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Die Koffer waren gepackt, alles zur Abreise bereit. Maria da Caza nahm Abschied von ihrem Hause. Sie schritt noch einmal durch alle Räume, in denen sie gelebt, zufrieden, gleichgültig, endlich unglücklich und glücklich zugleich. Nur Herrn da Cazas Zimmer betrat sie nicht. Aus ihrem weißen Boudoir nahm sie ein paar Andenken mit und alle Photographien, die sich im Laufe der Jahre angesammelt. Die nächsten Bekannten, Gleichgültige und Fernstehende, alle, nur damit es nicht auffallen konnte, wenn auch Stassingks Bild darunter war.
Es war eine Kabinettaufnahme, wie sie alle Freunde der Cazas beigesteuert hatten, in der Ecke quer geschrieben der Name: »Ernst Grf. Stassingk«, mit einem Schnörkel, der die Buchstaben im Bogen umzog. Sie gab ihn vorzüglich wieder in seiner naiven, lächelnden, lebensfrohen Liebenswürdigkeit, den kleinen Schnurrbart gebrannt, nach oben gebürstet, mit lachenden, großen Augen.
Maria steckte das Bild in ihre Handtasche, während sie die übrigen der Jungfer gab, um sie in den Koffern unterzubringen. Einen letzten Blick warf sie auf alle die Gegenstände, die ihr lieb geworden, dann verließ sie das Haus. Den Wagen hatte sie schließen lassen, er rollte zum Gartentore hinaus und bog in die Tiergartenstraße ein. Nun erschien die Villa noch einmal vor ihren Augen. Der kleine, wohlgepflegte Vorgarten, aus den sie oft von den Fenstern und vom Balkon herabgeblickt. Einen Augenblick schimmerte das Dach durch das junge Grün, dann kamen gleichgültige Nachbarhäuser, und das Heim, in dem Maria sechs Jahre verbracht, lag hinter ihr.
Es war eine traurige Fahrt bis zum Bahnhof, denn trotz ihrer Liebe kam es ihr schwer an, das alles, was ihr bekannt und gewohnt war, zu verlassen. Sie fand nur Trost in dem Gedanken, daß sie ja einer glücklichen Zukunft entgegenging. Aber plötzlich stand ihr das Abschiedsbild vom Rennen wieder vor den Augen, wie sie den Geliebten in Trennungsergriffenheit und -schmerz gewähnt und sie ihn eine Minute, nachdem sie ihn erst verlassen, wo das Herz ihm doch noch nachzittern mußte von Bewegung, im Gespräch sah mit anderen Damen.
Auf dem Bahnhof fand sie Selbottens schon vor. Sie blickte sich um, mit der leisen Hoffnung, trotz ihres Verbotes möchte Stassingk gekommen sem, doch er war nicht da.
Die kleine Gräfin ging Maria sofort herzlich entgegen und küßte sie auf beide Wangen:
– In vier Wochen komme ich nach!
Maria gab Graf Selbotten die Hand:
– Ich muß Ihnen danken, daß Sie sie mir lassen, wollen. Fürchten Sie denn nicht, man könnte darüber reden, daß sie mit einer Frau verkehrt, die ihrem Manne davongelaufen ist?
– Aber Sie trifft doch keine Schuld, gnädige Frau!
– Im Gegenteil! Ich muß alle Schuld übernehmen, sonst könnten wir ja nicht geschieden werden!
– Ach was! Sie dürfen sich keine Gedanken darüber machen! Wer Sie kennt, weiß ganz genau, wie die Sache liegt, und wer sie nicht kennt, der mag doch reden, was er will!
Maria dankte ihnen noch einmal, dann sprachen sie von München, wo sie wohnen würde, und daß sie dort bleiben sollte, bis die kleine Gräfin auch in München erschiene, um mit ihr sofort nach Berchtesgaden weiterzureisen. Dabei kam es heraus, was eigentlich hatte Ueberraschung bleiben sollen, daß eine Tante des Grafen, die dort eine Villa besaß, sie ihrer Nichte für den Sommer zur Verfügung gestellt und nicht nur einverstanden war, daß Maria dorthin mitkäme, sondern sich noch besonders darüber freute.
– Wissen Sie, warum? – fragte Graf Selbotten.
– Nein.
– Weil meine Tante rein vernarrt ist in meine kleine Frau und alles tut, was sie will. Sie hat ihr eben die ganze Sache erzählt. Die gute Tante hat nur gefragt: »Ist sie Deine Freundin?« Und auf das »Ja« haben wir die Villa für den Sommer. Tante kommt höchstens einmal vierzehn Tage oder drei Wochen hin.
– Es ist doch auch eine Ersparnis! – fügte die kleine Gräfin hinzu in einem Tonfall, daß man nicht recht wußte, ob sie es nur auf sich bezog oder vielleicht auch auf Maria, denn Selbottens glaubten, in der Cazaschen Ehe besäße der Mann allein das Geld. Graf Selbotten gab seiner Frau heimlich einen Stoß, doch Maria hatte schon verstanden:
– Du brauchst Dich nicht um mich zu ängstigen. Ich habe die Verfügung über das Vermögen meiner seligen Eltern immer behalten, und das reicht mehr als genügend aus für alles, was ich nur wünsche!
Einen Augenblick war die kleine Gräfin verlegen, dann aber half ihre ungebundene Fröhlichkeit darüber hinweg. Die wenigen Minuten, bis der Zug ging, verflogen ihnen so rasch, daß sie meinten, sich noch tausend Dinge zu sagen zu haben, als die Lokomotive pfiff. Sie hatten gelacht und gescherzt, Selbottens wollten der Scheidenden den Abschied nicht schwer machen.
Aber als nach flüchtigem, letztem Händedruck der Zug entschwand, da flossen der kleinen Freundin doch die Tränen. Maria sah noch das Paar Arm in Arm ihr nachblicken, wie es winkte mit Schirm und Hand, dann verließen sie die Halle des Anhalter Bahnhofes und eilten schneller und schneller davon.
Sie war mit der Jungfer allein in ihrem Abteil erster Klasse des Schlafwagens, aber sie wollte dem Mädchen nicht ihre Bewegung zeigen. Deshalb blieb sie am Fenster stehen, den Blick hinaus in den Abend gewandt. Die Häuser glitten an ihr vorüber, in denen hier und dort schon Licht brannte. Auf den Straßen waren die Laternen entzündet, in langer Reihe tauchten sie am Kanal auf, über den der Zug brauste, dann erschienen Bauplätze, ganze Viertel im Entstehen, endlich freies Land. Dort drüben lag das Tempelhofer Feld, wo sie so manches Mal die Paraden vom Wagen aus mit angesehen.
Nun kam die öde Umgebung Berlins, die Maria immer trostloser erschien, je weiter sie sich entfernten. Sie setzte sich an das Fenster, stützte das Kinn in die Hand und blickte hinaus. Bald sah sie die Gegend draußen nicht mehr, und beim gleichmäßigen Klappern und Rollen der Räder, bei der leisen schaukelnden Bewegung des Wagens versank sie in Träumen.
Ihr schien mit dem Verlassen Berlins, das nun schon Meilen hinter ihr lag, auch ihre Vergangenheit mehr und mehr zu verblassen. Ihre Mühen um die Geselligkeit kamen ihr so gleichgültig und nichtig vor, ihre Beschäftigung, ihr Zeitausfüllen in den verflossenen Jahren so kleinlich und lächerlich. Nur eines blieb: das Bild Stassingks. Es verlor nicht durch die Trennung, es verblaßte nicht durch die Entfernung, sondern es ward schärfer, je länger sie an ihn dachte, es ward ihr lieber mit jeder Minute, die es ihr nun in der Phantasie vor Augen stand.
Von dem ganzen Berlin, ohne das sie früher gemeint, nicht leben zu können, blieb nur er, der sie liebte, um dessen willen sie sich von allem losriß.
Sie malte sich aus, was er jetzt wohl triebe, ob er an sie dächte und sie in Gedanken begleitete auf ihrer Flucht aus ihrem Hause. Eine weiche Stimmung überkam sie und wieder die sich leise meldende Ahnung, daß er sie nicht so lieben könnte, wie sie ihn. Aber sie entschuldigte es, sie fand tausend Gründe dafür, daß er so sein mußte, wie er eben war.
Als der Schaffner des Schlafwagens erschien, um für die Nacht die Betten herzurichten, trat sie mit der Jungfer, die mit ihr im selben Raum schlafen sollte, auf den Längsgang des Wagens. Da ward ihr mit einem Male klar, daß sie ja nun ganz allein sein würde, nur dieses Mädchen um sich, dem sie bisher in den sechs Jahren ihrer Ehe nur die Beachtung geschenkt, die einem stillen, guten Dienstboten zukam. Sie war zwar immer freundlich gegen das Mädchen gewesen, aber sie hatte sich nicht besonders gekümmert um sie. Nun fühlte sie plötzlich das Bedürfnis, mit ihr zu reden, und fragte:
– Tut es Ihnen leid, von Berlin fortzugehen, Agnes?
Das zierliche Ding, eine Thüringerin mit blauen Augen und etwas spärlichem blonden Haar, das von ihrer Herrin immer Kleider bekam und an Manieren und äußerlichen Dingen viel abgesehen hatte, antwortete lächelnd:
– Nein, gnädige Frau! Ich gehe sehr gern mit der gnädigen Frau fort!
Maria hatte sie noch nie mit Interesse angeblickt, nun fand sie, daß das Mädchen in ihrer bescheidenen Einfachheit doch recht nett aussah. Und sie sprach, mit jähem Entschluß, weil es ihr so auf die Zunge kam:
– Wissen Sie denn eigentlich, warum wir fortreisen, Agnes?
Agnes blickte ihre Herrin einen Augenblick an, dann erwiderte sie ehrlich:
– Jawohl, gnädige Frau!
Maria fragte nicht weiter.
Sie gingen zur Ruhe, und im eintönigen Gestampf und Geklapper des Zuges schlief sie mit dem Gedanken an Stassingk ein. Bleiern war ihr Schlaf: die angestrengten Nerven suchten Ruhe. Als sie erwachte, waren sie schon auf der oberbayerischen Hochebene, und ein Blick zum Fenster hinaus zeigte ihr die Veränderung in der Landschaft: die geringere Bebauung, Ried-, Heidestrecken, Weideland. Ueberall tauchten die Kirchtürme auf, mit ihren runden, kugelförmigen oder birnenartigen Knäufen. Ein Heiligenbild, ein Kreuz, sine einsame, winzige Kapelle stand hier und da am Wege. Kindheits- und Jugenderinnerungen stiegen in Marias Seele empor.
In solcher Gegend war sie ja groß geworden, so sah es aus um das Gut der Eltern, das ihr Vater, der kurhessische Rittmeister a. D. von Rudloff, 1866 nach dem Zusammenbruche seines Vaterlandes in Bayern erworben, nur um ganz fort zu sein aus den neuen Verhältnissen, die ihm nicht zusagten.
Maria dachte bei jeder Kapelle daran, wie sie, die Protestanten, dort nie zur Kirche gegangen, weil es keine Kirche ihrer Konfession auf Meilen in der Runde gab, und wie sie als Kind das nicht begriffen. Dann sprangen ihre Gedanken wieder ab zu Stassingk, dessen Frau sie werden durfte, weil eben ihre Kirche nichts dagegen einwendete. Wieviel Zeit würde bis dahin noch vergehen! Bis sie ihn wiedersähe! Schon jetzt erschien es ihr unerträglich lange, daß sie ihn nicht erblickt, und doch lagen noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden dazwischen.
Da fürchtete sie sich, wie das werden sollte, ob sie diese Prüfungszeit der Trennung auch würde überwinden können.
Ihre Zukunft erblickte sie im Dunkel, sie fürchtete sich vor den Wochen allein in München, sie zitterte und bangte um die Liebe Stassingks. Langsam tropften ihr die Tränen vom Auge.
Da sprach eine Stimme weich neben ihr:
– Gnädige Frau müssen nicht weinen!
Es war Agnes, die ganz betrübt aussah, als sie es ihr sagte. Maria strich ihr die Wange:
– Sie sind ein gutes Mädchen, Agnes.
– Aber die gnädige Frau darf nicht mehr weinen!
Sie lächelte schon wieder, und als die Sonne fröhlich durchs Fenster hineinschien über die grünende Erde draußen, da ward es auch lichter in ihrer Seele. Je näher sie München kamen, desto heiterer ward ihre Stimmung. Als der Schaffner die Tür aufriß und sie einem alten Gepäckträger mit echt bayerischem, weißem Knebelbart den Gepäckschein übergab, da war ihr in Erinnerungen fast heimatlich zu Sinn.
Auf der Briennerstraße, in einem Hotel garni, mietete sie sich ein. Es war ein ruhiges Haus, wo meist Familien Aufenthalt nahmen. Das Essen wurde auf den Zimmern serviert. Niemand kümmerte sich um den anderen, so daß es für Marias Lage in jeder Beziehung paßte. Sie hatte zwei Zimmer; das von Agnes stieß daran, die nicht einmal über den Flur brauchte, um zu ihr zu gelangen.
Die erste Frage war nach Briefen, aber in ihrer Ungeduld hatte sie übersehen, daß noch keine da sein konnten. Als der Briefträger am nächsten Tage erschien, erwartete sie bestimmt einen Brief von Stassingk, aber es kam keiner. Gräfin Selbotten hatte nur ein paar Zeilen geschrieben. Maria durchflog sie, ob vielleicht der Geliebte darin erwähnt würde, doch sie fand nicht seinen Namen. Den Tag hindurch war sie noch ruhig, weil sie meinte, es könnte irgend etwas dazwischen gekommen sein, so daß er nicht hatte schreiben können. Wie ausgemacht, schickte sie ihm postlagernd einen langen Brief, aus dem kein Vorwurf klang, nur eine leise, bange Traurigkeit. Abends ging sie, um sich zu zerstreuen, in die Oper, auf einen Parkettplatz in möglichst einfachem, unauffälligem Kleide. In Berlin hätte sie nur die Loge besucht; im Parkett gesehen zu werden, wäre ihr peinlich gewesen, wegen der Bekannten, während sie hier aufgefallen wäre allein in der Loge.
Sie kam sich jetzt mit einem Schlage völlig verändert vor, als habe sie einen neuen Menschen angezogen, seit sie Berlin verlassen. Sie sah, daß sie von Herren betrachtet wurde, sie fühlte trotz des versteckten Platzes Operngläser auf sich gerichtet, aber jetzt nahm sie es nicht mehr als selbstverständlich hin, sondern es war ihr fast unangenehm, als müsse sie sich jeder Beobachtung nach Möglichkeit entziehen.
Abends hoffte sie, als sie aus dem Theater zurückgekehrt, einen Brief Stassingk's zu finden – er fehlte wieder. Auch am nächsten Morgen kam nur ein Gruß der kleinen Gräfin und ein paar gleichgültige Zeitungen.
Maria suchte mit zitternder Hand, sie meinte, sein Brief müsse sich irgendwo zwischen die anderen Postsachen geschoben haben – sie fand nichts. Nun zermarterte sie sich den Kopf, was wohl geschehen sein könnte, und ging aufs Postamt, um nachzuforschen. Der Beamte wußte von nichts. Dann warf sie schnell ein paar Zeilen hin mit der Frage, ob er krank sei, und schrieb einen langen Brief, aus dem die Sorge klang, er möchte sie vergessen haben.
Sie blieb zu Hause, den ganzen Tag auf die Vorsaaltür horchend, ob denn keine Nachricht von ihm käme. Dann schrieb sie ihm noch einmal viele Seiten lang, ihm ihr Herz ausschüttend in heißen Worten, wie sie ihn liebte, wie verlassen, wie unglücklich sie sich nun fühlte. Aber den Bogen, auf dem das stand, vernichtete sie wieder, weil sie fürchtete, ihm eine bittere Stunde zu bereiten. Er sollte sie nicht klein und schwachmütig sehen, er sollte wissen, daß sie bereit war, jedes Opfer für ihn zu bringen, nur ein Lebenszeichen mußte er geben, daß sie wenigstens wüßte, ob er gesund war, oder ob ihm etwas zugestoßen.
Maria hielt in ihrer Unruhe diese Verlassenheit nicht mehr aus und telegraphierte an Gräfin Selbotten:
Gräfin Selbotten. Berlin, Viktoriastraße.
Ist er krank? Noch kein Brief von ihm, seitdem hier. Beruhige mich. Tausend Dank für Deine Briefe. Schreibe immer. Sehr einsam. Kuß. Grüße Deinen Mann.
Maria.
Schon ein paar Stunden darauf traf die Antwort ein, daß Graf Selbotten Stassingk aufgesucht, um nach ihm zu sehen. Jener befände sich wohl, ein Brief von ihm sei unterwegs.
Maria war glückselig, er hatte also doch an sie gedacht, und sie machte sich Vorwürfe, daß sie ihm Unrecht getan. Ein dutzendmal las sie das Telegramm, das ihr die Ruhe wiedergegeben. Immer wieder dachte sie an Stassingk. Als sie am Abend zu Bett ging, schwebte ihr sein Bild vor dem Einschlafen, wie immer, vor den Augen. Ihr war es, als schlüge ihr Puls schneller, wenn sie blos an ihn dachte, als habe sie eine Krankheit überfallen, daß sie nicht mehr lassen konnte von ihm.
Als ihr Agnes am anderen Morgen die Postsachen ans Bett brachte, tat sie ganz gleichgültig, aber sobald sich das Mädchen entfernt hatte, fiel sie über die Briefschaften her. Sie suchte und suchte – kein Brief von ihm. Sie verstand es nicht, in dem Telegramm hatte doch gestanden, »unterwegs!« So klingelte sie nach der Jungfer, um gewiß zu sein, daß nicht etwa durch ihre Unachtsamkeit der Brief draußen liegengeblieben wäre.
– Es ist ganz bestimmt nichts anderes abgegeben, gnädige Frau! – antwortete Agnes mit traurigem Ausdruck, als ob sie den Kummer ihrer Herrin verstünde. Langsam ging sie hinaus. Maria aber verlor für einen Augenblick allen Mut und alle Haltung. Sie fühlte sich so niedergeschmettert, daß sie nicht imstande war, auf die übrigen Sachen nur einen Blick zu werfen. Kein Brief! Noch immer kein Brief! Und sie hatte ihm schon fünf oder sechs geschrieben, seitdem sie sich in München befand. Dunkle Röte stieg auf ihre Wangen: sie schämte sich vor sich selbst. Aber sie liebte ihn nun einmal, sie konnte nicht anders, wenn es ihr das Leben gekostet hätte, wenn die ganze Welt zusammengebrochen wäre, sie liebte ihn.
Da warf sie alles von sich, drehte sich herum und versteckte den Kopf in den Kissen. Dann fing sie an zu weinen, wie sie noch nie geweint, seit sie Frau war, daß ihr ganzer Körper zitterte, daß ihre Schultern zuckten und sie laut schluchzte und stöhnte. Krampfartig schüttelte es sie. Sie vergrub sich immer tiefer ins Bett hinein. Als der wilde Sturm ein wenig nachgelassen, blieb sie liegen, ohne sich zu rühren.
Eine halbe Stunde verging: sie regte sich nicht. Sie fühlte sich wie gelähmt, nicht fähig, ein Glied zu regen. Da hörte sie die Uhr schlagen und richtete sich auf. Sie tastete nach den Postsachen, als müsse nun doch ein Brief Stassingks da sein. Dabei fand sie ein Schreiben ihres Rechtsanwaltes, des Justizrates Zenker. Es enthielt einen Brief Herrn da Cazas aus Paris an seine Frau, den der Rechtsanwalt verschlossen empfangen und ihr sandte.
Sie las die in fast spöttischem Tone geschriebenen Zeilen, die ihre Flucht aus Berlin gar nicht recht ernst aufzufassen schienen und, ihr dringend rieten, zurückzukehren, um keinen Skandal hervorzurufen, der ihm »äußerst peinlich« sein würde, und »ohne jeden vernünftigen Zweck«. Herr da Caza betonte, daß er sich nicht bewußt sei, irgendetwas getan zu haben, was ihr ein Recht gäbe, sich von ihm zu trennen. Er werde nicht eine Stunde eher, als beabsichtigt, von Paris zurückkehren, um ihrer Entfernung von Berlin nichts Außergewöhnliches zu geben und ihr die Möglichkeit zu lassen, sich in der Villa wieder einzufinden. Dann würde ihre Abwesenheit einfach als eine kurze Reise nach München hingestellt werden, die, da sie nun einmal aus Oberbayern stamme, für keinen Menschen etwas Besonderes haben könnte.
Damit hatte sie das, was sie wünschte: die Aufforderung, in das eheliche Haus zurückzukehren, der sie nun nicht nachkommen würde. Noch einmal durchflog sie den Brief: sie mußte lächeln über ihres Mannes wiederholt geäußerte Besorgnis, es möchte einen Skandal geben, den er unter allen Umständen vermieden sehen wollte. Darin erkannte sie ihn wieder, der, um seine Stellung nicht geschädigt zu sehen, seine Frau wahrscheinlich wieder aufgenommen haben würde, auch wenn ihr eine tatsächliche Untreue zur Last fiel.
Eine unsägliche Traurigkeit blieb auf ihrer Seele lasten: die Trennungszeit fing erst an, und schon schrieb er nicht. Wieder begann sie daran zu zweifeln, ob er sie richtig liebte. Den ganzen Tag trug sie es mit sich herum ihren nagenden Kummer, das Bleigewicht, das auf ihr lag. Sie wußte nur eines, daß sie ihn lieben mußte, auch wenn er gänzlich erkaltet war und nicht, ein Funken seiner alten Leidenschaft mehr in ihm blieb.