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Achtes Kapitel.
Veronica Cruella.

Wir müßten eigentlich die weitere Entwickelung, die in Hermann Baumgarten während eines dreijährigen Aufenthalts in Jena vorging, verfolgen, wäre sie nicht der seiner Altersgenossen so ähnlich gewesen wie ein Ei dem andern. Er hatte die allgemeine Burschenschaft gründen helfen, bei dem Wartburgsfeste eine hervorragende Rolle gespielt, war mit allen bedeutenden Leuten, die damals in Jena studirten, eng befreundet, schwärmte für volksthümliche Ausbildung des deutschen Volkes, discourirte mit Snell und Sprewitz über die Möglichkeit der Herstellung eines deutschen Reichs durch einen Geheimbund, wetterte und fluchte über die Karlsbader Beschlüsse und jammerte dann sentimental im Chor mit den Genossen:

Wir hatten gebauet
Ein stattliches Haus!

Aber unser künftiger Geschichtsforscher war fern geblieben jener mystisch-christlichen Schwärmerei, die sich in den Kreisen Sand's entwickelte.

Durch Luden angeregt, machte er deutsche Geschichte zu seinem Hauptstudium und beschäftigte sich früh mit alten Annalen und Chroniken, Urkunden und Diplomen. Er wollte eine akademische Carrière machen, Lehrer der Jugend werden, dieselbe für das Vaterland begeistern.

Seine Doctordissertation handelte über das lustige Leben am Hofe Welf's VI. zu Altorf und den Verkauf der Güter Welf's an Kaiser Friedrich. Die Annales Altahenses des Abts von Niederaltaich dienten ihm hauptsächlich als Quelle und brachten ihn auf den Gedanken, seine Habilitation als Privatdocent in Göttingen mit einem Werke über Heinrich den Löwen zu beginnen, zu dem er unter Luden's Anleitung jetzt schon Vorstudien machte. Aber um ein solches Werk schreiben zu können, mußte er Italien gesehen haben, er mußte das Altorf, das er beschrieben hatte, er mußte ganz Baiern kennen lernen, hier und da nach alten unentdeckten Urkunden forschen, denn das war die Lust des Gelehrten, Klosterbibliotheken zu durchstöbern, etwas Neues zu entdecken, das ihm Ruhm brächte.

Seine Mittel erlaubten ihm ja die Reise. Der junge Doctor wanderte durch das Werrathal in die Heimat und überraschte Vater und Mutter durch sein blühendes Aussehen. Er hatte sich zum Manne entwickelt, aus dem magern, eckigen, hoch aufgeschossenen Burschen war ein breitbrüstiger, gewandter Mann geworden. Die Lahmheit im Knie war dank einem methodischen Turnen ganz gewichen, und man sah an Schritt und Tritt, an Auge und Wange, daß man hier einen unverdorbenen kräftigen Jüngling vor sich habe. Die blaue Polonaise mit ihren Schnüren und Troddeln war durch einen einfachen deutschen Rock mit stehendem Kragen ersetzt, über welchen der weiße Kragen des Hemdes weit übergeschlagen war, aber von einem Lockenwulst, der bis auf den Rücken hinabfiel, bedeckt wurde. Am Kinn kräuselte sich ein schwarzer Bart, und ein zierliches Schnurrbärtchen schmückte die Lippen. Marianne konnte stolz auf ihren Sohn, den Doctor, blicken, und auch Oskar freute sich des kräftigen Burschen.

Diesen hielt es aber nicht lange in der Heimat, die Wanderlust war über ihn gekommen, es zog ihn nach Rom, er mußte die Orte, wo sein Held Heinrich die verräterischen Römer niedergeschlagen, er mußte die Burg des Crescentius, die Tiberbrücke und die Fischteiche des Janiculus, um die der Kampf gewüthet hatte, mit eigenen Augen sehen. Hermann wollte denselben Weg innehalten, den Friedrich I bei seinem Römerzuge eingeschlagen hatte, vom Lechfelde bei Augsburg über Brixen, Botzen und durch das Trientinerthal ziehen, dem Laufe der Etsch folgen, über Verona nach Brescia und Piacenza die ronçalische Ebene besuchen. Die Reiseausrüstungen wurden möglichst beschleunigt, ein Koffer mit Wäsche und Kleidungsstücken nach Augsburg vorangesendet. Dann trat der junge Gelehrte, das Ränzlein auf dem Rücken, in der rechten Hand den derben Ziegenhainer, in der linken die lange Pfeife mit den schwarz-roth-goldenen Quasten, in der Brusttasche Paß, Doctordiplom und Wechsel auf München, Florenz, Rom und Wien, die Reise durch Süddeutschland, den Rhein hinauf, dann durch Würtemberg an. Die Mutter ermahnte den Sohn noch beim allerletzten Abschiedskusse, nicht zu vergessen, daß in Wien die Cousine Veronica lebe, die eine berühmte Sängerin und sehr schön sein solle. Er möge sich nicht in sie verlieben.

Hermann sah auf seiner Reise viel und lernte viel, er sah schöne Gegenden, Städte, Bilder und Kunstwerke, durchstöberte alle Bibliotheken und studirte alle Pergamente; was er aber nicht sah, waren die glühenden Blicke, mit denen schöne Toscanerinnen und Römerinnen den schlanken Jungen im deutschen Costüm verfolgten. Das schöne Geschlecht hatte keinen Reiz für ihn, er hatte den Kopf so voll von Heinrich dem Löwen und all den Zuständen des alten Deutschen Reichs unter den ersten Hohenstaufen, daß ihm für schöne Mädchengestalten kein Platz blieb.

In der That hat die Wissenschaft die Macht, junge Männer so zu erfüllen, daß sie jahrelang kaum vom Dasein eines zweiten Geschlechts wissen, und wer Deutschland, Italien, die Schweiz so zu Fuß durchwandert, wie unser junger Freund that, wer bemüht ist, die kleinsten Details der Zeit vor siebenhundert Jahren zu ergründen, wie sein Beruf es erforderte, der wird auch nicht einmal in Träumen vom schönen Geschlechte berührt. Aus Italien durch die Schweiz zurückgekehrt, wandte sich der Doctor an Tirol, das er kannte, vorbei, den salzburger Bergen und Seen zu, stieg dann zur Donau herab und fuhr mit dem Dampfer von Linz nach Wien.

Der junge Baumgarten hatte viel gelernt in Jena wie auf seiner Reise, von dem aber, was man gute Lebensart nennt, wußte er nichts; er stürmte noch immer als alter jenenser Student herum und würde den ganzen Tag mit seiner langen Pfeife mit den schwarz-roth-goldenen Quasten in der Kaiserstadt herumgelaufen sein, hätte ihm nicht am Tage nach seiner Ankunft, als er schon morgens auf der Biber- und Dominicanerbastei, die seiner Wohnung am nächsten lagen, mit der Pfeife spazierte, ein Polizist bedeutet, daß das Rauchen hier nicht erlaubt sei; für diesmal wurde er mit 2 Gulden Schein Strafe nach dem Weißen Wolf zurückgeschickt, um die Pfeife dort abzulegen.

Der Reisende hatte sich angewöhnt, in jeder Stadt, die er besuchte, zuerst den höchsten Thurm zu ersteigen, um so eine Uebersicht von dem Weichbilde zu gewinnen. Auch hier war er denn bis zur Pyramide des Sanct-Stephan über die Uhrstube hinaufgestiegen, sodaß er auf das hohe Dach der Kirche mit seinem riesigen Kaiseraar hinuntersah. Einen Plan von Wien in der Hand, studirte er stundenlang das unendliche Häusermeer der Stadt und der Vorstädte und suchte sich die Hauptrichtungen nach den vier Vierteln und den Hauptlinien der vierundachtzig Vorstädte zu merken, sich, was die Altstadt anbetraf, die wenigen Plätze und Hauptstraßenrichtungen in den Kopf zu zeichnen. Dann aber begann er einige Tage vom Morgen bis zum Abend Stadt und Vorstädte zu durchlaufen, denn gehen konnte man das nicht nennen, auf den Basteien und Glacis die Dandies und Damen beinahe umzurennen, und sich anzusehen, was als Sehenswürdigkeit gerühmt wurde. Nachdem die Schaulust gestillt war, ging es in den Staub der k. k. Hofbibliothek. Der Doctor hatte von Jena Empfehlungen an den Bibliothekar Kopitar, und dieser war ihm mit wienerischer Gefälligkeit behülflich, alles vorzulegen, was sich in Bezug auf die Zeit Heinrich's des Löwen in Annalen und Handschriften vorfand, und der Forscher war in der That so glücklich, ein paar alte Handschriften zu entdecken, welche ganz neue Aufschlüsse gaben, die eine in Beziehung auf die Mathildischen und über die gesammten Welfischen Güter in Italien, die Heinrich bei dem Römerzuge den italienischen Vettern abtrat; die andere über die Verheiratung »Ja so mir Gott's« mit Heinrich's Mutter Gertrude, der Tochter des Kaisers Lothar, über ihren Verzicht auf das Herzogthum Baiern zu Gunsten des Gemahls, den Krieg Welf's VI. gegen das Haus Oesterreich, die Schlacht bei Weinsberg und die Fabel von der Weiberthat, sodaß Hermann durch alle Stunden, welche die Bibliothek geöffnet war, morgens von neun bis zwölf und nachmittags von drei bis sechs Uhr arbeitete, excerpirte, abschrieb und nachsuchte.

Der Bibliothekar Kopitar deutete dem jungen Mann an, daß er ihn ganz gern in das Belvedere begleiten und die Ambrosensammlung zeigen wolle, daß er inzwischen nicht verhehle, wie seine burschikose Tracht hier auffalle, namentlich das Baret und das lange Haar. Wenn er ihm einen guten Rath geben dürfe, so solle er sich das lange Haar schneiden lassen und statt des Barets einen Cylinder aufsetzen. Dann würden ihn auch die schönen Wienerinnen, die Damen wie die Stubenmadels noch einmal so freundlich anschauen als jetzt, wo sie ihn als ein Wunderthier anstarrten. Der Burschenschaftsmitstifter erwiderte aber, daß ihm schon vor der Zeit graue, wo er als Privatdocent die Angströhre auf dem Kopfe haben müsse, daß er, solange er noch nicht ins Philisterthum getreten sei, sich von seinem Baret und langem Haare nicht trenne. Wienerinnen habe er noch nicht gesehen und werde sich um dieselben auch nicht viel kümmern, und was die Stubenmadels anlange, so lasse es die Rosi, die im Weißen Wolf aufwarte, an Zuvorkommenheit trotz des langen Haars nicht fehlen und habe ihn schon veranlaßt, grob zu werden.

So war der junge Doctor beinahe vierzehn Tage in Wien, ohne daß es ihm einfiel, die Cousine Veronica zu besuchen, sich auch nur nach ihr zu erkundigen. War nachmittags die Bibliothek geschlossen, so pflegte er einen Spazierweg zu machen, oder mit einem Stellwagen nach einem der zahlreichen Vergnügungsorte hinter der Linie, nach Dornbach mit dem schönen Schwarzenberg'schen Parke, nach Döbling, Grinzing oder Hietzing zu fahren, oder den Weg auf der Schotten- und Elendbastei zur Franz-Josephsbastei zu nehmen, um von der Ferdinandsbrücke in den Prater zu fahren.

Eines Tages, als er die Augustinerbastei hinab wandelte, um über die Elisabethbrücke an der Wien herunter zum Belvedere zu gelangen, und so bei dem Opernhause vorbeikam, las er unwillkürlich den Anschlagzettel und sah, daß Veronica Cruella heute in Beethoven's »Fidelio« in der Titelrolle auftrete. Das Opernhaus war damals noch nicht nach dem Glacis hinausgerückt auf den schönen Platz zwischen Ringstraße und Altstadt, es lag am Spitalplatz in der Nähe der ominösen Walfischstraße. Da mußt du ja die Cousine sehen und singen hören, dachte der Geschichtschreiber Heinrich's des Löwen und drängte sich unter die Menge, ein Billet zu erobern.

Hermann hatte in Mailand, Florenz, Turin weltberühmte Sängerinnen »trillern, tremuliren, aufschreien« hören, wie er sich auszudrücken pflegte, denn es fehlte ihm für Musik und Gesang an jedem feinern Sinn, und die Burschenschafter hegten eine gewisse Verachtung gegen das verweichlichende Operngetriller. Die Oper »Fidelio« kannte er nicht, allein schon ihr halb politischer Inhalt zog ihn an. Als er nun aber Fidelio natürlich, feurig und energisch den Muth eines liebenden Weibes darstellen sah, als er Veronica hier in weichen, bittenden Tönen, mit seelenvoller Tiefsinnigkeit die erste große Arie und das Duett mit Florestan singen, dann sie mit markdurchschütternder Gewalt die Worte »Ich bin sein Weib« dem Pizarro zurufen hörte, da erfaßte ihn derselbe halb wahnsinnige Enthusiasmus, in welchem das Publikum sich im Beifallssturme gehen ließ. Der Jüngling sah in der Cousine die durch die hohe begeisternde Macht ihres Gesanges alles hinreißende Künstlerin und die hehre Jungfrau.

Und Veronica? Wir müssen einige Jahre zurückschauen, um ihren Bildungsgang zu verfolgen.

Die Sängerin hatte eine eigenthümliche Erziehung von ihrem Vater erhalten, der sich aus Salzmann'schen, Basedow'schen und andern Schriften wie aus Lafontaine'schen Erziehungsromanen eine eigene pädagogische Methode zusammengesetzt hatte. Zunächst war schon bei der Geburt des Kindes von ihm entschieden, daß dasselbe eine Sängerin werden solle; Vater und Mutter hatten schöne Stimmen, der Gesang hatte sie zusammengeführt, warum sollte das Kind aus der Art schlagen? Sodann sollte das Mädchen den Verführungen der Männer, denen Sängerinnen und Schauspielerinnen so häufig unterliegen, nicht ausgesetzt werden, mindestens stahlgewappnet, wie die Jungfrau von Orleans, ihnen zu widerstehen in der Lage sein. Das Kind sollte körperlich und geistig abgehärtet und gegen Liebesgedanken gleichgültig gestimmt werden. Der Cantor Cruella meinte, eine Kinderseele lasse sich stimmen wie ein Instrument. Trotz Bitten und Thränen der Mutter bestand der Vater darauf, daß Veronica von ihrem fünften Jahre an Knabenkleidung trage, später wurde sie in die Knabenvolksschule geschickt und mußte dann die Rectorschule besuchen, um hier Lateinisch wie Griechisch, Mathematik und Geschichte zu lernen. Erst als Veronica dem Confirmationsunterrichte zugewiesen wurde, in ihrem zwölften Jahre, setzte die Mutter es durch, daß sie aus der Knabenschule fortbleiben durfte und Mädchenkleider erhielt. Der Rector gab ihr Privatstunden im Lateinischen, damit sie künftig desto leichter das Italienische lerne.

Aber auch in Mädchenkleidern blieb Veronica eine wilde Hummel, der im Schloßpark von Heustedt kein Baum zu hoch war, die ihre Schwärmer fliegen und knallen ließ, sich im Schießen übte, wenn sie einer Pistole habhaft werden konnte.

Darin hatte der Vater recht gehabt, Veronica hatte eine wunderbar schöne Stimme und behielt sie auch nach den Uebergangsjahren; ob aber die vielerlei psychischen und physischen Experimente, welche der Vater mit dem Mädchen ausgestellt hatte, und es waren darunter gar seltsame, den Zweck erreichten, das Herz Veronica's gegen Geschlechtsliebe abzustumpfen, müssen wir bezweifeln. Denn ein halbes Jahr nach der Confirmation war sie die Hauptperson einer rührenden Abschiedsscene. Landrath Vogelsang's jüngster Sohn wurde in das Cadettenhaus nach Kassel geschickt, und Veronica wartete seiner am Abend vor der Abreise im Park in der Jelängerjelieberlaube, in der Adele, das Kind, einst geseufzt hatte. Veronica seufzte nicht und weinte nicht, sie schien der stärkere Mann und der Cadet die Geliebte zu sein. Sie küßte Otto von Vogelsang und sagte: »Ich bleibe dir treu, bleibst du es auch, so führt das Schicksal uns wieder zusammen.« Dem Knaben standen die Thränen in den Augen und fehlten die Worte.

Kurze Zeit darauf mußte auch Veronica von der Mutter Abschied nehmen, der Vater selbst brachte sie nach Leipzig zu einem alten Freunde und Collegen. Sie sollte hier in Gesang, Declamation, Mimik und Tanz weiter gebildet werden. Das junge Mädchen lernte schnell; Anstand war ihr angeboren und sie brauchte nur Damen zu sehen, um zu wissen, wie sie sich kleiden müsse. Von Mutter und Großmutter her schien sie ein Talent zur Modistin überkommen zu haben. Mit wenig Geldmitteln wußte sie sich überall zu helfen. Aber der Vater ließ es am Gelde nicht einmal fehlen, so sparsam er sonst war; als sie zum ersten male als Concertsängerin öffentlich auftrat, legte ihr Madame Caloni, bei der sie jetzt lebte, ein Kleid von weißem Atlas an, das der Vater ihr schenkte.

Die Caloni war einst eine ausgezeichnete Sängerin gewesen, hatte in Italien und Paris, ja in allen europäischen Residenzstädten großen Beifall geerntet, war vergöttert und angebetet worden, aber auch viel betrogen, wie sie sagte. Sie haßte die Männer als ein durch und durch treuloses, egoistisches, nur nach dem Genusse des Augenblicks haschendes Geschlecht, das keiner Hingebung von seiten der Frauen werth sei. Sie benutzte die Stunden, wo Veronica nicht übte, die Stunden bei Tisch und auf Spaziergängen dazu, dem jungen Herzen gleiche Verachtung gegen die Männer einzuprägen, indem sie von allen ihr widerfahrenen Treulosigkeiten in mächtig aufgetragenen Farben erzählte und natürlich verschwieg, wie oft sie selbst während der Dauer eines zärtlichen Verhältnisses mit dem Tenor H. oder dem Baß Z. mit dem Graf Y. oder Rittmeister U. zu kokettiren angefangen und dadurch den Bruch verursacht habe.

Die Heustedterin war bei der Caloni in Pension, erhielt Unterricht im Italienischen und in der dramatischen Kunst. Es war mit der alten routinirten Sängerin der Vertrag abgeschlossen, sie solle die angehende Künstlerin auf der Bühne einführen und sie bemuttern, nachdem sie sich als Concertsängerin den Beifall des Publikums errungen. Als Belohnung für ihre Dienste war ihr die Hälfte von dem versprochen, was Veronica in den ersten fünf Jahren als Sängerin verdienen würde. Nach fünf Jahren wollte man aufs neue accordiren. Das junge Mädchen errang bei ihrem ersten Auftreten im Gewandhausconcert rauschenden Beifall, sie sang eine große Arie aus Gluck's »Iphigenia«, die ihr der Vater schon als Kind eingeübt hatte. Kein Wunder, daß der Beifallssturm so groß war, denn Veronica stand da als eine wahrhaft blendende Erscheinung, groß, schlank zwar, doch im funfzehnten Lebensjahre mit schwellenden Formen; nirgends Eckiges an der ganzen Gestalt. Nase und Mund edel geformt, mäßig rothe Gesichtsfarbe, aber zwei schwarze große Augen, die wie Diamanten funkelten, üppiges braunschwarzes Haar, das nach damaliger Mode in langen Locken das edle Gesicht einrahmte. Vor allem waren es aber die schönen, untadelhaften, weißen Arme, die kleinen Hände und Füße, die sie auszeichneten. Diese Arme – Veronica wußte, daß sie schön waren und trug sie bloß bis an die Achsel – wenn die Künstlerin sie fallen ließ und sie auf dem weißen Atlaskleide in malerischer Rundung zu ruhen schienen, erhielten durch Atlas und Handschuhe noch Folie. Der Atlas sah gelb, die weißen Handschuhe todt aus, während durch die Marmorarme das rosenrothe Leben hindurchschimmerte.

Wahrlich, die Caloni hätte nicht nöthig gehabt, sechs Blumensträuße selbst zu winden und durch dienstbare Geister der Debutantin zu Füßen werfen zu lassen, es regnete von allen Seiten Blumen, und selbst Damen waren von der Anmuth der Erscheinung so bezaubert, daß sie die Bouquets, die sie selbst soeben erst von ihren Anbetern erhalten, der Sängerin opferten.

Als Veronica in der zweiten Abtheilung des Concerts noch einmal auftrat, um ein altes deutsches Volkslied zu singen, wozu der Vater selbst die Weise gesetzt hatte, wollte der Applaus kein Ende nehmen.

Man hatte zwei große Körbe voll Bouquets mit in den Wagen zu nehmen und fand am andern Morgen in einem eine Diamantnadel.

Alle Journale der nächsten Tage waren voll von dem neuen »Stern«, von der aufgegangenen »Sonne«, welche die Catalani bald verdunkeln würde. Epitheta, mit denen man Veronica überhäufte, kamen tausendfach, es regnete Sonette, Oden und Liebesgedichte.

Die junge Sängerin fühlte zum ersten male den Rausch, als Tagesheldin gefeiert zu werden, in Journalen und Tagesblättern ihren Gesang wie die Schönheit ihrer Person gepriesen, sich von der Menge angebetet und vergöttert zu wissen. Ihr Herz war für solche Dinge nicht unempfindlich, hatte doch der Vater ihr schon als Kind eine solche Zukunft als Künstlerin vorgemalt und hundertmal wiederholt: »Du wirst als Künstlerin auf Leidenschaft und Männerliebe verzichten müssen, aber Ehre, Ruhm, Gold und Diamanten werden dich trösten.« Ehre, Ruhm und Gold zu gewinnen, um dem alten Vater und der Mutter vergelten zu können, was sie an ihr gethan, dieses Trachten füllte zur Zeit ihren Geist aus, soweit derselbe nicht durch die Kunst selbst eingenommen war. Denn das versteht sich bei einem so jungen Mädchen von selbst, daß es vor allem der Kunstenthusiasmus war, der ihr Streben trug.

Es gewährte der glücklichen Veronica ein unendliches Vergnügen, alle Recensions über ihr Auftreten zu sammeln, abzuschreiben und dann ihrem Vater die gedruckten Originale zu senden.

Bereits am zweiten Tage nach dem Concert kam der Director des Stadttheaters, um dem neuen Stern am leipziger Horizont ein Anerbieten wegen einer Probe und Gastrolle zu machen, und erfüllte damit ihren sehnlichsten Wunsch. Sie sollte die Zerline in »Don Juan« singen. Schon zu den Proben drängten sich die bevorzugten Kunstdilettanten, und zwei Tage vor der Vorstellung war das Haus ausverkauft. Zerline wurde mit Enthusiasmus empfangen, unter Blumen und Bouquets beinahe erstickt, in jedem Acte steigerte sich der Beifall und das Hervorrufen. Sie war aber auch eine zu reizende Zerline, diese leichte graziöse Beweglichkeit, diese schlanke Taille mit dem sprossenden Busen, dieses schalkhafte Lächeln und wieder diese Hoheit. Ihre seelenvollen Augen machten die Pulse aller Männer rascher schlagen und schienen selbst in dem Don Juan, der es nicht blos im Stücke, sondern im Leben war, in dem großen Heldensänger – – no, ein süßes Verlangen zu entzünden, denn er sang schmelzender, verlockender als je, und sein Spiel und seine Geberden entzündeten wieder die Frauenwelt, während das lachlustige und weniger denkende Publikum durch Leporello unterhalten wurde. Donna Anna und Donna Elvira standen mit neidischen Blicken hinter den Coulissen und flüsterten sich allerlei boshafte Bemerkungen über den neuen Stern zu, dessen Untergang sie sehnlichst herbeiwünschten.

Die Caloni feierte die Triumphe Veronica's als eigene Triumphe, denn es hieß, die Schülerin der großen Caloni, und manches Lob, manche Erinnerung an frühere längstgeschwundene Zeiten wurde dabei wieder aufgefrischt. Einer der beliebtesten Opernrecensenten hatte die gute Idee, sich von der Caloni ihre reichhaltige Sammlung von Kritiken über eigene Leistungen auszubitten und verglich nun das Auftreten der Schülerin mit dem Auftreten ihrer Lehrerin vor so und so viel Jahren in Paris, Mailand, Neapel, Wien und Petersburg, um zu zeigen, was Veronica etwa von ihrer Lehrerin gelernt und was sie selbst eigenes hinzugedichtet habe. Aber die wunderherrliche Veronica war selbst ein Gedicht, ihre Persönlichkeit konnte nicht verglichen werden mit der der Caloni, wenn diese in der Jugend auch noch so schön gewesen wäre.

Der »Don Juan« mußte dreimal wiederholt werden und jedesmal geschah es bei übervollem Hause und gleichem Erfolge für die Sängerin. Während der zweiten Aufführung war ein prächtiger und kostbarer wiener Flügel von unbekannter Hand in die Wohnung der Künstlerin, die sich bisher eines entliehenen Instruments bedient hatte, geschafft und nebst einem sinnigen Sonett der Sängerin verehrt worden.

Veronica schwebte in einem Meere voll Wonne, Befriedigung und Selbstgefühl. Nur Eins störte sie, die enorme Zahl von Anbetern, die sie mit Gedichten, Zuschriften, Geschenken, Besuchen überhäuften, vom abgelebten Greise bis zu dem eben aus der Schule entlassenen Studenten.

Sie hatte ein so reiches Spielhonorar bekommen, daß sie ihren Aeltern eine ansehnliche Summe zum Geschenk senden konnte, was sie außerordentlich glücklich machte. Dann aber war das Instrument ihre Freude. Zum ersten male sich auf einem eigenen Instrument zu begleiten und noch dazu auf einem solchen, wie es gewiß wenige in Leipzig gab, gewährte einen eigenthümlichen Reiz.

Die Caloni war bemüht, in dem Busen Veronica's das Gefühl des Ehrgeizes, des Ruhmdurstes, aber auch des Gold- und Diamantendurstes auf geschickte Weise zu stärken. Als der Direktor die junge Künstlerin von neuem zu drei Gastrollen engagiren wollte, um die Königin der Nacht zu singen, war sie es, die mit demselben unterhandelte und das Spielhonorar in die Höhe trieb.

Sie hatte die unzähligen Blumenbouquets, die von der Bühne nach Haus gebracht wurden, eigenhändig durchwühlt, nachdem Veronica der Mutter die schönsten derselben nebst einem schwarzseidenen Kleide zum Geburtstage geschenkt hatte. Nach der zweiten Vorstellung ward abermals eine Diamanttuchnadel, nach der dritten eine Diamantbrosche gefunden.

»Wer das gibt, liebe Veronica«, hatte sie gesagt, »gibt mehr, und ich hoffe, daß du nach der zweiten oder dritten Vorstellung der Königin der Nacht in einem echten eigenen Diadem erscheinen und den Theaterplunder zurückweisen kannst. Ich werde mit diesen drei Schmuckstücken, die du bisjetzt erst besitzest, dich so ausschmücken, daß sie allgemein auffallen und die Sterne in deinem schwarzen Kleide verdunkeln sollen. Das mußt du mir indeß versprechen, nie einem deiner Anbeter, und sei er noch so freigebig, mehr als höchstens einen Handkuß zu gestatten, keinen Blick voll Liebesglut aus deinen Augen, wie du einmal während des Spiels, ich weiß nicht, ob willkürlich oder unwillkürlich dem Don Juan zusteuertest, sodaß er unter der Schminke erröthete, keinem ein freundliches Lächeln zu vergönnen. Sei stolz wie eine Königin, und du bist ja die Königin des Gesanges! Laß sie wie Sklaven zu deinen Füßen schmachten, laß sie seufzen und flehen, bleibe Königin, Siegerin. Erst wenn du durch Reichthum frei und unabhängig geworden bist, denke daran, über Herz und Hand zu verfügen, wenn du dann überhaupt noch Lust hast, das Joch der Ehe zu tragen.«

Diese Lehren fielen auf einen fruchtbaren Boden. Veronica hatte gegen die Männerwelt schon eine große Voreingenommenheit, ihr vorherrschender Charakter war Stolz, die Art und Weise aber, wie alte und junge Gecken sie anbeteten, zu ihren Füßen winselten, für eine lobende Zeitungsnotiz, für ein Blumensträußchen einen freundlichen Blick einzuhandeln suchten, war ihr in der Seele zuwider. Die faden Schmeicheleien, mit denen man sie überhäufte, schmeichelten ihrem Stolz nicht, sondern beleidigten ihn. Sie hatte trotz ihrer runden, weichen Formen in der Seele etwas Männliches, dem alles Zahme, Nachgiebige, Willen- und Charakterlose misfiel; und das sächsische Volk überhaupt, das leipziger Dandythum insonderheit hatte es in diesen Untugenden weit gebracht. Sie war deutsche Patriotin und haßte den Uebermuth der Franzosen, der sich in Sachsen in tausend kleinen Dingen geltend machte.

Nun war es die Zeit nach Ablauf des Waffenstillstandes vom Sommer 1813, als sich die Verbündeten zum Herbstfeldzuge bereiteten. Die Schlacht bei Kulm war schon geschlagen, das Hauptquartier der Verbündeten aber noch immer in Teplitz, die große Armee Napoleon's noch in Dresden und der Sächsischen Schweiz. Täglich zogen Deutsche, Westfalen, Würtemberger, Badenser und sonstige Rheinbundstruppen, von Augerau in Würzburg gesammelt, durch Leipzig zu der großen Armee, um gegen die eigenen Brüder zu fechten. Die Künstlerin fand es in hohem Grade verächtlich, daß man in Leipzig ein funfzehnjähriges Mädchen, sie selbst, vergötterte und Theater, Oper und Concerte mehr als Kriegsnachrichten die Spalten der Journale und Tagesblätter füllten, während in Böhmen gekämpft wurde, Blücher an der Katzbach Napoleon gezeigt hatte, was preußische Landwehr vermöchte, und Bülow und die Nordarmee bei Dennewitz Ney den Unüberwindlichen schlug.

Bald sollten aber die guten Leipziger den Ernst der Lage gewahr werden. Ein Observationscorps unter Margaron lagerte dort. Ende September rückte nun auch Marmont mit seinen Scharen und Latour-Maubourg's Reitern ein, sodaß die Stadt fortan einem großen Lager glich. Dann zog noch Augereau von Erfurt heran und Mitte October marschirte die ganze große Armee, außer St. Cyr, von Dresden aus Leipzig. Es war offenbar, daß in Leipzigs Ebene die große Entscheidungsschlacht geschlagen werden sollte. Auch der König von Sachsen war in Begleitung Napoleon's gekommen und in der Pleißenburg abgestiegen. Mangel und Schreck beherrschte den Handelsort. Veronica wohnte am Fleischerplatze, sie hatte im Norden einen Arm der Pleiße und dahinter das Rosenthal, vor sich das Theater, links den Schulplatz. Sie war seit vier Wochen in der schrecklichsten Stimmung, nicht das verdroß sie, daß sie in ihrer mit so vielem Erfolge begonnenen Laufbahn durch die kriegerischen Ereignisse unterbrochen war, sondern daß sie dadurch in jeder ihre künstlerische Ausbildung betreffenden Arbeit gestört wurde, und noch mehr, daß sie tagein tagaus das Klagen und Jammern der Caloni über diese Unterbrechung des Berufs, über diesen schrecklichen Krieg, über das Ausbleiben der Diamanten und der reichen Anbeter hören mußte. Sie hatte ihrem Vater bei der Abreise schwören müssen, sofern sie nicht krank oder heiser sei, mindestens eine Stunde täglich Scala zu singen. Es war aber unmöglich, dieses Gelöbniß zu erfüllen; außer etwa eine oder zwei Stunden nach Mitternacht war es auf dem sonst so geräuschlosen Fleischerplatze nicht still genug, um auch nur einen Ton auf dem Instrument anschlagen, geschweige singen zu können. Trainwagen, Kanonen, Munitions-, Getreide- und Bagagewagen, Reiter und Infanterie kamen und gingen fortwährend auf der Straße nach Lindenau und den Brühl hinauf unter ihrem Hause vorbei; es war ein Gefahre, Gelärme, ein Peitschenknallen, Fluchen, Spectakeln in allen Sprachen, daß man kein Fenster öffnen konnte, viel weniger musiciren oder gar singen. Und das dauerte bis Mitternacht und fing den frühen Morgen wieder an. Wer in Leipzig lebte, mußte sich während der Messen an viel Lärm, viele Beschränkung gewöhnen, aber dieses Kriegsgetöse, dieses Trommeln, diese Hörnersignale oder gar diese Parademusiken konnten ein musikalisches Ohr vernichten.

Die Künstlerin versuchte umsonst durch Lesen und Studiren über diese Calamitäten hinwegzukommen, sie hatte zum dritten oder vierten male nach »Meister's Lehrjahren« gegriffen, ohne sich irgend dafür begeistern zu können, sie hatte »Werther« gelesen, ohne warm zu werden oder solche Sentimentaliät auch nur begreiflich zu finden. Sie versuchte Schiller's »Aesthetische Briefe« und Jean Paul's »Aesthetik« zu studiren, ohne etwas davon in sich aufzunehmen, heute wurde sie von Kopfweh, morgen von Migräne geplagt. Endlich hatte sie sich resignirt, das Hauptquartier wurde aus den vordern Zimmern in das sogenannte Fremdenzimmer verlegt, welches nach Norden lag, einen kleinen Garten und den Pleißenarm. der nach Pfaffendorf zufließt, zur Aussicht hatte. Hier saßen sie nun: die Caloni mit einem Strickstrumpfe, Nanny, die Kammerjungfer von der Wien, das Factotum des Hauses, an einem Stickrahmen, unsere Freundin aber mit dem Pinsel in der Hand bemüht, sich in der Kunst der Aquarellmalerei zu vervollkommnen. Die Caloni wiederholte hundertmal erzählte Geschichten, sodaß Veronica häufig die Nanny aufforderte, aus ihrem frühern Leben in Wien und Ofen zu erzählen, was diese mit wiener Naivetät und nicht ohne Humor that. Sie hatte ihre Lehrjahre bei einer schönen Schauspielerin durchgemacht und wußte das angenehme, lustige Leben in Wien gar sehr zu rühmen, wo selbst Grafen und Barone keinen Anstand genommen hatten, sich mit ihr zu unterhalten, wenn die Herrin nicht zu Hause war. Nanny hätte allein von dem Toilettenreichthum ihrer Herrin tagelang sprechen können. So waren die letzten Wochen verhältnißmäßig erträglich verstrichen.

Es war am 14. October, als ein Lieutenant, Otto von Vogelsang, sich melden ließ. Veronica fuhr freudig auf und ordnete vor dem Spiegel schnell ihren Lockenkopf, während Nanny den Offizier in das Empfangszimmer führen mußte, und die Caloni neugierig in das Nebenzimmer schlich, um zu erlauschen, was der Ulan mit ihrer Schülerin zu sprechen habe.

»Daß du berühmt geworden, theuere Veronica, habe ich schon gelesen«, sagte Otto, »daß du aber so schön, so wunderlieblich geworden, mein süßes Mädchen, das habe ich nicht geahnt, laß dich umarmen, mein Herz!«

»Nicht, solange du diese Uniform trägst«, erwiderte jene, »wer auf der Seite des Unterdrückers steht, dem bleibt dieses Herz verschlossen, für immer!«

»Veronica!?«

»Herr Lieutenant von Vogelsang? so ist es, so bleibt es, selbst wenn das eigene Herz darüber brechen sollte!«

»Geliebtes Mädchen«, schrie Otto auf, »nur noch wenige Tage trage ich diese verhaßte Uniform – mit Lepel, Bardeleben, Hüttenau, hessischen Offizieren, Bothmer und König, Althannoveranern wie ich, ist längst verabredet, sobald Blücher's Heer sich uns naht, zu demselben mit zwei Escadrons überzugehen, wenn es nicht noch möglich ist, das ganze Regiment, dessen Commandeur ein Franzose ist, zu gewinnen. Sämmtliche Unteroffiziere sind eingeweiht, und unsere Schneider im Regiment haben die ganze Nacht gearbeitet, um schwarzweiße Fahnen für unsere Lanzen und schwarzweiße Armbinden zu nähen. Wir stehen bei dem Dorfe Lindenthal, bei Marmont's Heertheil. Ich bin mit dreistündigem Urlaub nach Leipzig hereingejagt, um von dir, mein Leben, mein Alles, Abschied zu nehmen, vielleicht für dieses Leben.«

Die Sängerin öffnete die Arme, küßte Otto auf die Stirn und sagte: »Gott segne dich und das Vaterland, nun gehe, ich werde für dich beten.«

Von dem Augenblicke an, da der Lieutenant unten auf das von seinem Burschen gehaltene Pferd stieg und zu der Geliebten hinaufgrüßte, hatte diese keine Ruhe, keinen Schlaf. Eine bange Ahnung, daß irgendein sie näher angehendes Unglück in der Luft schwebe, nahm ihren Geist ein. Nicht der Jugendgeliebte war es, dessen Schicksal sie mit Besorgniß erfüllte, ihre Gedanken waren in der Heimat, im Hause der Aeltern und der Großältern. Dort mußte etwas von Bedeutung sich zutragen.

Veronica hatte eine Bleistiftzeichnung vor sich, die sie als Kind gefertigt, das neue Schloß zu Heustedt darstellend, mit seinem schönen, parkwaldigen Hintergrunde. Sie war dabei, dieses Bild in Aquarell zu malen, das Schloß war schon fertig, die Kastanien und Platanen zur Linken, die hohe deutsche Pappel hinter einer Gruppe Hängebirken zur Rechten wurden colorirt. War es nun vielleicht diese Beschäftigung, die ihre Seele nach Heustedt trug, oder war es eine Ahnung dessen, was sich dort gleichzeitig ereignete? Ihr Großvater, der gute Mann, auf dessen Schos sie die Bilderchronik so oft durchblättert und sich von ihm von den Städten, die er in der Fremde gesehen, hatte erzählen lassen, er war nicht mehr, er war vielleicht in demselben Augenblicke von dem Balken des brennenden Schloßflügels erschlagen, in welchem Otto von Vogelsang ihr Abschied zugewinkt hatte.

Als die französischen Kanonen zwei Tage darauf von den Höhen von Liebertwolkwitz, südwestlich von Leipzig, ihr Höllenfeuer gegen den Prinzen Eugen von Würtemberg entwickelt hatten und dann die Reiterei der Garde unter Nansoaty die russische Cavalerie zersprengte, die russische Infanterie überritt und in die Flucht trieb, bei Güldengossa vorbei, dem Wachberg zu, wo die verbündeten Monarchen der Dinge harrten, die da kommen sollten, und nach kurzer Zeit mindestens tausend Kanonen ihren ehernen Mund öffneten, begann der Kampf auch auf der entgegengesetzten nordwestlichen Seite, indem von dem Orte, wo jetzt das Gustav-Adolfdenkmal steht, und von Breitenfeld und Schkeuditz aus York auf Marmont's Heerkörper anrückte. Lindenthal wurde angegriffen, zum Schutz desselben stand ein Regiment westfälinger Ulanen in der Ebene der linken Seite des Dorfes; als aber zum Angriff commandirt wurde, schwenkten drei Escadrons links ab und ritten, eine preußische Fahne entfaltend, auf ein feindliches Dragonerregiment zu, das sie mit Jubelgeschrei aufnahm und als Reserve aufstellte. Hier wurden sämmtliche Lanzen mit preußischen Farben versehen, preußische Feldbinden angelegt, die Offiziere der verschiedenen Corps begrüßten sich. Einer der übergetretenen Offiziere wurde in das Hauptquartier geschickt, um Blücher nähere Auskunft über Stärke und Aufstellung des Marmont'schen Corps zu geben. Die Westfälinger brannten vor Ungeduld, sich als brave Deutsche zu zeigen, man schickte sie aber nicht in das Treffen, und erst am Abend, als York die Franzosen aus Möckern getrieben, als ein französischer Munitionswagen in die Luft flog und die Glieder eines Vierecks sprengte, und nun Husaren und Dragoner auf die Flüchtigen einfielen. kam auch Otto von Vogelsang mit seiner Escadron zur erwünschten Thätigkeit. Das Armeecorps von Marmont wurde bis in die Vorstadt von Leipzig verfolgt und Blücher konnte am Abend melden, daß er zweitausend Gefangene gemacht und dreiundvierzig Kanonen erobert habe.

Veronica war, als sie den Kanonendonner im Nordwesten und dann das fortdauernde Kleingewehrfeuer von Möckern her hörte, zwanzigmal auf den Giebeldachboden des Hauses gelaufen, allein sie konnte über das Rosenthal nicht hinwegsehen, sie sah nur den Pulverdampf in dichten Wolken über Gohlis hinwegtreiben, dem Schlachtfelde im Südosten zu. Als aber der Abend kam und Flüchtlinge aller Regimenter und Wagen auf Wagen voll Verwundeter brachte, die über den Fleischerplatz gefahren wurden, da wußte sie wenigstens, daß die Preußen Sieger geblieben seien, obgleich auf Napoleon's Befehl alle Glocken Leipzigs zur Feier des französischen Sieges geläutet wurden. Am 17. October war Sonntag, aber nur deshalb Ruhetag, weil Napoleon auf die Meerveldt'schen Unterhandlungen mit seinem Schwiegervater mehr Vertrauen setzte als auf seinen Stern. Als die Verhandlungen ohne das gewünschte Resultat blieben, wurde der Rückzug auf Erfurt befohlen, den Schwarzenberg, wie es schien, absichtlich dem Schwiegersohne seines Herrn offen gelassen hatte. Oesterreichischerseits wollte man nicht, daß Napoleon vollständig vernichtet würde.

Am 19. October, als Napoleon's Heer, oder vielmehr der Rest desselben in wilder, wirrer Flucht über die Frankfurter Straße nach Lindenau zog, die Polen unter dem neuernannten Marschall Poniatowski, die Westfalen, Badenser, Hessen-Darmstädter und Neapolitaner unter Macdonald Leipzig halten und den Rückzug decken sollten, sich dazu indeß nicht stark genug erwiesen, waren die übergegangenen westfälischen Ulanen beordert, ein Regiment russischer Jäger, welches durch das Rosenthal in die Stadt dringen wollte, zu unterstützen.

Als Otto von Vogelsang mit seiner Escadron über die Pleißenbrücke auf den Fleischerplatz sprengte, der mit Munitions- und Bagagewagen überfüllt war, und er eben zu dem Fenster der Geliebten hinaufsah, erhielt er von einem schwarzbärtigen Sohn der Abruzzen einen Schuß in die Brust, der ihn vom Pferde warf. Veronica war Zeuge dieser Scene, sie wurde nicht ohnmächtig, sie schrie nicht auf, allein sie eilte hinunter und ließ den Verwundeten heraufbringen und in ihr Fremdenzimmer betten. Ein Arzt wurde gerufen, allein seine Hülfe war vergeblich, nach wenig Stunden gab der tödlich Verwundete, glücklicher als mehr denn zwanzigtausend seiner Mitkämpfer, im Arme der Geliebten seinen Geist auf und erhielt von ihr den letzten Kuß.

Nun hielt es diese nicht länger in Leipzig, der Stadt voll Leichen, Sterbender, Verwundeter, dieser Peststadt, in der es trotz vieler tausend Einwohner doch an allem, was zur Verpflegung einer solchen Menge Verwundeter nöthig war, fehlte, vor allem an Raum, um dieselben unterzubringen, an Wärtern, an Leinwand, Stroh, Bettdecken, Gewändern.

Die Schilderung Reil's in seinem Briefe an Stein ist grauenvoll, aber die Wirklichkeit grauenvoller; wer dieses Elend im großen Maßstabe in einer der Kirchen, in der Bürgerschule, vor allem im Gewandhause sah, von dem mußte man glauben, daß er nie im Leben wieder froh werden könne, daß er nie das Bild solchen Jammers aus dem Sinne verlieren würde.

Die Sängerin fühlte sich nicht stark genug, hier selbstthätig zu helfen; nachdem Otto von Vogelsang zur Erde bestattet, ihr Instrument gepackt war, ruhte und rastete sie nicht, bis sie gegen enormen Preis ein Fuhrwerk auftrieb, das sie nebst der Caloni und Nanny nach Wurzen brachte. Was sie und ihre Gefährtinnen an Leinwand irgend entbehren konnten, ließ sie zurück, und schon während sie packten sah sie ihre Wohnung zu einem Lazareth umgewandelt.

Von Wurzen kam man unter mancherlei Mühe, Noth und Gefahr nach vier Tagen bei dem belagerten Dresden vorbei nach Böhmen und nach drei fernern Tagen nach Prag. Hier fühlte man zuerst wieder, in einem Lande zu sein, das der Krieg diesmal wenig berührt, man fühlte sich wahrhaft in einem leichtlebigen Lande, denn Concerte, Theater, Gesellschaften hatten nicht aufgehört. Nachdem kaum die Ankunft des neuen Sterns aus Leipzig bekannt geworden, drängte man sie unter ansehnlichen Erbietungen zu Gastrollen. Veronica schlug das wochenlang aus, nahm aber Ende December ein dauerndes Engagement auf eine Reihe Gastrollen bis zum Sommer an unter der Bedingung, daß sie nur in ernsten und tragischen Rollen auftrete und sich selbst ihr Repertoire wähle. Der wiener Flügel war angekommen, böhmische Leinwand vertrat in Leib- und Bettwäsche die sächsische, die den Verwundeten in Leipzig dargebracht war. Die Caloni war in Listen, das Publikum im voraus günstig für ihren Schützling zu stimmen, unermüdlich, sie kannte die Kunst, Reclame zu machen, schon aus Paris. Aus dem Gemüthe des jungen Mädchens schwanden allmählich die Tage des Unglücks in Leipzig, und die Trauer um den Tod des Großvaters wurde gelinder. Die Künstlerin gewann wieder die Oberhand, die Sucht nach Ehre, Ruhm, Verdienst wurde von der Caloni im Bunde mit Nanny täglich angeregt. Der Kriegslärm war ganz verstummt, er hatte sich nach dem Rhein und nach Holstein hingezogen. So fing sie denn wieder an, neue Rollen aus dem reichen Repertoire der Caloni zu üben, Scala zu singen, Schauspiel wie die Oper zu besuchen, um Spiel- wie Gesangsweise ihrer künftigen Genossen zu studiren.

Das trug viel dazu bei, die nervöse Spannung, in welcher sie seit dem 14. October sich befunden, zu beruhigen. Und als nun der Tag der Vorstellung kam, und Veronica, statt in der Rolle der Zerline, als Donna Anna im »Don Juan« auftrat, als der Beifall in der Czechenstadt sich wiederholte, nur stürmischer, ungemessener als in dem zahmen Leipzig, da war sie wieder die Alte. Aber doch nicht ganz die Alte; der ungeheuere Schmerz, der durch den Tod ihres Geliebten über sie gekommen, hatte sie gereift, zum selbstständigen Weibe gemacht. Sie war ernster geworden, ihr Auftreten würdevoller, wahrhaft königlich. Ein starkes Selbstvertrauen war über sie gekommen, sie hatte den Schmerz überwunden, ihre eigene Kraft erprobt, sie glaubte an sich.

Solche Triumphe, wie die dramatische Sängerin in der alten Königsstadt feierte, waren dort seit Jahren unerhört, die Stimmung des Publikums, schon durch die Hoffnung auf dauernden Frieden in hohem Maße gehoben, schraubte sich in Ermangelung eines andern Gegenstandes zu einem vergötternden Enthusiasmus des Individuums hinaus. Auch hier blieben Geschenke und Liebesbewerbungen nicht aus, allein viele böhmische Große lernten hier zum ersten mal, daß nicht jede Tugend für Gold käuflich sei. Veronica nahm zwar Schmuck und Geschenke, die Caloni hatte ihr begreiflich gemacht, daß sich von dem Gastspielhonorar kaum die Garderobe zu den vielen neuen Rollen anschaffen lasse, die sie hier ihrem Repertoire anzureihen habe; was sie aber dafür gab, war ein gnädiges Lächeln, wie es eine Königin den ihr Huldigenden zutheil werden läßt, oder ein freundliches Danken, oder die Einladung zu einem kleinen Diner oder Souper. Die Sängerin-Mutter hatte nämlich ihre Schutzbefohlene glauben gemacht, es sei Landessitte, daß man Verehrer und Recensenten von Zeit zu Zeit zu einem kleinen Diner oder Souper einlade. Sie liebte solche Diners, sie aß gern gut und trank auch gern Champagner, während dem Zöglinge alles Ausgesuchte gleichgültig war; ihr gewöhnliches Getränk bestand in Kaffee und Wasser. Die Sängerin hatte unter der Bedingung in solche kleine Diners gewilligt, daß sie nie weniger aber auch nie mehr als zwei Herren einlade, daß die Caloni während der Gesellschaft nie das Zimmer verlasse, unter welchem Vorwande es auch sein möge, und endlich, daß bei einem solchen Gastmahle für vier nie mehr als zwei Flaschen Champagner kühl gesetzt würden.

Die Eingeladenen hatten es oft versucht, diese Schranken zu durchbrechen, allein das junge Mädchen wußte den Tischgesetzen, mit denen sie ihre Gäste von vornherein bekannt machte, eine bessere Nachachtung zu schaffen, als mancher König den seinigen. Sie konnte zum Erschrecken ernst, finster und drohend werden, wenn bei solchen Gelegenheiten ein Gast sich gegen sie die geringste Freiheit herauszunehmen wagte, z. B. die Hand ergreifen und küssen wollte, ehe sie ihm freiwillig geboten wurde.

Dagegen belohnte sie nach Tisch die Gäste mit einem der reizenden Volkslieder, die sie schon zu Hause gesammelt hatte und auf die sie überall Jagd machte, ober auf Bitten auch mit einer Bravourarie. Die Sängerin galt ihres Namens wegen für eine Italienerin, wie die Caloni eine solche war. Diese war habsüchtig, Veronica verachtete das Gold, es war ihr mindestens gleichgültig, hatte sie es erworben, so gab sie es ebenso leicht weg. Sie machte den Aeltern reiche Geschenke und bedachte nicht minder die Lehrerin und Führerin, die Armen und Notleidenden. Dagegen empfing sie Shawls, Schmuck, ganze Stücke des kostbarsten Atlasses mit gnädiger Herablassung, als müsse das so sein.

Dieses zurückhaltende kühle Wesen, diese Würde, welche sich die Sängerin in ihrem Hause, noch mehr aber hinter den Coulissen zu geben wußte, mußte auf die czechischen und deutschen Großen, auf Dichter und Theaterrecensenten, wie auf die Kunstgenossen einen eigentümlichen Reiz ausüben. Man drängte sich förmlich zu den Petitsoupers und ließ sich auch dadurch nicht abschrecken, daß Veronica nie zwei Standesgenossen zu sich lud, sondern dem Grafen oder Fürsten einen Dichter oder Bassisten zugesellte.

Die Herren von der Bühne nannten sie nur die Königin; die Frauen behaupteten dagegen natürlich, das alles sei nur Schein und die Sängerin sei eine ausgelernte Kokette.


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