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Die innere Politik Rußlands und der geistige Tiefstand seines Volkes waren die eigentlichen Ursachen jener, man könnte fast sagen ewigen Hungersnot, die gleich einer unheilbaren, furchtbaren Krankheit dieses Riesenreich zersetzte.
Die allergünstigsten Zeiten des Landes haben es nicht vermocht, von der Landbevölkerung den Hunger abzuwenden.
Erschöpfungstod und Hungertyphus gehen in den Dörfern Rußlands mit dem Alltag Hand in Hand.
Die Primitivität der Landwirtschaft in den meisten Bezirken, wo sich nirgends kulturell geleitete Landgüter befinden, der Eigensinn der Bauern und ihre abergläubische Furcht vor jeder Neuerung in der Handhabung der Landwirtschaft haben von Jahr zu Jahr den Boden geschwächt und die Ernte verringert.
Auch sind weite Strecken Grundbesitz dadurch verödet, daß die Bauern samt Familie die Scholle verließen und in die Fabriksstädte auswanderten.
So zerrissen sich ganze Familien selbst, zerstreuten sich herumirrend über ganz Rußland, verloren jede Beziehung zueinander und begegneten sich oft ihr ganzes Leben lang nicht mehr.
Diese heimatlosen Bauern, denen mit dem Fleck Erde, das ihr Eigen war, jede moralische Basis verloren gegangen, entwickelten sich dann zu Romanhelden im Sinne eines Maxim Gorki, zum demoralisierten, deklassierten Lumpenproletariat.
Die Frauen waren es im besonderen, die rasch dem Untergange verfielen, sie tauchten in Spelunken unter, verfielen den scheußlichsten Krankheiten, die die Straße mit sich bringt, und fanden ihre neue Heimat gewöhnlich in den Häusern, vor deren Türen die rote Laterne brennt.
Verachtet wie Taugenichtse, Verbrecher und Diebe waren diese nach den Gruben und Fabriken ausgewanderten Bauern.
Wollte sich eine kinderreiche Bauernfamilie auf ihrem Grund und Boden erhalten, so mußte wenigstens ein Teil der Familienmitglieder auf gelegentlichen Saisonverdienst nach der Stadt wandern.
Bei diesen Ausgewanderten dauerte es aber oft lange, ehe sie wieder heimwärts kamen, sie sind meist nur mit fallweisen Geldsendungen ihren Familienpflichten nachgekommen und haben im übrigen das Dorf Dorf sein lassen.
Kehrten sie dann endlich wirklich heim, brachten sie Sitten und Gebräuche in das Dorf mit, die der Religion und den Familientraditionen gefährlich und feindlich gegenüberstanden.
Mit diesen Heimkehrern in Stadtkleidern, modernen Hüten, Seidenputz, Ajour- und Florstrümpfen sind auch gleichzeitig allerlei tückische Krankheiten eingezogen, die das Dorf dezimierten, es der Degeneration zuführten und in einen Zustand versetzten, der für die mittleren Gouvernements des europäischen Rußlands heute noch typisch ist.
Will man gerecht sein, so darf man diese ländlichen Vergifter der Dörfer nicht so ohne weiters schuldig sprechen, trifft doch die Hauptschuld an diesen Zuständen den Staat, die Regierung selbst.
Einige Charakteristiken aus dem Leben solch stadtgewanderter Dorfleute vermögen diese Zustände Rußlands am besten zu kennzeichnen.
Eine Gruppe von Dorfleuten kommt auf der Suche nach Verdienst in die große, fremde Stadt, wandert hoffnungsstark von Fabrik zu Fabrik, unter tausend Bücklingen um Arbeit bittend.
Diesen halbverblödeten, armen, steppenwilden Bauernkindern, die da jedem Fabriksportier vor die Füße fallen, sich vor jedem Bild, wenn es nur eingerahmt ist, in Frömmigkeit bekreuzen, wird aber bald ihr Suchen nach Arbeit sauer und hart, sie brechen in verzweifeltes Heulen und Stöhnen aus und stehen ratlos in der großen, fremden Stadt da.
Tag um Tag vergeht, ohne daß ihnen Arbeit wird. Die mitgebrachten Speisevorräte und Spargroschen sind aufgebraucht, Not und Hunger fangen an.
Die Nacht kommt, die sie hungrig und frierend auf der Straße findet.
Feuchtes, frostiges, durchdringendes Herbstwetter treibt in seiner Düsterheit und Hoffnungslosigkeit diese Irrenden wie Nachtfalter zu den erhellten Quartieren glücklichen Reichtums.
Da werden sie in Scharen von der Polizei festgenommen und nach Revidierung der Pässe im Gnadenwege in die Nachtasyle abgeschoben, damit ihr Elend nicht länger die Straßen der reichen Stadt besudle.
Als ich 1908 in Petersburg diese Asyle besuchte, glaubte ich im Fieber zu träumen, denn das, was ich da schauen mußte, war so hoffnungslos und grauenhaft, so abstoßend und verzweifelnd, daß es mir die Besinnung zu nehmen drohte.
Damals habe ich es schon instinktiv gefühlt: hier im Dunkel dieser Nachtasyle, hier in diesen stinkenden Höhlen lauern und warten deine furchtbarsten und schrecklichsten Rächer, Mütterchen Rußland!
Und wie geahnt, so war es. Das Elend der Nachtasyle hat ganz Rußland in Brand und Blut getaucht.
Als ich in einer der am meisten gelesenen Zeitungen und in Monatszeitschriften die Nachtasyle von Petersburg beschrieb, erhob die offizielle Regierungspresse dagegen Einspruch und die Strafen, die man den Blättern auferlegte, welche diese Greuel an den Tag brachten, waren schwere.
An Petersburgs Peripherie, dieser Stadt des Luxus und der Paläste, irgendwo hinter den Gemüsegärten und Friedhöfen der Armen und Selbstmörder ragen wie graue Festungen vielstöckige Häuser empor.
Abgemörtelter Verputz, blinde, fettige Scheiben oder Lumpen in den Fenstern und Ofenröhren, die aus den Fenstern qualmend herausragen, geben den Häusern etwas grauenhaft Trostloses.
Über der Eingangspforte baumelt eine gelbleuchtende Laterne mit der Aufschrift: »Nachtasyl«.
Eine Menge dunkler Gestalten drängt sich zu dieser Pforte, zittert vor Kälte, seufzt oder weint leise vor sich hin.
Endlich wird das Tor geöffnet, das diesen Armen Einlaß gibt, aber nur so vielen, als es die Vorschrift des Asyls erlaubt. Befindet sich einer unter den Obdachlosen, dem es möglich ist, dem Aufseher etwas Kleingeld in die Hand zu drücken, so kommt es vor, daß eine doppelt so große Menge eingelassen wird.
Sind die armen Landleute im Nachtasyl gelandet, so gehen sie mit den anderen durch dunkle, kotbedeckte Höfe, steigen die Eisentreppen herauf und kommen endlich ins Büro, wo die Pässe durchgesehen und die Zimmernummern angewiesen werden. Ein kolossaler halbdunkler Saal mit einer niedrigen Decke, mit einem schmalen Durchgang in der Mitte, wo haufenweise stinkende Fetzen herumliegen, Fetzen, in welche Füße gewickelt waren, bietet den Heimatlosen ein Nachtlager.
An beiden Seiten dieses Durchganges türmen sich fünf Etagen hoch schmutzige, unbedeckte Holzpritschen. Eine heiße, übelriechende, dumpfe Luft herrscht hier, stinkend nach Rauch und Ruß des eisernen Ofens, der kleinen, rauchenden, an der Decke hängenden Petroleumlampe und der Ausdünstung elender und kranker Menschenkörper.
Auf den Holzpritschen liegen Menschen herum, hingeworfen wie unnötige Lumpen oder längst verbrauchtes Gerät, alte und junge, Männer und Frauen, Verbrecher und Tugendhafte, liederliche und ehrliche. Neben einem Jüngling, der sich ans Leben anklammern möchte und noch zum Träumen fähig ist, stirbt ein alter Landstreicher, ohne Hilferuf und ohne Klage sein Ende erwartend, das so dunkel wie das Nachtasyl selbst. In das Ohr eines jungen Landmädchens, fast eines Kindes noch, flüstert ein betrunkener, unsauberer Gassenjunge, groß und stark, mit einem aufgedunsenen Gesicht und roten Haaren, unflätige Worte der Verführung; neben einer still weinenden Frau, die ein Kind in den Armen wiegt, sitzt, lustige Fabrikslieder singend, ein seltsamer Typus, dem Kleide nach ein Mönch, dem Tun und Reden nach ein alter Stammgast der Gefängnisse ... und in der Nacht ... da geschehen hier schändliche, fürchterliche, düstere Dinge, die Seele und Körper mit Fäulnis zersetzen, das Hirn mit Verzweiflung füllen und das Herz mit Haß durchtränken.
Immer während der Nacht dringt hier die Untersuchungspolizei ein, revidiert und bescheinigt die Dokumente, schlägt hie und da einen oder schleppt einen anderen ins Gefängnis, jagt allen Schrecken ein, ermüdet die Müden noch mehr. So ist es Nacht um Nacht. Wochen und Monate vergehen, bis der Zeitpunkt kommt, wo endlich die ländlichen Arbeitslosen, welche im Nachtasyl manches gelernt, einem Arbeitsvermittler für schwere Arbeiten in die Hände fallen. Sie sind mit der Stadt nun schon ziemlich bekannt, wissen rasch und dreist zu antworten, vermögen geradeaus in die Augen zu schauen, verbeugen sich nicht mehr bis zur Erde vor einem Heiligenbild und tragen in ihrem Antlitze die Spuren von Haß und kalter Resignation.
Fabrik und Gefängnis ist ihr neues Leben. Manchmal gelingt einem die Rückkehr aufs Land, wohin er dann die Sitten und Krankheiten der großen Stadt mitbringt.
Die Bauern, die nach der Stadt gezogen, beschäftigen sich am liebsten mit der Ladung der Barken und Schiffe, da es bei dieser Arbeit das Notwendigste für den Tagesbedarf zu verdienen gibt. Nach dieser Arbeit sehnt sich jeder, der lange Tage und Wochen beim Arbeitsuchen umherirrend, die Straßen der fremden Stadt bei Hunger und Kälte durchwandert und die Nächte im Asyl verbracht hat. Der Mensch wird zum gewöhnlichen Lasttier, Pferd und Maulesel.
Männer und Frauen, zu einem starken, rührig beweglichen Arbeitshaufen zusammengedrängt, verrichten bei Hitze und Kälte, im körperlichen und moralischen Schmutze erstickend, ihre Tagfron.
Kein Gesetz kümmert sich um diese gelegentlichen Arbeiterhaufen, die ja morgen vielleicht nicht mehr da sein werden. Was für ein Kaleidoskop von Typen, was für ein Chaos der Gedanken und Gefühle in solch einem Elendshaufen!
Da ist ein junges Bauernmädchen neben einem entlaufenen Mörder aus dem Kriminalgefängnis, da steht ein Überläufer aus dem Kloster, halb Mönch, halb Landstreicher neben einem gewesenen Regierungsbeamten, der durch den Alkohol auf den Hund gekommen; ein Tatare neben einem Finnen, ein Kalmücke-Buddhist neben einem Anhänger des alten orthodoxen Glaubens, der typische, bis ins Knochenmark verderbte Straßenjunge aus der Großstadt neben einem schreibunkundigen jungen Bauern, der noch von den Seen und Wäldern seines weitabliegenden Heimatdorfes träumt.
Alle laden sie Kohle, Brennholz, Bretter, Balken, Wassermelonen, Obst, Fässer mit Heringen und Butter auf die Barken. Hier an diesem Orte ist alles erlaubt, der Diebstahl ausgenommen, und nur dieser wird scharf und strenge bestraft. Der ganze arbeitende Menschenhaufen muß ohne Rast stets in Bewegung sein und nur um die Mittagszeit wird die Arbeit unterbrochen, damit die Leute eine kurze Stunde essen und sich ausruhen können. Hier wirken sich die verschiedensten Charaktere aus, jeder verderblich in seiner Art. Hier wird die ursprünglichste Moral zur abscheulichsten Ausschweifung und in der Raststunde brüten die Schiffbrüchigen des Lebens, diese Zukunftsbewohner der Gefängnisse und diese Anwärter auf Sibiriens Kolonien ihre finsteren Verbrechen aus.
Die Ladung der Barken und Schiffe findet im Sommer statt. Hunderte und Tausende von Männern, Frauen und Kindern bereiten sich am Ufer des Meeres ein Lager, lassen sich an einem Fluß nieder oder liegen in Waldgebüschen in tierischer Gemeinschaft. So verfällt allmählich jede Zurückhaltung und Scham, die instinktive Achtung vor dem Weibe verschwindet und macht einer düsteren, grenzenlosen Verachtung von Mensch zu Mensch Raum. Vor solchem Hintergrunde spielt sich manches Drama ab und dieses hoffnungslose Märtyrerleben schleppt sich von Tag zu Tag mühevoll weiter, ohne Morgen, ohne Zukunft, ohne Hoffnung.