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Von jenem Tage an war Edmee auf ihrer Hut. Der Krieg war erklärt und sie war entschlossen, ihn mit der ganzen ihr eignen Heftigkeit fortzuführen. Wäre sie weniger aufbrausend und etwas sanftmütiger gewesen, so hätte sie, wie Ferdinand sagte, eine große Gewalt über ihn auszuüben vermocht, er hätte sich von ihr beherrschen und besänftigen lassen. Sie aber hatte gehandelt, wie ihre Natur es ihr gebot, und mußte demnach die unheilvollen Folgen ihres stolzen, argwöhnischen und unabhängigen Charakters über sich ergehen lassen. Schon als Kind hatte sie sich so wenig sanft und zärtlich erwiesen, daß sie ihre Mutter nicht für sich gewinnen konnte, ja sie benahm sich meist so kalt, scheu und zurückhaltend, daß die leichtfertige, empfindsame Regine sich von ihr abgewendet hatte. Als diese sich mit Herrn von Ayères verbinden wollte, hatte sie sich empört und mit erstaunlicher Kühnheit gekämpft; heute stieß sie durch ihre unerbittliche Strenge einen Unglücklichen ins Verderben, den eine einzige Regung von mitleidigem, großmütigem Erbarmen zum Guten zu leiten vermocht hätte.
Sie selbst überkamen Anfälle wilder Verzweiflung. Fast den ganzen Tag in ihrer Arbeitsstube eingeschlossen, berührte sie dennoch keinen Pinsel, da alle Arbeitslust von ihr gewichen war. Mit starrem Blicke, auf einem Sofa ruhend, prüfte und überdachte sie ihre schreckliche Lage von allen Seiten, ohne indes zu einer glücklichen Lösung zu gelangen. Immer stand als unüberwindliches Hindernis ihre Mutter vor ihr, der sie so lange als möglich die niederschmetternde Enthüllung ihres gemeinsamen Unglücks vorenthalten wollte. Das Kloster war das einzige Verteidigungsmittel, das sie ausfindig machen konnte.
Sie erschien zum Frühstück und bei der Mittagstafel, doch nach jeder Mahlzeit eilte sie, sich in ihrem Zimmer einzuschließen. Erst hinter der verriegelten Thür atmete sie auf. Dieses anhaltende Bedürfnis nach Einsamkeit konnte nicht verfehlen, Regine in Erstaunen und Unruhe zu versetzen. Wie, das junge Mädchen hörte plötzlich auf, im Salon zu verweilen, richtete kein Wort mehr an Ferdinand, nachdem sie zuvor in freundschaftlicher Vertraulichkeit miteinander verkehrt hatten! In all diesem lag Grund genug zu bedenklichen Betrachtungen, und Edmee sah voll Bangen dem Augenblick entgegen, wo ihre Mutter Argwohn fassen würde.
Glücklicherweise wendete Regine sich zuerst an Ferdinand behufs Aufklärungen. In der gereizten Stimmung, die er zu verhehlen gezwungen war, konnte er seine Fassung nicht bewahren und erging sich in bitteren Klagen über das elende Leben, das er zwischen einer eitlen, verdrießlichen Frau und einer störrischen, stummen Tochter verbringen mußte. Er fluchte dem Wetter, das so garstig, dem Schlosse, das so schauerlich einsam, und zeigte sich derart gedrückt und entmutigt, daß Regine in heller Verzweiflung ihm den Vorschlag machte, am nächsten Tage mit ihm nach Paris zurückzukehren. Sie glaubte damit seinen Wünschen entgegenzukommen, er aber wies sie barsch zurück. Schließlich fing sie zu weinen an und verdoppelte durch ihre Thränen seine Gereiztheit, deren wahre Ursache er ihr vorenthielt. Er wurde nun brutal, ließ sie hart an, und als er sah, daß sie mit Entschuldigungen und Klagen nicht zu Ende kommen sollte, entfernte er sich, um nicht von dem wahnsinnigen Verlangen, ihr ein Leid anzuthun, überwältigt zu werden.
Sodann befragte sie Edmee über die Gründe ihrer plötzlichen scheuen Zurückhaltung. Das junge Mädchen spielte die Erstaunte und gab vor, die Beobachtungen ihrer Mutter gar nicht zu verstehen. Sie sei wie gewöhnlich, nur beteilige sie sich, weil eine in hohem Grade fesselnde Arbeit sie völlig in Anspruch nehme, vielleicht etwas weniger als früher an dem gemeinschaftlichen Leben. Wenn aber jedermann im Schlosse sich so zu beschäftigen wüßte, wie sie, so gäbe es keinen Müßiggang und folglich auch keine Langeweile. Ihre Liebhaberei sei das Malen; Herr von Ayères habe die Jagd und Ausflüge. Worüber hätte er sich also zu beklagen?
Sie äußerte sich in gemäßigter, äußerst taktvoller Weise, indem sie sich bemühte, sich zu beherrschen und die heftigen Worte nicht laut werden zu lassen, die sich ihr auf die Zunge drängten. Es gelang ihr, die Besorgnisse ihrer Mutter irrezuleiten und ihr die Ueberzeugung beizubringen, daß die Ursache des Zwistes nicht von ihr herrühre.
Hierauf zögerte Regine nicht langer und eröffnete ihr Herz rückhaltslos der Tochter. Sie gestand ihr, welche Qual ihr die unbändige, düstere Laune Ferdinands verursache. Sie ließ sie in ihr Herz sehen und enthüllte ihr einen Teil des geheimen Abgrundes ihrer Schmerzen; sie flehte Edmee um Beistand an, nicht um das Glück zu finden, sondern bloß um sich etwas Ruhe zu verschaffen. Ihr junges, frisches Gesicht war der Reiz des Hauses, und seit sie sich absonderte, war alles düster und trüb geworden. Sie erflehte es als einen Beweis ihrer kindlichen Liebe von ihr, sich weniger abseits zu halten, indem sie behauptete, daß von dem Augenblicke an alles besser gehen würde.
Fräulein von Croix-Mort hörte diese entsetzliche Forderung an, ohne mit der Wimper zu zucken. So sollte sie sich demnach als Köder gebrauchen lassen, um denjenigen anzulocken, gegen den ihr verletztes sittliches Gefühl sich aufbäumte und den sie für immer meiden wollte! Und dies alles aus kindlicher Liebe. Das Herz von Abscheu geschwellt, doch mit ruhiger Stirn willigte sie ein, sich dem Wunsche Regines zu fügen. Mit bitterer Freude nahm sie die Liebkosungen und Danksagungen ihrer Mutter hin, und um deren Unruhe zu besänftigen, setzte sie ihre eigne Sicherheit aufs Spiel.
Edmees Wiedererscheinen im Salon übte auf Ferdinand einen wohlthuenden Eindruck aus, die Spannung seiner Nerven ließ nach, ein flüchtiger Strahl von Freude erhellte sein Antlitz. Er machte sich keine Hoffnungen, aber er war glücklich, diejenige zu sehen, an die er unaufhörlich denken mußte. Er nahm in ziemlicher Entfernung von ihr Platz, griff nach einem Buche, in welchem er langsam blätterte, dann ließ er allmählich den Kopf auf die Stuhllehne zurücksinken und that, als ob er einschlummere. Er schlief aber nicht, und Edmee fühlte seinen Blick, der starr und beharrlich auf ihr ruhte, gleich der fixen Idee, die ihn beherrschte. Ohne daß er es ahnte, hatte sie ihn im Spiegel ihres Arbeitstischchens wiederholt beobachtet, und der Ausdruck seines Gesichtes flößte ihr Entsetzen ein. Er ließ sie keinen Moment aus den Augen, seine Blicke folgten ihr, hüllten sie förmlich ein und schienen sie zu liebkosen.
Das Leben des Fräuleins von Croix-Mort wurde jetzt in der That unerträglich. Sie hörte nicht auf, zu fürchten, ohne genau zu wissen was; es war eine unausgesetzte, blinde Angst, welche bei jeder Gelegenheit in ihr aufstieg und aus dem Unbedeutendsten Nahrung zog. Wenn sie zufällig die Treppe hinabging und einen Schritt hinter sich vernahm, so flog sie auf die Gefahr hin, sich die Beine zu brechen, die Stufen hinab, nur um früher unten anzulangen.
Im ersten Stockwerke befand sich auf der Flur zwischen ihrem Zimmer und dem Treppenabsatz ein dunkler Winkel, an welchem sie niemals vorüberging, ohne daß eine unsägliche Furcht ihr die Stirn mit feuchten Angstperlen bedeckte. Leicht konnte ein Mann sich dort verborgen halten, und stets fürchtete sie Ferdinand gleich einem entsetzlichen Gespenst aus dem Versteck hervortreten zu sehen.
Nachts horchte sie während langer schlafloser Stunden mit gespanntem Ohr argwöhnisch auf das leiseste Knistern im Wandgetäfel, achtete auf das flüchtigste Geräusch, auf jedes verdächtige Rascheln in dem Gange, der an ihr Zimmer stieß. Sie hielt den Atem an, um besser lauschen zu können, und öfters glaubte sie, ersticktes Seufzen hinter der Thür zu vernehmen. Bevor sie zu Bette ging, gebrauchte sie stets die Vorsicht, nachzusehen, ob der Riegel oder das Schloß nicht etwa losgeschraubt wären. Sie machte sich auf alles gefaßt und hielt sich bereit, sich wenn es sein müßte, bis zum Tode zu verteidigen.
Aber trotz ihres Mutes war diese Existenz kein Leben mehr zu nennen; ihr Aussehen fing an, sich zu verändern, sie verfiel sichtlich. Diese fortwährende Anspannung ihres Geistes war die schmerzlichste der Qualen. Lügen, sich verstellen und Argwohn hegen müssen, sie, welche die Ehrlichkeit, die Freimütigkeit, das Vertrauen selbst war? War nicht ein offner Skandal, der diesem stummen, niedrigen Kampfe ein Ende machte, weit besser? Aber wann sollte diese zugleich befreiende und furchtbare Katastrophe endlich einmal stattfinden? Der Monat Dezember begann und noch immer war keine Rede von der Reise nach Paris. Würde sie den ganzen Winter in dieser peinlichen Lage verharren müssen?
Die einzigen ruhigen Augenblicke, die Edmee noch fand, verdankte sie dem Pfarrer, wenn er Sonntags zu Tisch kam. In seiner Gegenwart lebte sie wieder auf, ein Lächeln erschien wieder auf ihren bleichen Lippen, und ihr Auge nahm den ihm eignen ruhigen, treuherzigen Ausdruck an. Mehr als einmal fühlte sie sich gedrängt, ihm alles zu vertrauen. Es mußte ihr große Erleichterung gewähren, ihr Herz dem Greise, der ihr so liebevoll zugethan war, eröffnen zu dürfen.
Sie zog ihn dann auf die Terrasse hinaus, mit bebender Stimme und fieberhaft eiligen Schritten, doch in dem Maße, als der Augenblick zum Sprechen herannahte, wurde ihr Gang langsamer und ihre Stimme geriet ins Stocken. Ein Gefühl der Scham drückte sie nieder, als ob von dieser Leidenschaft, deren Gegenstand sie war, irgend etwas Beschimpfendes auf sie selbst zurückgefallen wäre. Der treffliche Mann fragte dann wohl: »Was haben Sie denn, mein teures Fräulein? Sie sind erregt. Geht vielleicht nicht alles nach Ihrem Wunsche? Es ist schon ziemlich lange her, daß Sie mir nicht mehr die Freude machen, mich abzuholen und mich auf meinen Gängen zu begleiten . . .«
Sie gab eine ausweichende Antwort, weil sie sich noch nicht entschließen konnte, zu reden, und hielt das furchtbare Geständnis zurück, das, wie ihr dünkte, beim Aussprechen ihr die Lippen verbrennen müßte.
Eines Tages endlich machte sich ihr übervolles Herz in krampfhaftem Schluchzen Luft, was den Alten in tiefe Bestürzung versetzte. Mit starrem Blicke blieb er vor dem jungen Mädchen stehen, das seinen Arm ergriffen hatte, um nicht umzusinken, und von einem nervösen Zittern ergriffen, dem Ersticken nahe schien; er stammelte: »Meine Tochter, mein liebes Kind . . . Hören Sie doch, Edmee! . . . Was ist denn vorgefallen? Soll ich Ihre Frau Mama rufen?«
Fräulein von Croix-Mort raffte sich auf und stieß ein solch entschiedenes »Nein« heraus, daß der Pfarrer irgend einen geheimnisvollen, schrecklichen Vorfall zu ahnen begann. Und im selben Augenblicke war er wieder Priester geworden, ernst und fest, mit ermutigenden, barmherzigen Worten auf den Lippen, bereit, im Namen seines göttlichen Meisters Trost zu spenden oder Sünden zu vergeben.
Sie stiegen langsam bis zum Rande des Teiches hinab und ließen sich hier auf der Bank des Landungsplatzes nieder.
Die Boote, die sich an ihren Ketten schaukelten, waren voll von den welken Blättern der Uferweiden, die Schwäne glitten stolz und scheu auf der Oberfläche des Wassers hin. Edmee gedachte wehmütig des Tages, wo sie bei ihrem Anblicke den Entschluß gefaßt hatte, einsam und rein zu bleiben gleich ihnen. War diese Reinheit durch die niedrigen Gelüste, von denen sie sich umgeben fühlte, nicht schon in irgend einer Weise befleckt? Thränen entquollen von neuem ihren Augen, und der gute Pfarrer fing an sich voll Bangen zu fragen, ob das Herz, das ein solches Weh berge, schuldlos sein könne?
»Sagen Sie mir alles, mein Kind,« sagte er, einen Seufzer erstickend. »Hier oder im Beichtstuhl wird Ihr Geheimnis gleich treu bewahrt werden.«
Edmee erriet den Argwohn, der die Seele ihres Freundes beschlich; sie errötete, hob die Augen mit offnem Blicke zu ihm empor und erwiderte, ihren ganzen Mut zusammenraffend: »Ich habe keine Beichte abzulegen, guter Vater, ich will mir bloß Ihren Rat erbitten . . . Ich habe mir keinen Vorwurf zu machen . . . wenn Sie mich aufgeregt sehen, so kommt dies daher, weil ich mit meiner Kraft zu Ende bin und nicht mehr weiß, woran mich aufrecht halten und an wen mich wenden.«
Hierauf enthüllte sie dem Greise mit entsetzlicher Klarheit, ohne zu zaudern oder schwach zu werden, in einem Zuge die furchtbare Wahrheit. Er hörte sie schweigend und entmutigt an.
Er, dem so viele böse Gedanken und strafbare Handlungen vertraut wurden, er hätte doch nimmermehr gewagt, ein solch trauriges, furchtbares Geheimnis zu ahnen. Was sollte er diesem Kinde sagen, das doppelt schwer getroffen war, da sich zu der Beschimpfung, die sie selbst erleiden mußte, noch die ihrer Mutter gesellte? Was ersinnen, um sie zu verteidigen und zu beschützen? Er verharrte in regungslosem Entsetzen; voll Angst glaubte er das Lachen der Dämonen zu vernehmen, die den Himmel höhnten und über das begonnene höllische Werk frohlockten.
»Unser erbärmliches Menschengeschlecht,« sagte er endlich in traurigem Tone, »stammt von der Sünde her, das Verbrechen befleckt seine Herkunft. Das Böse ist in uns und wir erliegen ihm nur zu leicht. Aber es gibt verschiedene Grade der Verderbnis, und ich hätte nicht gedacht, daß ein Mensch so tief sinken könnte . . . Armes Kind! Wie beklage ich Sie um Ihres Unglücks willen und wie bewundere ich Sie wegen Ihres Mutes! . . . Sie sind wahrhaftig eine Heilige, jede Missethat wird vor Ihnen zu schanden werden.«
Die Rührung übermannte ihn, er drückte heftig den Arm des jungen Mädchens und fuhr fort: »Es ist unmöglich, daß der Himmel Sie verläßt! . . . Gott vermag zur rechten Zeit dem Bösen unüberwindliche Hindernisse in den Weg zu stellen, seien Sie dessen gewiß . . . Wir wollen ihn aus ganzem Herzen anflehen, und er wird uns seinen Schutz nicht versagen, mein liebes, gutes Kind . . . Man darf sich jedoch nicht ausschließlich auf die Vorsehung verlassen . . . Ich wäre ein Narr, wenn ich Ihnen nicht raten würde, Sicherheitsmaßregeln zu treffen . . . Sie wissen, wie sehr ich Sie liebe, und ich hoffe, Ihnen auch noch in andrer Weise als durch Gebete nützlich sein zu können. Glauben Sie nicht, daß man Frau von Ayères die Augen öffnen müßte? . . . Wünschen Sie, daß ich mit ihr spreche? . . .«
Allein Edmee, die schon lange die größte Sorge trug, der Baronin die Wahrheit zu verbergen, beschwor den Geistlichen, dies nicht zu thun.
»Bedenken Sie denn nicht, daß nur sie Ihnen den wirksamsten Schutz zu bieten vermöchte?«
»Nein, ich habe von ihr keinen Schutz zu erwarten. Ich weiß, wie schwach sie ist und wie leicht sie sich entmutigen läßt! . . . Sie hat von diesem Unglücksmenschen schon sehr viel erdulden müssen, ohne daß sie die Kraft besessen hätte, sich zur Wehr zu setzen . . . Ich kann Ihnen nicht alles sagen, was ich während der zwei Monate der Aufregungen und Feste, welche diesen traurigen Wochen vorangingen, vernommen und erraten habe . . . »Man nahm sich vor mir nicht in acht . . . Man sprach und handelte, ohne sich einen Zwang aufzuerlegen . . . Wenn Sie wüßten, welche Demütigungen und Beleidigungen meine arme Mutter ertragen mußte! . . . Unter den Frauen, die unter ihrem Dache lebten, an ihrem Tische speisten, ihr schmeichelten und sie umarmten, befanden sich mehrere, die ihre Nebenbuhlerinnen waren oder gewesen waren . . . Ich schäme mich, diese Dinge zu wiederholen! . . . Aber man trieb ganz offen seinen Scherz darüber . . . Und sie, Herr Abbé, sie wußte es, ich bin dessen gewiß, denn es gab Tage, wo sie insgeheim die Spitzen ihres Taschentuches zerriß, indes ein Lächeln auf ihrem Angesichte ruhte . . . Und all dies erduldete sie still! Wie wollen Sie nun, daß sie mir beistehen soll, wenn sie sich selbst nicht zu helfen vermochte? Nein! Nein! Ich werde ihr diese Qual ersparen . . . ich will ihre letzten Illusionen schonen und werde ihr das Vorgefallene erst an dem Tage mitteilen, wo es für mich gar keine andre Zuflucht mehr geben sollte, als einzig und allein in ihren Armen!«
Beide schwiegen eine Weile, ernstem Nachdenken hingegeben. Der Geistliche bewunderte den Mut dieses Kindes und suchte mit umflortem Auge auf ihrer schönen Stirn das Strahlendiadem der Märtyrerinnen.
»Und er . . . soll ich nicht mit ihm sprechen?« hub er wieder an. »Wer weiß, ob er bei dem Gedanken, daß ich von seinen sträflichen Wünschen Kenntnis habe, nicht vor sich selbst erröten würde! . . . Die Augen eines rechtschaffenen Menschen sind ein klarer Spiegel . . . würde er in die meinen blicken, so würde er sich so entartet und verabscheuungswürdig finden, daß er sich vielleicht bessern würde.«
Edmee schüttelte zweifelnd das Haupt.
»Versuchen Sie es, guter Vater,« sprach Edmee, »obgleich ich kaum hoffe, daß Sie einen Erfolg erzielen werden. Wenn ich mich Ihnen heute anvertraute, so geschah es bloß deshalb, weil ich meine Kraft erschöpft fühlte. Sie haben mir stets Zuneigung bewiesen, kannten mich, als ich noch Kind, noch ruhig und glücklich war, und so dachte ich, daß ich auch heute auf Ihre Teilnahme rechnen dürfe . . .«
»Ach, teures, gutes Kind!« rief der Geistliche weinend aus. »Warum steht es nicht in meiner Macht, all Ihr Leid auf mich zu nehmen und Ihnen den Frieden und die Hoffnung wiederzugeben! . . . Ich würde mich mit Freuden unserm Herrn als Opfer anbieten! . . . Ich will ihn bitten, meinen Worten die Kraft der Ueberzeugung zu leihen . . . Wenn Sie mich morgen kommen sehen, so gehen Sie fort und erwarten Sie mich im Pfarrhause . . . Sobald die Unterredung beendigt sein wird, werde ich Sie aufsuchen . . . Bis dahin haben Sie Vertrauen.«
Ohne ein weiteres Wort erhoben sie sich und kehrten langsamen Schrittes ins Schloß zurück, beide bestrebt, ihrem Gesichte die Maske der Gleichgültigkeit anzulegen.
Am nächsten Tage erging sich Edmee traurig in dem Garten des Pfarrhauses. Sie schritt die schmalen, langen, ihrer Blumen beraubten Beete entlang, welche der Küster, der zugleich Totengräber war, mit demselben Spaten bestellte, der ihm zum Schaufeln der Gräber diente. Im Hintergrunde wölbte sich, an die Kirchhofmauer gelehnt, eine Laube, die zur Sommerszeit ein wilder Weinstock mit seinem rötlichen Laube umrankte. Sehr häufig hatte das junge Mädchen in derselben gesessen neben dem alten Glasmaler, ihrem Lehrer, der jetzt unter dem grünen Rasen schlief, zunächst bei der Kirche, die er restauriert und verschönert hatte. Während sie plauderten und der Alte dem Kinde irgend eine naive Geschichte zum besten gab, pflegte der Pfarrer, in seinem Brevier lesend, im Schatten der Mauer auf und nieder zu wandeln. Wie weit ab lagen jetzt schon jene friedlich verflossenen Stunden! Glückliche Erinnerungen, die sie gern zurückrief, welche jedoch jetzt durch andre, durch schauerliche verdrängt worden waren, die ihr das Herz beklemmten.
Sie nahm in der ihres grünen Schmuckes beraubten Gartenlaube Platz, von deren grauem Gitterwerk noch manche vom Herbstwinde verdorrte Ranken niederhingen, und versenkte sich in diese vor ihr aufgetauchten Bilder aus der Vergangenheit. Sie sah sich als ganz kleines Kind; von ihrer Bonne Rosalie war sie eben hergebracht worden, um die Unterrichtsstunden zu nehmen, und während sie wartete, bis der Pfarrer mit dem Buche in der Hand auf der Schwelle der Sakristei erschien, lauschte sie nach dem Atelier des alten Vaters hinüber, der mit einem Diamant Glasstücke schnitt.
Eine stille Freude erfüllte sie, alles dünkte ihr schön und gut, weil sie sich überall von Liebe umgeben fühlte. Fand sie, nach Croix-Mort heimkehrend, nicht ihre Mutter, die müßig und lächelnd auf dem Sofa ruhte und sie zärtlich umarmte? Sodann speisten beide in gewohntem Alleinsein, und abends ging sie mit schlafbeschwerten Augen zu Bette und schlummerte ruhig unter den weißen Vorhängen ein, von keiner andern Sorge bedrückt als der, ihr Nachtgebet nicht zu vergessen. Ihr Gemüt war nicht umdüstert wie heute, sie konnte frei aufatmen, alles, Menschen sowohl als Dinge, machte ihr Freude, und nur heiteres Blau sah sie vor ihren Blicken.
Das Oeffnen der Gartenthür entzog sie ihren Betrachtungen; sie sah den Geistlichen, finster wie ihr Geschick, auf sich zuschreiten, und alle ihre Illusionen entflatterten im Augenblick gleich einer Schar emporgescheuchter Vögel, um nimmer wiederzukehren. Der würdige Priester ergriff Edmees Hand und drückte sie schweigend; er beeilte sich nicht mit seinen Mitteilungen, weil er dieselben trostlos fand, und sie hielt es für überflüssig, ihn zu fragen, weil ihr jede Hoffnung plötzlich entschwunden war.
Endlich stieß der Abbé einen Seufzer aus, der jedoch sein beklommenes Herz nicht erleichterte, und wendete sich an Fräulein von Croix-Mort.
»Ich habe den Unglücklichen gesehen,« begann er, »und was ich von ihm zu hören bekam, flößte mir ein Entsetzen ein, von dem ich mich noch nicht erholen kann . . . Während einer Stunde hielt ich ihn fest, indes ich ihm Vernunft zusprach, ihn zu besänftigen, zum Mitleid zu bewegen trachtete. Doch einer Art Delirium preisgegeben, schien er mich nicht zu verstehen. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß er noch nüchtern war, so würde ich ihn für betrunken gehalten haben, so erschreckend waren seine entstellten Gesichtszüge . . . Er beantwortete meine sanften Vorstellungen mit namenloser Heftigkeit, fluchte dem Himmel und der Erde, klagte das Schicksal an und ergoß sich in Gotteslästerungen . . . Dieser Mensch, liebes Kind, hat die Hölle im Busen. Er sagt, daß er furchtbar leide, und ich glaube nicht, daß er lügt . . . Sein Wesen drückte ein herzzerreißendes Weh aus, er vergoß Thränen, welche auf seinen brennenden Wangen augenblicklich trockneten. So muß den Dämonen zu Mute sein. Er hat mir Furcht eingejagt! . . .«
»Und worüber beklagt er sich?« fragte Edmee mit ruhiger Stimme. »Kann er die Ursache seiner Leiden anderswo suchen, als in seinem eignen Innern? Welch lasterhaftes Blut rollt in seinen Adern! Ist sein Gehirn nicht vom Wahnsinn erfaßt? Welch raffinierte Verderbtheit! Vermag man an ihm noch etwas Menschliches zu entdecken? Es ist ein wildes, unbändiges Tier, das Sie nur schildern, und nicht ein Mensch. Muß der zwischen ihm und mir entbrannte Kampf nicht unausweichlich zu einem tragischen Ende führen? Muß ich mir das Leben nehmen, um ihm zu entgehen?«
»Sprechen Sie nicht so, meine liebe Tochter,« versetzte der Geistliche. »Sich selbst den Tod geben, ist ein Verbrechen, und Sie werden niemals so weit gehen! . . . Nachdem ich die Gewißheit erlangt hatte, daß mit Güte bei diesem Wahnsinnigen nichts zu erreichen ist, so versuchte ich es mit der Strenge . . . Ich drohte ihm . . . Ich gab ihm zu verstehen, daß, wenn er Sie zum äußersten drängte, Sie zu Ihrem Schutze zu allen Ihnen zu Gebot stehenden Mitteln greifen würden . . . Ich ging so weit, sogar das Wort ›Polizei‹ auszusprechen . . . War er außer stande, Vernunft anzunehmen, oder schenkte er meinen Worten keinen Glauben? . . . Er ließ sich zu neuen Schmähungen hinreißen und ging auch mit mir nicht schonend um, der ich ihn doch kannte und liebte, als er noch ein Kind war . . . Er aber hat alles vergessen . . . Nur als ich ihm ein Bild entwarf von Ihrer Todesangst und Ihrer Verzweiflung, da schien ein Schimmer von Einsicht in ihm aufzuleuchten . . . Seine zornige Erregung schwand zusehends und er verharrte einen Augenblick in tiefer Niedergeschlagenheit; dann sagte er: ›Teilen Sie ihr mit, daß ich sie allein, ohne Zeugen zu sprechen wünsche . . . Ich muß mich mit ihr verständigen . . . ihre Macht über mich ist ohne Schranken . . . sie weiß es! . . . Es handelt sich bloß darum, daß es ihr gefallen möge, sie zu gebrauchen . . . Fragen Sie sie, ob sie meiner Bitte willfahren will . . . In fünf Minuten lassen sich oft gar manche schwere Dinge ordnen . . .‹ Ich erwiderte ihm, daß ich kaum glaube, Ihre Einwilligung zu erhalten, daß es im Gegenteil an ihm sei, Ihnen einen Beweis seines guten Willens zu geben, und daß der erste und wertvollste in seiner augenblicklichen Abreise bestehe . . . Hierauf spottete er: ›Sie will mich von sich entfernen, will, daß ich abreise mit dem Gedanken, sie verachte und hasse mich? . . . Sie weiß, ich könnte so nicht weiterleben und daß sie auf diese Weise sehr rasch mit mir fertig werden würde . . . Das ist ihr Wunsch!‹ – ›Kann sie etwas anders wünschen?‹ gab ich zurück. Er sah mich starr an: ›Es mag sein! Aber ihr Narr werde ich doch nicht sein.‹
»Er nickte mit dem Kopfe und wiederholte: ›Ihr Narr nicht! . . . Nein! . . . Nein!‹ Und damit entfernte er sich. Was fordert er? Was bedeuten seine dunklen Worte? Bereut er, was er gethan? Will er sich entschuldigen? Wäre es klug, ihm die Unterredung zu bewilligen? Wäre es gefährlich? Ich getraue mich nicht, Ihnen hierin einen Rat zu geben . . . Ich bin ein einfacher Mensch, dessen Leben ohne Erschütterungen und ohne Wechselfälle verflossen ist . . . Ich kenne die List und Verwegenheit des Lasters nicht. All das, was ich seit vierundzwanzig Stunden erfahren und gesehen habe, verwirrt und erschreckt mich . . . Ich glaubte es heute eher mit einem Wahnsinnigen zu thun zu haben, als mit einem Wesen, das seiner Sinne mächtig ist . . . Ich befürchte die größten Gefahren für Sie und weiß nicht, Sie zu verteidigen.«
Edmee lächelte, still ergeben.
»Ich gedenke keinen Schritt allein aus dem Hause zu thun und mich nie von meiner Mutter zu entfernen. Sollte es schließlich zum äußersten kommen, so werde ich gezwungen sein, ihren Schutz anzurufen . . . Doch werde ich mich niemals irgend einer seiner Anforderungen fügen und ich bewillige ihm, wie Sie es ihm bereits höchst verständig auseinandersetzten, die Unterredung nicht. Weiß Gott, wie weit seine Ansprüche gehen würden, wollte ich ihm nur einmal nachgeben!«
Das junge Mädchen verließ den Garten in Begleitung des Geistlichen, der mit ihr bis zum Thor des Schlotes ging und nicht eher umkehrte, als bis er sich vergewissert hatte, daß sie nichts mehr zu befürchten habe.
So wenig mißtrauisch die Baronin auch war, so empfand sie doch mehr als bloßes Erstaunen, als sie die Zurückhaltung bemerkte, welche Ferdinand und Edmee hartnäckig gegeneinander bewahrten. Hätte ihre Tochter die feindselige Haltung, welche sie in der ersten Zeit Herrn von Ayères gegenüber beobachtet, nie abgelegt, so würden ihre Kälte und ihr Schweigen keiner Erklärung bedurft haben; doch während der letzten Wochen hatten sich die Beziehungen zwischen den beiden wenn auch nicht gerade freundschaftlich, so doch erträglich gestaltet.
Ein gewisses familiäres Benehmen hatte den Eindruck einer Art von Kameradschaft zwischen der erwachsenen Tochter und dem jungen Ehegatten hervorgebracht. Und in dem Augenblicke, da Regine sich schon freute, ein gutes Einvernehmen walten zu sehen, war die Uneinigkeit plötzlich ausgebrochen und schien so hartnäckig, daß kaum zu hoffen war, sie werde aufhören, sondern viel eher zu befürchten stand, sie werde sich von Tag zu Tag vergrößern. Weshalb? Was war vorgefallen? Unablässig stellte sie sich diese Frage, ohne eine befriedigende Antwort finden zu können. Es blieb alles dunkel, geheimnisvoll, unerklärlich.
Sie nahm sich vor, die beiden zu beobachten; es gelang ihr jedoch nicht, sie beisammen anzutreffen. Sie mieden einander oder vielmehr, wie sie bemerkte, mied Edmee den Baron. Vor einigen Tagen hatte sie den Versuch gemacht, sie einander zu nähern, und Edmee war trotz ihres sichtlichen Widerwillens im Salon erschienen; doch saß sie stundenlang, ohne den Mund zu öffnen, und begann erst dann etwas aufzutauen, als Ferdinand sich entfernt hatte.
Regine kannte die Charakterfestigkeit ihrer Tochter, sie wußte, daß sie übernommenen Verpflichtungen treu nachkomme. Wenn sie ihr Versprechen, Herrn von Ayères freundlicher zu begegnen, nicht hielt, mußte sie dafür ernste Gründe haben, und zwar solche, die erst in jüngster Zeit entstanden sein konnten. Diese so tiefe Abneigung offenbarte sich erst seit dem letzten Reitausfluge. Aber beide wollten dies nicht zugeben, beide leugneten, daß irgend etwas zwischen ihnen vorgefallen sei, und suchten sie, freilich erfolglos, über ihre wahren Gefühle zu täuschen.
Eine unsägliche Betrübnis lastete schwer auf Regines Seele. Rasch gealtert, nachdem sie sich so viele Jahre jung erhalten hatte, beurteilte sie jetzt klar ihre Handlungsweise und machte sich bittere Vorwürfe, ihre Tochter ihrem Gatten geopfert zu haben. Sie hätte so gerne beide an sich gefesselt und ihr Unrecht durch beständige Güte wieder ausgeglichen. Sie hatte gewähnt, sich Edmees Liebe bewahren zu können und dem jungen Mädchen in Ferdinand einen Bruder zu geben. Immer sentimental, hatte sie sich einen Roman aufgebaut und war dem verlockenden Hange ihrer glückverheißenden Phantasiegebilde gefolgt, indes das Schicksal geschäftig war, ihr eine furchtbare Wirklichkeit zu bereiten.