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Die Quellenachweise der Zitate [Zahl] befinden sich am Ende des Kapitels. Re. Für Gutenberg
Es ist klar, daß Bismarck diesen Gesandtenposten in Paris nicht ernst nehmen kann. Er ist ja nur verlegenheitshalber hingeschickt worden, weil man sich an hoher Stelle über keine anderweitige Verwendung entscheiden konnte und er unbedingt eine Ernennung verlangt hat. Außerdem soll er seine Personalkenntnisse erweitern. In der Audienz, die ihm der König vor seiner Abreise nach Paris gewährte, empfahl ihm dieser, sich auf dem » Qui-vive« zu halten, denn jeden Augenblick könne sich die Krise in Berlin derartig zuspitzen, daß man seiner bedürfe. Im Innern ist Bismarck davon überzeugt, daß diese Lösung die einzige logisch mögliche ist. Er hält sie für derart unvermeidbar, daß er seinen Aufenthalt in Paris auf die kürzeste Dauer berechnet. Nachdem er sein Beglaubigungsschreiben am 1. Juni in den Tuilerien überreicht hat, schreibt er am Abend desselben Tages an seine Frau nach Reinfeld: »Ich sehne mich nach Geschäften, denn ich weiß nicht, was ich anfangen soll ... Wie lange das dauert, weiß Gott ... In 8 bis 10 Tagen erhalte ich wahrscheinlich eine telegraphische Citation nach Berlin.« [1] Es scheint also nicht der Mühe wert, sich ernstlich einzurichten, oder sich in die laufenden Geschäfte der Gesandtschaft zu vertiefen. Nach den langen Jahren in Frankfurt und St. Petersburg, nach den Zeiten der Erwartung und Vorbereitung steht Bismarck endlich an der Schwelle seines Ziels, der »Hauptfaden der deutschen Politik«, den er so gerne in seinen Händen halten wollte, liegt jetzt in greifbarer Nähe vor ihm. Er kennt keinen Zweifel an sich selbst, kein Zaudern vor der schweren Aufgabe, die er zu übernehmen bereit ist. Im Gegenteil, er ist voller Selbstsicherheit, er weiß, daß er allein fähig ist, die Regierung des Staates in die Hand zu nehmen und den politischen Sturm zu meistern. Er fühlt sich stark und dem Kampfe gewachsen; und während er auf das Angriffssignal wartet, zerrt er ungeduldig am Zügel. Man spürt in ihm den hochgespannten Ehrgeiz, die glühende Hoffnung auf Macht, die ihn beseelt, und seine Überzeugung, der zu sein, der für das Wohl des Landes nötig ist. Und man fühlt auch, daß er jetzt, wo er nahe am Ziele ist, um das Ganze spielt; er wird nicht noch einmal eine Rolle zweiten Ranges annehmen, er will nicht länger untergeordnet sein. Er schreibt zwar, er verlange nicht mehr, als sein Schicksal in festen Bahnen zu sehen, als zu wissen, ob man ihn nach Berlin auf den Ministerposten beruft oder auch, ob Paris oder London sein definitiver Posten sein soll. Trotzdem wird er, wenn seine stolzen Hoffnungen unerfüllt bleiben, sich wirklich auf seine Äcker grollend zurückziehen, um seinen Kohl zu bauen, wie er es angekündigt hat.
In Berlin jedoch entwickeln sich die Ereignisse nicht so schnell, wie er gedacht. Obwohl der Konflikt zwischen dem König und der Kammer über die Heeresreform gefährliche Formen anzunehmen droht, kann Wilhelm I. sich nicht zu Bismarcks Berufung entschließen. Wenn er auch ahnen mag, daß dieser der einzige Mann ist, bei dem er Hilfe fände, hat er doch Angst vor dem unheimlichen Menschen, »der alles auf den Kopf stellen würde«. Vergebens nennt Roon, der treue Freund und Parteigänger Bismarcks, dem Herrscher seinen Namen: er stoße, schreibt er, bei Seiner Majestät neben der alten Vorliebe für Bismarck auf dieselbe Unentschlossenheit. – Bismarck irrt indessen in den düsteren Räumen der Gesandtschaft zu Paris herum »wie eine Ratte in der leeren Scheune« [2] und findet kein Zimmer, das ihm paßt. In einem riecht es zu sehr nach Moder, im anderen ist die Zugangstreppe zu eng für seine breiten Schultern. Und als Entspannung für seine Nerven findet er keine andere Zerstreuung als die, nacheinander alle Küchenchefs fortzujagen, deren Rechnungen ihm zu hoch vorkommen. Er flieht vor den einsamen Mahlzeiten in der Gesandtschaft, er beginnt die Kaffees und Restaurants zu besuchen, aber das paßt ihm auch nicht, das Essen ist zu schwer und zu gewürzt für seinen Geschmack. Während seines Aufenthaltes in Paris ereignet sich nur ein einziger Vorfall, der für ihn von Bedeutung ist: das ist das Gespräch, das er Ende Juni mit Napoleon III. in Fontainebleau hat. Eine merkwürdige Episode und für seine Haltung in dieser Zeit sehr bezeichnend. Der Kaiser macht ihm mit überraschender Ungezwungenheit Vorschläge für ein Bündnis zwischen Frankreich und Preußen. Dann, mit einem Freimut, der geradezu als Indiskretion wirkt, enthüllt er ihm sensationelle Einzelheiten über die Maßnahmen Österreichs gegen Preußen. In dem Bericht, den er nach Berlin abschickt, schreibt Bismarck, daß Napoleon, wenn er ihm etwas entgegengekommen wäre, »sich noch deutlicher ausgesprochen hätte«. Und mit beißendem Witz erklärt er, daß seine Lage vor dem Kaiser ähnlich der Josephs bei der Frau des Potiphar gewesen sei, da Napoleon »die unzüchtigsten Bündnisvorschläge auf der Zunge« gehabt hätte. Aber war es nicht geradezu die Aufgabe Bismarcks als preußischer Diplomat, seinen Gesprächspartner zum Reden zu bringen? Und warum gleitet Bismarck dann in seinem Bericht so schnell über die Antworten hinweg, die er Napoleon gegeben hat? Warum entwickelt er nicht alle Gedanken, die diese wahrhaft außergewöhnliche Unterhaltung in seinem Diplomatengehirn aufkeimen ließ? Die Antwort ist klar: Wozu soll er seine Ideen vor diesem Grafen Bernstorff, dem preußischen Außenminister, ausbreiten, den er im Grunde verachtet – »ich habe auch kein Vertraun zu seinem richtigen Augenmaß für die politischen Dinge« [3], hat er über ihn an Roon geschrieben, – wenn er weiß, daß er binnen kurzem wahrscheinlich selbst der Chef des derzeitigen Ministers sein wird. Erst wenn er Herr der deutschen Politik ist, wird es an der Zeit sein, sich dessen zu bedienen, was er aus dieser Unterhaltung im Park von Fontainebleau erfahren hat. Bismarcks Nervosität wächst von Tag zu Tag. Da seine Briefe an Roon zunächst ohne Ergebnis bleiben, versucht er eine Entscheidung zu erzwingen, indem er sich direkt an den König wendet. »Ich habe Sr. Maj. geschrieben, daß ich gern wissen möchte, ob ich noch 4 Tage, 4 Wochen, 6 Monate oder ganz hierbliebe; er hat mir geantwortet, daß er sich noch nicht entschließen könne.« [4] Er hatte geglaubt, sich nur für kurze Zeit nach Paris zu begeben, aber nun geht der Juni zu Ende, und es ist immer noch keine Entscheidung da. Um etwas zu unternehmen, fährt er für einige Tage nach London, wo er feststellt: »über Preußen wissen die englischen Minister weniger wie über Japan und die Mongolei, und klüger wie unsre sind sie auch nicht.« [4] Hingegen beweist eine Anekdote, daß man dort eine um so höhere Meinung von Bismarck bekam; Disraeli soll über ihn den vielsagenden Ausspruch getan haben: » Take care of that man, he means what he says!« Von London kehrt Bismarck eilig wieder nach Paris zurück, um den Kurier zu empfangen, den man ihm von Berlin aus angekündigt hat – doch er kommt mit 8 Tagen Verspätung und bringt wieder nichts für ihn.
Bis jetzt hatte Bismarck noch ein wenig Gesellschaft in Paris, nämlich einige alte Bekannte von Petersburg, die Obolenski, die Stroganoff, Bariatinsky, Trubetzkoi u. a. Aber nun – Mitte Juli – hat sich Paris schon geleert; der Hof, die Diplomaten und die Gesellschaft sind aufs Land abgereist. Die Hauptstadt ist verlassen und glühend heiß, Bismarck erstickt fast vor Langerweile und Staub. Er hat nichts zu tun, und solange keine Entscheidung aus Berlin kommt, ist er auch an aller politischen Tätigkeit gänzlich uninteressiert. Er hat alles versucht, um die Leute in Berlin zur Entscheidung zu drängen, was bliebe ihm jetzt noch übrig? Je später man ihn zu Hilfe ruft, je schlechter alles geht, desto mehr Chancen hat seine Kandidatur. Wenn man ihn ruft, dann wird immer noch Zeit genug sein, alles zu entwirren. Da man ihn ohne Arbeit läßt, findet er ein längeres Verweilen in Paris zwecklos und möchte seinen Nerven eine völlige Ruhepause und Entspannung verschaffen. Er hat Bedürfnis nach Bewegung und Natur. Zu ihr wendet er sich jetzt zurück, träumt von der Luft des Meeres und der Berge und reicht ein Gesuch um einen sechswöchigen Urlaub ein, den er in den Pyrenäen zu verbringen gedenkt; doch sein Verlangen wird schlecht aufgenommen: »Auf mein Urlaubsgesuch habe ich heute von Bernstorff die Antwort erhalten, der König könne sich noch nicht entschließen, ob er mir Urlaub gäbe, weil dadurch die Frage, ob ich das Präsidium übernähme, noch 6 Wochen in der Schwebe gehalten würde; S. M. könne sich aber auch nicht entschließen, ob ich Ministerpräsident werden solle, und ich möchte schreiben, ob ich es für nützlich hielte, in der jetzigen Kammersession noch einzutreten, und wann! und ob ich nicht vor Antritt meines Urlaubs nach Berlin kommen wollte.« [5]
Das ist zuviel für Bismarcks Geduld. Noch einmal nach Berlin kommen, sich dort in einem Hotel langweilen, in der Erwartung, daß Seine Majestät einen Entschluß fasse, wieder in alle ministeriellen Intrigen verwickelt werden – nicht um alles in der Welt! Er erwidert, daß er, da er für seine Gesundheit Meerbäder nötig habe, auf sofortigem Urlaub bestehe, ohne vorhergehenden Besuch in Berlin. An Roon schreibt er ausführlich über seine Beweggründe: »Ich bin hier jetzt überflüssig, weil kein Kaiser, kein Minister, kein Gesandter mehr hier ist. Ich bin nicht sehr gesund, und diese provisorische Existenz mit Spannung ›auf ob und wie‹ ohne eigentliche Geschäfte beruhigt die Nerven nicht. Ich ging meiner Ansicht nach auf zehn bis vierzehn Tage her und bin nun sieben Wochen hier, ohne je zu wissen, ob ich in vierundzwanzig Stunden noch hier wohne. Ich will mich dem Könige nicht aufdrängen, indem ich in Berlin vor Anker liege, und gehe nicht nach Hause, weil ich fürchte, auf der Durchreise durch Berlin im Gasthof auf unbestimmte Zeit angenagelt zu werden ... Unter diesen Umständen wiederhole ich mein Gesuch um sechs Wochen Urlaub, was ich mir wie folgt motiviere. Einmal bin ich wirklich einer körperlichen Stärkung durch Berg- und Seeluft bedürftig; wenn ich in die Galeere eintreten soll, so muß ich etwas Gesundheitsvorrat sammeln, und Paris ist mir bis jetzt schlecht bekommen mit dem Hunde-Bummel-Leben als Garçon.« Und weiter prüft er wieder die Möglichkeiten seines Eintritts ins Ministerium: man solle nur die Kammer sich in Diskussionen über unbedeutende Projekte verwickeln lassen: »Sie wird müde werden, hoffen, daß der Regierung der Atem ausgeht. Wenn ... sie mürbe wird, fühlt, daß sie das Land langweilt, dringend auf Konzessionen seitens der Regierung hofft, um aus der schiefen Stellung erlöst zu werden, dann ist meines Erachtens der Moment gekommen, ihr durch meine Ernennung zu zeigen, daß man weit entfernt ist, den Kampf aufzugeben, sondern ihn mit frischen Kräften aufnimmt. Das Zeigen eines neuen Bataillons in der ministeriellen Schlachtordnung macht dann vielleicht den Eindruck, der jetzt nicht erreicht würde ... Das alles beruht mehr auf instinktivem Gefühl, als daß ich es beweisen könnte, es sei so; und ich gehe nicht soweit, zu irgend etwas, das mir der König befiehlt, deshalb auf eigene Faust ›Nein‹ zu sagen. Wenn ich aber um meine Ansicht gefragt werde, so bin ich dafür, noch einige Monate hinter dem Busch gehalten zu werden.« Und mit einer Bescheidenheit, hinter der seine beißende Ironie hervorleuchtet, fügt er hinzu: »Vielleicht ist dies alles Rechnung ohne den Wirt, vielleicht entschließt sich Seine Majestät niemals dazu, mich zu ernennen, denn ich sehe nicht ein, warum es überhaupt geschehen sollte, nachdem es seit sechs Wochen nicht geschehen ist. Daß ich aber hier den heißen Staub von Paris schlucken, in Cafés und Theatern gähnen oder mich in Berlin wieder als politischer Dilettant ins Hotel Royal einlagern soll, dazu fehlt aller Grund, die Zeit ist besser im Bade zu verwenden.« [6]
Er ist also nach wie vor bereit; aber wenn man sich nicht entscheiden kann, soll man warten und ihn zunächst einmal in Ruhe lassen. Endlich am 17. Juli hat er den Urlaub in der Tasche.
Schon seit langem lockten ihn der Süden Frankreichs und die Pyrenäen. 1855 schrieb er von Paris aus an Johanna: »Wenn wir im nächsten Jahr leben und gesund sind, so möchte ich mit Dir über Lyon nach Marseille reisen, dann längs der Pyrenäen über Bayonne, Bordeaux und Paris zurück. Es ist eine Reise von 3 Wochen, auch weniger, wenn man will, und würde für uns beide etwa 1000 fl. kosten. Ich war jetzt schon sehr in Versuchung dazu, aber allein mag ich nicht.« [7]
Jetzt, sieben Jahre später, unternimmt er diese Reise wirklich und zwar allein. Seine Familie ist in Pommern; er hat keine Lust, sich dorthin zu begeben. Zunächst weil er dann Berlin berühren müßte, dies aber durchaus vermeiden will. Er könnte die Seinen kommen lassen, wenigstens seine Frau, um die Ferien mit ihr gemeinsam zu verbringen; aber er hat im Grunde wohl auch keine große Lust, jetzt von Familie umgeben zu sein. In kritischen Zeiten hat er selten seine Zuflucht dort gesucht. Er geht durch einen der entscheidenden Augenblicke seines Lebens, den allerentscheidendsten vielleicht; und von einem Instinkt getrieben, den er selbst nicht kennt, fühlt er das Bedürfnis, allein zu bleiben, diese neuen unbekannten Landschaften einsam zu durchreisen und so den zusammengeballten Energieüberschuß zu verbrauchen, der ihm keine Ruhe läßt, und den in politischer Arbeit auszugeben man ihn hindert. Denn in Wahrheit ist seine Gesundheit glänzend, und die einzigen Übel, die ihn nervös machen, sind Langeweile, Arbeitslosigkeit und Tätigkeitsdrang. Wenn er jetzt seine Frau nicht bei sich zu haben wünscht, geschieht es keineswegs, weil er sie etwa nicht liebt – er empfindet für sie unendliche Zärtlichkeit, die er immer wieder beweist –, sondern weil sie in diesem Augenblick mit seinem Seelenzustand nicht harmonisieren könnte. Er selbst scheint erstaunt über diese Stimmung zu sein, sein Gewissen ist nicht ganz ruhig; denn er hat noch Anfang Juni an Johanna geschrieben: »Wenn ich definitiv hier bleibe, so werde ich in einigen Wochen Urlaub erbitten, um 1–2 Monat ruhig bei Euch zu bleiben.« [8] Jetzt hat sich das alles geändert: »Gestern habe ich Urlaub auf 6 Wochen erhalten,« schreibt er an seine Frau am 18. Juli, »und es ist mir sonderbar zu Mute, daß ich damit nicht spornstreichs zu Dir eile, um nach so langer Trennung mich des Behagens in Eurer Mitte zu erfreun. Aber ich habe nur die Wahl, in Berlin wieder im Gasthof festzuwachsen oder hier Berg- und Seeluft zu genießen ...« Und er greift zu derselben Entschuldigung, die ihm zur Erlangung seines Urlaubs diente: »außerdem verspreche ich mir wirklich von dem Aufenthalt in den Bergen die beste Wirkung für meine Gesundheit ...« und, wie um sie zu beruhigen, fügt er hinzu: »Ich nehme Nostitz, den Sohn vom alten General, vielleicht auch Loe mit, bin also wohl aufgehoben, und Du darfst nicht Sorge haben, daß ich ohne Beistand bin.« – Tatsächlich reist er aber allein und ohne Begleiter ab. – »Ich bin geteilt zwischen Zufriedenheit, den heißen Staub hier zu verlassen, und Sorge, unsre Trennung so verlängert zu sehn.« [9]
Am nächsten Tage setzt er Johanna seinen Reiseplan auseinander: zuerst wird er auf einen Tag nach Trouville gehen, wo die Metternichs und einige andere Bekannte sind, dann am 24. will er sich nach dem Süden wenden. Am 25. wird er in Blois sein, um die Schlösser der Umgebung zu besichtigen, am 27. in Bordeaux, am 28. in Bayonne. Nach all diesen Orten soll sie seine Korrespondenz postlagernd nachschicken. Dann will er bis zur spanischen Grenze vorstoßen, und falls Galen, der preußische Gesandte in Madrid, mit seiner Familie in San Sebastian ist, will er ihn dort besuchen. Dann hat er vor, sich nach Bayonne zurück und in die Pyrenäen zu begeben. Er schließt seinen Brief vom 19. Juli: »Ich kann mich gar nicht recht darin finden, daß ich nicht zu Euch reise, und will nicht gut sagen, ob ich nicht eines guten Tages vom Heimweh aus den Pyrenäen vertrieben, direkt über Genua, Wien, Breslau, Posen, Bromberg, mit Vermeidung Berlins in Reinfeld einspringe.« [10]
In Trouville, wo wir ihn am nächsten Tage finden, ist er deprimiert und unzufrieden: »Ich bin hierher gefahren, um zu sehn, ob ich etwa hier baden könnte; aber es ist zu langweilig, und der Gedanke, Wochen hier zuzubringen, unerträglich. Strand, See, Lage der Küste so schön, wie sie sein können, aber die egoistische Ungeselligkeit der Franzosen macht den Aufenthalt hier nur möglich, wenn man seine Häuslichkeit mitbringt ... Ob ich die Reise vollende, weiß ich noch nicht, ich habe dergestalt Heimweh, daß ich nächstens auf Biegen oder Brechen alle Berliner Rücksichten in den Wind schlage und zu Euch komme.« Diese Sehnsucht hindert ihn zwar nicht daran, die »sehr hübsche Gräfin Pourtalès« zu bewundern, doch »ich bin so gelangweilt, daß ich mich nicht einmal etwas in sie zu verlieben vermag«, [11] vertraut er dann Johanna an, die ohnehin daran gewöhnt ist, von Zeit zu Zeit die Ausdrücke seiner Bewunderung für weibliche Schönheit zu vernehmen. Endlich am 25. ist er in Blois und auf dem Wege nach dem Süden. So entzückt er von der Landschaft und den Schlössern der Loire ist, so wenig ist er es von den Franzosen, die ihm ungesellschaftlich und grob vorkommen: »Ein sonderbares Gemisch von äußerlichem Luxus und innrer Dürftigkeit ist so eine französische Provinzialstadt. Ich sitze vor einem Marmorkamin mit goldnem Spiegel, davor eine elegante Stutzuhr, die nicht geht, schreibe auf einem zerbrochnen alten Spieltisch, als Tintfaß eine irdne Flasche mit engem Halse, ein Zimmer 10 Fuß im Quadrat, Selterwasser (siphon) mit sirop de groseilles trinkend ... Leben könnte ich hier nicht. Der Abstand an Bildung nicht bloß, sondern an äußeren Manieren und guter Erziehung ist sehr empfindlich im Vergleich mit unsern Gewohnheiten. Schon in Paris sind höfliche Formen nur in den höheren gesellschaftlichen Kreisen üblich, sobald man aber die banlieue Bann-Meile hinter sich hat, stößt man auf eine bäuerliche Ungeschliffenheit der Verkehrsformen, welche den guten Ton der Bourgeoisie von Rummelsburg oder Schlawe in glänzendem Lichte erscheinen läßt. Auch die Offiziere, deren flüchtige Bekanntschaft ich im Café machte, stören durch ihre schlechten Manieren das Gefühl der aufrichtigen Anerkennung, welches ich für diese wahrhaft ausgezeichnete Armee habe. Militärisch können wir viel von ihnen lernen, und Du kennst meine Vorliebe für alle Soldaten, aber c'est étonnant, comme on est mal élevé et inhospitalier.« [12] In Bordeaux bringt er zwei Tage damit zu, die Weinberge zu besuchen und die berühmten Lagen zu probieren: »Lafitte, Mouton, Pichon, Larose, Latour, Margaux, St. Julien, Brane-Mouton d'Armeillac und andere in der Ursprache und an der Kelter getrunken. Wir hatten im Schatten 30, in der Sonne fünfundfünfzig Grad am Thermo, aber mit guten Weinen im Leibe spürt man das garnicht.« [13] Am 29. Juli ist er in Bayonne und erlebt damit die erste Berührung mit der baskischen Landschaft. Und da die Natur ihm lächelt, tritt sein Pessimismus etwas zurück; der übliche Refrain, wie sehr er bedauert, nicht bei den Seinen zu sein, ist schon abgeschwächt: »Ich kann nicht sagen, daß ich mich langweile, eine Menge neuer Eindrücke sprechen mich an, aber ich komme mir doch wie ein Verbannter vor und bin mit meinen Gedanken mehr an der Kamenz als am Adour.« [14] Er möchte einen Tag zum Baden in Biarritz bleiben und dann mit Galens ein paar Tage in San Sebastian verbringen; darauf will er nach Bayonne zurückfahren, um über Pau in die Pyrenäen weiterzureisen. Seine Korrespondenz soll nach Bagnères de Luchon nachgeschickt werden, wo er voraussichtlich in einer Woche sein wird. In San Sebastian, wo Graf Galen und seine Familie ihn herzlich aufnehmen, scheint er sich ganz beruhigt zu haben und sich ohne Sorgen der schönen Landschaft und den spanischen Genrebildern hinzugeben, die ihn von allen Seiten umgeben: »eine steile Gasse, 12 Fuß breit, jedes Fenster mit Balkon und Vorhang, jeder Balkon mit schwarzen Augen und Mantillen, Schönheit und Schmutz, auf dem Markte Trommeln und Pfeifen und einige hundert Weiber, alt und jung, die unter sich Fandango tanzen ...« [15] Er badet in der Bucht, röstet in der Sonne und fühlt sich vollkommen wohl: »Von Berlin und Paris höre ich zu meiner Beruhigung kein Wort.« Aus der Nähe betrachtet gefallen ihm die Spanier weniger als ihr Land. Sie sind nicht höflich und sprechen zu laut; außerdem entsetzen ihn die amtlichen Schikanen – »Douaniers und Paßscherereien ohne Ende und unglaubliche Chausseegelder, 4 Frcs um 1 Stunde spazieren zu fahren, sonst bliebe ich noch länger hier, anstatt in Biarritz zu baden, wo man ein Kostüm dazu anlegen muß.« [16] Denn er verabscheut Badekostüme; schon vor neun Jahren schrieb er aus Ostende: »Ich mag das nasse Ding nicht auf dem Leibe haben.« [17]
Er kehrt mit der Diligence nach Bayonne zurück: »eingepackt zwischen niedlichen Spanierinnen, mit denen ich kein Wort sprechen konnte. So viel Italienisch verstanden sie aber doch, daß ich ihnen meine Zufriedenheit mit ihrer Außenseite klar machen konnte.« [18]
Endlich am 4. August ist er in Biarritz im Hotel de l'Europe; er wohnt »in einem Eckzimmer mit reizender Aussicht auf die blaue See, die ihren weißen Schaum zwischen wunderlichen Klippen hindurch gegen den Leuchtturm treibt. Ich habe ein schlechtes Gewissen, daß ich so viel Schönes ohne Dich sehe,« [18] berichtet er an seine Frau. Und er kommt auf die Idee zurück, Reinfeld zu erreichen, ohne Berlin zu passieren. Am 7. jedoch ist er noch immer in Biarritz, statt seine Reise fortzusetzen, wie er es angekündigt hatte: »Ich bin noch hier und bade; es bekommt mir so gut, daß ich die Langweile aushielt und meine Abreise von Tage zu Tage aufschob.« [19] Er badet zweimal am Tag, morgens und abends. Morgens an der »Grande Plage«, wo die Wellen zu stark sind, als daß an Schwimmen zu denken wäre; abends in der stillen Bucht am »Port Vieux«, wo man nach Belieben schwimmen kann. Zwischen den beiden Bädern verbringt er den Tag auf einem trockenen Felsen ausgestreckt und betrachtet das Spiel der Brandung unter sich. Der Strand ist voller Spanier und Spanierinnen – »hübschen Kindern der Wildnis mit schlechten Manieren«, die sich in entsetzlich grelle Farben kleiden, »viel Fächer- und Augenspiel ..., wie weibliche Stierfechter«. [19] Für die Abende im Kasino hat er Gesellschaft gefunden: eine protestantische Familie namens Puységur aus Toulouse mit ihrem Verwandtenkreise, einer Mme de Férons, eine Komtesse Blacas und einem M. de La Corrège. In zwei Tagen gedenkt er nach Pau und den Pyrenäen weiterzureisen.
Er ist weit davon entfernt zu ahnen, wie alle seine Pläne sich durch ein Ereignis verändern werden, das er in gleichgültigem Ton am Ende seines Briefes erwähnt: »Heute ist Orloff aus Brüssel angekommen, mit Frau. Ich habe ihn erst einen Augenblick gesprochen, da er reisemüde war. Er bleibt drei Wochen, geht dann nach Italien.
Quellenachweise
1. Briefe an Braut und Gattin S. 427
2. Gedanken und Erinnerungen S. 233
4. Briefe an Braut und Gattin S. 434
5. Ebenda S. 435
6. Gedanken und Erinnerungen S. 239-241
7. Briefe an Braut und Gattin S. 332
8. Ebenda S. 428
9. Ebenda S. 436/437
10. Ebenda S. 437
11. Ebenda S. 438
12. Ebenda S. 439
13. Ebenda S. 441
14. Ebenda S. 442
15. Ebenda S. 443
16. Ebenda S. 444
17. Ebenda S. 319
18. Ebenda S. 445
19. Ebenda S. 346