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Der Vicomte von Preigne lag als ein Mann, der nach einer beim Spiel verbrachten Nacht seine Kräfte ergänzen muß, noch schlafend zu Bett, als sein Kammerdiener, der unwiderstehliche Artur Boulard, ins Zimmer trat und ihn weckte.
»Wieviel Uhr ist es denn?« fragte der junge Mann gähnend und die Arme reckend.
»Elf Uhr, Herr Vicomte.«
»Schafskopf, weshalb kommst du denn vor zwölf Uhr?«
»Weil zwei Herren im Salon sind, die den Herrn Vicomte sprechen wollen.«
»Zwei Herren?« wiederholte Andre, sich völlig ermunternd. »Handelt es sich etwa um eine Forderung? Wer sind sie denn, deine zwei Herren?«
»Herr Vernaut und Herr Valançon. Sie kommen im Auftrag des Herrn Trélaurier.«
»Ach so!« . . .
Schlank und geschmeidig setzte sich der Marquis in seinem fliederfarbenen Seidenhemd auf die Kante des Bettes, schlüpfte in eine dunkelblaue Unterhose mit gestickten gelben Tupfen und streifte ein Paar Saffianschuhe an die Füße. Artur hatte mittlerweile die Vorhänge aufgezogen und den Morgenanzug seines Herrn bereit gelegt.
»Sage den Herren, daß ich eben aufstehe,« befahl der Vicomte, »und ich ließe sie um Entschuldigung bitten, würde ihnen aber in zehn Minuten zur Verfügung stehen.«
Er ging nun in sein Ankleidezimmer und begann damit, den ganzen Kopf in die Waschschüssel zu tauchen, um seine Gedanken zu klären.
»Valançon und Vernaut . . .« murmelte er unterm Abtrocknen. »Das sind die Zeugen. Ein Duell mit Trélaurier, wie abgeschmackt! Du liebe Zeit, wenn die Bankiers empfindlich werden . . .«
Artur kehrte zurück.
»Die Herrn lassen dem Herrn Vicomte danken und bitten ihn, sich ruhig anzukleiden. Sie werden warten.«
André lächelte.
»Wie feierlich! Hol's der Kuckuck! Komm einmal her, du Hallunke,« sagte er, sich nach dem liebenswürdigen Artur umwendend. »Du wirst ja wohl wissen, was diese zeremoniöse Aufwartung zu bedeuten hat?«
Artur kratzte sich hinter dem Ohr, verzerrte sein Affengesicht und setzte eine Leichenbittermiene auf.
»Ach, Herr Vicomte, das war doch wohl vorauszusehen! Das Kind hat mir schon einen Wink gegeben, daß es im Haus Trélaurier brändele . . .«
»Das Kind, das ist Zoë?«
»Ja, die Kleine, die so toll in mich verschossen ist.«
»Merkwürdiger Geschmack,« brummte André, sein Haar energisch mit der Bürste bearbeitend.
Der Kammerdiener warf sich in die Brust und blinzelte seinem Herrn zu. »Außer seinen persönlichen Vorzügen hat man auch sozusagen den Abglanz des Herrn Vicomte . . .«
»Schon gut! Und was hat dir deine Zoë berichtet?«
»Daß Herr Trélaurier Lunte gerochen und sie durch einen Freund, gerade diesen Herrn Vernaut, habe ausholen lassen. Natürlich habe sie nichts verraten wollen, der Ehemann habe aber doch an allerhand Kleinigkeiten gemerkt . . . nun und dann . . .«
»Dann hat er sich geärgert?« fragte der Vicomte, seine Krawatte aufs sorgfältigste knüpfend. »Nun, wir werden ja sehen, was er meint . . .«
Er spritzte ein paar Tropfen Parfüm auf sein Taschentuch, fuhr damit über den Schnurrbart, schlüpfte in eine seidene Hausjoppe und ging in den Salon, wo ihn Valançon und Vernaut stehend erwarteten. Sie machten dem jungen Mann, der lächelnd auf sie zutrat, eine förmliche Verbeugung und nahmen dann auf seine Einladung Platz. Mit harmloser Artigkeit schob er ihnen einen großen Kasten aus Palisanderholz hin, der mit Zigarren und Zigaretten der verschiedensten Marken gefüllt war, und fragte aufs liebenswürdigste: »Rauchen die Herren?«
Die beiden verneigten sich steif und lehnten durch eine Handbewegung ab.
»Darf ich fragen,« begann jetzt der Vicomte, »was mir die Ehre Ihres Besuches verschafft?«
»Wir sind hier im Auftrage unsers Freundes, des Herrn Trélaurier,« versetzte Vernaut unverzüglich, »und bitten Sie, uns mit zwei von Ihren Freunden in Verbindung zu setzen.«
Der junge Mann verbeugte sich mit lässiger Anmut.
»Das klingt ja, als ob es sich um ein Duell handelte,«
»Allerdings, Herr Vicomte, darum handelt sich's.«
»Gut! Wäre es aber möglich, zunächst einige Aufklärung darüber zu erhalten, was für eine Ursache diesem Duell zu Grunde liegt? Ich bin mit Herrn Trélaurier nur ganz oberflächlich bekannt, habe kaum dreimal im Leben mit ihm gesprochen. In den letzten vierzehn Tagen bin ich ihm meines Wissens nicht einmal begegnet, jedenfalls bin ich mir nicht der geringsten Kränkung bewußt, die ich ihm . . .«
»Darüber ist Herr Trélaurier andrer Meinung,« sagte Vernaut, dem Vicomte das Wort abschneidend. »Übrigens haben wir durchaus nicht den Auftrag, Erörterungen mit Ihnen zu pflegen . . .«
»Ach so! Da bitte ich um Verzeihung,« versetzte André lebhaft. »Ehe ich meine Freunde veranlasse, mit den Herren zu verhandeln, muß ich doch wissen, in welcher Angelegenheit sie mich zu vertreten haben. Bis zu dieser Stunde habe ich keine Ahnung, was mir zur Last gelegt wird, und ich muß Sie wirklich bitten, mich darüber aufzuklären. Nachher werde ich erst beurteilen können, wie ich mich zu verhalten habe.«
»Nun denn, Herr Vicomte,« erwiderte Valançon mit dem südländischen Tonfall, der seinen menschenfreundlichen Humor so wirksam unterstützte, »Herr Trélaurier findet, daß Sie sich zu viel mit seiner Frau beschäftigen, falls es nicht etwa die Frau ist, die sich mit Ihnen beschäftigt, oder wenn Sie lieber wollen, daß Sie beide sich zu viel miteinander beschäftigen.«
»Ich weiß den Humor zu würdigen,« entgegnete Preigne mit einem flüchtigen Lächeln, »womit sich Herr Valançon bemüht, eine Behauptung glaublich zu machen, die an und für sich ungeheuerlich ist. Ich weiß nicht, wer oder was Herrn Trélaurier auf die Vermutung bringen konnte, die ihn veranlaßt hat, Sie zu mir zu schicken, aber ich muß sagen, daß überhaupt jeder gesellschaftliche Verkehr zwischen den Geschlechtern aufhören müßte, wenn man Gefahr liefe, durch derartige phantastische Reizbarkeit in Händel verwickelt zu werden. Ich weiß nicht, was Herrn Trélaurier berechtigen könnte, seiner Frau und mir zu mißtrauen, aber ich muß nachdrücklich erklären, daß er sich irrt, und daß Frau Trélaurier sich ihrem Gatten gegenüber nicht das Geringste vorzuwerfen hat.«
Die Spannung in Vernauts Zügen ließ nach. Er hatte den Eindruck, als ob die Lage der Dinge sich aufhellte, als ob er hoffen dürfte, eine Vereinbarung herbeiführen zu können.
»Auf eine derartige Erklärung von Ihrer Seite waren wir nicht gefaßt,« sagte er, sich verbeugend, in milderem Ton, »wir wären auch nicht in der Lage gewesen, Sie darum zu bitten. Da Sie aber aus freien Stücken den Weg der Aufklärungen einschlagen, so wollen wir Ihnen im Interesse aller Beteiligten ohne Zögern darauf folgen . . .«
»Ja, sagen Sie mir nur, wie ich anders handeln könnte,« versetzte der Vicomte in überzeugend aufrichtigem Ton. »Sie sehen ja, wie verblüfft ich bin! Ich frage mich wahrhaftig, ob ich wache oder träume, so fabelhaft erscheint mir, was Sie sagen. Herrn Trélauriers auf keine Beweise gegründeter Verdacht erscheint mir so beleidigend, daß ich mich frage, ob es nicht an mir wäre, Genugtuung von ihm zu fordern. Ich stehe da einem Ehemann gegenüber, der sich aus Gott weiß welchen Hirngespinsten einen Roman zurechtzimmert, zu dessen Helden er mich macht, indem er seine Frau hineinzieht und mich eine Rolle spielen läßt, von der ich nur unendlich bedauern kann, sie nicht gespielt zu haben! Frau Trélamier ist so reizend, daß ich mich glücklich schätzen würde, ihr Liebhaber zu sein, das dürfen Sie mir glauben! Leider ist es nicht der Fall, und lediglich um mich dem Gatten gefällig zu zeigen, kann ich doch nicht wohl eingestehen, was nicht ist!«
Valançon und Vernaut sahen sich an; sie wußten allmählich nicht mehr recht, was sie nun machen sollten. Sie hatten nicht anders erwartet, als daß Preigne bereitwillig auf die Forderung eingehen werde, die seine Ehre mit Notwendigkeit erheischte; sie glaubten, mit ein paar knappen Worten die Sache einleiten zu können und dann nur noch die Verhandlung mit den Zeugen des Gegners vor sich zu haben. Statt dessen fanden sie im Vicomte einen Mann, der ihren Schritt kritisierte und nicht im mindesten geneigt schien, sich dem Gegner zu stellen. Ihn der Feigheit anzuklagen, war ein Ding der Unmöglichkeit, dazu hatte er seine Tapferkeit schon zu oft und in zu furchtbarer Weise bewährt. Degen wie Pistole waren seine Liebhaberei, und er schlug sich wegen eines Zwinkerns mit dem Augenlid. Wenn man ihm etwas zum Vorwurf machen konnte, so war es, daß er in der Regel sein und der andern Leben aufs Spiel setzte, ohne sich den Fall vorher zu überlegen. Es war deshalb außerordentlich schwierig, sich seinem Verlangen nach einer Erörterung zu entziehen, und Valançon glaubte sich ebensowenig dazu berechtigt als Vernaut. Es graute beiden vor der Vorstellung, Trélaurier mit diesem gefährlichen Gegner zusammentreffen zu sehen, während eine Auseinandersetzung doch immerhin die Möglichkeit einer friedlichen Lösung bot. Vielleicht war ja Annina noch zu retten, und Vernaut, den die Angst verzehrte und dem die Hoffnung auf Versöhnung das Herz entflammte, nahm es auf sich, den erhaltenen Auftrag zu überschreiten.
»Nun gut, Herr Vicomte, da Ihnen viel daran zu liegen scheint, Streit zu vermeiden, so wollen wir gemeinsam in ehrlichster Absicht besprechen, ob es möglich ist, ihn zu verhüten. Sie haben aus freien Stücken die Erklärung abgegeben, daß zwischen Ihnen und Frau Trélaurier keine Beziehungen bestünden, daß Sie, um es mit dürren Worten zu sagen, nicht ihr Geliebter seien.«
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf,« versetzte Preigne in bestimmtem Ton, »und ich gebe es mit Freuden. Sie müssen mir wahrhaftig zugestehen, daß ich Ihnen sehr weit entgegenkomme, und daß es nichts Alltägliches ist, einen Mann zu einem derartigen Geständnis zu veranlassen.«
»Sie sind eben ein Opfer Ihres Rufs, Vicomte,« bemerkte Valançon gelassen. »Den Lämmern mißtraut man nie, nur den Wölfen, und Sie haben etliche Raubanfälle auf dem Gewissen, weshalb niemand Sie gern in der Nähe seines Pferchs herumstreichen sieht.«
»Noch einmal, ich habe mich in diesem Fall an niemand herangeschlichen. Ich treffe Frau Trélaurier nur gelegentlich, verkehre nicht in ihrem Hause. Es ist mir vollkommen unverständlich, wie diese Sage von einem Flirt zwischen ihr und mir entstehen konnte.«
»Darüber kann ich Ihnen einigen Aufschluß geben, sobald wir uns geeinigt haben werden,« versetzte Vernaut. »Da Sie uns so freundliches Entgegenkommen zeigen, so lassen Sie mich in erster Linie unsre Angelegenheit weiter besprechen, sie auf die einfachste Formel zurückführen . . .«
»Das heißt auf nichts.«
»Ich hoffe es jetzt, doch die Erfüllung dieser Hoffnung hängt von Ihnen ab.«
»Wahrhaftig! Was wollen Sie denn noch? Wollen Sie in Ermanglung von Beweisen – Sie haben ja offenbar keine, sonst hätten Sie wohl längst Gebrauch davon gemacht – wollen Sie eine Bürgschaft meiner Unschuld haben? Sagen Sie's nur offen und unverblümt, Sie sehen ja, ich bin ein guter Kerl!«
Er lachte dabei in der Tat so harmlos und jugendfrisch, daß Valançon wie Vernaut ihre frostige Zurückhaltung fahren lassen mußten.
»Eine Bürgschaft?« wiederholte Vernaut. »Das war mir wirklich nicht in den Sinn gekommen, da Sie es aber anbieten, so will ich wirklich etwas derartiges verlangen . . .«
»Und was?«
»Nun denn! Entfernen Sie sich für einige Zeit aus Paris. Ihre Abwesenheit wird die Unruhe unsers Freundes beschwichtigen, das Mißtrauen wird sich abschwächen, die Wahrheit sich Bahn brechen. Wenn zwischen Ihnen und einer reizenden jungen Frau ein wenig geflirtet wurde, wenn ihr Köpfchen Träume ausgesponnen, Illusionen ausgeheckt hat, die sie aufgeben muß, so erleichtern Sie ihr die Rückkehr zur Vernunft, indem Sie ihr Muße geben, die Sache allein zu bedenken. Das ist alles, was wir verlangen möchten, und ich füge hinzu, daß Sie durch die Erfüllung unsrer Bitte nicht nur jedes Vorurteil des Herrn Trélaurier gegen Ihre Person beseitigen, sondern auch uns zu unendlichem Danke verpflichten würden.«
Der Vicomte schüttelte ernsthaft den Kopf.
»Zwei Männer wie Sie zu verpflichten, genügt, mich zu dem Entschluß zu bewegen. Und um so lieber werde ich ihn ausführen, als es gilt, die Ruhe einer Frau zu sichern, für die ich Hochachtung und Sympathie empfinde. Die Sache ist abgemacht. Ich werde Paris verlassen, werde mich sechs Wochen auf Reisen begeben. Haben Sie noch andre Wünsche?«
Valançon und Vernaut wechselten einen Blick. Die Bereitwilligkeit des Vicomte war verblüffend, doch die Gewißheit, daß ihr Besuch keine ernsten Folgen haben werde, erleichterte beiden das Herz. Obgleich sie ja wohl fühlten, daß der Vicomte nicht so unschuldig sein konnte als er behauptete, waren sie doch glücklich über die Zugeständnisse, die er gemacht hatte, und hielten es für ausgeschlossen, weitere von ihm zu fordern.
»Es bleibt uns nur noch übrig, Ihnen zu danken,« sagte Valançon. »Wir werden unserm Freund getreulich berichten und bezweifeln nicht, daß Ihre Erklärungen ihn zufriedenstellen werden. Was Herrn Vernaut und mich betrifft, so geben uns Ihre Worte genügende Sicherheit und wir möchten nicht weiter in Sie dringen.«
Vernaut drückte durch ein Kopfnicken seine Beistimmung aus. Er sah dabei den Vicomte aufmerksam an und bemerkte flüchtig, wie der Wind eine Wasserfläche kräuselt, eine höhnische Heiterkeit über seine Züge hingleiten. Das Gesicht blieb zwar unbeweglich und gelassen, aber die Augen, die Lippen, die Spitzen des Schnurrbarts lachten, es war keine Täuschung. In Vernaut blitzte der Argwohn auf, daß der kecke Bursche ihn wie Valançon mystifiziert, ihnen gegenüber geschickt Komödie gespielt habe, um sie ohne wirkliche Genugtuung loszuwerden. Er machte den Versuch, sich zu sammeln, nachzudenken, eine Möglichkeit zu finden, das Gespräch wieder aufzunehmen, um den Vicomte mehr in die Enge zu treiben und zu zwingen, Farbe zu bekennen, aber schon ging Valançon unter Andrés Geleite dem Vorzimmer zu. Im Innersten beunruhigt folgte Vernaut. Er fragte sich in diesem Augenblick, ob er das Vertrauen des Freundes nicht getäuscht habe, ob nicht durch seine Schuld ein Schritt wirkungslos geblieben sei, der vielleicht zwar eine gewaltsame, aber doch eine Lösung hätte bringen können. Er stand schon auf dem Vorplatz, hatte schon dem Vicomte die Hand gedrückt, als ihm diese trostlosen Gedanken recht zum Bewußtsein kamen. Nun stieg er die Treppe hinunter, trat auf die Straße, ließ Valançon zuerst einsteigen und gab dem Kutscher Trélauriers Adresse an, dann faßte er den Maler plötzlich heftig am Arm und fragte ihn: »Sind Sie auch gewiß, daß dieser Schwerenöter uns nicht an der Nase herumgeführt hat und sich jetzt nicht ins Fäustchen lacht über unsre Leichtgläubigkeit und die Willfährigkeit, womit mir auf sein Spiel eingingen?«
Valançon machte ein verduztes Gesicht.
»Wie wäre das möglich? Die Gründe, die er angab, erschienen doch Ihnen wie mir triftig. Warum sollte, was uns vor zehn Minuten genügt hat, jetzt nichts mehr taugen?«
»Weil . . . ach, Valançon, wir hätten uns auf keine Erörterungen einlassen sollen! Wir hatten einen ganz bündigen Auftrag, an den wir uns zu halten hatten. Anstatt dessen haben wir unsre Vollmacht überschritten, weil wir einem Menschen gegenüberstanden, dem wir nicht gewachsen waren. Ich sage Ihnen, dieser verteufelte Vicomte hat uns hereingelegt! Ich bin ganz fest überzeugt, daß er sich in diesem Augenblick die Seiten hält vor Lachen über die Rolle, die wir gespielt haben.«
»Donnerwetter! Warum haben Sie dann nicht besser standgehalten? Sie waren's, der zuerst mürbe wurde, ich bin nur Ihrem Beispiel gefolgt! Aber betrachten wir die Sache kaltblütig . . . wieso meinen Sie denn, daß er uns und Trélaurier überlistet hätte? Der Vicomte verreist, das haben wir ihm auferlegt und er hat es uns zugestanden. Glauben Sie, daß er dieser Verpflichtung nicht nachkommen wird?«
»Doch, das wird er schon tun, denn wir würden ihn sonst daran erinnern und ihn zwingen, sein Wort zu halten. Er wird es tun, aber auf welche Weise? Da steckt etwas im Hintergrund, was wir nicht wissen . . .«
»Lieber Freund, Psychologie zu treiben, ist nicht unsers Amtes. Ein junger Mann wird angeklagt, eine junge Frau irrezuführen, man trennt ihn von ihr und er ergibt sich in die Trennung, was wollen Sie mehr? Die Gründe, die ihn dazu bestimmen, gehen uns nichts an, wir müssen uns an der Tatsache genügen lassen, die höchst erfreulich ist.«
»Ach, der Mensch weiß einen zu kirren! Er hat uns Herrn Dimanches Szene vorgespielt! Wir erscheinen, um ihn aufzufordern, sich oder unserm Klienten den Hals abzuschneiden, er aber umgeht den Vorschlag und versetzt uns in Entzücken über seine Liebenswürdigkeit! Ich war darauf vorbereitet, daß er sich über uns lustig machen werde, ich hatte Beweise seiner Schuld, das Geständnis eines Helfershelfers und trotz alledem habe ich mir ein X für ein U vormachen lassen!«
»Sie beharren also trotz all seiner Erklärungen bei der Meinung . . .«
»Daß er ein Verhältnis mit Frau Trélaurier hat? Ich kann gar nicht daran zweifeln! Valançon, Sie und ich, wir sind die reinsten Waisenknaben neben diesem geriebenen Burschen! Was wird der arme Felix dazu sagen! Nett haben wir seine Rechte vertreten!«
Der Wagen rollte während dieses Gesprächs rasch dahin und war bald in der Rembrandtstraße angelangt. Sie stiegen aus und betraten das Haus durch die kleine Diensttüre. Ein Druck auf die Klingel nach dem Vorzimmer diente als Anmeldung, und sie stiegen die prachtvolle Haupttreppe mit den Porphyrsäulen und den vergoldeten Kapitälen hinauf, an deren Seitenwänden sich die wunderbaren gewirkten Teppiche nach Bérain gleich Bildern entfalteten. Ohne ein Wort zu fragen, führte sie der Kammerdiener im ersten Stock in Trélauriers Zimmer, wo dieser, Briefe schreibend, an seinem Tisch saß. Er stand auf, ging den Freunden entgegen, sah prüfend in ihre bekümmerten Gesichter und faßte alles, was ihn erfüllte, in die Frage zusammen: »Nun, und?«
»Nun . . . wir kommen soeben von unserm Mann,« versetzte Vernaut zögernd. »Er benahm sich ebenso versöhnlich, als wir unerbittlich zu sein gesonnen waren. Er wollte nicht einmal seine Zeugen bezeichnen, sondern bot uns jede gewünschte Erklärung an, ja er kam all unsern Anforderungen entgegen. Er leugnet jede Beziehung zu deiner Frau, erklärt sie für untadelhaft und ist bereit, Paris auf sechs Wochen zu verlassen, um die Wahrhaftigkeit seiner Aussage zu beweisen.«
Trélaurier bewegte abwehrend die Hände und ließ den Kopf hängen.
»Wahrscheinlich werden sie zusammen reisen.«
»Was?« rief Vernaut, »du vermutest . . .«
»Ich vermute nichts, ich bin meiner Sache sicher. Während ihr mit Preigne gesprochen habt, sprach ich mit meiner Frau, und sie war ebenso ehrlich, als er verlogen. Was ihr mir da als Geständnis des Vicomtes meldet, stimmt genau zu dem, was Annina mir als ihren Plan kundgab. Er reist ab, sie auch. Man sagte dir ja vorher schon, daß es so verabredet sei. Vielleicht, daß er Paris allein verlassen wird, um scheinbar seiner Verabredung mit euch nachzukommen, aber ohne allen Zweifel wird sie unterwegs mit ihm zusammentreffen. Darüber hat sie mich durchaus nicht im unklaren gelassen.«
»Das hat sie gewagt?«
»Mit einer Aufrichtigkeit, die mir das Herz zerrissen und den Kopf verwirrt hat. Jedenfalls hatte diese Ehrlichkeit den Vorzug, mich von allen Selbsttäuschungen zu befreien! Nach derartigen Geständnissen liegt alles in Trümmern und das Gelände, worauf unser Dasein sich aufbaut, liegt so kahl da, daß ein Cyklon es nicht gründlicher hätte reinfegen können. Meine Frau hat mir erklärt, daß eine Zusammengehörigkeit zwischen uns nicht mehr denkbar sei und sie ihre Freiheit unbeschränkt zurückfordre. Was ich darüber denken, wie ich darunter leiden mag, das kümmert sie nicht. Sie bedarf der Unabhängigkeit, um ihr Leben anders einzurichten, als sie es getan hatte. Das Glück bietet sich ihr an der Seite eines andern als ich, sie hat einen Irrtum begangen, indem sie meine Frau wurde. Man hat sich vergeben beim Kartenausteilen, man mischt sie noch einmal, das ist alles!«
Der Bankier lachte, daß es die Freunde kalt überlief. Er sprach weiter mit einer Ruhe, als ob in seinen Augen nichts mehr Bedeutung hätte, als ob für sein Ohr die Worte allen peinlichen oder kränkenden Sinn verloren hätten.
»Das alles ist ganz neu, ist die Weltanschauung der jüngsten Generation. Da haben wir, was uns das Studium des Ich, die Vergötterung des Individuums gemütlich eingetragen hat. Wir haben nur eins zu bedenken, nur eines hat Bedeutung: Jeder sehe, wie er seinem Geist Wahlverwandtes, für seine Sinne Befriedigung finde. Das ist vollkommen im Geiste Ibsens, vollkommen anarchistisch. Gewiß ist, daß ich das Programm nicht erfülle, nicht brauchbar dafür bin. Meine Frau hat mir in dreistündiger Unterredung meine Unfähigkeit, meine Minderwertigkeit klargemacht. Ja, das hat meine Frau getan! Versteht mich recht, die Frau, die meinen Namen trägt, erklärte mir, daß ihr ein anderer als ich not tue. Und ich habe sie nicht erwürgt! Sie lebt! Sie wird ihren Plan ausführen, und ich werde mich der Ausführung nicht widersetzen.«
Zähneknirschend schlug er mit der Faust auf die Tischplatte, als ob er sie zerschmettern wolle, und das Antlitz, das er den Freunden zukehrte, war derart verzerrt von Schmerz, daß sie in tiefster Seele erschrocken, mit ausgestreckten, flehend erhobenen Händen nähertraten. Doch Trélaurier wehrte sie mit einer Gebärde ab.
»Beruhigt euch, wahnsinnig bin ich nicht! Ich bin vollständig bei Besinnung, und was ich euch sage, ist durchaus richtig. Meine Frau hat mir mit aller Pietät, die man einem alten Verwandten zeigen kann, versichert, daß sie es nicht ertragen könnte, mich in einem Zweikampf mit André von Preigne fallen zu sehen, und daß sie den Vicomte nicht überleben würde, falls er der Unterliegende wäre. Mag ich also tun, was ich will, für mich ist sie verloren. Überdies handelt man nicht gegen den Willen eines denkenden Wesens, man müßte denn das Recht dazu haben, und dieses Recht besitze ich Annina gegenüber nicht mehr. Mein Recht beruht ja nur auf ihrem Willen, auf dem freien Geschenk ihrer selbst, das sie mir gemacht hatte. Sie nimmt sich zurück . . . was kann ich dagegen tun? Ich weiß ja wohl, daß göttliches und menschliches Gesetz mir die Verfügung über sie zugestehen, daß ich die Treue, die sie mir nicht mehr freiwillig gewährt, mit Gewalt erzwingen kann. Was für eine furchtbare Aufgabe, welch trügerische Gewähr des Besitzes! Das Fleisch zwingen, mich zu dulden, den Geist zwingen, mich zu ertragen! Den Tyrannen spielen dieser Frau gegenüber, die ich behandelt habe wie eine Herrscherin, deren Wünsche mir Befehl, deren Launen meine Lust waren. Der strenge, mißtrauische Kerkermeister werden, nachdem ich der ergebenste, vertrauensvollste, blindeste Gatte gewesen? Nimmermehr. Das wäre meiner nicht würdig. Ich muß mich darein ergeben, betrogen worden zu sein, ich will aber nichts tun, wodurch ich dieses Schicksal verdienen würde. Meine Frau will sich von mir lossagen. Ich willige ein, ich gebe sie frei.«
Bestürztes Schweigen empfing diese schmerzerfüllten Worte. Vernaut wie Valançon hatten zugehört, ohne den Freund mit einem Laut zu unterbrechen. Es war ihnen eine Wohltat, nicht sprechen zu müssen, denn es wäre ihnen schwer geworden, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Anninas Handlungsweise erfüllte sie mit Entrüstung, sie würden Trélaurier gern zu gewaltsamem Eingreifen veranlaßt haben, mußten sich aber eingestehen, daß all sein Widerstand doch vergebens sein würde, und mußten seine Weisheit bewundern, obwohl seine Mäßigung sie verstimmte. Ihr beklommenes Schweigen verriet den Zwiespalt ihrer Gefühle, endlich aber raffte sich Vernaut doch zu der Frage auf: »Was wirst du tun? Es ist unmöglich, daß du eine solche Kränkung auf dir sitzen läßt.«
»Für den Augenblick kann ich nur abwarten, was geschieht. Es bleibt mir noch eine freilich schwache Hoffnung, daß Annina zur Besinnung kommen, meine Worte bedenken und im letzten Augenblick nicht die nötige Tatkraft haben wird, um ihren Plan auszuführen. Das wäre für mich ein unverhoffter Triumph. Damit würde sie sicherer mein werden, als an dem Tag, da sie mir angetraut wurde, denn ich besäße sie dann kraft ihres bewußten Willens. Ich mache mir indes keine Illusionen. Es bedürfte, um sie zum Bleiben zu bewegen, einer jener höchst seltenen Zufälligkeiten, die einer Frau plötzlich über den Mann, dem sie ihr Schicksal anvertrauen will, ein Licht aufstecken. Ich habe ihr vergebens die Augen zu öffnen gesucht, doch alles, was ich über Preigne sagte, glaubt sie nicht und wird es nicht glauben, bis eigene Erfahrung sie aufklärt, dann aber wird es zu spät, wird ihr Fall unwiderruflich geschehen sein. So lange sie mein Haus nicht verlassen hat, ist immer noch eine Möglichkeit vorhanden, daß sie bleiben wird, und so schwach diese Möglichkeit ist, ich muß immer noch damit rechnen. Ich habe Annina Bedenkzeit gegeben bis heute abend . . .«
»Und wenn sie sich zum Gehen entschließt?«
»Dann werde ich auch verschwinden, um die öffentliche Meinung irrezuleiten und Aufsehen zu vermeiden. Ich werde mich aufs Land flüchten und unsichtbar bleiben, bis meine Abwesenheit hinreicht, um dem Gerücht, daß Annina leidend und ruhebedürftig sei, einen gewissen Halt zu geben. Ihr kennt ja die Gesellschaft; sie beschäftigt sich mit allem nur flüchtig und oberflächlich, nach acht Tagen haben die schlimmsten Klatschmäuler einen andern Stoff und Frau Trélauriers Krankheit ist eine Tatsache, um die man sich nicht mehr kümmert. Wenn Annina zurückgezogen lebt und nicht auffällig durch die Welt reist, so wird der Schein gewahrt und offenbare Schande vermieden werden können, woran mir sehr viel liegt, mehr um ihret- als um meinetwillen.«
»Möchten Sie nicht, daß ich mit Ihrer Frau spreche,« fragte Valançon, »und ihr sage, wie ich über die Sache denke? Wir stehen freundschaftlich genug zusammen, daß ich mir das erlauben darf . . .«
»Sie werden aber nichts erreichen, denn sie ist vollständig verrannt. Ersparen Sie sich und ihr unnützes Gerede und Aufregung.«
»Wie Sie meinen. Was werden Sie vorläufig beginnen?«
»Ich werde mit Vernaut ins Geschäft gehen und dann frühstücken. In die Wohnung werde ich vor Abend nicht zurückkehren. Dann wird Anninas Schicksal und das meinige entschieden sein, bis dahin werde ich mich der Arbeit widmen.«
»Sie sind ein Stoiker!«
»Wieso? Ich mache nur gute Miene zum bösen Spiel, und was sollte ich sonst tun? Es ist ja eine Wohltat für mich, wichtige Geschäfte erledigen zu müssen; so lange ich mich damit befasse, kann ich nicht an mein Unglück denken. Falls ich überdies heute abend reise, muß der Geschäftsgang für die ganze Woche meiner Abwesenheit vorgezeichnet werden.«
»Sie wissen, daß ich gänzlich zu Ihrer Verfügung stehe, wenn Sie mich brauchen können. Wär's Ihnen lieb, daß ich Sie auf die Reise begleite?«
»Danke, mein guter Valançon. Bleiben Sie nur bei Ihrer reizenden Frau. Sie sind glücklich! Genießen Sie Ihr Glück und würdigen Sie es recht.«
»Nun, vielleicht ändert sich Ihre Stimmung noch. Ein Wort durchs Telephon, und ich setze mich mit samt meinem Malkasten in Bewegung.«
Trélaurier drückte dem Künstler warm und dankbar die Hände und gab ihm mit Vernaut das Geleite bis zur Treppe. Dann machte er sich, wie er gesagt hatte, zum Gehen fertig und begab sich mit dem alten Freund nach dem Bankhaus. –
Während dieser Zeit war man im Lager des Gegners außerordentlich geschäftig gewesen. Der geschmeidige Kammerdiener des Vicomte war Vernaut und Valançon auf den Fersen nach der Rembrandtstraße gefolgt und hatte durch irgend einen Dienstboten Fräulein Zoë rufen lassen. Eilig war das Jüngferchen heruntergeflogen und hatte den Geliebten im Stallhof vorgefunden, wo er, blaß vor Wut, auf einem der Böcke zum Wagenwaschen saß. Rasch und deutlich hatte er ihr seinen Standpunkt klargemacht.
»Da bist du ja, du niedliche Kröte! Nette Geschichten richtest du an mit deinem Klatschmaul!«
Fräulein Zoë gab sich Mühe, sehr würdevoll auszusehen, während sie Artur von der Seite ansah.
»Wenn du so anfängst, gehe ich gleich wieder hinauf.«
»Du bleibst, dumme Gans! Ich habe mit dir zu reden.«
»Dann benimm dich anständig! Falls dein Herr mit seinen Liebschaften so redet, ist's ihre Sache, ich ertrage diesen Ton nicht von meinem Geliebten.«
»Will mir das gnädige Fräulein gütigst eine Unterredung gewähren?« höhnte Artur, Gesichter schneidend.
»Rede,« versetzte das Mädchen mit halbem Lachen. »Aber komm in die Remise, hier kann man uns von oben sehen.«
Sie ließen sich nun auf zwei umgestürzten Stalleimern nieder.
»Ja, einen netten Salat hast du uns angerührt! Kommen da heute früh zwei Leichenbitter zum Herrn, um ihn von seiten deines Alten zu fordern!«
»Ach! Und zu gleicher Zeit gab's bei uns einen gräßlichen Radau zwischen ihm und ihr aus dem nämlichen Grund!«
»Und das alles kommt davon, daß du gestern deinem Vernaut die Geschichte gesteckt hast . . .«
»Die konnte doch ohnehin nicht verborgen bleiben! Wenn ich nicht geredet hätte, würde er's durch sonst jemand erfahren haben. Er wußte ja schon, was los war . . . Dann hat er mir auch Angst gemacht . . .«
»Und dich geschmiert . . .«
»Jawohl, die tausend Franken, die ich dir gab!«
»Mehr! Mehr! Du wirst mir nicht weismachen wollen, daß du deine Frau um fünfzig Goldfüchse verschachert hättest! Wenigstens wärst du dann meiner Gunst unwürdig . . .«
»Nun ja . . . er hat's verdoppelt! Zweitausend . . . ich habe noch einen blauen Lappen für dich aufgehoben, aber sei nicht so steif, dein Schätzchen will einen Kuß . . .«
Artur geruhte, das glatte, lasterhafte Lakaiengesicht zu der niedlichen Zoë herabzuneigen und sich mit lächelnder Herablassung streicheln und küssen zu lassen, machte aber bald ihrem Zärtlichkeitserguß ein Ende.
»Reden wir ernsthaft! Wir wollen wissen, was zwischen der Gnädigen und ihrem Bankier vor sich gegangen ist. Sie muß kommen, der Herr erwartet sie, er hat mich deshalb hergeschickt.«
»Sie packt . . . ob sie nach dem, was sich ereignet hat, noch kommen kann, weiß ich nicht.«
»Mag sie's angreifen, wie sie will, kommen muß sie! Wir werden uns doch nicht den Kopf zerbrechen, um Ausreden für sie zu erfinden! Sie liebt uns, und Liebe macht erfinderisch.«
»Ach! Da könnt ihr euch wirklich etwas darauf einbilden, wie sie euch liebt! Ist's nur menschenmöglich, eine Frau so weit zu bringen! Sie weiß rein nicht mehr, was sie tut, das muß man sagen. Wenn ich denke, daß sie ein Leben, wie sie's hier hat, wegen der schönen Augen eines Windbeutels wie dein Vicomte aufgibt . . . er muß sie wahrhaftig mit irgend einem verteufelten Liebestrank verhext haben.«
»Der? Fällt ihm gar nicht ein! Braucht ja die Weiber nur anzusehen mit seinen schönen Augen, wie du sagst! Aber diesmal hat's ihn auch gepackt, soweit ich mich auskenne. Noch mit keiner ist er so vorsichtig umgegangen. Ordentlich Respekt hat er vor ihr! Jawohl, darauf wette ich meine tausend Franken, seinen Kammerdiener täuscht man nicht. Ich weiß ganz genau, wann er vorwärts macht oder nicht, wann er gesiegt hat, oder ob er abgeblitzt ist. Nun, und Frau Trélaurier war nur einmal bei uns und ist weggegangen, wie sie gekommen war, und der Herr Vicomte hat sie rücksichtsvoll, respektvoll hinausbegleitet, man hätte meinen können, es wäre seine Schwester. Zwischen ihm und ihr ist nichts passiert.«
»Das glaube ich wohl! Aber liebt er sie?«
»Ich glaube, daß er in sie vernarrt ist, aber meiner Meinung nach möchte er sie namentlich heiraten.«
»Nicht dumm! Aber scheiden läßt sich der Herr nicht, dazu hat er sie viel zu lieb.«
»Da sitzt ja eben der Haken. Nun denn, kommen muß sie. Nachdem die beiden Freunde deines Alten fort waren, war der Herr in einer Aufregung, die mich bei einem so kalten Menschen wirklich wundergenommen hat. Mich hat er hierher gejagt, schlankweg wie einen Tennisball, und da bin ich. Jetzt mach, daß du zu deiner Dame kommst, und heize ihr tüchtig ein! Ich muß Antwort haben, man ist in großer Not bei uns.«
Zoë ging, und Artur steckte sich eine Zigarette an. Nach fünf Minuten erschien die Kleine wieder, atemlos vom raschen Lauf.
»In einer Viertelstunde ist sie dort. Ich muß ihr eine Droschke holen.«
»Sie kann also ausgehen? Sie wird nicht bewacht?«
»Nein. Mach, daß du fortkommst! Nur noch einen Kuß . . .«
»Zwei für einen! Du wirst an den zweiten Tausender denken?«
»Er ist dein, mein Hänschen! Versteht sich.«
»O du Goldschatz!«
Ihre Lippen preßten sich mit Geräusch und Begeisterung aufeinander.
»Auf heute abend!«
Er ging. Zoë sah dem angebeteten Spitzbuben nach und murmelte, die Diensttreppe hinaufgehend: »Nur ein Glück, daß er nichts von den acht Tausendern weiß, die ich noch habe. Ach diese Männer! Wenn man kein Geld hätte, womit sollte man sie festhalten?«
Vollständig angekleidet stand der Vicomte jetzt in seinem Salon. Ein sehr prall sitzendes schwarzes Jackett umschloß seine Gestalt, die Brust wölbte sich unter einer blauseidenen Weste, eine handgestrickte schwarz und rote Krawatte, durch einen goldenen Ring zusammengehalten, umschloß den hohen weichen Hemdkragen, das hübsche blonde Haar war glatt tief in die Stirne gekämmt, kurz, der ganze Mensch war ein tadelloses Modebild. Am Fenster stehend, spähte er mit einer gewissen Ungeduld auf die Straße hinaus, und doch war sein Gesicht sehr ruhig, der Blick stetig und der Mund heiter. Jetzt hielt ein Wagen vor dem Haus und Preigne hob den kleinen Vorhang ein wenig. Frau Trélaurier stieg aus, ihr Blick streifte das Zwischengeschoß, und als sie die Bewegung des zurückfallenden Vorhangs bemerkte, lächelte sie. Nachdem sie den Kutscher bezahlt hatte, trat sie rasch ins Haus. Sie brauchte nicht zu klingeln. André stand hinter der Glastüre, die sich lautlos öffnete und wieder schloß. Sie ging schweigend durchs Vorzimmer in den Salon, wo sie in einen Lehnstuhl sank. Ein niederes Stühlchen herbeiziehend, ließ sich André zu ihren Füßen nieder und hielt, ohne ein Wort zu sprechen, ihre Hände in den seinigen. Sie kostete, das Gesicht von dem weißen Schleier bedeckt, den der leuchtende Blick ihrer dunklen Augen durchbohrte, die Wonne, diesen sonst so verwegenen schönen Mann schüchtern und bescheiden zu sehen. Endlich atmete sie tief auf und sagte, als ob es ihr schwer würde, das wonnige Ineinanderversenktsein zu stören: »Du hast mich zu sprechen gewünscht im selben Augenblick, als ich mir den Kopf zerbrach, wie ich dir Botschaft zukommen lassen sollte, daß ich mit dir beraten müsse. Wir hatten also dasselbe Gefühl.«
»Kann es anders sein, wenn wir beide unsern Herzen gehorchen? Vor allem beruhige mich über dich. Das ist das einzige, was mir Kummer macht. Was mir auferlegt sein mag, gilt nichts, wenn nur du vor Gewalt sicher bist.«
»Ich hatte nichts zu fürchten, als eine Auseinandersetzung, und die hat stattgefunden. Ich bin noch ganz vernichtet davon, denn ich mußte ja gegen den Menschen kämpfen, den ich nach dir, mein André, am meisten liebe. Es schmerzt mich unsagbar, ihn zur Verzweiflung zu treiben, und doch habe ich es getan, und zwar mit einer Härte, deren ich mich nicht für fähig gehalten hätte . . .«
Tränen flossen über ihre Wangen. Sie nahm den Schleier ab und das liebliche Gesicht erschien, von innerer Erschütterung ein wenig verändert, in vollem Licht. André glitt auf die Kniee nieder, hob Anninas Hände, legte sie an seine Wangen, streichelte sie zart, ohne sie zu küssen, und ließ die weichen Finger über sein Gesicht, den blonden Schnurrbart hingleiten, daß Annina von einem süßen Schauer durchrieselt wurde.
»Ich mußte ja meine Freiheit zurückerobern,« fuhr sie mit unsicherer Stimme fort, »denn ich bin nicht die Frau, einen Mann zu hintergehen. Das Leben, wie ich es seit einem Monat führe, seine täglichen, stündlichen Notlügen, war mir eine unerträgliche Qual. Ich habe also alles eingestanden, alle Brücken hinter mir abgebrochen, ich bin wieder Herrin meiner selbst. Es liegt in meiner Hand, ob ich in meines Mannes Haus zurückkehre, um es nicht mehr zu verlassen, oder ob ich mich von meiner Vergangenheit lossage, um einer neuen Zukunft entgegenzugehen. So wollte ich's haben. Doch jetzt, da das Schwerste erledigt ist, jetzt zaudere ich, die vor keinem unübersteiglich scheinenden Hindernis zurückgebebt ist, jetzt zögere ich, von meinem wieder eroberten Recht Gebrauch zu machen. Ach, der Kampf ist nicht das Schwerste! Während der Schlacht hat man Mut, aber nachher, wenn es gilt über einen Besiegten hinwegzuschreiten, da fühlt man sich wehrlos.«
»Aber es handelt sich ja gar nicht um einen Besiegten! Die Herren Vernaut und Valançon, die mich eben verließen, haben mir das deutlich zu verstehen gegeben.«
»Was wollten sie von dir?«
»Sie überbrachten mir Herrn Trélauriers Forderung.«
»Du hast sie abgelehnt, hoffe ich?«
»Hatte ich's dir nicht versprochen? Ich mußte ein gutes Stück Diplomatie aufwenden, um sowohl deinen Ruf als mein Selbstbewußtsein zu schonen. Es ist nicht gerade meine Art, mich einer derartigen Herausforderung zu entziehen . . . Indes ein Duell zwischen mir und deinem Gatten würde furchtbares Aufsehen machen und unheilbaren Schaden anrichten. Ich konnte ja auch mit gutem Gewissen die Reinheit unsers Verhältnisses beteuern, und das kam mir sehr zu statten.«
Er lächelte bei diesen Worten und in die Ehrlichkeit seines Blicks mischte sich ein so zärtlicher Ausdruck des Verlangens, daß Annina sanft mit ihrer Hand seine Augen verdeckte.
»Hat man irgendwelche Versprechungen von dir verlangt?«
»Nur, daß ich verreise, und darauf ging ich ein.«
»Und wann wirst du Paris verlassen?«
»Heute abend.«
»Und ich?«
»Du wirst mir nachkommen, Geliebte. Es ist für dich, für die Welt, für deine gegenwärtige Sicherheit und für unser künftiges Glück durchaus nötig, daß wir nicht zusammen abreisen. Ich kann dir nur raten, deine Anwesenheit an irgend einem Ort recht deutlich zu machen, während ich mich an einem davon entfernten ebenfalls auffällig zeigen werde, damit niemand im Zweifel darüber sein kann, daß eine große Entfernung zwischen uns liegt. Dann wird der Tag kommen, an dem wir uns vereinigen, um uns nie wieder zu trennen.«
Sie tauchte den Blick tief in Andrés Augen, die sie strahlend anlächelten.
»Und ich werde deine Gattin sein?«
»Darauf gebe ich dir mein Wort. Am Tag, der dir die Freiheit schenkt! Es wird die größte Glückseligkeit sein, die du mir bereiten kannst . . . Aber werden wir sie erlangen können?«
»Es muß geschehen. Unter einer gesetzlosen Lage würde ich zu sehr leiden. Mein Mann widersetzt sich der Scheidung, weil er immer noch hofft, mich zurückhalten zu können; wenn er aber einsehen wird, daß jeder Widerstand vergebens ist, daß ich entschlossen bin, das gemeinsame Leben nie wieder aufzunehmen, wird er es meiner würdiger, ehrenhafter für ihn selbst finden, unsre Ehe zu lösen. Sein Großmut wird ihn dazu treiben, die Weigerung fallen zu lassen, die wie eine Rache aussehen würde, und sein Stolz wird es nicht zugeben, mich wider alle Vernunft gefesselt zu halten.«
Eine Wolke des Unmuts glitt über Andrés Züge; er verzog den Mund und sagte mit verändertem Klang der Stimme: »Du denkst merkwürdig hoch von dem Mann.«
»Nicht mehr, als er's verdient,« erwiderte Annina ernst. »Täuschen wir uns doch nicht, mein Liebster. So wie die Dinge liegen, spielt er die edle Rolle . . . und er spielt sie nicht nur,« setzte sie mit einem wehmütigen Lächeln hinzu, »Machen wir ihm nicht streitig, was ihm gebührt – er ist arm genug. Ich versichere dich, daß er sogar Schuld oder Unrecht auf sich nehmen würde, nur um nicht geopfert zu werden. Mein Schicksal wird es gewesen sein, von zwei Männern geliebt zu sein, wie eine Frau nur träumen kann, geliebt zu werden: von ihm mit aller Hingebung und aller Seelengröße, deren der vollkommenste Mensch fähig ist, von dir mit aller Süßigkeit und Glut, die Leidenschaft ausatmen kann. Ich habe gewählt – von dir allein hängt es ab, daß ich es nie zu bereuen haben werde.«
Statt jeder Antwort umschlang er sie und drückte sie an sich, und sein Ungestüm war so groß, daß sie leichenblaß in seinem Arm lag. Von eigenem Verlangen verzehrt, von Andrés Glut hingerissen, stieß sie einen Schrei aus und wollte Widerstand leisten. Doch er flüsterte flehende Liebesworte und der süße Klang seiner bebenden Stimme machte ihre Nerven erzittern. Die Willenlosigkeit, womit sie der Stimme lauschte, entsetzte sie selbst. Es war, als ob ihr bei den weichen Klängen das Herz in der Brust wonnig zerflöße, als ob ihre Widerstandskraft schmelze wie Frühlingsschnee, als ob ihre Gedanken vergingen und nichts bestünde, als der Wille und die Lust des geliebten Mannes. Sie fühlte sich ihrem eigenen Selbst entrückt, widerstandslos, rückhaltlos dem Mann preisgegeben, der sie bezauberte und beherrschte und dessen Begierde auch ihr Herz ergriff. Diese Selbstentäußerung, die sie bisher nicht kennengelernt hatte, war Seligkeit, aber heiß aufwallende Scham riß sie noch einmal aus dem Liebestaumel. Ihr Blick überflog den fremden Raum in hellem Tageslicht, sie sah sich selbst in Hut und Mantel als einen flüchtigen Gast, und es graute ihr davor, sich hinzugeben in diesem Rahmen der Alltäglichkeit, der üblichen Szenerie des niedrigen Fehltritts.
»André, ich bitte dich, nicht jetzt . . .« stammelte sie, sich aufraffend. »O nein, nein! Vergiften wir unser Glück nicht durch eine beschämende qualvolle Erinnerung . . .«
Er begriff und gab sie frei. Mit ganz verändertem Ausdruck, voll ehrfürchtiger Zärtlichkeit beugte er sich zu ihr nieder. »Vergib mir, mein geliebtes Leben . . . Ich werde dir gehorchen . . . Aber geh nicht mit mir ins Gericht, weil ich dich so wahnsinnig liebe . . . Du, du bist die Schuldige, denn weshalb bist du so voll Reiz? Gebiete mir, ich bin dein.«
Sie legte ihre Hände an seine Schläfen und drückte flüchtige Küsse auf sein blondes Haar, seine Stirne, auf die blauen Augen mit dem kindlichen Blick, ihm so zu zeigen, wie sie ihn liebte, was es sie kostete, seinem Begehren zu widerstehen, und wie sie ihm seine Besonnenheit dankte.
»Wir müssen ja nun unsre Verabredungen treffen,« sagte sie mit wiedergewonnener Ruhe und Herrschaft über sich selbst. »Du wirst heute abend abreisen . . . Wohin?«
»Nach Cannes, ganz direkt.«
»Gut. Ich werde mich nach Schloß Fondettes begeben zu meiner Tante. Dort werde ich drei Tage bleiben, um dann nach der Schweiz weiterzureisen. In Lugano werde ich Station machen . . . willst du in acht Tagen dort mit mir zusammentreffen? Dort, mein Liebster, in fremdem Land, fern von allem Erinnern, unter einem neuen Himmel will ich dir gehören.«
Er umschloß sie zärtlich.
»Annina! Meine süße Frau!« flüsterte er in ihr Ohr.
Sie lächelte ihm zu, das Auge von seligen Tränen umschleiert, und sagte, einen Seufzer erstickend: »Auf Wiedersehen, Freund meines Herzens.«
Im Vorzimmer ordnete sie vor einem Stehspiegel ihren Anzug, setzte den Hut fest, zog ihren Mantel glatt und band den Schleier um, dann warf sie sich aus freiem Willen noch einmal in Andrés Arme und sie trennten sich mit einem raschen, wonnigen Kuß.
Sobald sie fort war, ging der Vicomte wieder in sein Ankleidezimmer, vertauschte das Jackett mit der seidenen Hausjoppe und klingelte.
»Das Frühstück,« befahl er dem Kammerdiener.
»Es kann sofort aufgetragen werden.«
»Bringen Sie mir das Kursbuch von meinem Schreibtisch.«
»Der Herr Vicomte verreisen?«
»Heute abend. Ich nehme Sie mit. Sie können gleich ans Einpacken gehen.«
»Wohin reisen der Herr Vicomte?«
»Das werde ich Ihnen auf dem Bahnhof sagen.«
Stumm verbeugte sich der Geschmeidige. Er wußte, daß man in manchen Fällen nicht aufdringlich sein durfte bei seinem Herrn, da er aber dessen Mangel an Vertrauen kränkend fand, konnte er sich's nicht versagen, auf der Stelle Rache zu üben.
»Ich möchte den Herrn Vicomte nur darauf aufmerksam machen, daß der Alte vom Boulevard Poissonnière wieder zwei Stunden Schildwache gestanden hat vor dem Haus.«
»War er schon da, als Frau Trélaurier kam?«
»Gewiß, und als sie fortging, verließ er seinen Posten. Vermutlich ist er ihr gefolgt.«
Das Gesicht des schönen André verzerrte sich; er machte eine wütende Gebärde und stieß einen häßlichen Fluch aus.
»Diese alte Kanaille hat wahrscheinlich den Bankier auf die Fährte gehetzt. Ob er mich wohl bald in Ruhe lassen wird?«
»Der Alte hat einen furchtbaren Haß auf den Herrn Vicomte. Verschiedene Male versuchte er, mich zum Reden zu bringen . . . er kann den Tod seiner Tochter nicht verwinden . . .«
»Als ob ich dafür verantwortlich wäre, daß eine Närrin die Liebe tragisch nimmt? Ist es etwa meine Schuld, daß sie lungenkrank war? Dieses Mädchen wird mir noch mehr verdrießliche Monate eintragen, als ich angenehme Minuten durch sie hatte! Was verlangt denn der Alte eigentlich, in kurzen Worten?«
»Nichts! Er folgt dem Herrn Vicomte auf Schritt und Tritt, beobachtet ihn, ist immer mit ihm beschäftigt, aber ich glaube nicht, daß er der Mann wäre, einen Gewaltstreich zu wagen. Trotzdem würde ich an Stelle des Herrn Vicomte meine Vorsichtsmaßregeln treffen . . . Da der Herr Vicomte mir nichts zu sagen belieben, kann ich natürlich auch keine ersprießlichen Dienste leisten . . .«
André lachte und maß seinen Bedienten mit wohlgefälliger Genugtuung von oben bis unten. Er quittierte durch ein Kopfnicken für die wohlangebrachte Bosheit und sagte, Spott mit Spott erwidernd: »Schön, Meister Artur! Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Wachsamkeit und werde sie bei Gelegenheit auf die Probe stellen. Augenblicklich haben Sie mir nur, wie ich schon sagte, das Kursbuch zu bringen.«
Starren Blicks, in Gedanken versunken, als ob der zu so ungelegener Zeit heraufbeschworene Schatten des unglücklichen Kindes in all seiner wehmütigen Anmut vor ihm stünde, ging der Vicomte im Zimmer auf und ab. Als der Diener zurückkam, schüttelte er den Kopf, zuckte die Achseln, blätterte mit geübter Hand in dem verlangten Kursbuch und sagte dann geistesabwesend: »Sie bestellen eine Gepäckdroschke nach dem Nordbahnhof für den Zug sechs Uhr dreißig.«
Dann setzte er hinzu, auf etliche zwanzig Perlmutterplättchen deutend, die auf dem Kaminsims lagen: »Im Vorübergehen lösen Sie mir im Klub diese Spielmarken ein. Es sind für fünfhundert Louisdor . . .«
»Wird besorgt, Herr Vicomte,« erwiderte Artur, der im Hinausgehen vor sich hinbrummte: »Luxuszug nach Monte Carlo, darauf will ich meinen Kopf wetten. Da kann ich mein Glück an der Roulette versuchen!«
* * *
Mit einer unerschütterlichen Ruhe, die seine ganze Umgebung täuschte, hatte der Bankier Trélaurier den ganzen Tag über in der Chateaudunstraße Geschäfte erledigt. Er hatte eine lange Beratung mit dem ersten Sekretär der türkischen Botschaft abgehalten, einem pfiffigen, geschmeidigen Armenier, namens Semack-Effendi, den sein Vorgesetzter nach Kunde über den Verlauf der eingeleiteten Finanzoperation geschickt hatte. Die Makler, die nach Schluß der Börse herkamen, um über ausgeführte Aufträge Rechenschaft abzulegen und sich Anweisungen zu holen, hatten Trélaurier geistig so frisch wie an seinen besten Tagen, zum Sprechen aufgelegt und voll Interesse für alle Einzelheiten gefunden. Den Stenographen hatte er selbst die Briefe für die Abendpost diktiert. Gegen sechs Uhr war er in die Bureaus heruntergekommen, um mit dem Kassierer einige Posten persönlich zu besprechen, dann hatte er sich wie jeden Tag mit Vernaut in sein Privatzimmer zurückgezogen und hier endlich konnte er die Maske abnehmen, die Rolle fallen lassen, seinen Schmerz eingestehen und dem Freund die tiefe Erschöpfung zeigen, die auf diesen Tag krampfhafter Selbstbeherrschung gefolgt war.
Keiner Bewegung mehr fähig, aschfahl im Gesicht, lag er in einem tiefen Lehnstuhl ausgestreckt und wehrte den Gedanken an das, was ihn bei der Rückkehr erwartete, von sich ab. Er hatte das Gefühl, als stehe er an einem gähnenden Abgrund und wage nicht, sich vorzubeugen, um auf dessen Grund zu blicken, aus Angst, sein zertrümmertes Dasein darin zu erkennen. Vernaut achtete sein Schweigen, wohl wissend, daß kein Trosteswort wirksam sein konnte. Wie sollte er dem Freund Hoffnung einflüstern, während er selbst keine mehr hatte? Wie sollte man nach Anninas leidenschaftlichen Erklärungen noch an die Möglichkeit einer Verständigung denken? Die junge Frau hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen, und eine Sinnesänderung war im höchsten Grad unwahrscheinlich. Trotzdem machte der Freund, von Trélauriers Herzensangst bedrückt, den Vorschlag, telephonisch in der Wohnung anzufragen, wie es stünde.
»Wozu?« versetzte Trélaurier matt. »Sie muß jetzt schon abgereist sein. Was hätte sie, nach dem, was sie mir gesagt hat, andres tun können?«
»Und doch . . . wenn ihr in elfter Stunde die Einsicht gekommen wäre, wenn sie begriffen hätte, was für eine Tollheit sie begehen wollte, und geblieben wäre?«
»Das ist unmöglich! Ich kenne sie ja. Um sich so auszusprechen, sie, die Gütige, die immer besorgt ist, niemand wehzutun, muß ihr Entschluß unwiderruflich, tausend gegen eins, feststehen. Es gibt für ihr Bleiben nur eine Möglichkeit, und die wäre, daß der Elende, der sie zu Grunde richtet, vor der Verantwortlichkeit für ihr Schicksal zurückschrecken und ihr selbst raten würde, nicht abzureisen. Aber wie unwahrscheinlich ist das!«
»Und wenn es doch geschähe, was würdest du tun?«
»Ich habe es ihr gesagt: ich würde nie wieder an das rühren, was heute zwischen ihr und mir vorgegangen ist, und würde alles aufbieten, daß sie selbst es vergesse! Ach, Vernaut! Ihr verzeihen können! Sie behalten! Sie wiedersehen!«
Mit fieberhaft glänzenden Augen, am ganzen Leib bebend, hatte sich Trélaurier aufgerichtet, um gleich wieder in seine jammervolle Leblosigkeit zu versinken.
»Du siehst, daß ich sie liebe, trotz allem! Was für eine Qual! Und wie schwer wird das arme Kind büßen müssen für das Leid, das sie mir antut!«
»Du denkst nur an sie,« fügte Vernaut mit Bitterkeit. »Du beklagst sie, und sie bringt dich um!«
»Ja, du hast recht. Ich sollte ihr fluchen, aber ich vermag es nicht. Ich habe sie zu sehr geliebt, liebe sie immer noch zu sehr. Nie, niemals werde ich sie hassen können, immer werde ich sie beweinen.«
»Das hast du ihr nie gesagt, was du jetzt so ergreifend aussprichst!«
»Nein! Ich verbarg mein Gefühl aus Schamhaftigkeit, aus Mangel an Mut der eigenen Persönlichkeit! Sieh mich an, Bernaut! Ein schwerfälliger Mann mit ergrauendem Haar, ein Bankier noch dazu, ist der dazu angetan, den Liebhaber zu spielen, glühende Leidenschaft zu zeigen? Ich hatte Angst, mich lächerlich zu machen, wenn ich mein Gefühl verriet, so habe ich all den Überschwang, der Annina vielleicht gerührt haben würde, in mich verschlossen. Ich habe mich damit begnügt, sie liebzuhaben, gütig zu sein, sie glücklich zu machen, und gehofft, daß dies genügen würde, sie an mich zu fesseln. Das Ideale zu pflegen, habe ich vernachlässigt aus Furcht, es könnte meiner äußerlichen Nüchternheit mißlingen, und so konnte es kommen, daß meine Frau das Wesen meines Gefühls verkannte. Ich glaube, daß ihr heute zum ersten Male aufgegangen ist, was ich für sie empfinde, aber es war zu spät. Das äußere Wohlleben, das häusliche Glück, der erlesene Luxus, womit ich sie umgab, alles, was das Leben leicht macht, dünkte sie gering neben dem, was ihr die Liebe an Reiz und Poesie verheißen hat. Nicht einen Augenblick hat sie sich gefragt, ob diese Verheißungen auch in Erfüllung gehen, ob das Paradies, dem sie mit glühender Sehnsucht zueilt, nicht ein leuchtendes Trugbild sein könnte, das blitzschnell verschwindet. Die Zauberkraft der Liebesworte, das Vorrecht der Jugend, die Überlegenheit von Schönheit und Eleganz haben sie behext, und als ich der so nötigen Besonnenheit Ausdruck gab, ihr die Gefährlichkeit des Abenteuers aufdeckte und die Grausamkeit ihres Handelns, da gelang es mir nicht mehr, das Herz zu rühren, das sich schon von mir losgesagt hatte, den Willen zu beeinflussen, den ein andrer beherrscht. Du siehst also, mein Guter, daß auch ich nicht ohne Schuld bin. Ich habe mein Glück nicht genügend beschützt vor den Gefahren, denen es ausgesetzt war, ich habe mich in die Täuschung eingewiegt, daß Liebe hinreiche, um Liebe zu wecken. Ach, das Geschehene hat mir nur zu klar bewiesen, daß Liebe nicht dem zu teil wird, der sie verdient, sondern nur dem, der sie einzuflößen vermag, und daß auch glücklich zu werden, wie alles im Leben, mit Geschick errungen werden muß.«
»Ja und die Moral des von dir so klar gezeichneten Falls ist, daß du zu klug, zu verständig warst und es vielleicht auch jetzt noch bist. Du ergibst dich mit beinahe stoischer Fassung in dein Schicksal, aber wer weiß, ob nicht unvermutete Heftigkeit, ein plötzliches Losbrechen die Dinge zu deinen Gunsten gewendet haben würde? Was hast du denn von der Erhabenheit und Großmut, die du entfaltest?«
Trélaurier stand auf und ging nachdenklich einmal durchs Zimmer, dann erwiderte er mit sicherem Blick und tiefem Ernst: »Einfach das Bewußtsein, getan zu haben, was ich für Pflicht halte. Was ich getan, mußte geschehen, es galt nur, es mit Anstand durchzuführen. Danach habe ich mit aller Kraft gestrebt, und das ist das einzige Zugeständnis, das ich meiner Eigenliebe machen konnte. Wenn Annina an mich zurückdenkt, und das wird zu ihrem Unglück geschehen, wird sie sich sagen: »Er hat sich gut benommen.« Sie wird mir ihre Achtung bewahren, und dieser Gedanke ist das Einzige, was meinen Schmerz ein wenig lindert.«
Die beiden Freunde sahen einander schweigend ins Auge und ließen die Zeit verstreichen, die sie der Lösung des Konflikts näher brachte. Der helle Schlag der Standuhr unterbrach die Stille – sieben Uhr! Trélaurier wandte sich hastig um und klingelte gewohnheitsmäßig dem Bureaudiener.
»Ich gehe jetzt. Wenn mir irgend eine Mitteilung zu machen ist, lassen Sie in die Wohnung telephonieren. Guten Abend.«
Dann ging er mit Vernaut hinunter, befahl dem Kutscher nach Hause zu fahren, und stieg mit dem Freund ein. Unterwegs wurde kein Wort gesprochen, aber je näher man dem Ziel kam, desto fahler wurde Trélauriers Gesicht, und heftige Atemzüge verrieten die Angst, die ihm die Brust zusammenschnürte. Beim Eintritt ins Haus war nichts Ungewöhnliches zu bemerken: zwei Diener standen wie sonst wartend in der Halle. Trélaurier und Vernaut gingen die Treppe hinauf, da kam ihnen der Kammerdiener entgegen und überreichte auf silbernem Teller einen Brief. Trélaurier sah Anninas Schrift auf dem Umschlag und griff mit zitternder Hand nach dem Brief, fragte aber ruhig, ja gleichgültig: »Die gnädige Frau ist abgereist?«
»Ja, um fünf Uhr. Sie hat Zoë mitgenommen.«
»Gut. Ich komme ihr morgen nach, machen Sie meine Reisetasche fertig.«
»Habe ich den gnädigen Herrn zu begleiten?«
»Nein. – Herr Vernaut speist mit mir, lassen Sie ein Gedeck auflegen.«
Überzieher und Hut dem Diener reichend, trat er mit Vernaut in sein Zimmer. Den Brief hielt er noch uneröffnet in der Hand. Erst als die Türe sich geschlossen hatte, riß er hastig den Umschlag auf und las auf einen Blick: »Lebe wohl, Felix. Vergiß mich. Annina.«
Schweigend reichte er Vernaut das Blatt hin, und nun, da er nicht mehr zweifeln konnte an seinem Unglück, da er dem Unwiderruflichen gegenüberstand, sank er auf einen Stuhl und weinte bitterlich.