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Aus dem Pfarrhause zurückgekehrt, traf Fräulein von Croix-Mort ihre Mutter im Salon neben dem Feuer in halbliegender Haltung. Sie umarmte sie, und Frau von Ayères fühlte die Frische, welche Edmee von draußen mitbrachte. Regine zog ihre Tochter an sich; indem sie den Arm um ihren Leib legte, zwang sie dieselbe, sich auf den Rand des Diwans niederzulassen, und sie festhaltend, sicher, daß sie ihr nicht entschlüpfen würde, wie sie es gewöhnlich that, wenn eine zu direkte Frage sie in Verlegenheit setzte, betrachtete sie sie schweigend, mit fragendem, forschendem Blicke.
Edmee hatte in jüngster Zeit ihre frische Farbe verloren, das Oval ihres Gesichtes hatte sich verlängert, wodurch die Festigkeit ihres willensstarken Kinns noch mehr hervortrat. Die schlaflosen Nächte hatten schwarze Ringe um ihre Augen gezeichnet, ihr treuherziger Ausdruck war jedoch unverändert geblieben.
Frau von Ayères ergriff Edmees Hand, und dieselbe in der ihren haltend, sagte sie traurig: »Nun, mein liebes Kind, du willst mir also nichts gestehen? Hast du denn kein Vertrauen zu mir? Und dennoch mußt du ja fühlen, daß ich dich liebe und daß ich leide, dich so gequält und unglücklich zu sehen. Laß hören, mein Liebling, eröffne mir dein Herz. Was hast du?«
Edmee wurde totenbleich, Thränen schimmerten in ihren Augen, das Herz that ihr so wehe, als ob es ihr in der Brust zermalmt würde; dennoch antwortete sie fest und ruhig: »Es ist nichts, Mama. Beunruhige dich nicht . . . Wäre es etwas, so würde ich es dir sagen.«
»Aber begreifst du denn nicht, daß du mit deinen Versuchen, mich zu beruhigen, mich noch mehr aufregst? . . . Deine Worte sind zweideutig . . . Höre, sprich offen mit mir . . . Ich bitte dich darum . . . Ich befehle es dir. Weigerst du dich, mir zu gehorchen?«
Edmee umarmte die bedauernswerte Frau, überschüttete sie mit den zärtlichsten Liebkosungen, blieb jedoch stumm. Sie wollte schweigen, bis ihr das Schweigen zur Unmöglichkeit werden würde, und ihre ungewöhnliche Seelenstärke gestattete ihr, ihren Entschluß auch in der That auszuführen.
Die Mahlzeit verging wie gewöhnlich. Ferdinand plauderte mit einer erkünstelten Lebhaftigkeit, die höchst peinlich wirkte. Nach Tisch zog er sich zurück, um zu rauchen, während Frau von Ayères und Edmee sich in ihre Gemächer begaben. Es war neun Uhr. Die grauen, schweren Wolken, die während des ganzen Tages drohend am Himmel gehangen hatten, lösten sich in Schnee auf. Ein drückendes Schweigen herrschte, und die weißen Flocken, die nicht der leiseste Windhauch bewegte, fielen senkrecht, eilig, trübselig herab, als ob es sie drängte, die Erde mit einem dichten Leichentuche zu bedecken.
Nachdem Regine ihrer Gewohnheit gemäß einigemale durch das Zimmer geschritten war, vom Kamin zum Fenster, vom Fenster zum Tisch, setzte sie sich, nahm einen Roman zur Hand und begann zu lesen. Sie pflegte spät zu Bett zu gehen, weil sie an Schlaflosigkeit litt. Nach einigen rasch durchflogenen Seiten sank das Buch auf ihre Knie nieder, ihre Augen hafteten starr an dem rotflackernden Feuer und sie vertiefte sich in ernstes Nachdenken.
Das Ticktack der Uhr schläferte sie mit seinem gleichförmigen Geräusch ein, indes draußen der Schnee ohne Unterlaß lautlos sich über die Gehölze im Park breitete. Sie entsann sich, wie Edmee als ganz kleines Kind es sehr belustigend gefunden, über den glänzend reinen Teppich zu laufen, indem sie sagte, der Schnee sei ein guter Freund. Laut jubelnd wälzte sie sich im dichtesten Schnee wie ein junger Wolf. Billet hatte ihr einen mit Fuchspelz ausgeschlagenen Schlitten angefertigt und denselben stundenlang schweißtriefend gezogen, um seinem lieben Fräulein Vergnügen zu machen. Wenn der Schlitten zuweilen umfiel, brach Edmee in schallendes, lustiges Lachen aus. Regine war es, als vernehme sie es in diesem Augenblicke, und ein Seufzer schwellte ihre Brust.
Dann verschwand der Schnee und sie sah den Park grünend vor sich liegen. Edmee war herangewachsen und durchstreifte ihn in sorgloser Heiterkeit. Ihre Mutter dachte, man werde sie wohl bald verheiraten müssen. Und wirklich stellte sich eines Tages ein vornehmer junger Mann vor. Der schöne Unbekannte mit dem goldblonden Bart war Ferdinand. Hätte sie nicht sofort an ihre Tochter denken sollen? War dieser liebenswürdige Nachbar nicht von der Vorsehung herbeigeführt worden? Als kluge Mutter führte sie ein gutes Einvernehmen zwischen den beiden jungen Leuten herbei. Sie näherte sie einander, lud Herrn von Ayères zuweilen ein und folgte ihm mit gerührtem Blicke, wenn Edmee auf der Terrasse mit ihm spazieren ging. Welch glückliche Zukunft hätte ihr diese Verbindung nicht bereiten können! Enkelkinder hätten sie umspielt mit rosigen Wangen und blondem Haar, schäkernd und lachend. Wie stolz wäre sie gewesen, wenn sie, selbst noch eine junge, wohlerhaltene Frau, für die Mutter der Kleinen gehalten worden wäre, wie vergnügt hätte sie antworten können: »Nein, nein, sie gehören meiner Tochter, ich bin die Großmutter.«
Wieder wechselte die Scene und der Salon erschien. Dieselben Personen fanden sich in ihm vereinigt, sie, Edmee und Ferdinand, aber in gezwungener Haltung, kalt, feindselig einander meidend, indem sie sich weder ansahen, noch miteinander sprachen. Keine Zärtlichkeit mehr, keine Vertraulichkeit, keine kleinen Engel, der Reiz und die Freude des häuslichen Herdes. Die Wirklichkeit zeigte sich jetzt unverhüllt in ihrer ganzen Schrecklichkeit: ein der Ehe überdrüssiger Gatte, der heftig an seiner Kette rüttelte; eine insgeheim gequälte Frau, die litt, ohne klagen zu dürfen; ein eigenwilliges Kind, das sich in unerklärlichem Haß verzehrte. So war es heute, und das hatte sie, Regine, durch ihre Thorheit heraufbeschworen, und wie bitter sie es auch bereuen mochte, gutmachen konnte sie es niemals wieder.
Sie weinte in der Einsamkeit ihres Zimmers lange und schmerzlich, bis allmählich eine Erschöpfung über sie kam und sie einschlummerte.
Es war um Mitternacht, als sie jählings mit einer heftigen Empfindung des Schreckens erwachte. Ihre Lampe war erloschen und auch das Feuer im Kamin verglüht. Sie lauschte angstvoll und vernahm einen Klageton, einen langen Seufzer und schleichende Tritte in der Galerie, die zu dem Zimmer ihrer Tochter führte. Hierauf wurde wieder alles still, und so sehr sie auch ihr Ohr anstrengte, vermochte sie doch nichts mehr zu unterscheiden.
Gedanken, wie sie ihr noch niemals gekommen waren, drängten sich jetzt ihrem Geiste auf und beunruhigten sie aufs höchste. Ein plötzlicher Verdacht regte sich in ihr, bange Zweifel, die sie auf der Stelle aufklären wollte. Ohne Licht zu machen, öffnete sie ihre Thür und schlich mit geräuschlosen Schritten vorsichtig hinaus.
Draußen herrschte tiefe Dunkelheit und sie konnte sich nur langsam vorwärts tasten. So hatte sie die Mitte des Ganges erreicht, als bei ihrer Annäherung ein Schatten, der vor Edmees Zimmer zu knieen schien, sich erhob und verschwand. Frau von Ayères hielt zitternd still. Was hatte das zu bedeuten? Sie wollte ihren Weg fortsetzen, befürchtete jedoch, durch ihr Vorwärtsschreiten vorzeitig Aufmerksamkeit zu erregen. Das Zimmer ihrer Tochter aber mußte sie erreichen, denn dort war das Geheimnis; sie erriet es, ja es war ihr bereits zur Gewißheit geworden.
Plötzlich kehrte sie um. Sie hatte das Mittel gefunden, um zu Edmee zu gelangen, ohne das Schloß in Unruhe zu bringen. Längs der Fassade des Schlosses im ersten Stockwerk erstreckte sich ein Balkon, der von einem Ende zum andern reichte. Frau von Ayères kehrte in ihr Zimmer zurück, hüllte sich in einen Mantel, öffnete das Fenster, stieg hinaus und eilte in dem schon hoch angehäuften Schnee nach dem Fenster des jungen Mädchens. Sie sah das Zimmer schwach erleuchtet und gewahrte in unbestimmten Umrissen eine Gestalt, die neben dem Kamin stand. Leise pochte sie mit dem Finger an die Scheibe, erhielt jedoch keine Antwort. Nun verdoppelte sie das Pochen, indem sie es diesmal mit der Faust versuchte. Wie von wahnsinnigem Schrecken erfaßt fing die Gestalt jetzt an, umherzulaufen.
In höchster Aufregung wollte Regine diesem peinlichen Auftritt ein Ende machen und stemmte sich mit aller Gewalt an das Fenster indem sie rief: »Edmee, ich bin es, öffne! . . .«
Es war ihr gelungen, eine Scheibe einzudrücken, die geräuschlos auf den Teppich niederfiel. Sie griff mit der Hand hindurch, öffnete auf die Gefahr hin, sich zu verwunden, und trat rasch ein. Ein herzzerreißender Schrei ertönte aus dem Hintergrunde des Gemachs: »Zu Hilfe, Mama, zu Hilfe!«
Mit verstörtem Blicke erschien Edmee vor ihrer Mutter.
Jetzt standen die beiden Frauen einander gegenüber, beide in gleich großer Aufregung. Fräulein von Croix-Mort gewann zuerst ihre Fassung wieder, sie strich mit der Hand über die Stirne, um sich den kalten Schweiß zu trocknen und stammelte: »Ah, du bist es, Mama?«
»Ja, ich bin es . . . Aber du riefst mich ja . . . warst bei meinem Anblick erschreckt! . . .«
»Ich erschrak, dich durch das Fenster hereinkommen zu sehen . . . Ich hatte Furcht . . . Ist dies nicht natürlich?«
»Nein, denn du schriest: ›Zu Hilfe! . . .‹ Gegen wen also?«
Edmees Antlitz verzog sich schmerzlich, sie senkte das Haupt und setzte sich, ohne eine Antwort zu geben.
»Immer wieder dieses Schweigen!« hub Frau von Ayères wieder an. »Du verheimlichst mir demnach etwas? . . . Verbirgst dich vor mir? . . . Es muß also etwas Unrechtes sein, was du thust!«
Bei diesen Worten richtete sich das junge Mädchen in die Höhe, eine Flamme blitzte aus ihren Augen, sie faßte ihre Mutter heftig am Arme und rief: »Mich verdächtigst du? . . . Mich? . . . Mich! Wohlan denn, wenn du es durchaus wissen willst . . . so halte dich eine Weile still, warte und du wirst hören!«
Schweigend standen sie da und vermieden einander anzublicken, als befürchteten sie, ihre Empfindungen einander vom Gesichte zu lesen. Eine ziemlich lange Pause verstrich, dann kamen draußen auf der Galerie leise Schritte herangeschlichen, die an der Thür innehielten, und der flehende Ruf: »Edmee! Edmee!« drang, von Seufzern unterbrochen, an ihre Ohren.
Beide vernahmen es, die eine, die nichts mehr zu befürchten hatte, bloß mit tiefer Betrübnis, die andre mit unaussprechlicher Bestürzung. Die Mutter machte jetzt eine fragende Gebärde. Die Tochter öffnete ohne zu sprechen die Thür ihres Ankleidezimmers, wies auf einen Stuhl, der unter einem kleinen, hochangebrachten Fensterchen stand, das auf die Galerie ging. Frau von Ayères stieg rasch hinauf, neigte sich voll entsetzlicher Neugierde über die Oeffnung und erstickte einen Schrei. In demjenigen, der an der Thür des jungfräulichen Gemaches seufzend flehte, hatte sie ihren Gatten erkannt.
Mit jähem Leuchten, wie ein Blitz, überkam sie die Erkenntnis, und die Erinnerung an all die schmerzlichen Vorfälle der letzten Wochen trat lebhaft vor ihre Seele.
Sie begriff jetzt, was ihr unerklärlich geschienen, ermaß die peinlichen Qualen, die Edmee, ohne Klage, ohne Seufzer, heldenmütig erduldet hatte, und niedergedrückt von so viel Großmut, beugte sie sich, als wolle sie niederknieen, indem sie voll Verzweiflung ausrief:
»Vergib, mein Kind, o vergib mir! . . . Vergib mir! . . .«
Edmee zog ihre Mutter an sich und drückte sie an die Brust. So standen beide eine Weile angstvoll lauschend da, ohne sich zu rühren, ohne zu weinen, wie versteinen vor Schreck.
Das halberleuchtete Zimmer, durch dessen schlecht geschlossenes Fenster Schneeflocken hereinwirbelten, mit den beiden Frauen, die einander innig umschlungen hielten, wie um sich gegenseitig vor dem Unglück zu schützen, bot ein seltsames Bild. Die Mutter fand zuerst ihre Fassung wieder, sie machte sich aus den Armen ihrer Tochter los und sagte mit leiser Stimme: »Du hast bis jetzt nur zu viel gelitten, mein armes Kind, Jetzt ist die Reihe an mir . . . Ueberlasse alles mir und fürchte nichts weiter! Entferne dich auf demselben Wege, auf welchem ich gekommen bin . . . Schließe dich in meinem Zimmer ein und öffne niemand als mir.«
Sie drängte sie auf den Balkon hinaus, wendete sich mit festem Schritt der Thür zu, schob den Riegel zurück, drehte den Schlüssel um und trat auf die Galerie hinaus. Ein leiser Ausruf ertönte, dem alsbald ein Murmeln erregter, heftiger Stimmen folgte, die sich in der Ferne verloren. Dann wurde es still.
Edmee, die sich gebrochen fühlte, als hätte sie einen furchtbaren Kampf bestanden, schritt mit hochklopfenden Pulsen und beklommenem Herzen nach dem Zimmer ihrer Mutter, stieg durch das offne Fenster hinein und sank erschöpft auf das Sofa, unfähig, einen Gedanken zu fassen.
Wie lange sie so in dieser Erschlaffung verharrte, hätte sie nicht vermocht anzugeben. Die Stimme ihrer Mutter, die sie anrief, weckte sie aus ihrem dumpfen Hinbrüten. Sie erhob sich, wankte zur Thür, öffnete und kehrte, ohne eine Frage zu stellen, auf ihren Platz zurück.
Frau von Ayères, die sehr bleich, aber entschlossen aussah, trat an sie heran und sagte, bebend von dem Auftritte, dessen Schrecken sich noch auf ihrem Antlitze malten: »Er wird morgen abreisen. Du wirst ihn nicht wiedersehen!«
Und von einer Aufregung erfaßt, die sie nicht zu bemeistern vermochte, schrie und schluchzte sie: »O, ich thörichtes, unglückseliges Geschöpf, welch schlechte Mutter war ich doch! Alles, was du Böses erduldest, fällt mir zur Last. Wie könnte ich jemals deine Verzeihung erlangen! Was thun, um meine Schuld zu sühnen? Ich habe dein Herz gebrochen, dein Gemüt vergiftet, deine Gedanken in den Schmutz gezogen! Denn ich, ich allein habe die Prüfungen zu verantworten, welche du zu bestehen hattest! Ich habe den Elenden aufgenommen, der die Niederträchtigkeit in unser Haus gebracht . . . Und einem solchen Manne habe ich dich geopfert! Gott hat mich dafür schwer gestraft. O, sehr grausam, aber gerecht! Und was soll jetzt aus mir werden, gebeugt unter der Last solcher Vorwürfe, das Herz verzehrt von der Sorge, daß du niemals vergessen wirst?«
Ein heftiger Nervenanfall, der alle ihre Glieder krampfhaft zusammenzog, brachte sie dem Ersticken nahe. Edmee, die doch selbst das Opfer war, mußte sie beruhigen, bemitleiden, aufrichten. Sie konnte jetzt die ganze Schwachheit dieser Seele ermessen und wußte ihr Dank für die Energie, die sie soeben bewiesen hatte, indem sie in dieser entscheidenden Stunde ihre Mutterpflichten erkannt und all ihre Kräfte vereinigt hatte, um ihr Kind zu verteidigen. Edmee verzieh ihr alles erlittene Leid um dieses einen Augenblicks des Mutes willen. Sie gelobte sich, ihr Leben ihr zu widmen, sie zu trösten und ihr den verlornen Seelenfrieden wiederzugeben. Sie hielt sie in ihren Armen, bis sie, vom Weinen müde, einschlummerte, dann sank sie selbst, von Müdigkeit und Erregung überwältigt, auf das thränenbenetzte Kopfkissen.
Beide erwachten gleichzeitig, als sich unten im Hofe das Stampfen eines Pferdes vernehmen ließ. Sie eilten an das Fenster, und in dem trüben, gelblichen Lichte eines Wintermorgens sahen sie Herrn von Ayères die Treppe hinabsteigen. Er warf noch einen Blick auf die Schloßfassade, legte die Reisetasche, die er in der Hand trug, in den Wagen und stieg ein. Ein Windstoß wirbelte eine Schneewolke empor, und als der Horizont sich wieder klärte, war der Mann, der ihnen so großes Leid zugefügt, bei einer Wendung des Weges verschwunden.
Die ersten Tage, welche dieser Abreise folgten, erschienen Edmee köstlich. Sie fand allmählich ihre Ruhe und Sicherheit wieder. Ihre Ansprüche an das Schicksal waren sehr bescheiden: sie verlangte bloß, ruhig leben zu dürfen. Glücklich zu sein, das wünschte sie nicht einmal, da sie dies nicht für möglich hielt. Mit Wehmut sagte sie sich, daß es Wesen gebe, die geboren werden, um dem Schmerz geweiht zu sein, wie andre der Freude. Ihr einziges Sehnen war, Frieden zu erlangen.
Ihre Mutter hatte sich anfangs, solange ihre erregten Nerven sie aufrechthielten, fest und mutig gezeigt, war aber bald in tiefe Niedergeschlagenheit versunken. Moralisch und physisch völlig erschöpft, verließ sie jetzt ihr Zimmer gar nicht und lag stundenlang mit starren Augen da, um ihre Kümmernisse nochmals durchzugehen. Wohl getraute sie sich nicht, es zu gestehen, aber Edmee las in ihren Augen ein bitteres Heimweh nach ihrem früheren Leben.
In träumerischem Hindämmern rief Regine die Erinnerungen an die verrauschten Festlichkeiten wach, und Tanzmelodien umtönten ihr Ohr. Wer weiß! Vielleicht sehnte sie sich nach dem schönen Ferdinand mit dem goldblonden Bart, dem unglückseligen Manne, den sie geliebt hatte, selbst als sie ihn untreu wußte, als ob sie insgeheim eine stolze Befriedigung über seine Liebestriumphe empfände.
Eines Nachmittags, als Edmee von einem Spaziergange heimkehrte, traf sie ihre Mutter mit rotgeweinten Augen. Sie fragte liebevoll nach dem Grunde ihres Kummers, erhielt jedoch anfangs nur ganz ausweichende Antworten. Als sie dringender wurde, gestand die arme Frau unter Thränen, sie habe einen Brief von ihrem Gatten erhalten. Er war trostlos, war leidend und bat um Vergebung. Das Leben erschien ihm unerträglich . . . Er wußte nicht, was aus ihm werden sollte . . . All das, was er verkannt und mit Füßen getreten habe, müsse er nun schmerzlich entbehren . . . Und so erzählte Regine weinend fort, höchst gerührt von den Klagen des Verbannten. Fräulein von Croix-Mort war sehr traurig geworden, schweigend trat sie einige Schritte näher, dann blieb sie vor ihrer Mutter stehen und sagte mit ironischem Lächeln und herbem Tone: »Nun gut, geh' zu ihm, wenn er dir fehlt! . . .«
Augenblicklich aber bereute sie ihre Raschheit. Ihre Mutter erhob voll Entrüstung Einspruch. Ihr Platz, sagte sie, sei von nun ab an Edmees Seite; zwischen ihr und jenem Unglücklichen gebe es nichts Gemeinsames mehr. Aber wenn sie ihn verdamme, könne sie doch nicht umhin, ihn zu bedauern; Strenge schließe Milde nicht aus.
Seit diesem Vorfall empfand das junge Mädchen von neuem geheime Unruhe. Sie befürchtete, ihre Mutter eines Tages schwach werden zu sehen. Würde vielleicht die Zeit die bereits angebahnte Versöhnung bewerkstelligen? Für sie aber war, was auch kommen mochte, eine Wiedervereinigung unannehmbar, und sie war fest entschlossen, an dem Tage, wo Ferdinand wieder erscheinen sollte, das väterliche Haus für immer zu verlassen.