ihre Füße staken in pelzverbrämten Pantöffelchen von der Farbe ihres Kimonos. Er sprach leichthin und leise: Die abendliche Tanzfron ist häßlich. Die Freiheit heute tut wohl. Lilly zumal weiß sie zu nutzen. Sie hat ihre hübsche Wohnung und sie hat vor allem den Sinn für das Haus. Wenn sie Glück hat, dauert die Lokalsperre noch ein paar Tage. Sie ist also eigentlich, ohne es viel zu bedenken, kleine Nutznießerin eines öffentlichen Unglücks, wenn man den politischen Mord so bezeichnen will. – Hoff dachte an die Liebende von der Weinstube, die es derber, viel derber gesagt hat. Er war versucht, ihren schlimmen Satz zu wiederholen, um die Wirkung auf Lilly zu beobachten; aber er ließ es doch sein. Bis hierher war alles glatt und schnell gegangen. Lilly wippte mit dem Bein und gab kleine zufriedene Antworten.

Jetzt fragte er: »Was sagst du eigentlich zu dieser Geschichte?« Sie fand sie scheußlich, eine Gemeinheit, ein Verbrechen, aber sie sagte es nicht gerade tief mitgenommen. Vielleicht ärgerte sie die Ablenkung. Er provozierte: »Gott – ein politischer Mord ...«

Sie antwortete sofort und schon schärfer: »Mord ist Mord. Ich verstehe die Leute nicht, die da von einer Heldentat reden.«

»Ich auch nicht«, sagte Hoff nach einer kleinen Pause.

»Außerdem«, fuhr sie fort, »habe ich den Präsidenten sehr gern gehabt, weil er ein so gutes Gesicht hatte.« Sie stockte über dieses gute Gesicht und wurde fast gehässig: »Und dann bin ich doch eigentlich auch Proletin, trotzdem ich mich parfümiere und seidene Strümpfe trage. Und dir gefällt vielleicht meine Meinung nicht, denn du warst ja ein feiner Herr!« Sie wippte immer noch mit dem Bein; aber jetzt war es wohl eine Art Trotz. Hoff war still. Sie wiederholte: »Mord ist Mord.«

Er nickte und sagte leise: »Ja, ja, das Gesicht.«

Ihr Bein stand still. »Welches Gesicht?« fragte sie.

»Sein Gesicht«, antwortete er und stand auf.

»Wo gehst du denn hin?«

»Gleich, gleich.« – Er ging hinaus.

Er holte die Zeitungen aus dem Mantel, alle Zeitungen, bis auf das lieblose Abendblatt, das er in der Weinstube zurückgelassen hatte. Als er sich wieder zum Wohnzimmer wandte, sah er sie auf dem Sofa knien und ihm nachschauen. Er kam zu ihr zurück. Sie hatte ein erregtes Gesicht und sagte, sie habe einen Augenblick allen Ernstes gefürchtet, er wolle weggehen. – Warum denn? – Weil er ihr vielleicht wegen ihrer Meinung böse sei.

»Aber ich bin ja der gleichen Meinung, Ly.«

»So«, sagte sie zweifelnd und ließ sich zurückfallen; »und was willst du denn jetzt mit den Zeitungen?« Sie streckte sich aus, ein wenig gelangweilt. Er setzte sich wieder auf die Sofakante und sah jetzt nichts von ihr, die hinter ihm lag. Sie zog die Knie an und lehnte sie an seinen Rücken, nahe an ihn heranrückend. Es war vielleicht ihr letzter Versuch mit ihm.

»Ich habe sein Gesicht mitgebracht«, sprach er und entfaltete die Großaufnahme.

»Warum?« fragte sie.

»Weil es ein gutes Gesicht ist, wie du selber sagtest.«

Sie bewegte die Knie in seinem Rücken. »Ich will lieber dein Gesicht sehen«, bat sie leise.

Er bückte sich noch weiter von ihr weg, sie rückte nach. »Sein Gesicht geht vor«, sagte er bedrückt und schaute es an.

»Kanntest du ihn denn?«

Er schwieg.

»Du lieber Gott«, meinte sie unwillig, »und wenn ich das Gesicht unsympathisch und die ganze Geschichte uninteressant gefunden hätte?«

Er bewegte den Kopf. »Dann würde ich dich vom Gegenteil überzeugen, Kind.«

»Ach«, machte sie.

Hoff schaute das Bild an und konnte sich schon sagen, daß es ein vertrautes Bild war. Es war ihm viel näher als noch vor einer Stunde und quälte ihn auch nicht mehr. Er ging wohl den richtigen Weg. Das Gesicht in seiner Gutmütigkeit wird schon auf ihn warten. Es war ganz still im Zimmer. Es war eine Stille, die ihm Raum gab und ihm nicht Raum nahm. Auch die Frau rührte sich nicht; aber sie drückte noch immer auf sein Kreuz.

»Ich will dir jetzt sein Gesicht erzählen«, begann er.

»Was hast du nur mit ihm?« fragte sie still, von der schweren Stunde schon angerührt.

»Es gibt«, sagte er mit einer Zärtlichkeit, die sie verstörte, »es gibt auf der ganzen Welt keinen Menschen, dem ich es lieber erzählte.«

Ich habe bald Angst, dachte sie; doch sie sagte keinen Einwand mehr.

»Sieh mal: seine Stirn ist jung, seine Augen sind jung, das übrige Gesicht ist alt, die Nase ist unschön, der Mund ... es scheint gut, daß er den Bart trägt – auch der Mund ist häßlich ... ich weiß nicht, ich weiß nicht, – ich soll es vielleicht nicht so ansehen: es wird nicht schöner dadurch ...«

Hoff hörte schon auf. Vielleicht deckte der verfluchte rote Lampenschirm, der noch dazu schräg hinter ihm am Kopfende des Diwans stand, die Sicht zu. Vielleicht bekam er wieder seinen Anfall von Feigheit. Er ließ mutlos den Arm mit dem Blatt sinken. Lilly zog mit einemmal die Knie von ihm fort. Er war ganz allein.

Er hatte eine tiefe Schwäche zu bestehen und gab etwas nach. »Warum nimmst du sie von mir fort«, jammerte er leise. Sie war gehorsam, aus Güte, aus Liebe, aus Angst, und schob sich wieder zu ihm hin. Er lehnte sich ein wenig fester gegen sie, sann eine Weile nach und sagte dann: »Sein Gesicht zum Schluß.«

Lilly drückte vor Herzklopfen die Augen zusammen. – Er hat einen kranken Kopf, dachte sie, und das ist nicht einmal alles. Sie nahm ihren Mut zusammen und fragte kehlig: »Sag mal, Hoff, warum hast du eigentlich gestern nacht mit dem – dem Doktor Hoffnung über das – über das Gewissen ... Sag mal, Hoff, hat er etwas angestellt – oder hast du ...«

Hoff hörte nicht auf sie. Er blätterte in den Zeitungen, suchte ein Blatt aus und reichte es ihr über die Schulter, ohne sich umzusehen. Er bat sie, ihm den Aufsatz »Lebensgang des großen Volksmannes« vorzulesen; sie sei näher am Licht.

»Muß denn das sein?« fragte sie gequält.

»Hilf mir doch«, bat er.

Sie setzte befangen an und las mit ihrem dünnen hohen Stimmchen wie ein von der Aufgabe geängstigtes Schulmädchen, sich oft versprechend. Der Inhalt war übrigens nichts Besonderes: 1860 geboren, Sohn von Kleinbürgern, Autodidakt, Volksschullehrer, Entlassung, Anarchist, Gefängnis, Parteifunktionär, Gefängnis, Parteiredakteur, Gefängnis, Schweiz, Barcelona, Paris, Generalstreik 1906, Gefängnis, Parteiführer, Abgeordneter, Krieg, Antikriegspropaganda, Gefängnis, Revolution, Befreiung, Regierungschef – Mord.

Hoff hörte stumm zu, ein anderes Bild des Ministers auf den Knien, eine Momentaufnahme des Lachenden, der seine kräftigen Zähne zeigte. Als Lilly geendet hatte, schwieg er eine ziemlich lange Zeit. Sie hüstelte wie nach dem Tanzen und sagte, daß sie müde sei und ins Bett gehen möchte. Er schüttelte den Kopf und antwortete kurz: »Noch nicht.« Sie rührte sich nicht. Er bat sie, den Tatbericht auf der ersten Seite vorzulesen. Sie begann nicht. Er bat sie: »Lies doch!« Sie weigerte sich mit flatternder Stimme. Er schrie: »Lies!« Sie weinte. Dann begann sie mit halber Stimme, die allmählich erlosch. Sie flüsterte tonlos.

Hoff hatte den Kopf zwischen den Händen. Es sah aus, als hielt er sich die Ohren zu. Sie flüsterte immer schneller, sie übersprang auch Zeilen. Sie war fertig.

Er sagte: »Falsch, ganz falsch.«

Es waren die gleichen Worte und der gleiche Tonfall wie gestern nacht im Auto nach ihrer Geschichte von dem Selbstmörder. Sie sah, wie der Rücken neben ihr ganz rund wurde und wie er in der furchtbaren Anstrengung die Schultern hob und den Kopf einzog.

Sie nahm vor Angst ein Kissen und biß hinein.

Doch er sprach jetzt recht ruhig: »Sieh dir nur das Gesicht an. Es ist eigentlich ein erstauntes Gesicht, und es ist so gut, weil es so ahnungslos ist. Man soll es nicht glauben: aber er lachte noch einen Meter vor dem Tod. Er lachte so wie hier, mit großen gelben und etwas vorstehenden Zähnen. Man soll es nicht glauben, wie er geschrien hat, durch die beiden Schüsse hindurch, und wie er stand, stand, stand und sich nach hinten abbog und das Kinnbärtchen in die Höhe stieß und dabei immer noch ein erstauntes Gesicht hatte, wie mir schien – wie mir schien ...«

Sein Kopf ging nach links, rechts, vorne und hinten, als hätte er den Halt verloren. Seine Hände flogen in die Luft und suchten dann rückwärts nach ihr. Er fand sie auch. Sie hatte sich weit von ihm weg an die Wand gedrückt. »Bleib doch noch eine Minute«, bettelte er, trotzdem sie sich nicht rührte.

Er drehte sich nach ihr um. Sie fuhr sofort in die Höhe. Ihr Gesicht war blank vor Schweiß, rotgefleckt und verschwollen.

Jetzt habe ich auch sie noch häßlich gemacht, dachte er.

Sie sagte mühsam: »Du schläfst wohl hier«, glitt an ihm vorbei und stand auf. Sie war jetzt wieder sehr viel größer als er. Er sah zu ihr hinauf. Sie blieb stehen und ließ die Arme hängen. Er sah, daß ihr das Kinn zitterte. »Laß mich jetzt gehen – bitte!« flehte sie mit schwerer Zunge, »ich kann ja nicht mehr!«

»Ja, ja«, sagte er, »ich gehe auch morgen ganz früh. Ich nehme die Hausschlüssel. Ich schicke sie dir wieder – durch Paula«, fügte er hinzu.

Sie gab ihm mit einer wunderschönen Bewegung der Schulter die Hand. Dann ging sie in das Schlafzimmer und schloß die Tür. Dann war es ganz still im Raum. Sie mußte hinter der Tür stehengeblieben sein.

Ob sie zurückkommt? dachte Hoff fiebrig. Ich will ihr ja nur sagen, daß ich jetzt schlafen kann. Sie glaubt sicher, ich könne nicht schlafen ...

Dann drehte sie mit unendlicher Vorsicht den Schlüssel um. Aber er hörte es doch.


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