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Die Szene ist endlich erfolgt, welche ich solange zu vermeiden suchte, und ich geriet um desto mehr dabei in Verlegenheit, je weniger ich sie so nahe vermutete. Ich hatte oft mit Gustav gesprochen über das bürgerliche Leben, über Tätigkeit und über ähnliche Gegenstände. Er schien durch meine Gründe überzeugt und dankte mir, daß ich ihm die Welt von einer ganz andern Seite gezeigt hätte. Heute war er bei mir und ließ wieder einfließen, wieviel er mir schuldig wäre für meine Belehrungen, wie er's nannte, und daß er durch mich ein ganz anderer Mensch geworden und daß er mir ewig verbindlich sein werde; und plötzlich kam die Erklärung der feurigsten Liebe und daß er wünsche, sein Leben an meiner Seite zuzubringen.
Liebe Julie! Ich saß wie versteinert da. Ich hatte diesen Augenblick immer gefürchtet und – warum soll ich gegen Dich nicht aufrichtig sein? – auch zuweilen ganz leise gewünscht. Nun war ich so betroffen, daß ich nichts hervorbringen konnte als das Gemeinste, das sich sagen läßt: auf einen solchen Antrag zu antworten, müsse man sich Bedenkzeit nehmen.
Und so gewöhnlich das war, war's doch vielleicht zuviel gesagt; denn es sieht aus wie Hoffnung, und die sollte ich wohl eigentlich nicht geben; aber freilich fühlte ich in mir ganz leise, daß ich Hoffnung geben wollte. Sollte ich wollen? Das liegt schwer vor mir. Ich würde mich jetzt sehr glücklich fühlen, wenn ich ja sagte. Aber ich denke weiter, betrachte meine jetzige Lage gegen ihn und die künftige auf den Fall, daß er mein Mann würde. Mir liegt immer im Sinne: ich habe ihn gezogen und kann ihn nicht heiraten. Etwas in mir spricht wider eine Frau, die ihren Mann gezogen hat. Gustav unterscheidet das jetzt noch nicht, ich muß es für ihn.
Und dann ferner: ich habe nachgerechnet, daß ich neun volle Jahre älter bin als er. – Du darfst es eben niemand vorrechnen, liebes Weibchen; aber wenn's zur Verlobung käme, würde wohl mancher nachrechnen. Zwar hoffe ich, Gustav nicht; denn welcher Bräutigam rechnet am Verlobungstage und in einem Jahre nachher? Aber siehst Du, Weibchen, ich kann nun einmal die fatalen neun Jahre nicht aus dem Sinne kriegen. Und wer steht mir dafür, wenn wir einmal verheiratet wären, daß Gustav nicht früher zu rechnen anfinge, als mir lieb wäre?
Du bist der Meinung daß ich nichts übereilen solle und daß ich die Bedenkzeit, welche ich mir einmal nahm, allenfalls nach Gefallen verlängern könne; denn Du hältst meine Zweifel nicht für unauflöslich und stellst Dir vor, die neun Jahre machten kein Hindernis, wenn sonst alles für das Jawort stritte. Ach, ich wollte, es wäre so! Ich war zuerst auch willens, meine Bedenkzeit so lange auszudehnen als möglich. Aber, liebe Julie, Gustav ist dringend, ist liebenswürdig, und – ich liebe ihn und sehe ihn täglich. Wenn ich ihm ferner die Hoffnung ließe, würde er mehr in mich dringen, und ich könnte in einem schwachen Augenblicke Ja, das unwiderrufliche Ja sagen, und – wenn Gustav dann, ungeachtet meiner jetzigen Freude, vielleicht mit mir künftig nicht glücklich wäre? Der Gedanken ist mir unerträglich. Um meiner und seiner selbst willen mußte es schnell zu einer Erklärung kommen, die mich außerstande setzt, in der jetzigen Bewegung meines Herzens einen falschen Schritt zu tun, und die doch mich und ihn nicht bindet. Dazu kam es heute. Ich will Dir alles offenherzig und ausführlich erzählen, sosehr ich auch noch erschüttert bin.
Er bezeugte mir seine Liebe aufs feurigste und bat mich, ihn bald glücklich zu machen durch meine Einwilligung. Ich hatte mich vorher möglichst zu fassen gesucht und sagte so gesetzt, als ich konnte: »Ich werde Sie immer lieben, als eine . . .«
Liebe Julie! Gott verzeih' mirs, ich wollte sagen: als eine Mutter. Und so meint' ich's auch. Aber wie ich den schönen Jungen mit dem trüben, liebevollen Blick vor mir stehen sah, so schämte ich mich, einen so großen und schönen Sohn zu haben. – Daß Du mir nicht lachst! Ich sage dir's, Julie! So alt bin ich nicht, daß ich einen solchen Sohn haben könnte! Was machen armselige neun Jahre? Nein, höre nur, liebste Seele, eine Matrone mag ich noch nicht sein, wenn mir gleich die leidige Überlegung einredet, ich müsse hier handeln wie eine Matrone.
Ich sagte also mit einigem Stocken: »Wie eine Freundin«, und merkte wohl, mein Ton paßte nicht zum Worte. Klopfe nicht, Herzchen! Das Wort ist heraus und mußte heraus:
Er sagte mir viel Liebevolles, sein schwimmendes Auge mehr als sein Mund. Ich ließ beide sprechen, denn es tat mir sehr wohl; ich sank in süßes Staunen, fast ohne deutliches Bewußtsein. Aber kaum kam ich zu einiger Besinnung, so merkte ich, daß mein Auge sprach und daß es also hohe Zeit wäre, den Mund zu öffnen. Ich stammelte, und ich konnte erst keinen Zusammenhang hervorbringen, endlich faßte ich mich so weit, daß ich ihm vorrechnen konnte:
»Sie sind fünfundzwanzig Jahre alt und ich fünfunddreißig.«
Du weißt, liebe Julie, und du sollst's auch wissen, daß ich um ein Jahr und beinahe vier volle Monate log; aber es war zu seinem Besten, und Du siehst doch wohl: ohne meine Philosophie hätte ihn seine Philosophie unklug gemacht.
Ich log also keck: »Sie fünfundzwanzig und ich fünfunddreißig. Wenn Sie fünfunddreißig werden, bin ich fünfundvierzig. Das ist schon arg, da werde ich Ihnen viel zu alt sein.«
Das »alt« blieb mir wieder im Munde stecken, und doch fühlte ich, auch bei dreiundvierzig Jahren und neuntehalb Monaten war meine Wahrheit traurig wahr genug.
Gustav fiel vor mir nieder und schwor, ewig würde seine Liebe sich nicht ändern.
Die traurige Wahrheit von den dreiundvierzig Jahren wirkte auf mich, daß ich standhaft blieb. Ich hob ihn auf mit den Worten: »Lieber Gustav! Ewig ist eine viel kürzere Zeit als zehn Jahre! Sie wissen nicht, daß man im vierunddreißigsten Jahre über manche Dinge ganz anders denkt als im vierundzwanzigsten. Ich aber weiß es, und ich muß Ihnen schon meine Erfahrung leihen, damit Sie nicht Reue empfinden, wenn es allzu spät ist.«
Bei dem Worte »Reue« fiel er wieder zu meinen Füßen nieder.
Was er sagte, kann ich Dir nicht schreiben; denn wahrlich, liebe Julie, es waren Empfindnisse, wobei Worte nichts sind. Mein Sinn war tief versenkt in den lieben Jungen; er küßte meine Hand voll Inbrunst. Nach einigen Minuten fing er an, lebhaft zu sprechen; aber so feurig seine Worte waren, gingen sie nicht an seinen Blick und Händekuß.
Ich gewann so viel Besinnung, mich etwas zu sammeln. Ich zog meine Hand zurück, wollte ihn ernst ansehen, aber, Julie, ich glaube, mein Blick war liebevoll. Ich sagte stammelnd: »Stehen Sie auf, und setzen Sie sich neben mich.«
Er tat's stillschweigend und ergriff meine Hand; ich ließ sie in der seinigen, suchte nach einigen Minuten mich zu fassen und bekam endlich Kraft zu Worten.
»Meine Augen haben Ihnen vielleicht allzu deutlich gesagt, daß Sie meinem Herzen näher sind.«
Er bedeckte meine Hand mit heißen Küssen. Ich zog sie nicht zurück, doch hätte ich gern mein Wort zurückgehabt – ein wahres Wort war es.
Es fehlte mir Atem. Ich holte tief Luft, eine Minute lang. Dies gab mir etwas Besinnung. Ich zog sanft meine Hand an mich und sagte, so ernst ich konnte: »Lassen Sie mich, Gustav!«
Er ließ die Hand. Bei einem noch so unmerklichen Händedrucke würde ich nicht haben reden können.
»Sie sind meinem Herzen näher! Ich liebe Sie – wie meinen Bruder. Ich liebe Sie in jeder Art, wie man lieben kann; nur heiraten kann ich Sie nicht.«
Er unterbrach mich. Mein Zeigefinger drückte sanft die Oberfläche seiner Hand. »Hören Sie mich ruhig an, ich bitte Sie! Es ist für uns beide wichtig, was ich sagen werde. Ich bin Ihre Schwägerin. Ich könnte Sie aber auch lieben in jeder Art. Ich könnte Ihre Mätresse sein – wenn ich unbesonnen genug dazu wäre. Aber das wollen Sie nicht, Gustav! Ich auch nicht. Ich schicke mich nicht zur Buhlerin, Buhlerei ist nicht Liebe!«
»Mein Gott!« rief er.
»Ruhig, Gustav! Ihre Frau, wenn ich auch wollte, kann ich nicht werden. Die Ursachen liegen in äußern Umständen; sie liegen auch in mir, aber nicht im Mangel meiner Liebe zu Ihnen. – Liebe gehört zur Ehe, aber, wenn sie glücklich sein soll, noch manches andere. Sie ist eine Verbindung auf zeitlebens. Beide Teile müssen also vorauszusehen suchen, wie ihre Gesinnungen und Verhältnisse noch nach langer Zeit beschaffen sein möchten. Ich bin merklich älter als Sie. Das ist nicht ein absolutes Hindernis zur Eheverbindung, aber nach meiner Gesinnung ist für mich dieses Hindernis schon allein wichtig genug. Ich war die Gattin Ihres ältern Bruders und verehre ihn noch im Grabe, ungeachtet meine Liebe gegen ihn nicht leidenschaftlich war. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die nach einem alten Manne einen jungen heiraten. Ich bin zu stolz dazu. Lassen Sie mir diesen Stolz, selbst wenn er Vorurteil wäre. Und von Ihrer Seite ist's auch wohl wahr, was ich Ihnen vorher sagte. Sie würden mich nach jeden zehn Jahren viel älter finden als zehn Jahre mehr: und das würde auch meinen Stolz beleidigen; aber was mehr ist, es würde mich unglücklich machen, weil ich Sie nicht glücklich sähe. Ich würde doppelt unglücklich sein, weil ich's vorhergesehen hätte und mir vorwerfen müßte, daß ich von dem Feuer der Leidenschaft eines Jünglings meine Überlegung hätte verzehren lassen. Sie wissen noch nicht, lieber Gustav, wie es im Gemüte aussieht, wenn man über die neunundzwanzig Jahre hinaus ist. Ich aber weiß es. Glauben Sie mir also, und lassen Sie ab.«
Er bestätigte die Treue und Festigkeit seiner Liebe, aber glücklicherweise blieb ich gefaßt und sagte noch ruhig genug:
»Gut, lieber Gustav: Sie sind sehr, sehr jung, und manche Erfahrung fehlt Ihnen noch. Meine Gesinnungen kennen Sie. Ich will tun für Sie, was ich kann. Ich erlaube Ihnen, mich zu lieben, bis Sie dreißig Jahre alt sind. Wollen Sie mich alsdann noch heiraten, so halten Sie sodann nochmals um mich an, und ich glaube, alsdann könnte ich Ihnen meine Hand geben. Aber Sie haben Freiheit bis dahin, jedes andere Frauenzimmer zu lieben. Ich will Ihnen sogar, wenn ich kann, behilflich sein ohne Eifersucht. Einen andern liebe ich nicht während dieser fünf Jahre, das verspreche ich Ihnen. Ich warte – Sie aber sollen keinesweges verbunden sein, auf mich zu warten.«
Er fiel mir abermals zu Füßen, sagte, daß er mich ewig lieben würde, daß er sich mehr an mich gebunden achtete als jemals, daß ich ihn nicht auf eine so harte und lange Probe stellen möchte. Ich hob ihn auf und bat ihn freundlich und dringend, mich allein zu lassen, weil wir beide allzu sehr bewegt wären. Er folgte mir und verließ mit einem tiefen Seufzer mein Zimmer.
Es war Zeit, liebe Julie, denn der Blick seines liebevollen Auges drang tief in mich. Noch jetzt schwebt er vor mir. Ich mußte Dir, innigste Freundin meines Herzens, genaue Rechenschaft von meinem Betragen geben. Aber es ist mir lieb, daß die Erzählung geendigt ist, denn ich muß meinen Tränen Luft machen.
Ich komme nachgerade zu einiger Ruhe. Nachdem Gustav einigemal mit viel Feuer und Liebe versucht hatte, meinen Entschluß wankend zu machen, blieb ich immer standhaft, und so hat er sich endlich dareingegeben, noch fünf Jahre zu warten. Ich habe ihm wiederholt, daß er ganz frei in seiner Neigung bleiben solle, daß er befugt sein solle, um sich zu schauen auf jedes Frauenzimmer, das sein Herz auf sich ziehen könnte. Ich habe ihm sogar ganz unbefangen gesagt, er könne mich über jede Herzensangelegenheit zu seiner Vertrautin machen, ich würde ihm Rat geben nach meiner wahren Neigung zu ihm. Er sagte mit einem Blicke voll Innigkeit: er würde mir oft etwas zu vertrauen haben, aber nur über mich selbst. Wir wollen sehen.
Indes weiß ich nun meiner Überlegung Dank, daß ich meinen Entschluß richtig nahm und schnell ausführte. Ich habe mich dadurch in eine sehr angenehme Lage gesetzt. Gustav liebt mich, und ich darf meiner Liebe gegen ihn nun ohne Bedenken Gehör geben. Wir haben die angenehmsten Stunden. Unsere Herzen öffnen sich, und ich schaue täglich tiefer in die edlen Empfindungen des seinigen. Seine Prätension, seine Frühweisheit ist weg; es war nur ein Rost, der sich in der dumpfigen Atmosphäre der Schule angesetzt hatte, der aber in der heitern Luft der menschlichen Gesellschaft abgerieben wird, so daß der natürliche Glanz seiner guten Eigenschaften hervorkommt. Denn nun macht er keine Schwierigkeiten, in Gesellschaften zu gehen, und er gefällt in den besten Zirkeln unserer Stadt. Auch dieses macht mich sehr glücklich. Welches Weib sieht nicht gern die Anmut und die Talente ihres Geliebten ins schönste Licht gesetzt?
Ganz unvermutet wird meine Ruhe unterbrochen. Gustav hat sich nie um seine Vermögensumstände bekümmern können. Ein junger Mensch denkt nicht daran, und sein Vormund hielt ihn geflissentlich davon ab. Seit einiger Zeit glaubte Gustav zwar einige Unordnungen zu merken, denn er war aufmerksam auf seine eigenen Angelegenheiten geworden, seitdem er die Geschäfte des Obersten betrieb. Der Vormund wußte immer Ausreden zu machen und verließ sich darauf, ein Schöngeist würde nicht verstehen zu untersuchen und zu rechnen. Nachdem aber Gustav volle fünfundzwanzig Jahre zurückgelegt hatte, so forderte er Rechnung von seinem gewesenen Vormunde und die Auslieferung aller seiner Obligationen und Papiere. Da es hierüber nach manchem Streite zur Sprache kam, so zeigte sich, daß sein ganzes Vermögen auf die unverantwortlichste Art längst war vergeudet worden. Der Vormund ist entlaufen und hat den schändlichsten Bankrott gemacht, woraus nach zwei oder drei Jahren kaum zehn von Hundert kommen können, welches nicht zu den Gerichtskosten zureichen wird. Gustav ist nun also aus dem Zustande des Wohlstandes in gänzliche Armut versetzt. Aber er soll nicht arm sein, solange ich noch etwas habe.
Ich bin seit einigen Tagen in größter Unruhe gewesen. Man hat dem Vormunde vergeblich nachgesetzt. Alle Hoffnung ist nun verloren. Gustav ist dabei gefaßt über alle Erwartung und findet sich auf eine edle Art in sein Unglück. Meine Liebe zu ihm wird dadurch noch mehr angefeuert. Ich wollte ihm gern helfen, aber wie? Ich habe alle Wendungen erschöpft, um ihn zu bewegen, daß er Unterstützung von mir annehme, von mir, die ich doch seine nächste Verwandtin bin, wenn ich ihm auch sonst nichts wäre. Aber er ist unbeweglich und führt mir dieselben Gründe an, die ich ihm ehemals angab, weshalb der Oberst von ihm keine Unterstützung würde annehmen wollen und können, und darauf kann ich denn freilich nicht viel sagen. Er ist nicht abzuhalten gewesen, einige Juwelen und andere Kostbarkeiten zu verkaufen für die dringendsten Bedürfnisse. Aber diese Hilfe kann nicht lange dauern. Nun wünscht er, ein Amt zu haben, aber wo wird sich gleich eins finden? Indes macht er dazu die nötigen Schritte und läßt keinen erlaubten Weg unversucht. So veranlaßt Unglück zuweilen eine lobenswürdige Anstrengung der Kräfte und mit derselben Geselligkeit und Zartgefühl. – Wenn ihm doch nur auf irgendeine Art zu helfen wäre! Ich bin durchdrungen von Mitleid, von Hochachtung und (ich will es Dir nur gestehen) von reiner Liebe gegen den lieben Unglücklichen.
Du hast seit drei Wochen keine Zeile von mir gesehen, aber ich habe auch viel zu tun gehabt.
In Geschäften?
Jawohl! Ich bin gelaufen, habe geschrieben, habe unterhandelt, habe Rat gesucht, und – (Viktoria!) Gustav ist nun Hofrat bei der Regierung. Es hat mich etwas Geld gekostet, aber das ist wohl angewendet, und er soll nichts davon erfahren. Der alte Hofrat G. starb gerade zur rechten Zeit. T. hatte die Anwartschaft auf die Stelle, bekam aber eben jetzt glücklicherweise auch andere Aussichten. Dies erfuhr ich zufällig und klopfte gleich an und überließ ihm selbst die Bedingungen.
Die Sache war bald zwischen uns abgemacht, und T. besorgte das Nötige bei dem Fürsten und bei der Regierung. Die großen Perücken haben Gustaven examiniert. Stelle Dir vor, der Spekulant und Poet hat in ihrem Rechtswesen wohl bestanden. Wohl ihm, daß er für den Obersten und für sich kürzlich Geschäfte betrieben hat, denn sonst hätte er wohl alles vergessen. Kurz! Gustav ist Hofrat, so fest Hofrat als einer von denen, die an dem Tische mit dem grünen Teppiche sitzen. Und – wenn ich ihn nun heirate? Wann? Nach fünf Jahren? Nach vier Jahren? Warum nicht gar! Es muß eher sein, sonst wird's nichts. Wenn ich ihn also heirate, bin ich die Frau Hofrätin, daß Du's weißt. Gib mir meinen rechten Titel, das sag' ich Dir. Ich bin ausgelassen vor Freude! Alles hat sich so trefflich schicken müssen. Lebe wohl, mein Herz!
Unser Mann findet sich vortrefflich in seine Amtsgeschäfte. Ein talentvoller Jüngling kann sich zu allem bilden, sobald ihn nur Dünkel und Schulweisheit nicht verderben. Dabei hat Gustav in den wenigen Wochen die Liebe aller derer erworben, mit denen er zu tun hat. Meinst Du nicht, daß mich das freuet? Er weiß sich in alle Charaktere zu schicken, ohne den seinigen zu verleugnen. Wenn ich den geselligen – und fast möchte ich sagen: den moralischen – Charakter eines Menschen zu würdigen habe, ist mir der der höchste, der dieses auf eine edle Art zu erlangen weiß; denn es gehört Verstand, gutes Herz, Beurteilungskraft und Menschenliebe dazu. Die jungen Leute, die nirgend an ihrem rechten Orte sind, immer entweder zuviel oder zu wenig wollen, immer fordern und nichts leisten, immer in kindischer Peinlichkeit oder in stolzem Mißvergnügen sind, die immer eine eigene Welt haben wollen, wo sich alles nach ihnen richtet – was machen wir mit denen? Du bist eine starke Seele, Julie! Du leihest ihnen ein paar Pistolen, damit sie sich mit Lärm aus dieser Welt fortschaffen können. Ich? Ich lache sie aus und lasse sie laufen; sie laufen nicht weit, die Püppchen! Ihr erhabenes Unwesen hält nicht gegen das Auslachen. Lache einmal einen erhabenen Charakter aus; er bleibt, was er ist.
Gustav hat nun sein Erhabenes abgelegt wie einen fremden Mantel, ist nun natürlich, gut, edel und trefflich und soll in dieser Welt bleiben.
Gustav wird täglich andringender mit seiner Liebe. Wenn ich sagte, daß mir dies nicht wohltun sollte, würdest Du es nicht glauben. Aber wenn ich weiter denke, an eine lebenslängliche Verbindung, wenn ich überlege, so komme ich immer wieder aufs alte zurück: er kann nicht nach zehn, geschweige nach zwanzig Jahren mit einer Frau glücklich leben, die älter ist als er. Der Muttername ist süß, aber der Name »Gattin« ist von einer ganz andern Süßigkeit. Wenn Gustavs jüngeres Alter, das gegen das meinige mit zunehmenden Jahren ihm immer merklicher werden muß, ihn je hinderte, in der ganz gleichen Vertraulichkeit, in der gänzlichen Zusammenschmelzung der Seelen zu verharren, wie könnte er glücklich sein mit seinem feinen Gefühle? Und was würde ich sodann sein? In meiner ersten Jugend mußte ich, gezwungen, mich aufopfern, und es gelang mir, durch guten Willen und Ausdauer einen wackern Mann glücklich zu machen; sollte es mir weniger gelingen durch ein freiwilliges Opfer? Meine Liebe zu Gustav ist weder sinnlich noch selbstisch.Das bedeutende engländische Beiwort »selfish« wird durch »selbstsüchtig« fast etwas allzustark, wenigstens in manchen Wendungen allzu schwerfällig ausgedrückt. Adelheid konnte also füglich das Wort »selbstisch« bilden für »selfish«. Könnte ich ihn nicht ganz glücklich machen, würde ich selbst im Unglücke verloren sein. Will ich etwas anders, als ihn glücklich sehen?
Und dann kommt er mit seinem liebenden Auge, mit seiner ehrlichen Stirn und mit seinen braunen Locken, die ihm um den weißen Hals wallen. Ach, Julie! Ich zanke mit mir selbst, daß ich so verständig bin.
Du sagst, ich bin wunderlich. Kann sein! Aber ich habe diese Nacht über alles noch mal mit meinem Kopfkissen überlegt, und es bleibt dabei: Gustav soll und muß mich nicht zur Frau haben, ich bin jetzt schon verständiger als er. Was würde es vollends in zehn oder zwanzig Jahren werden; denn so lange und länger wollt' ich bei ihm bleiben, und auf so lange und längere Jahre sieht mein Verstand voraus. Oh, der Verstand verdirbt doch die beste Freude, wenn man sich verliebt. Und was das schlimmste ist: der Verstand untersteht sich, recht zu haben. Kannst Du Dir etwas Ärgeres denken als eine Frau, die verständiger ist als ihr Mann? Und älter noch dazu.
Du meinst, liebe Julie, ich soll nicht scherzen über eine sehr ernsthafte Lage, worein ich mich gesetzt habe. Jawohl: Ich habe mich selbst darein gesetzt! So geht's, wenn man's Herzchen wie ein krankes Kind hält und ihm seinen Willen tut. Herzchen will immer mehr, als es sollte. Auch sollst Du nicht etwa denken, mein Scherz wäre Leichtsinn; er kommt aus dem Innersten der Seele. Ich bin wie die, welche im Finstern laut singen, damit man nicht glauben soll, sie fürchteten sich.
Gustav will von den fünf Jahren Aufschub gar nichts mehr hören. Er wird immer dringender und immer liebenswürdiger, und mein Herz wird immer wärmer. Ich fühle, ich werde zuletzt nicht stark genug sein; ich werde einen Schritt tun, der mich unaussprechlich glücklich machen würde. – Nun, so tue ihn, sagst Du. Du hast es schon zweimal gesagt. Aber, liebste Seele, ich komme immer wieder darauf zurück: das Mißverhältnis des Alters verbietet es.
Aber ich fühle mich allzu schwach. Gustav wird traurig über mein Verschieben. Sein ängstlicher Blick erregt Teilnehmung in mir. Säh' ich ihn länger in dieser traurigen Stimmung, ich würde nicht widerstehen können. Ich muß Hilfe haben.
Liebe Julie! Ich denke, die Hilfe kommt. Ich suchte einen Vorwand, um meinen Hofrat Gustav zu einer Reise nach T. zu bewegen. Er blieb da einige Tage. Nachdem er mir von dem Geschäfte Bericht erstattet hatte, fragte ich nach Amalie L. und sah in seine Augen. Sie erheiterten sich. Er hatte Amalie besucht, mehrmals, erzählte unaufgefordert von ihr, ganz unbefangen, versteht sich. Aber die Liebe ist scharfsichtig. In einem Winkelchen seines Herzens sah ich Amaliens Bild schon eingeprägt. Der Ungetreue! Doch ich muß ihm helfen!
Nun glaube ich dreifach, daß die Vernunft auch in der Liebe nützlich ist. Ich bin seitdem, ohne daß Gustav es wußte, in T. gewesen. Ich habe mit der Tante, meiner Freundin, abgemacht, daß Amalie zu mir kommen und ein Jahr in meinem Hause bleiben soll. Sie ist heute schon eingetroffen.
Mein Herz fängt an, leichter zu werden. Aber in einzelnen Augenblicken ist es wieder so schwer. Es kostet mich viel, so verständig zu sein. Ich hätte doch nicht gedacht, daß ich noch so schwach wäre! In den Büchern ist's so leicht, über jede Neigung zu siegen; da steht die Philosophie so fest mit der gefällten Hellebarde, alles Sinnliche aufzuspießen, was der reinen Vernunft in den Weg zu treten wagt, aber wenn man sich selbst recht tief ins Herz sieht, da hat die Philosophie Lust davonzulaufen, und ihre Hellebarde steht nur fest, wenn die Neigungen sich selbst gegeneinander schwächen und so unvermutet auf den Spieß auflaufen. Dann singt die Philosophie ein Tedeum und meint, sie allein habe alles getan.
Ich habe mir ein kleines Fest gemacht mit der ersten unvermuteten Zusammenkunft. Gustav war etwas betroffen, da ich ihm Amalien als meine jetzige Gesellschafterin vorstellte. Der kleinen Hexe scheint es nicht übel zu gefallen, Gustaven täglich zu sehen. Ich wiege mich mit dem Gedanken, daß etwas Neues hieraus entstehen wird, und ich denke, etwas Gutes.
Und doch kann ich keine Nacht schlafen. Ich gräme mich, daß ich recht handle, und gebe meiner Vernunft Ohrfeigen, weil sie über mein Herz siegen will. Und die Vernunft sagt: Schlag zu, aber höre mich.
Das Wesen geht fast geschwinder, als ich mir vorgestellt hätte, und ich finde es manchmal ganz seltsam, daß alles so gut gelingt.
Die jungen Leutchen sehen sich gern, und ich lasse sie sich gern sehen. Gustav, das muß ich ihm zum Ruhme nachsagen, macht seine Sachen hübsch. Er verläßt mich nicht etwa geradezu, als wäre ich gar nichts. Er kommt sehr oft, mir seine Schuldigkeit zu bezeugen, und die nehme ich dann an – als Schuldigkeit – und reiche ihm recht stattlich die Hand zum Küssen. Man muß auf sein Ansehen halten, gute Freundin!
Aber er scheint mir bei Amalien ungezwungener zu sein, und sie ist so liebreizend und so unbefangen, und die großen blauen Augen sehen so herzrührend in seine blitzenden schwarzen.
Doch mit einem Male kommt er mir gestern wieder – unter vier Augen – mit seiner feurigen Liebe und hätte mich beinahe unvermutet wieder wankend gemacht; denn das erwartete ich nicht mehr. Aber ich denke, ich habe es recht beurteilt: er fühlte, es war seine Schuldigkeit. Da erinnerte ich mich meiner Schuldigkeit. Ich sagte ihm lächelnd: »Wir haben ja noch Zeit. Sie wissen, ich habe beinahe noch fünf Jahre zu warten, ob sich nicht eine andere fände.« Er wollte feurig antworten, aber es war, als stocke etwas in ihm. Ich drohte ihm mit dem Finger: »Da ist Amalie«, sagte ich, »die ist jünger als Sie.« Er ward blutrot, wollte meine Hand ergreifen und stammelte etwas daher. Ich ließ ihn nicht ausstammeln, sondern sagte mit möglichstem Ernste: »Gustav, Sie sind fünf Jahre lang ganz frei, brauchen Sie Ihre Freiheit!« Er schien wirklich betroffen zu sein.
Ich stand auf, um in mein Kabinett zu gehen; denn wirklich, der Atem ward mir sehr kurz. Ich will Dir bekennen: als ich allein war, floß ein Strom von Tränen, aber ich fühlte doch bald, auch Tränen der Freude waren darunter.
Gustav braucht seine Freiheit. Ich sehe es und seufze und freue mich; denn er geht nun wahrem Glücke entgegen. Die beiden Täubchen sehen nur sich, und also kann ich desto sicherer beobachten. Zuweilen ergreift's mich, daß es so wahr hat sein müssen, was ich Gustaven voraussagte; aber ich beruhige mich bald wieder. Und Amalie! – Du glaubst nicht, wie liebenswürdig sie ist und wie sehr ich sie liebe, deswegen, weil Gustav durch sie glücklich werden wird. Es wohnt in mir eine Empfindung der Ruhe und Zufriedenheit mit mir selbst, eine Wonne, wogegen alle Leidenschaft nichts ist. Wer die Liebe nur kennenlernt, um sie beschrieben oder höchstens dargestellt zu sehen, fasset diese Seligkeit nicht. Ich fühle sie ganz!
Und doch, liebe Seele, kann ich Dir nicht verhehlen: wenn ich die beiden Liebenden mit einer zärtlichen Teilnehmung betrachte, ertappe ich mich oft auf tiefem Atemholen und einer Träne, die aus dem Auge rieselt. Sollte es Leidenschaft geben, wobei man äußerlich ganz ruhig ist?
Ich dachte nach, was zu tun schicklich wäre, da die jungen Leute sich täglich herzlicher vereinigen, und glaubte Amaliens Tante von der Sache Nachricht geben zu müssen, um ihre Meinung darüber zu vernehmen. Denn ich wollte doch nicht gern bei ihr in unrechtem Lichte erscheinen, im Falle ihre Gedanken von den meinigen unterschieden wären. Sie antwortete nach Wunsche und billigt alles. Ihre Feder strömt über von Gustavs Lobe, und – stelle dir vor! – sie schreibt: es wäre allgemein gesagt worden, ich und er würden ein Paar werden. Ich könne, setzt sie hinzu, dieses Gerücht nicht kräftiger widerlegen als durch Beförderung seiner Heirat mit Amalien. Das heißt also: ich bin zu alt für Gustav. Und das hätte jedermann gesagt? Es wäre doch impertinent. Was haben sich die Leute um uns zu bekümmern? – Aber, liebe Julie, wenn es nun Gustav selbst einmal – nicht gesagt, nur gedacht, nur im innersten Gedanken gedacht hätte? O genug! Genug!
Übrigens ist eine Tante ein hassenswürdiges Geschöpf. Gott sei gelobt, daß ich keine Nichte habe! Und doch werde ich diese Tante, die mir zu verstehen gibt, ich wäre zu alt, herzlich umarmen müssen und umarme sie gewiß auch recht herzlich. Bin ich nicht eine gute Seele? Habe Geduld mit mir, liebe Julie, und mit meinem Geschwätze, und habe auch ein wenig Mitleiden mit mir. Ich kann manche Nacht nicht schlafen, und dann finde ich, es kostet viel, um gut zu sein. Doch ich sage mir auch: gut zu sein ist wohl eines großen Opfers wert; und ist das wahr, so bemitleide mich nicht.
Die Sache neigt sich zur Entwickelung. Ich habe mit Gustav eine Szene gehabt. Ich kann sie Dir nicht beschreiben – und beschreibe sie nun doch.
Ich hatte ihn für frei erklärt, und er kam – mich daran zu erinnern. Ehe er ein Wort sagte, wußte ich alles, und ich las in seinen Augen, er wußte, daß ich alles verstand. Wozu müssen Worte sein zu solcher Szene? Wäre Amalie an seiner Stelle gewesen, ich hätte sie herzlich in meine Arme geschlossen. Ein Kuß hätte mir, hätte ihr alles erklärt. Aber mit Gustav mußten es Worte sein.
Sie wurden ihm, sie wurden mir sehr schwer. Wie er's wendete, um mir zu sagen, daß er meine Erlaubnis, Amalien zu lieben, annehme, ob er mich um Vergebung bat, ob er Entschuldigungen stammelte, ob er Entschuldigung bedurfte – ich hörte von allem nichts, weiß wenigstens jetzt nichts davon. Ich kam zu mir, als er sagte, Amalie liebe ihn. Da ging mir das Herz auf; ich ergriff seine Hand, sie sanft zu drücken; aber Worte wurden mir nicht, ihm auch nicht; seine Augen hafteten auf den meinigen; wir empfanden zu viel; es mußte unterbrochen werden. Ich verließ ihn – um Amalien ihm zuzuführen. Ich legte ihre Hände ineinander. Beide umarmten sich. Amalie fiel in meine Arme. Gustav küßte meine Hand. Ich kann nicht mehr schreiben. Denke Dir weiter, was Du kannst!
Ich schreibe Dir dieses spät in der Nacht, denn ich war heute vormittag so bewegt, daß mir das fernere Schreiben unmöglich ward. Meine Lebensgeister sind auch erst seit ein paar Stunden wieder beruhigt. Ich kann nun fortfahren.
Nachdem ich Amalien mit voller Inbrunst an mein Herz gedrückt hatte, kam ich endlich so weit zu mir, daß ich Amaliens Hand in meine Linke, Gustavs Hand in meine Rechte nahm und mich zwischen beide setzte; denn meine Füße schwankten, und ich glaube, ihre auch. Noch sprachen nur unsere Augen und unsere von Wonne bebende Brust. Wir schöpften endlich etwas langsamer Atem und fanden Worte. Wir mußten anfangen zu sprechen, um etwas ruhiger zu werden. Es kam unter mehreren die Rede, Gustav müßte um Amalien bei ihrer Tante anhalten. Ich legte ihren Brief in seine Hand. Beide entsetzten sich vor Freude. »Auch dafür haben Sie gesorgt!« rief Gustav, und ehe ich's wehren konnte, küßten beide meine Hand. Diese Küsse gingen ins Herz. Wir drei zerflossen in Tränen. Ihre weinenden Augen waren so beredt!
Warum weinen wir in der äußersten Freude? Ich bin jetzt so froh, bis in mein Innerstes so unaussprechlich glücklich, und meine Tränen fließen aufs Papier.
Ich kann nicht weiterschreiben.
Wir sind hier alle in arger Unruhe um Kleinigkeiten. Anstalten zur Hochzeit! Warum Anstalten dazu? Macht man Anstalten zum Sterben? Das ist doch auch ein Übergang in ein glücklicheres Leben!
Doch sind da nun die Einkäufe und die Visiten und die lahmen Glückwünsche und das Küchengeschirr, die Tischtücher, die Teller, die Leuchter, die Stühle, die Schränke, die Vorhänge und, so Gott will, der Plateau. Hat man je solch ungereimtes Zeug gesehen? Und doch ist das Zeug nötig. Nötig? Wahrlich, kalt überlegt, ist wenigstens ein Teil wirklich nötig und der andere Teil nicht zu entbehren. Viele Dinge scheinen uns ungereimt, wenn wir nur auf uns selbst sehen, und sind es nicht, wenn wir in Betrachtung ziehen, was um uns ist.
Ich sähe gern gar nichts als Gustav und Amalien. Gustav und Amalie sehen nur sich beide und sollen nichts anderes sehen. Also muß ich wohl um mich schauen und auf alles bedacht sein, um so mehr, da sie künftig in meinem Hause wohnen sollen; denn trennen könnte ich mich unmöglich von den beiden Lieben, auch nicht auf eine Stunde. Da nun das sein soll, so muß ich auch schon sorgen, daß sie in meinem Hause das ungereimte Zeug finden, dessen sie nicht entbehren können, wenn sie nach wenigen Wochen nicht nur sich beide, sondern auch viele andere Leute sehen werden, unter denen sie leben müssen.
Wie? Wird denn die Zeit kommen, da sie auch andere sehen außer sich beiden? Sie muß kommen, und dann sehen sie die ganze Welt und sind doch sich selbst genug!
Gestern war die Hochzeit. Der Bräutigam, simpel gekleidet in einem leichten bischoffarbenen Fracke und weißem Gilet, schien in seinem Gesichte mit den schön gelockten, braunen Haaren an Gesundheit und blühender Farbe ein Jüngling, im Ausdrucke des Edelmuts und Talents ein Mann. Als ich ihn der Braut zuführte, war ich unbeschreiblich froh. Er schlug einen Augenblick die Augen nieder vor mir; das ging mir tief durch die Seele, und doch tat mir's wohl. Die Braut hatte ein weißseidenes griechisches Kleid, eine goldene Kette um den Hals; es war die Kette der Liebe. Ihr blondes Haar floß in natürlichen Locken über ihre Schultern tief herab; zwei Rosenknospen waren in den jungfräulichen Myrtenkranz geflochten. Unschuld und Wahrheit belebt dieses Gesicht.
Nur auserlesene Freunde waren die Hochzeitsgäste, eine mäßige Zahl. Unser alter Vetter stellte den Vater des Bräutigams vor. Mein Herz klopfte mir, daß nun Gustavs Glück befestigt war. Als der Geistliche sie auf immer verband und sie segnete, übertäubte mein inneres Gefühl das äußere. Ich mußte in mein Kabinett gehen, mich in meinen Lehnstuhl zu werfen. Es ergriff mich wie noch nie! Ich fühlte nun die ganze Größe des Opfers. Liebe Julie! Sieh nicht auf die Tränentropfen, die meine Schrift verlöschen. Es ist ja erlaubt, einen Greis zu beweinen, den man liebte, ob man gleich dem Laufe der Natur nach den Verlust voraussah und ihn wohl gar wünschte, weil der geliebte Hinfällige zu sehr litt. Warum soll es mein schwaches Herz nicht auch fühlen, daß ich es nicht mehr diesem süßen Manne geben darf, ob ich ihm gleich selbst entsagte, um ihn glücklicher zu sehen? Hier ist Schmerz mit Freude vermischt, mit dem innigsten Grade der Freude. Ich sehe ihn ganz glücklich, und auch ich bin glücklich, liebe Julie! Wirklich sehr glücklich, da nun der erste Sturm der Leidenschaft vorbei ist.
Ich erholte mich ziemlich bald und kam wieder zur Gesellschaft. Man hatte mich vermißt. Braut und Bräutigam eilten auf mich zu. Ich umarmte die Braut und auch den lieben Bräutigam – zum ersten Male in meinem Leben. Ich schlang meine Arme fest um ihn und empfand Wonne wie noch nie. Ihm kamen die Worte eher als mir. Er rief aus, indem noch sein warmer Hauch an meine Wangen strich: »Das Glück meines Lebens bin ich Ihnen schuldig!« Er wollte mir danken. Ich hörte nichts. Meine Arme glitten ab; meine Kniee zitterten; ich setzte mich atemlos nieder. Man sagt, ich wäre totenblaß gewesen. Ich kann nicht mehr schreiben! Mir ist wohl. Ich habe heute mein Testament gemacht, daß sie meine Erben sein sollen.
Freude und Schmerz hat mich verlassen. Ich bin ruhig, sehr ruhig. Die Welt ist schön um mich, der Himmel ist heiter, die Bäume grünen, die kühle Luft wehet; aber ich scheine mir auch nur zu wehen und zu grünen. Nein, ich lebe; denn ich sehe Amalien und Gustav so innig, so glücklich leben, ich lebe mit ihnen und in ihnen, und bloß in ihnen kann ich leben. Und doch ist's mir so schwer in der Brust, ich bin da und bin abwesend. Liebe Julie! Hälfte meines Herzens, ich sage Dir alles: ich hätte ihn nicht umarmen sollen! Warum gab mir der Himmel warmes Blut bei einer heiß empfindenen Seele?
Du sagst, ich soll mich nicht gereuen lassen, was ich getan habe. Liebe Seele! Du hast den Punkt gefunden, der Deine arme verirrte Adelheid wieder zu sich selbst bringen muß. Daß es mich gereuen sollte? Nimmermehr! Jeden Tag nimmt meine Freude darüber zu, daß ich Mut hatte, das Opfer zu bringen; denn sie sind glücklich und werden es bleiben. Aber, liebe Julie, habe Nachsicht mit mir. Mein Zustand ist wie der des Sokrates, als man ihm die Fesseln abnahm. Die Haut seines Fußes war so reizbar geworden, daß ihm eine angenehme Empfindung durch die Nerven zitterte, als der Druck der Fesseln aufhörte. So kann Freude aus Schmerz entstehen. Mein Verstand sagt mir, ich habe recht getan; und ist der Verstand kräftig, so bezwingt er ja äußere Empfindung, warum nicht endlich auch innerliche. Die Überwindung kostet Mühe, aber die Mühe ist wohl angewendet.
Gustav ist ein Schwätzer. Er hat Dir geschrieben, ich wäre krank. Nun, wenn ich's wäre? Auch Liebe kann Krankheit sein. Du glaubst, ich müsse krank sein, weil meine Briefe nicht voll der gewöhnlichen heitern Scherze wären. War ich sonst scherzhaft? Fast erinnere ich mich an so etwas. Aber heiter bin ich noch, liebe Julie. Mein Blut, das wärmer wallt, als ich gedacht hätte, brachte mich in Leidenschaft, und Leidenschaft ist Schwäche, wäre es auch noch so süße Schwäche. Jetzt fange ich an, stärker zu werden, das heißt ruhiger. Jeder Tag macht meinen Geist heiterer; denn Amalie und Gustav lieben sich täglich mehr. Amalie trägt ein Pfand der Liebe unter ihrem Herzen. Das schafft neue Freude. Gustav hängt nun mit doppelter Inbrunst an seiner Amalie und ich an beiden. Wäre mein Körper auch ein wenig erschüttert, die Freuden der Seele werden ihn heilen. Gustav und Amalie machen mir täglich neue Seelenfreuden.
Unser Wunsch ist erfüllt. Amalie ist von einem gesunden Knaben entbunden, des Vaters Ebenbild. Wohl mir, daß ich etwas habe, was ich von Herzen lieben kann. Meine Seele schwimmt in Freude. Diesem Kinde weihe ich mein ganzes übriges Leben. Jetzt muß ich für ihn sorgen Tag und Nacht. Ich kann daher nur wenig schreiben. Bald wird die Zeit kommen, daß der Knabe mit mir schwatzt, alsdann werden meine Briefe auch wieder scherzhaft sein – und noch eher. Lebe wohl! Der Knabe wacht auf, ich muß ihn an der Mutter Brust tragen.
Mehr Briefe sind nicht mitzuteilen. Adelheid lebte so lange, daß sie den Knaben, ihren Liebling, die Gefahren aller Kinderkrankheiten glücklich überstehen sah. Sie ward nach und nach schwächer. Der Samen der Krankheit lag lange in ihr, durch vieles Nachtwachen bei den Krankheiten des Kindes mochte sie vielleicht das Übel vermehrt haben. Sie war an zwei Monate bettlägerig, die Abzehrung nahm zu, aber ihr Geist blieb beständig heiter. Am Tage vor ihrem Tode schrieb sie mit zitternder Hand unter einen Brief Gustavs, der von ihrem Zustande Nachricht gab:
Denke nicht, daß ich sobald sterben werde. Aber wäre es, so verlasse ich ja alles glücklich, was ich liebe. Wäre ich Gustavs geworden, so würde ihn mein Tod ganz unglücklich machen, und das wäre mir das bitterste. Jetzt hat er Amalien und seinen Knaben. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie lieblich der lächelt und »Vater!« ruft.