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Der Held

Ach, mein Bruder, sahst du
noch nie eine Tugend sich selber
verleumden und erstechen?

Zarathustra-Nietzsche

 

Der Polizeirat war kühl und von Anfang an skeptisch. Seine Redeweise war matt, kurz und scheinbar gleichgültig. Zur Frage hob er nicht die Stimme, sondern die rechte Augenbraue.

Der Polizeirat glaubte ihm nicht, von Anfang an.

Hoff besaß nicht mehr die Fähigkeit, sich anzupassen oder sich auf den Menschen einzustellen oder wenigstens den Menschen zu beobachten. Er kam mit seiner Last und wollte sie abwerfen. Er vergaß das Sinnfällige: daß nämlich seine Last den Fluch der Unsichtbarkeit trug.

Hoff stand unsagbar fremd und verbindungslos vor dem Amtsschreibtisch und gab sich keine Mühe, die geringste der Beziehungen zwischen dem Fragegewaltigen und dem machtlos Antwortenden herzustellen: die Angst wenigstens. Seine Energie, die beinahe anmaßend auftrat, war für den Beamten rätselhaft, ohne daß der Inquisitor, durch zwanzig Jahre Inquisition abgeschliffen, sich die Mühe nahm, das Urteil, das er sich nach den ersten drei Minuten über den Verhörten bildete: das Vorurteil also zu revidieren.

Hoff vergaß, daß er einen befremdlichen Anblick bot.

Der Polizeirat fragte, hob die Braue, hörte zu, stenographierte mit und sah den Selbstbeschuldiger auf unangenehme Art durch die halb herabgelassenen Wimpern an. Der Untersuchende schien sehr viel matter zu sein als der Verhörte. Aber das konnte auch kriminalistische Technik sein.

Hoff bemerkte weder diese Mattigkeit noch die Ungläubigkeit, die der Beamte kaum verschleierte. Für Hoff war das Geständnis, das er ablegte, so sehr das Ziel seines wahrhaftigen Passionals, daß sein Geist, der nur noch in dieser einen Richtung lebte, keinen Zweifel an der gewaltigen Wahrheit fassen konnte. Es gab in seiner Welt keine stärkere Wirklichkeit als seine Tat.

Hoff gestand die Tat. Die Tat, in menschlicher Rede, war eine schmale Wahrheit. Sie umfaßte ein paar Sätze. Hoff wiederholte sie immer wieder und wunderte sich über die Fragen, die immer wieder von der Tat fort auf seine Person und die Vorgeschichte der Tat sprangen. Es gab doch nichts Wichtigeres als das, was er sagte! Warum tat der gelangweilte Mensch vor ihm, den der Zufall zum Abhörer eines ungeheueren Erlebnisses gemacht hat, als sei es mit seiner Darstellung noch nicht genug!

Hoff mißachtete nicht nur die Schwierigkeiten, die rund um seine Tatwahrheit auftauchten, sondern steigerte sie noch durch sein Verhalten. Er beantwortete keine Frage, die über das zugestandene Faktum hinausging, oder er antwortete immer wieder mit den Sätzen seiner Beichte.

»Warum wollen Sie denn die Tat begangen haben?« fragte der Beamte mit verdrossener Hartnäckigkeit.

Hoff ärgerte sich über die mißtrauische Form der Frage und sagte: »Ich habe es getan.«

»Also, warum haben Sie es getan?« gab der Polizeirat nach.

»Die politischen Motive nannte ich bereits«, wies ihn Hoff unfreundlich zurück.

»Handelten Sie im Auftrag einer politischen Gruppe?«

»Ich allein habe es getan.«

»Sind Sie Mitglied der Nationalliga?«

»Ich allein habe es getan.«

»Gehören Sie überhaupt einer politischen Partei an?«

»Ich allein habe es getan.«

Der Polizeirat zeichnete mit der Füllfeder kindliche Muster auf das Löschblatt und wiederholte eintönig die alten Fragen: Wo ist die Waffe? – Wer hat sie gestellt? – Wer hat den Kraftwagen gestellt? – Wo steht der Kraftwagen?

Hoff ließ ihn fragen und antwortete nicht. Schließlich sagte er: »Es ist doch viel wichtiger, Sie wissen, wer es getan hat.«

Der Polizeirat überlas sein Stenogramm. »Sehr dürftige Aussage«, meinte er müde.

»Dürftig?« schrie Hoff empört.

Der Polizeirat sah ihn mit seinem verhangenen Blick an. »Im Krieg vielleicht Kopfschuß gehabt?« fragte er durch die Zähne.

»Ich bin überhaupt nicht verwundet worden«, wehrte sich Hoff.

»Aber verschüttet?«

»Nein! Nein! Nein!«

»Seien Sie nicht so laut«, verwies ihn der Beamte. Das Haustelefon surrte. Der Polizeirat nahm eine Meldung entgegen. »Also«, sagte er zu Hoff, »Ihre Wohnungsangabe ist richtig. Sie sind ordnungsgemäß angemeldet. Ihre übrigen Angaben werden nachgeprüft werden. Sie können gehen.«

»Wohin?« fragte Hoff und riß die Augen auf.

»Nach Hause,« sagte der Beamte und beobachtete ihn.

»Nein! Nein! Nein!«

»Schreien Sie nicht so. Warum wollen Sie nicht nach Hause gehen?«

Hoff schüttelte langsam und mit schwerem Nachdruck den Kopf.

»Aha«, sagte der Polizeirat und hob die rechte Augenbraue, »weil Sie sich zu Hause persönlich bedroht fühlen – nicht wahr?«

»Ich habe es getan«, sagte Hoff mit ungelenker Zunge.

»Wer bedroht Sie denn?«

»Ich gehe nicht«, flüsterte Hoff.

»Wenn Sie mir nicht sagen, von welcher Seite Sie sich bedroht fühlen, kann ich Sie nicht einmal in Schutzhaft nehmen.«

Hoff stöhnte.

»Bedroht man Sie vielleicht, weil man weiß, daß Sie hierher gekommen sind?«

»Ich werde nicht bedroht!« schrie Hoff und klammerte sich an den Schreibtisch.

»Lassen Sie den Schreibtisch los und schreien Sie nicht«, befahl der Polizeirat.

Hoff ließ den Schreibtisch los. Er war heiser. »Sie haben nicht das Recht, sich zwischen mich und meine Schuld zu stellen!«

Dem Polizeirat wurde es zuviel. Er kam auch mit dem offenbaren Psychopathen nicht weiter. Er ließ ihn abführen. Er hätte ihn auf die Straße gesetzt, wüßte er nicht aus Erfahrung, daß solche Leute im Affekt zum Selbstmord neigten. Das gäbe nur dumme Komplikationen.

Der Polizeirat war kein fahrlässiger Beamter. Er dachte über den Fall nach und war schließlich ganz zufrieden, daß er den Mann nicht auf die Straße gesetzt hatte. Das Geständnis dieses Rittmeisters a. D. machte einen unwahrscheinlichen Eindruck; aber es mußte doch nachgeprüft werden. Das Mittel war einfach genug: Konfrontation mit Herrn Beutelmann. Der Polizeirat dachte an die Konfrontation natürlich schon während des Verhörs. Doch er ließ davon nichts verlauten, aus kriminalistischem Prinzip. Er hätte die Gegenüberstellung der beiden nicht gerade heute abend schon vorgenommen, sondern erst im Laufe der nächsten Tage und möglichst unauffällig, am liebsten eben in der Wohnung des Hoff. Der Polizeirat scheute blinden Pressealarm. – Doch gut, der Hoff will nicht fort: dann erledigt man es hier und sofort.

Der Polizeirat ließ sich mit Herrn Beutelmann verbinden, den er heute schon einmal hatte bemühen müssen. Dann ging er essen. Als er zurückkam, war Herr Beutelmann bereits zur Stelle, zuverlässig wie immer. Außerdem erschien der ehemalige Artist François Schopp, der Polizei von früheren Diensten her bekannt, seit heute vormittag wieder beschäftigt, und zwar ebenfalls in der Attentatssache. Er kam an diesem Tag das zweitemal ins Polizeipräsidium und machte eine Meldung, die um vieles interessanter war als der kaum belangreiche Fall Hoff, von der größeren Wahrscheinlichkeit der Schoppschen Kombination ganz abgesehen.

 

Hoff wurde nicht in eine Arrestzelle gebracht, sondern in ein kleines Zimmer, in welchem ein Ruhebett, ein Tisch und ein paar Stühle standen. Es sah sehr harmlos aus und mochte abgelösten Beamten des Nachtdienstes für ein paar Stunden Schlaf zur Verfügung stehen. Es war aber nicht vollkommen harmlos, sondern diente auch als Beobachtungsraum. Hoff wurde nicht eingesperrt. Der Beamte, der ihn hierher geführt hatte, blieb nicht bei ihm, sondern ging stumm hinaus.

Hoff wurde also nicht wie ein Sträfling, sondern etwa wie ein unerwarteter und lästiger Besuch behandelt. Doch er bemerkte die zweideutige Gunst des Ortes so wenig, wie vorhin das Wesen des Untersuchungsbeamten. Er sah sich nicht im Zimmer um, er wartete nicht auf das Einschnappen des Türriegels, er horchte nicht auf die Schritte des abtretenden Polizisten, ob sie sich entfernten oder ob der Beamte vielleicht vor der Tür Posten stand; er drückte nicht auf die Klinke, um festzustellen, ob die Tür verschlossen oder unverschlossen war.

Er stand mitten im Zimmer, etwas breitbeinig, mit hängenden Armen, und starrte zur Decke.

Der Beamte, der nach der Weisung des Polizeirates in das Nebenzimmer gegangen war und den Verhörten durch eine Spiegelvorrichtung im Oberlicht der Verbindungstür zu beobachten hatte, stellte ein Gebaren fest, das keineswegs normal genannt werden konnte. Er notierte auf seinen Meldungsblock als ersten Satz: »Mann steht wie Idiot, hat Mund offen, wackelt mit Kopf, starrt zur Zimmerdecke.«

Hoff quälte sich mit dem unbegreiflichen Widerstand der Schuld gegen ihn. Großer Gott, er tat, was er konnte, und er kam nicht vorwärts! Sein Denken engte sich immer stärker ein, er übersah nicht mehr die Zusammenhänge, er vermochte nicht mehr das gute Recht der Behörde auf Klärung der Zusammenhänge zu begreifen. Der Sinn seiner Existenz war so schmal geworden wie sein Geständnis. Er forderte gerade für dieses zugespitzte Dasein die Anerkennung. Sein Tun war für ihn von der äußersten Folgerichtigkeit. Er verstand nicht das Zögern der äußeren Welt. Er sagte: hier ist meine Schuld. Die Schuld hat zu sagen: hier ist der Schuldige. Himmel, es gibt nichts Einfacheres und Selbstverständlicheres als diese Anerkennung! Aber die Schuld sagt es nicht! Ich sage es, ich sage es: aber die Schuld quittiert nicht!

Der Beobachter notierte: »Mann steht immer noch, schneidet Grimassen, fuchtelt mit Händen. Keine Selbstgespräche.«

Hoff hatte Zweifel und Fragen im Dreitagekampf um die Schuld überwunden. Er hatte sie mit solcher Kraft entfernt, daß er sie jetzt schon vergessen hatte und zusammen mit ihnen auch seine eigene Zweifelhaftigkeit und Fragwürdigkeit, die durch den grausamen Wechselstrom des Schicksals um so heftiger der Außenwelt offenbar wurde. Sein Blickfeld wurde enger. Es war, als sähe er nur noch mit einem Auge. Er zielte auf den einen Punkt. Er kniff auch das eine Auge zusammen und sah nichts mehr als den Zielpunkt. Die Schuld! Die Schuld! Die Schuld! Er war schon in einer Einsamkeit, die so groß wurde, mit jeder Sekunde größer, daß er sie nicht mehr von anderem Zustand unterschied. Die Zeit raste in jeder Sekunde. Die Zeit kam furchtbar vorwärts mit ihm. Der einsame Mann begann die anderen Menschen zu vergessen.

Der Beobachter notierte: »Mann steht immer noch, schließt linkes Auge, kneift rechtes Auge zusammen, tut, als visiere er Schußziel an, hebt auch rechten Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger. Keine Selbstgespräche.«

Die Zimmerwände zeigten die Neigung, sich zusammenzuschieben. Dieses Gefühl von einer beängstigenden Konzentration des Raumes kannte er schon. Er erinnerte sich nur an das Gefühl, nicht an Zeit und Ort, an denen er es gehabt hatte. Die Bedrängung durch den Raum hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Verengung der Gedanken oder sie war sogar so etwas wie ihre graphische Darstellung. Auf jeden Fall war die räumliche Drohung eher zu ertragen als die des Gedankens.

Hoff stöhnte.

Dieses Dünnerwerden des Geistes war furchtbar. Wo führte es hin? Geist war für ihn das Vermögen der Erinnerung. Die Erinnerung führte zur Tat, also auch zur Schuld. Die Erinnerung führte also zum Ziel. Er wollte vom Geist nichts mehr als die Erinnerung. Aber der Geist ließ nach, er fühlte es. Es war weniger ein Dünnerwerden, als ein Brüchigwerden der Gedanken, Einsturzgefahr des Horizonts. Etwas saß schon locker. Es tat weh. Es tat nicht im Herzen weh oder in der Seele oder wie man den Sitz der Sentiments bezeichnen will, sondern im Kopf. Im Kopf! Im Kopf!

Der Beobachter notierte: »Mann steht immer noch. Er stöhnt. Er bewegt den Kopf hin und her, auch nach vorne und hinten, ähnlich der Kopfrollen genannten Turnübung.«

Der arme Kopf tat weh. Im Hinterkopf saß es locker: eine schwere Kugel; sie rollte grausam gegen die Schläfe, legte er den Kopf auf die Seite, und gegen die Stirn, ließ er ihn nach vorne hängen. Das Kopfweh steigerte sich hastig. Die Zeit sorgte ja für die Hast bei ihm. Wie konnte man mit solchem Kopf nachdenken? Heute oder gestern oder irgendwann war es der Hunger gewesen, der die natürlichste Erklärung für den Taumel des Körpers und des Geistes abgab. Jetzt waren es die Kopfschmerzen. Nicht nachdenken! Die Kugel rührte sich im Hinterkopf am wenigsten. Hinlegen! Hinlegen! – Und alles kommt, weil du müde bist. Du bist ja übermüdet ...

Der Beobachter notierte: »Mann hört mit Kopfrollen auf, legt sich auf Ruhebett, scheint sofort zu schlafen. Spricht nicht im Schlaf. Mund offen. Schnarcht etwas. Körperzucken.«

 

Der Polizeirat und Herr Beutelmann betraten zuerst das Nebenzimmer. Sie kamen auf Zehenspitzen. Der Beobachter nahm stramme Haltung an und flüsterte: »Proband eingeschlafen.« Der Polizeirat las den Rapport und gab ihn dem kleinen Sekretär. »Ganz klarer Fall«, sagte er dabei und hob die Augenbraue. Herr Beutelmann las. Der Polizeirat blickte zum Beobachtungsspiegel der Verbindungstür.

Der Unterbeamte hielt sich devot neben ihm und flüsterte: »Proband benahm sich wie ein kompletter Idiot, Herr Polizeirat, Proband hatte nicht geringste Ahnung, beobachtet zu werden. Bestimmt kein Simulant.« – »Wissen wir«, sagte der Polizeirat ziemlich ungnädig. Der Unterbeamte zog sich sofort zurück.

»Soll man überhaupt den armen Teufel wecken?« fragte Herr Beutelmann. »Er machte ja heute nachmittag schon der Witwe meines armen Chefs den Eindruck eines Fieberkranken.«

»Das ist schon mehr als Fieber«, meinte der Polizeirat; »aber meinetwegen kann er sich ausschlafen. Wenn er aufwacht, geht er vielleicht gerne nach Hause. Macht er weiter Schwierigkeiten, stecken wir ihn natürlich in die Psychiatrische Klinik.«

Er drehte sich gelangweilt um. Der Unterbeamte ging pflichteifrig wieder an seinen Posten.

Beutelmann fragte: »Wann hat eigentlich dieser gewesene Artist draußen seine erste Anzeige gegen Hertz erstattet?«

»Heute vormittag gegen elf Uhr«, antwortete der Polizeirat. »Aber es war keine Anzeige, sondern nur ein Hinweis, daß Ihr Signalement des Täters ungefähr auf Hertz paßte. Wir sandten Ihnen daraufhin Photos von Hertz und beauftragten Herrn Schopp, der schon früher in unseren Diensten stand, Hertz zu beobachten.«

»Aber«, zweifelte Beutelmann »wenn man so Böses hinter sich hatte wie Hertz, und möglicherweise ein so bepacktes Gewissen mit sich schleppte, ist man auf neue Taten schwerlich erpicht. Außerdem gab es nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine politische Tätigkeit Hertzens, soviel ich weiß.«

»Das weiß man nie«, sagte der Polizeirat, der von den Menschen keine gute Meinung haben konnte, »und da sich der Hertz so prompt um die Ecke brachte, mag schon an der Geschichte etwas dran sein, nicht wahr? – Ich warte übrigens auf den Obduktionsbefund der Charité.«

»Fand sich bei Hertz kein Abschiedsbrief oder etwas Ähnliches? Keine Motivierung seines Schrittes?«

»Nichts«, entgegnete der Polizeirat.

Der Unterbeamte meldete gedämpft: »Proband ist wach.«

Der Polizeirat legte den Finger auf den Mund und winkte Herrn Beutelmann zu, sich nun doch zu dem Psychopathen zu begeben. Wenn der lästige Zwischenfall erledigt werden konnte, dann sollte es möglichst ohne Zeitverlust geschehen. Im übrigen hatte man natürlich zu laut gesprochen. Diese Laien haben keine Ahnung von der Behandlung krimineller Fälle, ärgerte sich der Polizeirat über Herrn Beutelmann; zugleich überdachte er, was gesprochen worden war. Nun ja, der Mann nebenan konnte damit nicht viel anfangen.

Der Polizeirat ging nicht in das Zimmer mit. Das war verabredet worden. Seine Gegenwart pflegte auf erregte Menschen ungünstig zu wirken. Im Falle Hoff hatte es das erste Verhör deutlich genug gezeigt. Der Polizeirat blieb also im Nebenzimmer, das auch für die Beobachtung geeigneter war. Überlegte er, so machte er mit seiner Anwesenheit niemandem eine Freude. Das verriet sogar das gewiß dienstliche Gesicht des beobachtenden Unterbeamten. Der Polizeirat allerdings kümmerte sich darum nicht. Er machte auch sich selber schon lange keine Freude mehr.

 

Gewiß war zu laut gesprochen worden. Hoffs Schlaf war kein guter Schlaf gewesen. Die Ohren waren gegen die wache Welt geöffnet geblieben und alarmierten das müde Hirn mit dem aufgefangenen Namen des armen Bruders Hertz.

Hoff hatte nicht sogleich die Augen geöffnet. Der Beobachter registrierte ihn noch schlafend, als er schon nicht mehr schlief. Er lag und fand sich nicht zurecht. Er wußte auch nicht, wo er war; oder vielmehr: er nahm sich nicht die Mühe oder hatte nicht die Kraft, an Zeit und Ort des Augenblicks zu denken. Da saß ihm der Name Hertz im Ohr und drückte auf das Herz und auf die Halsschlagader. Aber der Mensch dieses Namens gelangte nicht mehr recht in die abbröckelnde Welt seiner Vorstellung. – Ich werde Hertz nicht los. – Über diese Angst hinaus krochen Hoffs Gedanken nicht. Es gibt müde Fliegen im Herbst, die von der halb erkletterten Fensterscheibe immer wieder abrutschen, immer wieder. Das ist ein Gleichnis für Hoffs Gedanken und ihre jämmerliche Bemühung. Zu Hoff selber übrigens kam dieses Gleichnis, und schließlich sah er es als Bild. Er sah ein Fenster mit abrutschenden Fliegen und verlor darüber sein halbes Bewußtsein. – »... und da sich der Hertz so prompt um die Ecke brachte ...« Das Ohr klingelte Alarm. Hoff schlug die Augen auf und hob zugleich den Kopf. –

Herr Beutelmann trat ein. Hoff saß bereits aufrecht und veränderte seine Stellung nicht. Er sah wohl zur Tür, aber er horchte immer noch zum Nebenzimmer. Er hörte nichts mehr. Der Mensch, der kam, störte im Augenblick nur. Er hätte ihm am liebsten abgewunken. Er war vollauf beschäftigt. Sich um die Ecke bringen, heißt: sich töten. Diese sprachliche Erkenntnis brauchte er wohl kaum anzuzweifeln. Hertz hatte sich prompt getötet. Er bekam also auch den toten Hertz nicht los. Der Brother war also gar nicht energielos und kam zu seinem Resultat schneller als der Held. Hertz war vorwärts gekommen, Hoff klebte fest. Hertz, viel klüger, auch tückischer, warf mit seinem Tod wie mit einer Klette nach Hoff. – An Hertzens Gartentür war der Name abgeschraubt, aber an mir klebt er! Das gilt nicht! Das ist eine Fälschung! Ich will reinliche Scheidung! Ich will nicht zum Schmarotzer gemacht werden!

Hoff war mit seinen Gedanken und Protesten so beschäftigt, daß er den Besuch bereits vergessen hatte. Er sah nicht mehr zur Tür, sondern in die Luft, und begleitete seine geistige Auseinandersetzung mit fahriger Mimik. Jetzt winkte er ärgerlich mit der Hand ab: ein Schalter knipste, und das Zimmer wurde noch heller.

Herr Beutelmann war kein Kriminalist. Er hielt sich genau an die Anweisungen, die ihm der Polizeirat für seinen Eintritt gegeben hatte; denn die geschickte Einleitung der Konfrontation berge bereits das Resultat, das allerdings nach Beutelmanns Bericht von der pathologischen Aufführung Hoffs bei der Witwe des Ministers kaum zweifelhaft sei. Der Polizeirat hatte gesagt: wenn der Proband Hoff in Wirklichkeit der Täter sein würde, dann müßte ihm das unvermutete Gegenübertreten des Kronzeugen Beutelmann einen Schock des Wiedererkennens versetzen. Dieser Schock war ja scheinbar bei ihrem Zusammentreffen nachmittags in der Ministerwohnung ausgeblieben; aber der Korridor war sehr dunkel, und zum mindesten der Sekretär hatte den unbekannten Menschen, der ihm begegnete, nicht beachtet. Jetzt erst war der richtige Moment der Prüfung. Der Sekretär sollte sich mit dem Gespräch Zeit lassen und zunächst einmal die Wirkung seiner Person feststellen.

In dem Zimmer befand sich eine Deckenbeleuchtung in einer Milchglasschale mit zwei Glühbirnen zu je fünfzig Kerzen. Davon brannte eine, die den kleinen Raum indessen genügend beleuchtete, um ein Gesicht erkennen zu können. Für den eigentlich schon beweiskräftigen Fall, daß der Mann auf den Eintritt des Zeugen wenig oder überhaupt nicht reagierte, könnte als simpler Wahrnehmungsanreiz die zweite Glühbirne eingeschaltet werden.

Dieser Fall war eingetreten. Der Polizeirat hinter der Verbindungstür dachte: es ist eigentlich unnütze Mühe; die Sache ist ja ganz klar. – Der Sekretär dachte ähnlich.

»Was ist denn los?« fragte Hoff, über die Helligkeit ärgerlich, und wandte das Gesicht flüchtig dem Besucher zu. »Was wollen Sie eigentlich. Sie stehen ja schon eine halbe Stunde da. Mein Name ist Hoff.«

Der Sekretär stand noch keine drei Minuten. Er schüttelte den Kopf und sah etwas ratlos zur Verbindungstür hin, hinter der er seinen kriminalistischen Mentor wußte. Für den Polizeirat war die letzte Antwort Hoffs entscheidend; und da er selbst die reichliche Zeit, die ihm zur Verfügung stand, ungern verschwendete, öffnete er mit der Energie des beschlußkräftigen Beamten die Verbindungstür, trat ein und sagte zum Sekretär: »Also machen wir Schluß, Herr Beutelmann.«

Hoff sah böse auf den neuen Eindringling und wurde durch seinen Anblick aus Absonderung und Gedankenflucht grob in die Gegenwart gerissen. Er erschrak und fuhr auf. Dann fiel der Name des Sekretärs. Hoff sprang auf die Beine und lief zu Herrn Beutelmann: »Sie kennen mich! Sie kennen mich ja!« rief er leidenschaftlich. Der Sekretär rückte ängstlich hinter den stämmigen Polizeirat. Hoff wandte sich gegen ihn. »Sie stehen immer dazwischen!« erklärte er erregt. »Sie verdunkeln mir das ganze Leben. Dazu haben Sie kein Recht, verstehen Sie mich!«

»Seien Sie doch vernünftig, Herr Hoff«, sagte der Polizeirat, »Sie kennen ja Herrn Beutelmann gar nicht. Das haben Sie eben selber bewiesen. Sie wissen von Herrn Beutelmann nur durch die Zeitung. Geben Sie doch zu: Sie wissen von dem ganzen Attentat nur durch die Zeitung. Erst als ich Herrn Beutelmann beim Namen nannte, konstruierten Sie sich die Bekanntschaft mit ihm. Das ist doch ganz klar.«

Hoff starrte auf den Mund, der solche ungeheuerlichen Lügen sprach. Es war ein großer, unschöner Mund mit eingestülpter Oberlippe und wulstiger Unterlippe. Es war ein ungerader, ein verzogener Mund, der etwas nach links unten hing und aus dem Winkel sprach. Die Lippen öffneten und schlossen sich, rasch, mühelos: und es genügte, um die Welt zu verdrehen. Das war doch ein unerlaubter Eingriff in den Ablauf des Lebens, in Leben und Tod! Das war Lästerung! – Frau Hansmann hatte die Sünden nach dem Katechismus rubriziert; man hatte es sich gemerkt. Mord schrie zum Himmel. Blasphemie, lieber Herr, geht nicht leer aus.

Hoff starrte auf den Lästermund. Es gab nur eine Wahrheit; aber es wurde ihm entsetzlich schwer gemacht, sie zu verteidigen. Er war so allein, daß selbst die Wahrheit sich ihm nicht beigesellen wollte. Hoff fand sich erbarmungswürdig. Das Mitleid mit sich selbst stieg in ihm hoch und blieb in der Kehle stecken. »Hören Sie«, sprach er mühsam zum Polizeirat, »Sie versündigen sich wider den Heiligen Geist. Da gibt es kein Hin und Her.«

Er drehte sich rasch um, setzte sich auf das Ruhebett und wurde ganz kurz von einem Weinkrampf geschüttelt. Es war eigentlich nur ein kleiner Schüttelfrost und ein zerhacktes Schluchzen. Der Polizeirat, der heute nicht unwillig war, eine Gelegenheit zum Mitleid zu finden (es gab bei ihm solche Tage), sagte leise zum Sekretär: »Ein armer Teufel – ganz harmlos.«

Herr Beutelmann war sehr blaß. Ihn nahm die Szene mit, zumal ihm noch der Schrecken von gestern vormittag in den Gliedern steckte. Er war nicht ohne Freundlichkeit für die Menschen, schon durch den langen Umgang mit dem Minister, dessen menschliche Erfolge von der Jovialität herrührten. Seine scheue Art kam vom unzulänglichen Körper. Sein Mißtrauen war weniger natürlich als eine dienstliche Notwendigkeit für den Begleiter des Ministers, dieses rührend vertrauensseligen Mannes. Sein Mißtrauen war also nur der Ersatz für die fehlende Vorsicht des Chefs. Jetzt war er erschüttert, dachte an seinen toten Herrn, der diesen armen Teufel nicht ohne Hilfe gelassen hätte, wenigstens nicht ohne Zuspruch, dachte auch an die Schilderung der Ministersfrau von Hoffs Besuch und suchte selber nach einer Möglichkeit zu helfen.

Hoff hob den Kopf und klagte leise: »Herr Beutelmann, daß auch Sie mich verleugnen ...«

»Aber durchaus nicht«, stotterte Beutelmann verlegen, »durchaus nicht.«

Der Polizeirat beugte sich an sein Ohr: »Gut so. Wenn Sie für den armen Kerl noch ein paar Minuten übrighaben, dann seien Sie nett zu ihm und gehen Sie auf alles ein; das macht ihn ruhig, und dann bekommen wir ihn vielleicht los.«

Der Sekretär nickte. Hoff fuhr den Polizeirat an: »Stören Sie hier doch nicht immer! Sie sind der böse Geist hier! Sie sündigen mehr, als Sie je wieder gutmachen können! Ich kann das beurteilen.«

»Herr Hoff, Herr Hoff«, drohte der Polizeirat wie einem Kind, »seien Sie doch nicht so häßlich zu mir. Ich meine es ja gut mit Ihnen. Und seien Sie nicht so laut. Sonst spricht Herr Beutelmann nicht mit Ihnen.«

Er hob Augenbraue und Zeigefinger und ging wieder in das Nebenzimmer. Er dachte, als er die Zwischentür hinter sich schloß: ich weiß gar nicht, warum mich die meisten Menschen nicht leiden können – ich bin doch so human. –

Hoff und Beutelmann waren allein. Hoff sah ihn an. Hoff sah befremdlich aus, das Gesicht war sehr mager, die Stirn geschwollen und bucklig vor Kopfschmerz und durch die Falten der geistigen Folter zerwühlt, die Augen sehr groß und langsam, als ob sie zu sehen und das Bild zu vermitteln arge Mühe hätten.

Beutelmann blinzelte nervös. Er war kein Psychiater und fühlte sich dem Kranken gegenüber unsicher. Er und der Kranke waren allein. Irre konnten unberechenbare Wutanfälle haben. Der Sekretär, noch unter dem Eindruck des Attentats, das er wiederum in Alpträumen hundertmal vorhergesehen hatte, kam mit den ängstlichen Gedanken leicht zur Vorstellung von Gewalttaten. Aber er war auch gutmütig und wollte helfen. Er mußte helfen; denn auch die Frau des Ministers interessierte sich für den Unglücklichen, und auf sie, die Beutelmann immer schon verehrt hatte, übertrug er seine ganze leidenschaftliche Dienstergebenheit. Er wollte sich genau an die letzte Anweisung des Polizeirates halten, die ihm einleuchtete: beruhigen, freundlich sein, den Wahn durch scheinbare Anerkennung beschwichtigen, nur nicht widersprechen, keine Erregung entfachen.

Doch warum fing dieser Hoff nicht endlich zu sprechen an? Sein leerer Blick war unheimlich und seine Stummheit auch. Der Sekretär nickte ihm zu. »Also wir kennen uns, Herr Hoff«, ermunterte er.

»Kennen Sie mich?« fragte Hoff zurück. Das klang mißtrauisch.

»Aber Sie sagten es doch eben selber, Herr Hoff.«

»Ich kenne Sie; aber das will nicht viel heißen. Die Zeitungen brachten Ihr Bild, sagt der Kerl. Ich kann den Menschen nicht leiden. Haben Sie schon einmal seinen Mund angeschaut? – Ihr schiebt mir einfach die Zeitungen unter – und schon hänge ich in der Luft. – Es ist ganz gleichgültig, ob ich Sie kenne. Das beweist gar nichts. Aber erkennen Sie mich?«

Der Mann ist furchtbar, dachte der Sekretär, er legt es vielleicht darauf an, in Wut zu kommen. Ich kann nicht vorsichtig genug sein. »Natürlich kenne ich Sie, Herr Hoff«, sagte er zutunlich. »Sie waren ja heute nachmittag bei der Witwe meines armen Chefs. Da sah ich Sie, als Sie weggingen. Stimmt das vielleicht nicht?«

»Nebensächlich«, sagte Hoff kurz und böse. Beutelmann schwieg hilflos.

»Zur Hauptsache«, sagte Hoff.

»Ja, ja«, murmelte der Sekretär, »das Attentat.«

»Der Schnurrbart«, sagte Hoff streng.

»Ich verstehe Sie nicht recht ...«

»Ich hatte doch einen Bart – das haben Sie gar nicht bemerkt?«

»Ja – nein – natürlich ... Sie haben sich den Bart natürlich abnehmen lassen.«

»Ja – aber ich lasse ihn jetzt wieder wachsen. Passen Sie auf, Herr Beutelmann, schon in zwei Tagen gibt es keinen Zweifel mehr. Ich habe starken Bartwuchs.«

»Ich zweifle durchaus nicht«, versicherte der Sekretär.

»Sie erkennen mich wirklich auch jetzt?« fragte Hoff hartnäckig und nahm ihn wieder in seinen schwerfälligen Blick.

Der Sekretär erkannte ihn ganz und gar nicht. Hoff hatte sich furchtbar verändert. Sein äußerer Verfall, der schon nach der Tat anhob, geschah immer schneller. Er glich jetzt kaum noch dem Menschen, der vor wenigen Stunden das Polizeipräsidium betrat. Vielleicht fühlte er seine immer hastigeren Verwandlungen.

Der Sekretär vollends hatte teils durch die Erschütterungen der letzten Tage, teils durch die vielen Photographien, die ihm von der Behörde vorgelegt worden waren, kaum mehr eine genaue Vorstellung von dem auffälligen Mann, nach dem er sich an der Mordstelle am Donnerstag vormittag umgewandt hatte. Für ihn bestimmte jetzt den Ausdruck jenes Mannes das Bild David Hertzens, das er in den letzten Stunden immer wieder zu prüfen hatte. Der arme Teufel vor ihm wurde gar nicht mehr in die schwierige Sichtarbeit der Erinnerung einbezogen. »Aber gewiß erkenne ich Sie«, redete er freundlich, »Sie haben sich ja, vom Schnurrbart abgesehen, in zwei Tagen nicht gut verändern können.«

»Ich habe mich verändert!« rief Hoff verzweifelt; »und das geht immer weiter – immerzu, immerzu – hundert Gesichter wie bei dem Schüttler ...« Sein Gesicht begann zu zucken. »Sehen Sie? Sehen Sie ...«

»Hören Sie doch auf!« bat der Sekretär sehr mitgenommen, »quälen Sie sich doch nicht so unnütz. Wir sind uns doch schon seit heute nachmittag im klaren, daß Sie der Täter sind. Sie gestanden es ja schon der Witwe meines armen Chefs.«

»Tat ich das?« fragte Hoff versonnen und viel ruhiger, »ich weiß es nicht mehr genau. – Das ist eine gute Frau, sage ich Ihnen.«

»Eine herrliche Frau, und auch sie will Ihnen helfen.«

»Sie soll mir ja gar nicht helfen; sie soll mir nur glauben und mir nicht den Weg verstellen.«

»Natürlich«, hielt ihn der Sekretär von neuen Angriffen ab; »keiner von uns will sich Ihnen in den Weg stellen. Das könnten wir gar nicht. Die Sache geht jetzt ihren Gang. Sie müssen jetzt nur noch etwas Geduld lernen.«

»Wirklich?« fragte Hoff leise und wies mit der Hand zum Nebenzimmer. »Aber der da hat mir andere Dinge gesagt.«

Hoff war ruhiger, der Sekretär wurde zuversichtlicher. Vielleicht schaffte er es. – Der Herr Polizeirat, tröstete er, habe nur aus einer gewissen Untersuchungstechnik das Gegenteil behauptet, um der Wahrheit auf die Beine zu verhelfen. Im übrigen komme es ja bei der ganzen Angelegenheit auf ihn, Beutelmann, als Hauptzeugen an.

Hoff nickte leicht und schloß die Augen. Er schien angestrengt nachzudenken und schwieg eine Weile. Beutelmann meinte etwas zögernd: Das beste wäre jetzt, Herr Hoff kehre ruhig in seine Wohnung zurück und warte die behördlichen Maßnahmen ab; bei ihm sei ja Flucht- und Verdunkelungsgefahr ausgeschlossen.

Hoff antwortete darauf nichts, aber er öffnete wieder die Augen und sah den anderen müde und traurig an. Beutelmann blinzelte zurück. Er war kein Fachmann: vielleicht hatte er das Ziel seiner Mühe mit dem Kranken – ihn friedlich aus dem Haus zu schaffen – doch zu vorschnell enthüllt.

»Lieber Herr«, sprach Hoff schleppend, »Sie gehören scheinbar auch zu den Guten. Ich habe schlechte Erfahrungen mit den Missionaren. Ihr tut alle so, als wäre ich ein Neger vor der Taufe. Ich bin aber ein Mörder.«

Er gibt nicht nach, dachte der Sekretär; es steht schon zu schlimm mit ihm. Man muß ihn doch in die Psychiatrische Klinik bringen.

Hoff hob die Hand und zeigte auf den Sekretär: »Sie, Herr ..., Herr ...« Er hatte plötzlich den Namen vergessen. Er hatte ihn doch eben gewußt und ausgesprochen! Er zitterte vor geistiger Anstrengung. – Was hat er jetzt nur wieder? fragte sich der Sekretär ängstlich. Hoff schlug sich mit der Faust vor die Stirn. »Wie heißen Sie denn?« schrie er verzweifelt.

»Beutelmann, Beutelmann«, half ihm der Sekretär unter Herzklopfen.

Hoff hob von neuem die Hand und zeigte auf den Sekretär: »Beutelmann«, erklärte er flatterig, »Sie hätten schon Grund, etwas fester gegen mich aufzutreten. Jeder vernünftige Mensch hängt die Freundlichkeit an den Nagel, wenn ein Mann mit einem Schießgewehr auf ihn anlegt.«

Hoff zeigte ihm das Anlegen, kniff zielend das Auge zusammen und spielte mit dem Zeigefinger an dem imaginären Abzugshahn. Es sah auf eine schaurige Art spaßhaft aus. Der Sekretär, unter Herzklopfen, zwang sich zu lächeln. »Aber Herr Hoff, Sie haben ja gar nicht auf mich angelegt.«

»Gut«, lobte Hoff, »das stimmt; aber Sie können nicht wissen, daß ich Sie ursprünglich ebenfalls erschießen wollte.«

Die Wendung des Gespräches war sehr peinlich und schien auch gefährlich. Weiß Gott, ob der Kranke nicht eine Waffe mit sich führte. (Daß die Untersuchung auf Waffen die erste polizeiliche Maßregel vor einem Verhör ist, bedachte der unerfahrene Beutelmann nicht.) Der Sekretär glaubte selber, daß er dem Attentat nur durch einen Zufall entronnen war. Die Ansicht, daß der Mörder auch den Sekretär treffen wollte, daß die späteren Schüsse ihm galten und daß sie nur fehl gingen, war in der gesamte Presse und schon in den ersten Telegrammen zu lesen. Diese Darstellung war es gewesen, die Hoff zu seinen heimlichen Berichtigungen vor der Telegrammtafel und später bei der Zeitungslektüre veranlaßt hatte.

Das hat er auch aus den Zeitungen, überlegte der Sekretär.

»Nicht wahr«, meinte Hoff beklommen, »das überzeugt Sie auch nicht. Das stand ja schon in den ersten Telegrammen.«

Er will mich immer noch überzeugen, dachte Beutelmann erschüttert, er ist ganz harmlos, er denkt nicht an Gewalt; ich muß nett zu ihm sein.

Der Sekretär lächelte. »Aber Herr Hoff, Sie haben nicht nötig, mich zu überzeugen. Ich glaube Ihnen. Und ich verstehe vollkommen, daß Sie schließlich doch einen armen Teufel wie mich laufen ließen.«

Hoff brütete vor sich hin. »Ich will Sie überzeugen«, sagte er mit schwerer Zunge. Beutelmann schüttelte entmutigt den Kopf. »Ich will! Ich will!« erregte sich Hoff und bewegte unaufhörlich die Finger.

Der Sekretär rückte vorsichtig zur Tür hin. Er hatte genug. Seine Nerven, ohnehin nicht die besten und durch das Attentat schwer mitgenommen, hielten diesen Menschen nicht mehr aus. Er wußte auch nicht, was er noch mit ihm reden könnte. Es war ein Jammer. Aber er hatte schließlich den besten Willen gezeigt, zu helfen und den Irren zu beruhigen. Mehr konnte er nicht tun.

»Stehenbleiben!« schrie Hoff. Der Sekretär blieb gehorsam stehen. Hoff schüttelte die Arme, mit einer dramatischen Geste, und wiederholte dann ganz zart: »Bitte stehenbleiben. Ich habe Sie zu überzeugen.« Beutelmann senkte gequält den Kopf; er konnte den Mann nicht mehr ansehen.

»Ich überzeuge Sie«, flüsterte Hoff geheimnisvoll, »durch dies und jenes überzeuge ich Sie, das steht nicht in den Zeitungen, ist nicht zu konstruieren, das können nur Sie und ich wissen ... dies und jenes ...«

Beutelmann wartete. Er erwartete nichts; aber er wartete, aus Mitleid. Er sah den anderen nicht an, um ihn nicht zu verwirren – wie man manchmal Menschen nicht ansieht, von denen man weiß, daß sie lügen müssen.

Hoff sagte noch ein paarmal: »Dies und jenes ... Aufpassen, aufpassen ...« Dann schwieg er. Dann stöhnte er. Die Finger bewegten sich. Er sah zur Decke. Er zitterte vor geistiger Anstrengung. Was stand in der Zeitung? Was stand nicht in der Zeitung? Nein! Nein! Darum geht es nicht! Der Mord! Der Mord! Wie war es! Wie war es? Zählen: eins, zwei, drei – Schüsse, Schüsse ... Gustav Adolf brüllt ... Das genügt nicht – das stand alles in der Zeitung – Genaueres! Vorher! – Der Schüttler – was war mit dem Schüttler? Der Schüttler tut nichts zur Sache! – Welche Sache – welche Sache?

Hoff atmete immer lauter und schwerer. Beutelmann sah auf. Hoff stand breitbeinig, sah zur Decke, hatte den Mund offen und die Augen geschlossen. Er hob die Hände mit den beweglichen Fingern. Er fand nichts – hatte nichts zu sagen, nichts, nichts, nichts. Er drehte sich um sich selber und ließ sich auf das Ruhebett fallen. Er weinte laut und heftig, wie Kinder weinen.

Der Sekretär stürzte aus dem Zimmer.

»Sie weinen ja auch, Beutelmännchen!« lachte der humane Polizeirat.

 

Der Polizeirat ordnete die Überführung des Hubert Hoff in die Psychiatrische Klinik an und erledigte dadurch den leidigen Zwischenfall für sein Amtsresort. Er tat sein Möglichstes, er bestellte sogar, trotzdem man in dieser Zeit besonders sparsam war, ein Sanitätsauto zum Transport des Kranken; denn, sagte er zu dem angegriffenen Herrn Beutelmann, es scheine sich hier um einen sogenannten schizophrenen Schub zu handeln, der in Tobsucht umschlagen könne; es handle sich auf jeden Fall um einen Schwerkranken, den man nicht mehr auf die Straße lassen dürfe, auch nicht in Begleitung eines Beamten; zudem sei ja inzwischen auch die Sperrstunde angebrochen, und das unausbleibliche Angehaltenwerden durch die Straßenpatrouillen würde nur neue und immer schädlichere Erregungszustände hervorrufen; man müsse an alles denken. Herr Beutelmann mußte zugeben, daß der Polizeirat an alles dachte.

Das Nebenzimmer war jetzt leer; denn auch der Unterbeamte, der die vorzüglichen Beobachtungen auf den Meldeblock geschrieben hatte (der Polizeirat fand sie vorzüglich, sagte es aber, aus grundsätzlicher Lobenthaltung, dem Autor nicht), war in die Telefonzentrale gegangen, um das Sanitätsauto anzufordern. Zwerg Paula, der sich in der Nähe herumtrieb und unruhig wurde, weil er die Entlassung Hoffs schon für sicher gehalten hatte und die Gründe für die Verzögerung nicht kannte, benutzte die Gelegenheit, um zu Hoff hinein zu schlüpfen.

Hoff saß auf dem Ruhebett mit krummem Rücken und weinte nicht mehr. Er hatte den Kopf auf der Brust und seine Arme hingen zwischen den Schenkeln. Er drehte die Augen langsam dem Zwerg zu und sagte träge: »Herr Beutelmann, ich kann Sie nicht überzeugen.«

Der Zwerg erschrak über seinen Anblick. Hoffs Gesicht sah aus, als sei es von einer furchtbaren Faust zusammengeknetet und zerdrückt. Es schien sich anatomisch verändert zu haben. Die Nase war größer und stand schief, das Jochbein war vorgetrieben, die Backen eingefallen, der Mund verlängert, die Kinnladen unterstrichen, die Augen übergroß, leer, langsam. Er sah auch in der Kleidung heruntergekommen aus: der Anzug war verdrückt, der Kragen verknittert, der Schlips saß schief, die Haare waren nicht mehr gescheitelt und hingen häßlich in die Stirn. Es war ein fremder Mann.

Der Zwerg dachte erschüttert: es hat alles keinen Zweck mehr, jetzt kommt kein Mensch mehr an ihn heran und ich schon gar nicht. Er flüsterte: »Ich bin es ja, der Schopp.«

»Beutelmann«, beharrte Hoff.

Der Kleine ging bis zur Selbstverleugnung. »Nein, Herr Hoff, ich – Paula«, nannte er sich bei dem verhaßten Namen.

Der Name wurde von Hoff begriffen, doch sofort mit einer matten Erinnerung an die letzte feindselige Szene zwischen sich und dem Zwerg verbunden. »Paula«, sagte Hoff leise, »Tür oder Fenster«.

Der Unterbeamte konnte jeden Augenblick zurückkommen. Paula hatte ein Überraschtwerden nicht unbedingt zu fürchten; denn er stand im Augenblick bei den informierten Stellen des Präsidiums im Ruf des Mannes, der das Attentat aufgeklärt hatte und zum mindesten einen Teilbetrag der für die Auffindung des Ministermörders ausgesetzten Summe empfangen würde. Er konnte dem Subalternen gegenüber schon Ausreden finden; aber er wollte, in Hoffs Interesse, eine Verbindung zwischen ihm und sich wenigstens heute und in diesem Haus vermeiden. Er hatte Eile. Er mußte sich auf gedrängten Bericht beschränken.

»Hertz ist tot«, meldete er.

»... hat sich prompt um die Ecke gebracht«, berichtigte Hoff.

Paula sah ihn traurig an. Es rührt ihn nicht, dachte er. Er berichtete krasser: »Hertz schoß sich in den Mund – sah schrecklich aus – unvorstellbar scheußlich, Herr Hoff, nicht zum Wiedererkennen, sage ich Ihnen, überhaupt kein Gesicht mehr – er hatte nicht mal einen Brief bei sich, warum er das getan hat und so ... – Höchst anständig. Ich habe nachgesehen, bevor ich die Polizei alarmierte. Ich hätte den Brief natürlich weggenommen ...«

Paula stockte. Hoff sah ihn schwer und leer an. – Er begreift nichts mehr, dachte Paula. »Mein Gott, Herr Hoff, begreifen Sie doch, sein Selbstmord schafft eine außerordentlich günstige Situation für Sie. Man hält ihn hier für den Täter, schon seit heute vormittag. Nicht etwa, daß ich ihn angezeigt hätte, Herr Hoff ...«

Paula wartete auf die Wirkung dieser Worte. Hoff schwieg. »Sein Selbstmord scheint natürlich geradezu eine Verdachtsbestätigung, das sehen Sie doch ein. Bis man Nachforschungen anstellt und Zweifel faßt, gehen mindestens acht Tage ins Land. Vielleicht kommen sie überhaupt nicht bis zum Zweifel, die Leute sind ja unbegabt. Und Sie müssen natürlich entlassen werden, wenn Sie sich nicht gar zu wild aufgeführt haben. Das weiß ich ja nicht ...«

Hoff sah langsam die Zimmerwände entlang.

»Herr Hoff, der Wahnsinn ist eine gute Sache, wenn man Sie geklappt hätte. Aber wie es jetzt steht, geht es ja viel einfacher. Nehmen Sie die Nerven ein wenig zusammen, bleiben Sie heute nacht ruhig hier, ärgern Sie die Leute nicht, entschuldigen Sie sich morgen mit Grippe oder Alkohol. Morgen früh werden Sie entlassen – jetzt ist ja Straßensperre, verstehen Sie – und dann sofort zum Bahnhof. Ich stehe unten. Morgen gehen wieder Züge. – Das wollte ich Ihnen schnell sagen, Herr Hoff. Haben Sie mich verstanden?«

Hoff stand auf, ging zum Fenster, das er vorhin gesucht hatte, schlug mit der Faust die Scheibe ein und schrie: »Raus!« Er wies mit der blutenden Hand den Weg durch das Fenster.

Paula lief davon. Das Geklirr der Fensterscheibe alarmierte Beamte, die in der Nähe waren. Man verständigte den Chef. Der Polizeirat kam brüllend herbei, in der Hand eine Mullbinde. »Da haben wir's! Da haben wir's! Natürlich Selbstmordversuch! Natürlich unbeaufsichtigt! Wo ist denn der Kerl ...« Der Kerl – der Unterbeamte, der die vorzüglichen Beobachtungen geschrieben hatte und fortgegangen war, um das Sanitätsauto anzufordern – erschien gleich darauf und war totenblaß. Der Polizeirat beschimpfte ihn. Der Beamte stand stramm, nur sein Kinn zitterte.

Hoff, der sich erschrocken in einen Zimmerwinkel gedrückt hatte, als der Lärm losbrach, zog jetzt die Stirn zusammen und ging auf den Polizeirat los, die tropfende Hand schwenkend.

»Sie sind eine böse Laune Gottes«, sagte er zu ihm.

Der Polizeirat mußte lachen, trotz seines dienstlichen Zornes. Diese Psychopathen waren manchmal unbezahlbar. Er wollte sich den Ausspruch merken; denn er war für Selbstironie empfänglich und hatte, zumal wenn er nicht schlafen konnte, bedrückte Stunden, in denen er mit sich nicht sanft umging. Lachen paßte nicht zur Disziplin und gar nicht zur zornigen Szene. Er gab die Mullbinde dem zurechtgewiesenen Beamten, dessen Schuldbewußtsein ihm ganz gut gefiel (der Kerl merkt es sich, dachte er), befahl, den Verletzten zu verbinden und ihn unverzüglich fortzuschaffen. An der Tür sagte er noch einmal: »Dann aber weg mit ihm!« und verließ den Zwischenfall Hoff endgültig.

Der Beamte verband Hoff. Er war nicht ungeschickt. Er hatte noch Schweißperlen auf Stirn und Nase.

»Seien Sie mir, bitte, nicht böse«, sagte Hoff sanft. Der Beamte sah ihn überrascht an.

Der Wagen wurde gemeldet. Der Beamte nahm wortlos Hoffs Mantel und Hut vom Kleiderhaken und brachte sie ihm.

»Wohin denn?« fragte Hoff mißtrauisch.

»Machen Sie mir um Gottes willen doch keine Geschichten mehr«, bat der Beamte.

»Nein, nein«, sagte Hoff sofort, ließ sich in den Mantel helfen und ging gehorsam mit.

Das Sanitätsauto stand vor einem Seitenportal. Die Tür war verschlossen. Hoffs Begleiter trat an die Pförtnerloge und verlangte den Schlüssel. Paula tauchte auf und berührte Hoff am Ärmel. Ob der Kleine schon neben der Tür im Dunkeln wartete oder den beiden nachgelaufen war, blieb ungewiß.

Paula flüsterte vorwurfsvoll: »Sehen Sie, das haben Sie davon: jetzt kommen Sie ins Irrenhaus.«

Hoff bewegte die langsamen Augen und zog den Kopf ein, als erwarte er einen Schlag. Sein Begleiter kam mit dem Schlüssel und öffnete die Tür. Paula stand bescheiden abseits.

Jetzt kam unerwartet die kurze, wilde und häßliche Schlußszene. Hoff stand wie festgewurzelt. Der Begleiter bat, lockte, befahl, zog ihn am Ärmel. Hoff stand etwas breitbeinig, hob die Schultern hoch und drückte die Arme an den Körper. Er rührte sich nicht. Der Begleiter rief den Pförtner zu Hilfe. Die beiden schleppten Hoff durch das Tor. Hoff sah sich verzweifelt nach Paula um. Der Zwerg kam mit glasigen Augen hinterdrein und rief: »Ihr dürft dem Herrn nicht weh tun!« Er vergaß Hoffs trüben und geheimnisvollen Verzweiflungsblick sein Leben lang nicht. (Sein Leben war übrigens nicht lang; er kränkelte von nun ab.) Es war der kameradschaftlichste Blick, den der Held ihm je geschenkt hatte.

Draußen erst sah Hoff das Sanitätsauto. Es war dunkel; aber das rote Kreuz leuchtet transparent. Hoff schrie und schlug um sich. Er schrie: »Derselbe Wagen! Pfui!«

Da war nämlich das Boulevardblatt gewesen, das ein Momentbild von dem Transport des erschossenen Ministers in das Sanitätsauto brachte und das Hoff aus diesem Grunde nicht gekauft hatte. Jetzt wurde gerade dieses Bild in Hoff wach. Er wollte nicht in diesen Wagen. Er entsetzte sich, er wehrte sich, die Zeit schob sich ihm zusammen, er will nicht in den Wagen, in dem der Tote liegt.

Die beiden Sanitäter liefen kampffreudig herbei, selbst der Chauffeur, ein Bärenkerl, kam zu Hilfe, obgleich er nach seiner Vorschrift den Wagen nicht zu verlassen brauchte; aber er tat es gewissermaßen aus Sport. Die fünf Mann überwältigten den Rasenden – sie hatten schon mit Kräftigeren zu tun gehabt – und hoben ihn auf. Der Chauffeur hielt die Beine, die anderen verteilten sich auf den übrigen Körper.

»Nicht photographieren!« heulte Hoff.

Paula hockte auf dem Randstein und versteckte das Gesicht in den Händen.

Die Männer trugen Hoff in den Wagen und banden ihn auf die Bahre. Jetzt genügten die beiden Sanitäter, die schmerzhaft Schulter und Beine hielten. Der Wagen fuhr an. Er war schlecht gefedert und stieß den Körper nach oben. Die Sanitäter, die den Prall der Räder nicht mehr von dem Aufruhr des Menschen zu unterscheiden wagten, drückten ihn nach unten. Hoff stöhnte. Es war eine böse Fahrt.

 

Der Wagen hält. Hoff ist so schwach, daß er getragen werden muß. Er wird ruhig, sowie die Sanitäter verschwinden. Die Sanitäter sind seine Feinde. Er sagt es der Schwester auf der Aufnahmeabteilung. Die Schwester ist weiß gekleidet und freundlich. Sie gefällt ihm, er bemüht sich um Haltung, er entschuldigt sich einige Male. Das Sprechen fällt ihm schwer. Die Schwester quält ihn nicht mit Formalitäten, da seine Personalien und die Umstände seiner Einlieferung telefonisch durch die Polizei übermittelt worden sind.

Hoff kommt auf Saal vierzehn, zu zwanzig Leuten.

Es herrscht eine schwere Ruhe.

Hoff zählt die Betten. An der Decke brennt das bläuliche Nachtlicht.

Keiner von den zwanzig rührt sich.

Vielleicht sind alle gestorben, dachte Hoff, ich will auch sterben. Er schläft sofort ein.

Am nächsten Morgen ist die Vernehmung. Es kommt nichts dabei heraus. Hoff hält die Ärzte für Untersuchungsrichter und macht seine Schuldaussage. Er wiederholt sie immer wieder.

Er gerät in Erregung, weil er immer wieder anderes gefragt wird.

Er wird aggressiv, weil er körperlich untersucht wird.

Er muß auf die Wachabteilung verlegt werden.

Die Wachabteilung ist der Ort für böswillige Kranke.

Er schreit ununterbrochen nach dem Sekretär Beutelmann, den er von seiner Schuld zu überzeugen habe.

Er kommt ins Dauerbad.

Er fällt in Schlaf.

Bad. Schlaf. Bad. Schlaf.

Die Zeit hat ihn endlich ausgestoßen.

 

Aus dem Krankenjournal vom 17. Februar, zwei Tage nach Hoffs Einlieferung: »Patient dauernd sehr erregt. Es scheint sich ein katatoner Erregungszustand herauszubilden. – Patient grimassiert auffällig, besonders mit der Stirnmuskulatur.«

Hoff hat schwer zu kämpfen. Und wenn sein ungeheures Leid Buße ist, so ist es eine tückische Buße, weil der Büßer sie nicht bemerkt. Der Zustand, den das Krankenjournal mit katatoner Erregung bezeichnet, ist eine geistige Not ohnegleichen, Kampf aus dem Inferno, Höllenstrafe. Denn Hoffs furchtbare Mühe dieser Tage ist der innere Erlebniskampf, der nach außen sinnlos bleibt. Das Schicksal zerschlägt die Verbindung von Außen und Innen. Aber sie läßt die magische Einwirkung der Krankheit zu, die innen Szenen von toller Deutlichkeit und Kraft in Regie nimmt. Das Schicksal ist grausam: es hätte ja das Herz erschlagen oder doch den Mut töten können. Es belastet nur das Herz und verstümmelt den Mut. Hoff läßt nicht nach.

Der Held kämpft mit zerbrochenen und verbogenen Waffen. Er will den verschütteten Weg der Erinnerung zur Tat wieder frei machen. Die Mühe ist unmenschlich. Er erringt nur Teilerfolge. Er zielt, drückt ab, zielt, drückt ab. Er ist der Schüttler mit hundert Gesichtern. Er hat die Aufgabe, die Hauptpersonen seiner Tragödie in rascher Folge darzustellen: Minister, Hertz, Herrgott, Paula – er wagt sich auch an die Frauen Ly und Hansmann. Er arbeitet, kämpft, quält sich. Er grimassiert. Er läßt nicht nach.

 

Aus dem Krankenjournal vom 19. Februar: »Patient vollkommen unzugänglich. Authistisch abgeschlossen. Während er bisher überwiegend gestisch und mimisch arbeitete, brüllt er jetzt stereotyp immer dieselbe Redewendung. Sehr aggressiv.«

Hoff kommt langsam dem Ziel näher; aber er muß von äußerster Härte sein. Er muß mißtrauisch sein. Er hat Feinde unter jeder Maske: Hertz, Paula, Polizeirat, Sanitäter. Er vertreibt die Pharisäer aus dem Tempel. »Raus! Raus! Tür oder Fenster!«

 

Aus dem Krankenjournal vom 21. Februar: »Patient scheint akustisch und optisch zu halluzinieren. – Patient wird selbstgefährlich.«

Hoff erlebt ein doppeltes Wunder: ein Wunder des Gehörs und ein Wunder des Gesichts. In den brutalen Ringkämpfen mit den Schuldverschiebern – jenen Erzfeinden, die ihn mit Tricks aus Himmel und Hölle nicht an die Schuld heranlassen (und die Schuld war etliche Male schon wieder zum Greifen nahe) – in diesem herakleischen Kampf gegen eine Hydra, die dauernd Gesicht, Namen und Taktik wechselt, gelingt ihm endlich ein Teilsieg: die Festlegung des Hauptgegners. Es ist David Hertz, der ihn so tückisch, gefährlich und hartnäckig umklammert, durchdringt und besitzt, weil ihm alle Kräfte der Liebe und des Hasses zur Verfügung stehen.

Hoff stellt Hertz.

Hertz spricht aus Hoffs Leib. Es ist ein Wunder.

Hoff staunt, sitzt krumm im Bett und belauert seinen Bauch. Er zieht das Hemd zurück und lauscht. David spricht ziemlich deutlich, mit seiner epischen Stimme, die ohne Aufwand auch das Schreckliche schildern kann. Hertz sagt gelassen etwas Schreckliches: »Lieber Herr Hoff, was wollen Sie denn? Was geben Sie denn mit dem Minister an? Sie haben ja auch meinen Tod verschuldet. Ich darf logischerweise verlangen, daß Sie mit mir nicht weniger angeben.«

Das ist schrecklich! Das ist eine Wahrheit so gut wie die andere!

Hertz doziert: »Bitte leugnen Sie nicht. Ein Held leugnet nicht. Ich habe es hin und wieder mit dem Leugnen versucht, wie Sie wissen; aber ich bin kein Vorbild für Sie. Sie lieben bekanntlich den Mut, auch wenn er sinnlos ist – ich ja nicht. Also sehen Sie mich nur an, Sie Mutliebhaber.«

Hoff erlebt das optische Wunder. Er sieht David nicht vor sich, sondern hinter sich. Er verdreht dabei weder Kopf noch Augen. Er sieht durch den eigenen Hinterkopf hindurch die Szene von Davids Tod wie einen Filmausschnitt, wie eine Großaufnahme: Davids Gesicht, wie es war – kleiner Browning am Mund – Hoff schreit: »Schuß!« – Davids Gesicht, wie es wurde. Es ist kein Gesicht mehr! Es ist kein Gesicht mehr! Gustav Adolf mit den Kugeln im Bärenrücken ist gegen dieses Gesicht ein sanfter Schläfer!

Hoff springt aus dem Bett und hämmert den Hinterkopf solange gegen die Wand, bis sich Davids Gesicht auflöst.

 

Aus dem Krankenjournal vom 23. Februar: »Patient verweigert seit zwei Tagen Nahrungsaufnahme. Muß heute gefüttert werden.«

Die Fütterung ist eine einfache Sache. Hoff wird auf dem Bett festgehalten. Ein gefetteter Schlauch wird in die Nase eingeführt. Der Schlauch rutscht von selber durch Rachen und Speiseröhre in den Magen. An den Nasenschlauch wird ein anderer Schlauch angesetzt. Das Zwischenstück ist aus Glas. Man sieht die hineingegossene Fleischsuppe durch das Glasstück in den Nasenschlauch laufen und weiß, daß sie bis in den Magen laufen wird. Die Fütterung ist eine einfache, nützliche und ungefährliche Sache. – Es gibt aber Kranke von einer Apathie des Körpers, die ohne zu zucken die Suppe durch die Luftröhre in die Lunge laufen lassen würden, wenn der Schlauch die falsche Richtung nähme. Das ist tödlich.

Hoff will nicht mehr essen, weil Hertz sich in ihm dauernd rührt. Wie kann man essen, wenn man zwei Menschen auf dem Gewissen hat? Hertz verbietet ihm zu essen. Hoff will mit Hertz nicht weniger angeben als mit Gustav Adolf. Er ist zu sehr beschäftigt, um durch die Forderungen des Körpers nicht gestört und geärgert zu werden. Der Körper wenigstens soll sich nicht zur Partei der Schuldverschieber schlagen. Hoff gibt nicht nach.

 

Aus dem Krankenjournal vom 25. Februar: »Patient muß dauernd gefüttert werden. Wird körperlich zusehends schwächer. Nicht mehr so erregt. Liegt ziemlich ruhig im Bett, spricht unverständlich vor sich hin. Widerstand nur noch bei der Fütterung. Nicht ansprechbar. Scheint sich fortwährend mit Stimmen zu unterhalten.«

Hoff spricht mit Hertz und Gustav Adolf. Mit wem sollte er sonst sprechen? Gustav Adolf zumal ist freundlich, sehr freundlich und will ihm helfen. Gustav Adolf ist zugleich Krieger, Held und Mensch. Das hat man schon auf der Schule gelernt. Hoff möchte es auch sein; aber er ist in dieser Beziehung gegen sich skeptisch. Gustav Adolf gibt guten Rat: »Herr Hoff, bekennen Sie vor aller Welt Ihre Doppelschuld. Nur Raubmörder dürfen weglaufen.« David schließt sich an: »Bekennen Sie! Bekennen Sie! Es gibt keine bessere Therapie für unsereinen.« Hoff wird ruhiger. Er hat Aussichten.

 

Aus dem Krankenjournal vom 27. Februar: »Patient bricht unmittelbar nach der Fütterung. Scheint sich verschluckt zu haben. – Gegen Abend plötzlich hohe Fiebersteigerung bis 39,5. Die Atmung ist beschwert. Nasenflügelatmen. Der Puls ist schlecht. Bei der Untersuchung: Dämpfung über dem linken unteren Lungenflügel. Patient kollabiert zusehends. Es wird ein Kampferdepot gesetzt. Patient deliriert. Relativ zusammenhängende Sätze.«

Wenn die Katatonie des Anfangs der große Kampf des Helden mit seinem Erlebnis genannt wurde, dann mag das Delirium des Endes die Erfüllung sein, innerliche Erreichung des Zieles.

Hoff verendet nicht wie ein krankes Tier. Er läßt nicht nach. Die Zeit, bisher feindlich, hält das abrinnende Leben, bis seine Rechnung glatt ist. Wäre das Schicksal, das keine Gnade kennt, ungnädig bis zum Ende, so könnte man verzweifeln.

Hoff öffnet nachts um elf Uhr die Augen und ist mit sich im reinen. Er sieht die beiden Ärzte und die beiden Krankenschwestern der Reihe nach an und sagt mit leiser und klarer Stimme:

»Ich bekenne! Ich bekenne doppelte Schuld. Ich habe Gustav Adolf erschossen. Das wißt Ihr. Das leugnet Ihr nicht, weil Ihr nicht zu den Lügnern gehört. Aber Ihr wißt nicht ...«

Er schweigt eine Weile. Sein klein gewordenes Gesicht leuchtet.

»Aufpassen!« sagt er. »Ich habe meine Frau in den Bodensee gestoßen. Juni. Spring ins Wasser! Sie springt auch oder sie will ... Ich hebe ja schon das Ruder, meine Herren ... Beweis: Kopfwunde ...«

Hoff spricht noch viel; aber man versteht ihn nicht mehr.

Der gutartige Oberarzt hatte den wundervollen Einfall, zu sagen:

»Jetzt sind Sie sicherlich erleichtert, Herr Hoff.«

Hoff lächelte.

 

Krankenjournal vom 28. Februar, abschließende Aufzeichnung: »Fünf Uhr dreißig morgens: Exitus letalis. Diagnose: katatoner Erregungszustand mit komplizierender Schluckpneumonie. Tod an Herzschwäche.«

Finis libri!

 


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