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Ankunft in Havanna – Leben und Treiben der Havannesen – Nachtabenteuer – Ich finde einen Reisekamerad – Aus den Werkstätten der Importe – Nach Santiago de Cuba – Der Weltmeisterschafts-Melonenesser – Don Alberto erzählt von Haïti und Santo Domingo
»Kommen Sie schnell auf Deck, Sir! Havanna ist in Sicht!«
Der Steward rief es in meine Kabine hinein, in der ich soeben eine dumpfe, schwüle, durch hoffnungslose Kämpfe mit allerlei unangenehmen Insekten ausgefüllte Nacht hinter mir hatte. Rasch schlüpfte ich in die Pantoffeln und sprang im Pyjama, dem leichten flanellenen Schlafanzug, die Treppe hinauf zur Backbordreling des Dampfers. So viele Küsten mein kleines Lebensschiff auf seinen Fahrten auch schon berührt hat, immer packt mich die Annäherung an ein neues Ziel mit unwiderstehlicher Gewalt, immer ist es dasselbe starke Gefühl der Spannung und der Erwartung neuer Eindrücke, neuer Erlebnisse – wahrscheinlich auch neuer Enttäuschungen ... Soeben erst war der Sonnenball aus dem Meere aufgetaucht, noch wogte wallender Dunst über den Wassern, und angenehm frisch wehte der Morgenwind um den benommenen Kopf. Meine Blicke folgten der nach Süden weisenden Hand des Stewards. Richtig, dort hinter den Nebelschleiern, die das Sonnenlicht jetzt in Fetzen zerriß, war in weiter Ferne am Horizont ein Leuchtturm erkennbar, daneben der schimmernde Streifen einer hellen, von Kirchenkuppeln überragten, flachen Häusermasse. In diesem Augenblick ertönte von der Kommandobrücke her ein Klingelsignal, und gleich darauf wendete sich das Schiff, seinen Lauf verlangsamend, der kubanischen Küste zu.
Vorsichtig in dem schwierigen Fahrwasser manövrierend, näherte sich das Schiff, von dem an Bord gekommenen kubanischen Lotsen geführt, der Hauptstadt der größten Antilleninsel, immer schärfer hoben sich in der klaren Morgenluft Havannas Türme und Kuppeln vom blaßblauen Himmel ab. Kleine Fischerboote mit luftigen bunten Segeln belebten die Flut, die in einer so idyllischen Ruhe sich dehnte, als ob die furchtbaren Stürme des Antillenmeeres sie niemals aufgewühlt hätten.
Die Einfahrt in den vorzüglichen, tief ins Land einschneidenden Naturhafen von Havanna gehört zu den fesselndsten Schauspielen auf dem Erdenrund. Den engen Eingang zum Hafen beschirmt das auf steilem Felsen liegende Castillo del Morro, das mit seinem grauen Gemäuer aus ältesten Spanierzeiten stammt und sich manchem Seeräuberangriff der Bukanier, nicht immer mit Erfolg, widersetzt hat. An das Morrokastell schließen sich die umfangreichen Festungsanlagen des Castillo de la Cabaña an, und ihnen gegenüber auf der anderen Seite des Hafeneingangs dehnt sich auf einer flachen Halbinsel zwischen dem Meer und dem geräumigen Hafenbecken mit seinen vielen, weit ins Land eindringenden Buchten Havanna aus, eine gewaltige, weiß und farbig leuchtende Häusermasse. Wie in den Städten des Orients haben die ziemlich niedrigen, meistens nur ein- oder zweistöckigen Häuser keine hohen Dächer, sondern sind ganz flach gedeckt, so daß die mit Balustraden versehenen Dächer abends nach Sonnenuntergang einen angenehmen Aufenthalt gewähren.
Unser Dampfer fuhr mitten ins Hafenbecken hinein und ging in einiger Entfernung vom Zollhaus vor Anker. Verwirrend bunt ist das Bild, das sich dem Ankömmling beim Betreten kubanischer Erde darbietet, verwirrend geräuschvoll der Empfang, wie immer in südlichen Häfen. Eine dichtgedrängte Menschenmenge hält den Kai beim Zollhaus besetzt, Geschäftige und Nichtstuer, Weiße, Braune und Schwarze. Ein Rudel zerlumpter Burschen balgt sich um die Ehre, das Gepäck des Reisenden tragen zu dürfen, und kaum ist ihr Ansturm abgeschlagen und eine Wahl getroffen worden, da sieht man sich wiederum von anderen zweifelhaften Gestalten umringt, die, in allen möglichen Sprachen der Erde kauderwelschend, lebende und tote, nützliche und unnütze Dinge zum Kauf anbieten: Zigarren und krächzende Kakadus, fein geflochtene Panamahüte und verängstigte kleine Äffchen, seltsam geformte Muscheln, Korallen und anderes mehr. Man hat nicht eher Ruhe, als bis ein stämmiger Polizist, der nicht viel Federlesens macht, ein paar von den ärgsten Schreiern mit drohend erhobenem Gummiknüttel unsanft beiseite schiebt.
Havanna ist regelmäßig und etwas eintönig gebaut, fast alle Straßen schneiden sich im rechten Winkel. Im allgemeinen macht Havanna den Eindruck einer modernen Stadt; nur einige Kirchen, darunter jene, in der die sterblichen Reste von Christoph Kolumbus beigesetzt waren – sie wurden später nach Spanien überführt und befinden sich jetzt in der Kathedrale von Sevilla –, erinnern an die ältesten Zeiten der Stadt und an die spanischen Eroberer. Auf den Wällen der alten spanischen Festungswerke, deren vom Seewind zernagte Mauern im Laufe der Jahrhunderte so viele Gewalttaten und Greuel gesehen haben, exerziert das Militär, schlanke geschmeidige Leute in Khakiuniform. Es ist noch nicht lange her, da war Havanna ein verwahrlostes, berüchtigtes Fiebernest, in dem es kein weißer Kolonist länger als ein paar Jahre aushielt. Fremdes Unternehmertum hat da mit seiner Energie im Laufe des letzten Halbjahrhunderts vollkommen Wandel geschaffen. Heute ist Havanna die gesündeste Großstadt Mittelamerikas und mit 300 000 Einwohnern der größte Handelsplatz Westindiens, die glänzende Hauptstadt der »Perle der Antillen«, wie die Kubaner ihre Insel zu nennen lieben. Schöne Geschäftshäuser und Paläste sind an die Stelle der ungesunden alten Baracken getreten, breite Promenadenstraßen und Parkanlagen säumen die enge Altstadt ein.
Trotz des nordamerikanischen Einschlags, der sich im Geschäftsleben Havannas immer stärker bemerkbar macht, bleiben die Havannesen ihren altspanischen Gewohnheiten treu und wollen deshalb auch von der Behauptung, daß die Morgenstunde Gold im Munde habe, nichts wissen. Die Sonne steht immer schon recht hoch am Himmel, wenn es sich in den Straßen endlich zu regen beginnt, die Geschäftsinhaber ihre Läden öffnen, die Kaufleute sich in ihre Kontore begeben. Man überanstrengt sich hier nicht gern, und deshalb sind die zahlreichen Kaffeehäuser und Refresco-Lokale voll besetzt. »Refresco« heißen die mannigfachen, mit Eis gekühlten Erfrischungsgetränke, hauptsächlich aus frischen Früchten bereitet, die das Land in üppiger Fülle bietet. Der beliebteste Trank ist der Azucarillo, bei dessen Herstellung Zucker und Eiweiß die Hauptrolle spielen, vortrefflich mundet auch die aus Orangen- und Zitronensaft gemischte eiskalte Naranjada oder eine Orchata (Mandelmilch) oder eine durch den Strohhalm geschlürfte Pinja fria (Ananaslimonade). Die kubanische Ananas ist von hervorragendem Wohlgeschmack und in guten Erntejahren so billig, daß eine ganze Frucht nur ein paar Cent kostet. Sonst gehört aber Havanna zu den teuersten Städten der Welt, sogar die Zigarren sind in diesem klassischen Tabaklande recht teuer.
Zum vollen Genuß des Lebens rafft sich Havanna erst am späten Nachmittag auf, wenn die Geschäftskontore geschlossen werden und eine kühle Brise vom Meere her die Sonnenglut dämpft. Dann beginnt sich am Malecon, der herrlichen Strandpromenade, ein buntes Treiben zu entfalten. Hier werden unter freiem Himmel Konzerte veranstaltet, und zu den Klängen der Musik, zum Rauschen der den Kai bespülenden blauen Wellen wogt »ganz Havanna« plaudernd und lachend auf und ab und atmet die frische, würzige Seeluft ein. Auf dem Prado aber, der breiten Prachtstraße, die sich vom Malecon in die Stadt hinein erstreckt und an der die Regierungsgebäude, die Klubhäuser, die Paläste der Tabak- und Zuckerbarone liegen, findet der tägliche Korso statt, die Auffahrt der Equipagen und Luxusautomobile der Reichen, deren Damen hierbei ihre kostbaren Toiletten zur Schau stellen. Bis in die späte Nacht dauert das sorglose Treiben. Wer möchte auch schlafen gehen, wenn es im Kolumbuspark so wundervoll kühl durch die Palmen- und Cibawipfel streicht, wenn es überall tönt von ernsten und heiteren Weisen und der Sternenhimmel des Südens sein magisch funkelndes Zelt über Stadt und Meer ausbreitet?
In der Bevölkerung Havannas sind die Kreolen der wichtigste Bestandteil. Unter Kreolen versteht man eigentlich die reinblütigen Abkömmlinge der vor langen Zeiten eingewanderten Europäer, besonders der Spanier. Das hier angewandte »eigentlich« will besagen, daß es mit der Reinblütigkeit vieler kubanischen Kreolen nicht weit her ist, denn es hat in den unteren Volksklassen im Laufe der Jahrhunderte so manche Blutvermischung mit Farbigen stattgefunden. Immerhin wäre es nicht ratsam, das einem Kubaner ins Gesicht zu sagen; er ist in diesem Punkte sehr empfindlich, wie er denn überhaupt ein ausgeprägtes Selbstgefühl hat und besonders dem neu zugewanderten Spanier, aber auch dem Nordamerikaner ziemlich feindselig gegenübersteht. Die Gesichtsfarbe des Kubaners hat einen Stich ins Bräunliche. Von den etwa anderthalb Millionen Einwohnern Kubas sind rund ein Drittel Neger (Morenos) oder Mulatten (Pardos). Die Sklaverei wurde in Kuba 1880 abgeschafft, aber bis 1892 befanden sich die Schwarzen noch immer in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Brotherren. Landessprache ist Spanisch, jedoch wird im Geschäftsleben auch das Englische viel gebraucht. Kuba gehörte bis 1898, unter heftigem Widerstreben, den Spaniern, stand dann ein paar Jahre unter nordamerikanischer Militärverwaltung und ist seit 1902 Republik, die sich aber in starker Abhängigkeit von Nordamerika befindet.
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Die Lebensführung in Kuba ist, wie überall in den heißen Ländern, im Vergleich zu Europa ziemlich einfach und bescheiden. Der Tag beginnt nach spanischer Sitte mit dem Desayuno, dem ersten Frühstück, das gewöhnlich erst nach der Frühmesse eingenommen wird und meist aus Schokolade und Gebäck besteht. Um die Mittagszeit wird das Almuerzo eingenommen, bei dem die vegetarischen Speisen überwiegen. Die Hauptmahlzeit, die Comida, findet gegen Abend statt. Zu den beliebtesten Nationalgerichten gehören starkgewürzte Ragouts, Haschees, Mais- und Reisspeisen, neben denen gebackene Bananen, süße Kartoffeln, Kürbisse aller Art und viele andere Gemüse des an ihnen so reichen Landes zur Verwendung kommen. Das beliebteste Getränk ist ein Refresco der bereits geschilderten Art.
Ich hatte meine Comida im Hotel hinter mir und ließ mich in der Dunkelheit auf dem Prado gemächlich vom Strudel der promenierenden Volksmasse treiben, bis ich in den Zentralpark gelangt war, wo ein vortreffliches Orchester seine brausenden und schmelzenden Klänge zum besten gab. Vom Zentralpark gelangte ich dann, wiederum sozusagen willenlos, nur von der Flut der Menschenmenge getragen, in die an den Hafen grenzenden Viertel der Stadt. Hier ebbte der Verkehr allmählich ab, und als ich, in Gedanken verloren, noch ein paar Straßen weit gegangen war, fiel es mir plötzlich ein, daß ich die Orientierung ganz verloren hatte und gar nicht wußte, wo ich mich befand und welchen Weg ich einschlagen mußte, um nach meinem Hotel zurückzugelangen.
Es war eine ärmliche, schlecht beleuchtete, anscheinend von den untersten Volksklassen bewohnte Gasse, in der ich mich nach längerem Umherirren schließlich befand. Ein Polizist, der mir Auskunft hätte geben können, war nicht zu sehen, nur ein paar angetrunkene Seeleute schwankten dahin. Nach ein paar Minuten weiteren Wanderns schlugen die abgerissenen Klänge wilder Musik an mein Ohr, und ihnen nachgehend kam ich zu einem Haus, hinter dessen erleuchteten, aber verhüllten Fenstern es recht lustig herzugehen schien, denn außer der lärmenden Musik schallte das Stampfen und Schurren von Tänzern, das Lachen und laute Sprechen der Gäste auf die Straße hinaus.
Jedenfalls ein Vergnügungslokal untergeordneter Art. Nach einigem Zaudern öffnete ich die Tür und trat ein.
Die Augen mußten sich erst an den dichten, beißenden Qualm der Tabakswolken gewöhnen, bis es gelang, Einzelheiten zu unterscheiden. Es war ein niedriger Saal, dessen eine Schmalseite von dem Schenktisch ausgefüllt wurde, während sich an der anderen, gegenüberliegenden Seite auf einer Estrade die Musikkapelle befand. Sie bestand aus einem halben Dutzend Neger, die mit bestem Erfolg bemüht waren, soviel ohrenbetäubenden Lärm wie nur möglich zu machen. Dazu bedienten sie sich hauptsächlich eines eigenartigen Instruments der kubanischen Volksmusik, des Güiro. Dieses besteht aus einem seltsam geformten Flaschenkürbis, der mit Einschnitten versehen ist, die, durch Klappen verschließbar, die Erzeugung sehr merkwürdiger, weithin hörbarer dumpfer Töne gestatten. Zum Güiro gesellten sich noch ein paar andere Instrumente, die ihre Aufgabe, rasselnde, schrille, heulende Töne von sich zu geben, in geradezu mustergültiger Weise lösten. Kurz und gut, es war die richtige »Jazz-Musik«, wie der Neger sie liebt.
Die Gäste des Lokals setzten sich aus Seeleuten, Negern, Mulatten und zweifelhaften Kreolen zusammen, alle schienen mehr oder minder stark berauscht zu sein. Einige hatten sich untergefaßt und drehten sich stampfend im Tanz, andere saßen an kleinen Tischen, teils Karten spielend, teils in überlaute Gespräche und Zänkereien vertieft. Bei meinem Eintritt musterten mich lauernde, spöttische Blicke, als ich mich aber dem Schenktisch zuwandte und einen Whisky forderte, wurde nicht weiter Notiz von mir genommen.
Der Wirt, eine Sancho-Pansa-Gestalt, dick und mit kupferfarbigem Gesicht, begrüßte mich mit einem vertraulichen Grinsen und sagte: »Der Salon für Caballeros ist oben. Möchte sich der Caballero hinaufbemühen?« Seine wurstähnlichen Finger deuteten auf eine neben dem Schenktisch befindliche Wendeltreppe.
Als ich die Treppe erklommen hatte, befand ich mich in dem sogenannten Salon, dem man mit Hilfe einiger von Motten zerfressener Plüschsessel den Anstrich schäbiger Eleganz verliehen hatte. In der Mitte unter der Hängelampe stand ein runder Tisch, und um diesen saßen fünf oder sechs »Caballeros«, eifrig in ein Würfelspiel vertieft und jeder ein Häufchen silberner Pesos vor sich. Also, wie ich schon halb und halb erwartet hatte, ein Salon für verbotenes Glücksspiel. Einer der Spieler, offenbar der Bankhalter, lud mich mit einer Handbewegung ein, am runden Tisch Platz zu nehmen, und rückte mir einen Stuhl hin, aber ich dankte und ließ mich in einer Ecke des Zimmers nieder. Als ich den Whisky ausgetrunken hatte und das wenig einladende Lokal wieder verlassen wollte, entstand an dem Tische ein Streit, der mich veranlaßte, noch ein paar Sekunden zu verweilen und die Spieler näher ins Auge zu fassen. Dabei bemerkte ich, daß einer von ihnen, ein anständig gekleideter junger Mann, seinem ganzen Aussehen nach sowie nach der Aussprache des Spanischen und Englischen – die Unterhaltung wurde in einem Gemisch beider Sprachen geführt – anscheinend ein Landsmann war. Es kam mir auch so vor, als ob ich ihn bereits in meinem Hotel flüchtig gesehen hätte. Wie aus dem rasch lebhafter und leidenschaftlicher werdenden Streit hervorging, sollte er einen größeren, angeblich verlorenen Betrag erlegen.
Auf gut Glück sagte ich, als ich aufstand: »Kommen Sie lieber mit, die Sache wird unangenehm.« Meine Vermutung war richtig gewesen, denn der Angeredete erwiderte, ebenfalls auf Deutsch: »Sie haben recht, ich bin hier unter die Gauner geraten.« Und er erhob sich, um sich anzuschließen. Nun wurde die Situation aber wirklich recht unangenehm. Die Spieler, die offenbar unter der Decke Hand in Hand arbeiteten, umringten uns beide schreiend und fluchend und machten Miene, den Ausgang zur Treppe zu versperren; zu gleicher Zeit drangen von unten, angelockt durch den Lärm, ein paar verdächtige Gestalten herauf, die keineswegs die Absicht zu haben schienen, sich auf unsere Seite zu stellen. Die Musik war verstummt.
Wer weiß, welchen Ausgang die Sache für meinen Landsmann und vielleicht auch für mich genommen hätte, wenn nicht bald darauf der Wirt, durch die Leute auf der Treppe gedrängt, mit einer Flut von Verwünschungen, wie nur die spanische Sprache sie kennt, Ruhe geboten und uns einen Weg hinab zum unteren Schankraum gebahnt hätte. Als wir dort anlangten, sahen wir, daß das Dazwischentreten des Wirtes seine gute Ursache hatte: eine Patrouille von fünf Polizisten war in das Lokal gekommen, um nach dem Rechten zu sehen und Feierabend zu gebieten.
»Aber wie können Sie sich in solches Abenteuer einlassen und in einer Spielhölle spielen,« sagte ich zu dem Landsmann, als wir glücklich draußen auf der Straße standen und in der von den Polizisten gewiesenen Richtung nach dem Stadtzentrum gingen.
»Nur aus Neugierde,« erwiderte er. »Ganz zufällig bin ich in diese Straße und in das Lokal geraten, und da hat man mir so freundlich zugeredet, doch auch am Würfelspiel teilzunehmen, daß ich es schließlich tat, gewissermaßen der Wissenschaft halber.« Und lachend fügte er hinzu: »Meine Strafe für den Leichtsinn habe ich ja schon weg, mindestens fünfzig Pesos habe ich verloren, und ohne Ihr Dazwischentreten wäre es wohl noch mehr geworden.«
Während wir uns nach unserem Hotel begaben, erfuhr ich im Laufe der Unterhaltung, daß mein Landsmann ebenfalls erst seit einigen Tagen in Havanna war und sich auf der Reise nach Trinidad befand, wo er bei seinem dort als Plantagenbesitzer ansässigen Onkel eine Stellung antreten sollte.
»Ich besichtige übrigens morgen,« sagte er beim Abschied, »die weltberühmte Zigarrenmanufaktur von U. Es ist, wie Sie wohl wissen, ein deutsches Haus. Einer der Geschäftsführer, den ich heute kennengelernt habe, wird mir die Anlagen zeigen. Haben Sie nicht Lust mitzukommen?«
Freilich hatte ich Lust, und so geschah es, daß ich am nächsten Vormittag mit Herrn Martini – unter diesem Namen sei mein Landsmann hier eingeführt – in einem der leichten havannesischen Wägelchen nach der Vorstadt hinausfuhr, in der sich die Faktorei der Firma U. befand.
Selbst der begeistertste Nichtraucher kann sich in Kuba dem Dunstkreise des allgegenwärtigen Nikotins nicht entziehen; wo er auch gehen und stehen mag, umspielt ihn würziger Tabaksduft. Seit jenem Tage, als die Begleiter des Kolumbus nach seiner Landung in Kuba ihm staunend erzählten, sie hätten Eingeborene mit rauchenden Feuerrollen im Munde gesehen, läßt der echte Kubaner den »Tabaco« (Zigarre) oder »Cigarro« (Zigarette) nur beim Schlafen ausgehen, denn die spanischen Eroberer machten sich das neue Genußmittel, das ihnen anfangs unbegreiflich erschien, schnell zu eigen. Der Kubaner raucht bei der Arbeit, raucht in den Mußestunden, raucht zwischen den einzelnen Gängen seiner Mahlzeit. Und als früher unter spanischem Regiment noch die Garotte, das furchtbare Würgeisen, ihres traurigen Amtes waltete, schob der Henker dem Todeskandidaten kurz vor der Hinrichtung eine brennende Zigarette in den Mund – die letzte Freundlichkeit auf dieser Welt ... An allen Ecken und Enden der Städte Kubas sieht man Zigarrenhändler, nicht in prunkenden Läden, sondern in kleinen Verschlägen und an frei auf der Straße stehenden Tischen. Allerdings raucht der Kubaner heute hauptsächlich Zigaretten, die aus dem Abfalltabak der Zigarrenfabrikation hergestellt werden.
Die Faktorei der Firma U. ist ein stattliches weißes Gebäude von den großzügigen edlen Formen, die für die Architektur Havannas bezeichnend sind. Der Geschäftsführer, wie alle höheren Angestellten des Hauses ein Deutscher, empfing uns hier freundlich und begann sogleich mit der Führung.
Die Faktorei verarbeitet nur den vorzüglichsten Tabak, der in der Landschaft Vuelta Abajo im Westen der Insel gedeiht. Durchdringender Tabakdunst schlug uns entgegen, als wir zuerst die Trockenräume betraten, wo die von den Pflanzungen eingebrachten frischen Blätter einem Gärungsprozeß unterzogen werden. Hier hängen die Tabakblätter, zu kleinen Bündeln gepackt, monatelang auf Lattengerüsten, bis sich in ihnen das nötige Aroma, der eigentümliche Tabakgeruch, entwickelt hat. Im Hofe der Faktorei sind um ein großes Wasserbecken herum junge Burschen damit beschäftigt, die fertig gegorenen Blätter anzufeuchten und auszuschwenken. Nach abermaligem Trocknen ist der Rohtabak zur Verarbeitung reif. Diese beginnt in einem Saal, wo ein paar Dutzend Frauen und Mädchen die dicken Mittelrippen aus den Blättern ziehen und die beiden Blatthälften sorgfältig übereinander schichten und pressen.
Wir äußerten unsere Verwunderung über die große Stille, die im ganzen Gebäude herrschte, nicht das geringste Maschinengeräusch war hörbar.
»Ja, das Wort Manufaktur ist hier im wörtlichsten Sinn zu verstehen,« sagte unser Führer. »Bei uns gibt es nur Handarbeit, im Gegensatz zur Maschinenarbeit der europäischen Zigarrenfabriken. Jede einzelne unserer Zigarren ist ein mit größter Sorgfalt hergestelltes kleines Kunstwerk, wie Sie sogleich im Wicklersaal sehen werden.«
Wir betraten den großen Saal, in welchem etwa zweihundert »Tabaqueros« wie in einer riesigen Schulklasse reihenweise an Tischen saßen. Trotz der drückenden Hitze hatten fast alle Leute den Hut auf dem Kopf, und die meisten rauchten. Zu unserer Überraschung vernahmen wir in dem sonst völlig stillen Saal ein lautes, schauspielerhaftes Deklamieren und entdeckten auch alsbald den Urheber dieses Ohrenschmauses in einem Mann, der auf einem erhöhten Stuhl in der Mitte des Saales saß und, den Kopf bald hierhin, bald dorthin wendend, mit schallender Stimme aus einem Buche las.
»Eine Spezialität der Havannafaktoreien,« sagte der Geschäftsführer leise. »Die Tabaqueros halten sich auf gemeinschaftliche Kosten einen Vorleser. Der Mann wird gut bezahlt und liest ihnen morgens bei der Arbeit die Zeitungen, später Bücher unterhaltenden und belehrenden Inhalts vor.«
»Aber lenkt das die Leute nicht von der Arbeit ab?«
»Im Gegenteil, sie verrichten ihr Tagewerk um so besser, je mehr die Vorlesung sie fesselt. Sehen Sie sich nun einmal an, wie ein Tabaquero seine Zigarren dreht. Dieser Mann hier – der Sprecher deutete auf einen in der Nähe sitzenden Arbeiter – verfertigt nur ganz feine Zigarren, die von den Kennern mit Liebhaberpreisen bezahlt werden.«
Wie sahen, wie die braune Hand des Kubaners aus dem vor ihm liegenden Haufen Tabakblätter die Einlage packte, genau soviel, wie er für die zu wickelnde Zigarre brauchte, wie er sie dann zwischen den wunderbar geschickten Fingern zupfte, drehte und rollte, ihr die nötige Stärke und Länge gab und sie weiterhin sorgfältig mit dem zarten, seidenglänzenden Deckblatt, der Hälfte eines ganzen Tabakblattes, umwickelte. Das sah alles sehr einfach aus, aber es gehörte doch eine jahrelange Schulung der Hand und des Auges dazu, denn die Zigarren mußten in bezug auf Festigkeit und Gestalt ganz gleichmäßig ausfallen. Den hohen Anforderungen entsprechend, die an sie gestellt werden, erhalten diese Qualitätsarbeiter sehr hohe Löhne.
Auf unserem Rundgang durch die anderen Säle sahen wir, wie der »Selector«, der Prüfer, die fertigen Zigarren daraufhin prüfte, ob sie keine Fehler aufwiesen, und wie die als tadellos befundenen Erzeugnisse dann in Kistchen verpackt wurden, um in die weite Welt hinauszuwandern. Schließlich warfen wir noch einen Blick in die großen Lagerräume, in denen Ballen von Rohtabak im Werte von mehreren hunderttausend Mark der Verschiffung ins Ausland harrten, und dann traten wir aus der von betäubenden Nikotindünsten erfüllten Faktorei wieder in den blendenden Sonnenglanz und die heiße Luft Havannas hinaus.
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Da meinen Landsmann und mich ungefähr dieselbe, in Schlängellinien gewundene Reiseroute nach Trinidad führen sollte, und wir uns gut zu verstehen schienen, war es sehr natürlich, daß wir uns zu gemeinsamer Fahrt zusammenschlossen. Wir wollten zunächst dem Osten Kubas, dem landschaftlich schönsten Teil der Insel, einen Besuch abstatten und dann von Santiago nach Jamaika hinübersetzen.
Die »Perle der Antillen«, so nennt, wie schon erwähnt, der Kubaner, der von den Spaniern außer vielen anderen Eigenschaften auch die Freude an großartig klingenden Bezeichnungen übernommen hat, seine Insel gern. Sein Hang zur wortreichen Prahlerei macht sich auf Schritt und Tritt in höchst ergötzlicher Weise bemerkbar. Es gibt hier keinen noch so unbedeutenden Kramladen, der sich nicht auf dem Schild mit einer größenwahnsinnigen Firma, wie etwa »Zum Mittelpunkt der Welt« spreizen würde, keine elende Vorstadtkneipe, die sich nicht als »Rendezvous der feinen Gesellschaft« ausgäbe, und daß jeder Stiefelputzer ein Caballero, jede Stallmagd eine Doña ist, versteht sich in diesem Lande einer tropisch überschwenglichen Phantasie von selbst. Aber wir wollen den Kreolen ihre »Perle der Antillen« nicht bemäkeln, denn als die größte, wertvollste und zukunftreichste Insel Westindiens hat Kuba in der Tat allen Anspruch auf das schmückende Beiwort.
Vierundzwanzig Stunden braucht der Expreßzug, um die langgestreckte Insel von Havanna im Nordwesten bis Santiago de Cuba, dem bedeutendsten Platz an der Südostküste, zurückzulegen. Gut eingerichtete Salon- und Schlafwagen machen die Fahrt nach Möglichkeit erträglich, obwohl sie bei der sengenden Glut, die auch des Nachts nur geringe Linderung erfährt, immerhin noch hohe Ansprüche an die Widerstandskraft des Nordländers stellt. Nicht überall ist die Reise interessant, stundenlang fährt der Zug durch das ewige Einerlei der Zuckerrohr-, Kaffee- und Kokospalmenplantagen, über die Grasflächen der noch brachliegenden Savannen, aber das bunte Volksleben an den Stationen und kurze Unterbrechungen der Fahrt in den zwei sehenswertesten Provinzstädten, Matanzas und Camaguey, entschädigen reichlich für Hitze und Staub. Die Seestadt Matanzas an der Nordküste ist der Ausgangspunkt zum Besuch des durch seine wundervollen Königspalmen bekannten Yumuritals sowie der Kalksinterhöhlen von Bellamar mit ihren abenteuerlichen Tropfsteingebilden. Ziemlich genau im Mittelpunkt Kubas liegt die lebhafte Provinzstadt Camaguey. Die natürliche Fruchtbarkeit des Bodens ringsum ist erstaunlich, es gibt keine Nutzpflanze der tropischen und subtropischen Flora, die hier nicht gedeiht. Weniger üppig ist es mit der Tierwelt bestellt, ein Jägerparadies ist die Insel nicht. Große, reißende Tiere gibt es nicht, dagegen desto mehr Insekten von teilweise recht unangenehmer Art, wie z. B. Kakerlaken von Handtellergröße, welche die liebenswürdige Gewohnheit haben, sich nachts von der Decke auf den Schläfer herabfallen zu lassen, ferner Alligatoren, Iguane und die trotz ihrem erschreckenden Aussehen harmlose Riesenschlange Boa constrictor. Unter den verwahrlosten, feigen Straßenhunden, die sich in kleineren Städten rudelweise herumtreiben, fällt eine sonderbare, völlig haarlose Rasse von Rattenfängergröße auf. Camaguey darf sich eines komfortablen Hotels rühmen, eines der wenigen wirklich modernen, dafür sehr teuren Gasthäuser Kubas. Das Herbergswesen läßt auf der »Perle der Antillen« noch viel zu wünschen übrig, obwohl sich natürlich jedes kleine Fremdenheim großspurig als »Hotel allerersten Ranges« bezeichnet. Diese Unterkunftsstätten ähneln in ihren dürftigen Darbietungen dem Betriebe der kleinen spanischen Fondas, besonders auch was die Küche betrifft, die gleich der spanischen eine leidenschaftliche Vorliebe für Knoblauch bekundet. Das Reisen im Innern Kubas wäre kaum möglich ohne die Gastfreundschaft, die zu den schönsten Eigenschaften des Kubaners gehört. Schon in Kleinigkeiten äußert sich dieser sympathische Zug. Mir ist es beim Streifen durch die Straßen Santiagos und anderer Orte wiederholt passiert, daß, wenn ich vor einem Hause haltmachte, um den Schweiß abzutrocknen und ein paar Minuten im Schatten des Daches zu verweilen, irgendein Hausbewohner, der mich vom Fenster aus sah, mir einen Stuhl zum Ausruhen herausbrachte oder freundlich zum Eintritt ins Haus aufforderte. Was für Augen würde man machen, wenn einem das in Deutschland geschähe! Hier gilt es für selbstverständlich. Auf Reisen im Innern findet man auch in der ärmlichsten Hütte freundliche Aufnahme. Aber auch die besser gestellten Bauern, Viehzüchter und vollends die großen Plantagenbesitzer gewähren gern dem reisenden Fremden Unterkunft und suchen ihm den Aufenthalt in ihrem Heim angenehm zu machen.
Seine stärksten landschaftlichen Reize entfaltet Kuba im Südosten, in der Provinz Santiago de Cuba mit der gleichnamigen Hauptstadt. Hier erhebt sich die schroff ins Karibische Meer abstürzende Sierra Maestra bis zur Höhe von 2560 Metern. In dem zum Teil noch kaum erforschten wilden Gebirge soll noch ein kleiner Rest der indianischen Urbevölkerung leben, die von den spanischen Eroberern zur Zeit des Kolumbus und seiner Nachfolger wie wilde Tiere gejagt und haufenweise zur Strecke gebracht worden waren.
Im Gegensatz zu dem schon allzu modernen Havanna überrascht Santiago de Cuba den Besucher durch die tropische Urwüchsigkeit seines Stadtbildes und des ganzen Lebens. Zählt man die schönsten Landschaften der Welt auf, so darf die Bucht von Santiago nicht fehlen. Schmal wie ein norwegischer Fjord, reicht sie zwölf Kilometer tief ins Land hinein; der von einem altspanischen Kastell beherrschte Eingang ist so eng und unauffällig, daß das unkundige Auge ihn bei der Annäherung mit dem Schiff gar nicht bemerkt. Hier wird es begreiflich, wie schlecht beraten die spanische Flotte 1898 im spanisch-amerikanischen Kriege war, als sie sich in dieser Bucht vor dem Feinde verbergen wollte. Ein einziges Fahrzeug, im Eingang versenkt, mußte die Bucht samt ihren Schiffen wie eine Flasche verstöpseln und zur Mausefalle machen – und das haben die Yankees denn auch getan. Den Abschluß der von Urwaldhängen eingerahmten Bucht bildet Santiago mit dem mächtigen Hintergrund des Gebirges. Welch ein entzückendes Gewimmel von weißen und bunten Häuschen und Hütten! Für die Buntheit sorgt der Geschmack der farbigen Bevölkerung, die hier den Kreolen verdrängt. Rot, gelb, grün oder blau muß sein Blockhaus gestrichen sein, sonst macht es dem Mulatten oder Neger keine Freude. Diese Buntscheckigkeit ist der treffendste Ausdruck der ungekünstelten Lebenslust, der rückhaltlosen Offenheit des »farbigen Gentleman«, der sein Herz auf der Zunge trägt und stets in der Stimmung ist, die ganze Welt an die Brust zu drücken.
Mit vielem Vergnügen durchstreiften mein Reisekamerad und ich die sehr weitläufig angelegte Stadt, die eigentlich mehr einem Riesendorfe ähnelt, von einem Ende zum andern, und wir hatten unsere Freude an dem urwüchsigen, drolligen Treiben der schwarzen und braunen Herrschaften, der großen und kleinen Kinder. Aus einem Hause erklang taktmäßiges Buchstabieren und Lesen. Also eine Schule. Das wollten wir uns doch einmal näher besehen. Wir traten ein. Die Schule bestand nur aus einer einzigen Klasse mit etwa dreißig kleinen Knaben und Mädchen, die gemeinschaftlich unterrichtet wurden, und zwar von einem jungen, netten Mulattenfräulein. Unser Erscheinen erregte großes Hallo, und der Unterricht, der anscheinend überhaupt nicht allzu ernsthaft gemeint war, wurde sofort unterbrochen, da die ganze Klasse beim Anblick unserer Kameras stürmisch den Wunsch äußerte, photographiert zu werden. Was denn auch auf dem Hofe geschah, und wobei die krausköpfigen Rangen vor Übermut einen Lärm verübten, daß uns die Ohren dröhnten.
In einem Vorstadtwinkel gab es dann noch einen Extraspaß. Wir überraschten hier ein paar Negerburschen beim Schmaus von Wassermelonen. Diese große, walzenförmig-dicke, saftreiche Frucht, die eine Länge von etwa 60 cm erreicht, wird von den Feinschmeckern zwar verschmäht, gehört aber zu den beliebtesten Leckerbissen der ärmeren Neger und hat überdies den Vorzug, sehr billig zu sein. Die Schwarzen können unglaubliche Mengen davon vertilgen, wie denn überhaupt die westindischen Nigger einen wahren Straußenmagen haben und wahrscheinlich auch Schuhnägel mühelos aufnehmen und verdauen würden. Beim Anblick der Burschen und ihrer Wassermelonen kam Martini, dessen munterer Geist immer von absurden Eingebungen »inspiriert« ward, auf einen nur durch die furchtbare Hitze zu entschuldigenden Einfall: er setzte einen Silberdollar als Preis für denjenigen aus, der in der Zeit von fünf Minuten das größte Quantum Melonen – die er, Martini, bezahlen wollte – verputzen würde. Die Sache erregte Sensation, so daß wir alsbald von etwa hundert Leuten aus der Nachbarschaft umringt waren, die alle zufällig nichts anderes zu tun hatten und Zeugen des interessanten Schauspiels sein wollten. An Material fehlte es nicht, denn es waren zehn große Melonen zur Stelle. Auf ein gegebenes Zeichen machten sich die drei Burschen, vor Eßbegierde und sportlicher Erregung förmlich zitternd, ans Werk. Wie sie die Melonen mit ihren Messern zerhackten, zerteilten, das weiße Gebiß ins saftige Fleisch vergruben und schluckten und schlangen und, einer den andern mit rollenden Augen musternd, Stück für Stück der Frucht in dem geräumigen Magen verstauten – das war nun gerade kein ästhetischer Anblick, aber er wirkte auf die farbige Zuschauermenge so begeisternd, daß man den Ehrgeiz der Wettesser von allen Seiten durch lärmende Zurufe anfeuerte. Mit der Uhr in der Hand stand Martini dabei. Als er nach fünf Minuten Halt gebot, hatte es einer der Burschen, der Sieger, auf fast zwei Melonen gebracht, während die anderen beiden mit betrübten Mienen auf eine Leistung von »nur« je anderthalb Früchten zurückblicken konnten ... Mein Kamerad überreichte dem glückstrahlenden Sieger den Ehrenpreis von einem Dollar und verlieh ihm zugleich mit einer kleinen feierlichen Ansprache den Titel »Weltmeisterschafts-Melonenesser« Worauf der Sieger erklärte, er wäre heute leider nicht gut disponiert gewesen, sonst hätte er mit Leichtigkeit einen noch besseren Rekord aufgestellt ...
Die vernachlässigten kleinen Gasthäuser, auf die sich der Fremde in den kubanischen Provinzstädten angewiesen sieht, sind, wie schon erwähnt, nicht dazu angetan, den Aufenthalt in ihnen verlockend erscheinen zu lassen. Je unverwöhnter der Reisende ist und je weniger Ansprüche er stellt, desto besser. Alles, was man in dieser Beziehung in den spanischen Fondas erlebt hat, wird hier, auf altem spanischen Kolonialboden, noch weit übertroffen, aber nicht nach der angenehmen Seite hin. Schon das Äußere dieser Gaststätten hat nichts Einladendes an sich. Nach altspanischer Bauart, die auch in Kuba meistens maßgebend ist, umschließt das Gebäude einen quadratischen oder länglich viereckigen, mit Fliesen gepflasterten Innenhof, den in Höhe des ersten Stockwerks (falls ein solches vorhanden ist) eine Galerie umgibt und auf welchen alle Zimmertüren des Hauses hinausgehen. Die Einrichtung der Gastzimmer ist schon mehr als bescheiden, da sie gewöhnlich nur aus einem Metallbett, einem wackeligen kleinen Waschtisch und allenfalls einem Stuhl besteht. Alles sieht verstaubt und unfreundlich aus, denn die Bedienung, die in den Händen eines Hausknechtes liegt, beschränkt sich nur auf das Allernotwendigste, und oft genug fehlt es auch an dem. Dafür darf sich der Gast an den lieblichen Düften der Küche erlaben, die vom Innenhof aus das ganze Haus durchdringen, und wobei sich der scharfe Geruch des Knoblauchs, den die spanisch-kubanische Kochkunst über alles schätzt, besonders hervortut.
Dem hier geschilderten Schema der ländlich-sittlichen oder vielmehr ländlich-schändlichen Herbergen entsprachen auch die Unterkunftsräume, die man mir und meinem Reisegenossen in dem Gasthaus in Santiago de Cuba angewiesen hatte. Deshalb erfüllte uns nach Verzehrung des Abendessens der Gedanke, nun in den kahlen, moderigen, ungepflegten Zimmern eine wahrscheinlich höchst unangenehme Nacht verbringen zu müssen, mit Unbehagen. Wir hatten schon gesehen, daß die Moskitonetze, die die Betten verhüllen, ganz zerrissen waren, also den Blutsaugern freien Zugang gewährten, und wir machten uns nun auf einen ebenso aufreibenden wie nutzlosen Kampf mit diesen verruchten und gefährlichen Störenfrieden, vielleicht auch noch mit anderen sympathischen Vertretern der Insektenwelt gefaßt. Und dazu die Hitze, diese schwüle, feuchte, drückende Hitze, die auch jetzt, lange nach Sonnenuntergang, nicht weichen wollte.
»Wenn es wenigstens einen vernünftigen Tropfen zu trinken gäbe,« sagte Martini seufzend. »Aber das Flaschenbier ist schal und warm, und die ewigen Limonaden gewähren auch keine reine Freude.«
Kaum war dieser Ausbruch der Verzweiflung verhallt, als ein an einem anderen Tisch des Speisezimmers sitzender Herr, der einzige Gast außer uns, der bereits hin und wieder einen Blick auf uns geworfen hatte, mit einer kleinen Verbeugung lächelnd sagte:
»Wenn es den Herren nur daran fehlt, so würde ich mich freuen, aushelfen zu dürfen. Ich habe zufällig ein paar leidlich gute Flaschen in meinem Koffer. Darf ich mir die Ehre geben, die Herren zu einem Glase einzuladen?«
Wir waren sehr überrascht. Ich hatte den tiefgebräunten Herrn seinem Äußeren nach für einen Spanier gehalten, und nun stellte es sich heraus, daß wir einen Landsmann vor uns hatten, einen schon seit langen Jahren in Westindien ansässigen Plantagendirektor, der sich hier auf einer Geschäftsreise befand. Wir nahmen die freundliche Einladung gern an, und bald saßen wir drei hinter ein paar höchst verheißungsvoll aussehenden Portwein- und Whiskyflaschen, während der mürrische Mozo (Hausknecht), der in Erwartung eines reichlichen Trinkgeldes plötzlich sehr dienstbeflissen geworden war, frisches Sodawasser herbeischaffte.
» Tres faciunt collegium!« rief mein munterer Reisegenosse. »Da sitzen nun drei gute Deutsche in diesem kubanischen Wirtshaus im Spessart zusammen und harren der kommenden Schreckensnacht. Als richtige Deutsche müßten wir jetzt eigentlich einen Verein begründen und in die Beratung der Statuten eintreten. Oder wie wäre es mit drei neuen politischen Parteien?«
Don Alberto – diesen Namen führte unser Landsmann nach Landessitte bei seinen Arbeitern, da er mit Vornamen Albert hieß – wehrte lachend ab. »Nichts von Vereinen und nichts von Politik! Aber Sie spielten soeben auf das Wirtshaus im Spessart an, Sie meinen doch das wundervolle Märchen von Wilhelm Hauff? Ich habe es als Junge förmlich verschlungen – lang, lang ist's her. Des Inhalts entsinne ich mich noch genau: da vertreiben sich die Gäste der Waldherberge in Erwartung der Räuber die Zeit mit Erzählen von Geschichten. Nun, Räuber haben wir hier ja nicht zu befürchten, aber vielleicht andere nächtliche Störungen. Also machen wir es wie die guten Leute im Spessart und erzählen wir uns etwas. Vor allen Dingen stoßen wir einmal auf unser liebes altes Deutschland an!«
Das geschah denn auch, und es entwickelte sich, um es gleich im voraus zu sagen, eine recht lange Sitzung, die noch andauerte, als der Mozo längst vom Stuhl hinabgesunken war und in einer Zimmerecke schnarchend auf einem Kleiderbündel lag. Die Kosten der Unterhaltung wurden allerdings fast ausschließlich von Don Alberto bestritten. Wir hatten ihn, den alten Westindier, soviel zu fragen, und er hatte aus seinem reichbewegten Leben, das ihn auf den Antillen und dem mittelamerikanischen Festland hin und her getrieben hatte, soviel zu erzählen, daß wir uns selbst im wesentlichen aufs Zuhören beschränken konnten.
Den größten Teil seiner kolonialen Laufbahn hatte der Pflanzer auf Haïti verbracht, der zweitgrößten Antilleninsel, Kubas östlicher Nachbarin. In politischer Hinsicht teilt sich Haïti in zwei selbständige Freistaaten: die Negerrepublik Haïti, die die kleinere westliche Hälfte der Insel einnimmt, und die Dominikanische Republik auf der größeren östlichen Hälfte. Das gebirgige Innere der Insel, das sich bis zur Höhe von 3140 m erhebt, ist wenig bekannt, wie denn auch die großen Naturschätze des fruchtbaren Landes wegen seiner nur schwachen Bevölkerung und der politischen Mißwirtschaft nur zum geringsten Teil ausgebeutet werden. Die Negerrepublik Haïti mit der Hauptstadt Port-au-Prince hat 1 300 000 Einwohner, von denen neun Zehntel Neger sind, die Nachkommen ehemaliger Sklaven, während sich der Rest auf Mulatten und eine kleine Anzahl Weiße verteilt. Umgangssprache ist das Französische, Staatsreligion katholisch. Hier in Haïti haben die Neger den wahrhaft glänzend gelungenen Beweis geführt, daß sie unfähig sind, aus sich selbst heraus ein geordnetes Staatswesen nach europäischem Muster zu bilden. Ihre Republik ist die Karikatur eines Staates, günstigstenfalls ein Operettenstaat. Unaufhörlicher politischer Hader, auf welchen Goethes Wort »Jeder solcher Lumpenhunde wird vom zweiten abgetan« geradezu gemünzt erscheint, füllt die Geschichte Haïtis an. Eine Revolution löst die andere ab; kaum hat es jemand zum Präsidenten gebracht, wird er von einem Nebenbuhler bekämpft und gestürzt. In diesem glorreichen Lande ist jeder zweite bessere Mann »General«. Es wimmelt von »Generälen«, denn schon der Besitz von einigermaßen heilen Stiefeln oder gar eines alten Uniformrockes genügt zur Rechtfertigung des Titels. Jeder Staatsbeamte ist bestrebt, so schnell und so rücksichtslos wie möglich seine Taschen zu füllen und sich zu bereichern. Daß bei derartigen Zuständen die ärgste Mißwirtschaft herrscht, versteht sich von selbst. Die Landwirtschaft wird ganz nachlässig betrieben, obwohl sie bei nur einigem Fleiß reiche Erträgnisse liefern würde, das Vieh läßt man verwildern, die von wertvollen Nutzhölzern strotzenden Wälder werden nicht ausgebeutet, noch schlechter sieht es mit dem Bergbau aus. Weiße Ansiedler und Ingenieure könnten unendlich viel aus dem reichen Lande herausholen, aber die haïtanischen Machthaber befürchten vom Eindringen der Weißen eine Benachteiligung ihrer persönlichen Interessen und suchen deshalb die Europäer und Nordamerikaner durch Auferlegung drückender Steuern und alle möglichen Schikanen fernzuhalten.
Der staatlichen Mißwirtschaft in Haïti entspricht der Bildungszustand der schwarzen Bevölkerung. Für das Schulwesen wird wenig getan, die Rechtspflege liegt im argen, alles ist bestechlich und käuflich. Dabei zeichnet sich der »gebildete« Haïtineger durch lächerlichen Dünkel aus. Ungemein komisch ist seine Sucht, sich hochtrabende Namen beizulegen, die zumeist von den großen Männern der Weltgeschichte entlehnt werden. Hier gibt es keinen Schuhputzer und keinen »General«, der nicht Cäsar, Napoleon, Washington, Bismarck oder Kolumbus, Sokrates, Cromwell, Voltaire hieße, oft legt er sich gleich drei oder vier klangvolle Namen zu. Äußerlich sind die Haïtineger, wie schon gesagt, katholische Christen – aber auch nur äußerlich, insgeheim halten sie an ihrem alten Fetischglauben fest. Die abscheulichste Verirrung ist der unter dem Namen »Vaudou« bekannte Geheimkultus, der verschiedene Sekten umfaßt. Der in strengster Verborgenheit, gewöhnlich nachts an abgelegenen Orten gepflegte Götzendienst besteht aus Schlangen- und Teufelverehrung, aus Tieropfern und, wie es scheint, gelegentlich auch Menschenopfern, jedenfalls sind schon Anhänger des Vaudou wegen Darbringung von Menschenopfern belangt und hingerichtet worden.
Günstiger als in Haïti liegen die Verhältnisse in dem Nachbarstaat Santo Domingo, der Dominikanischen Republik. Sie ist nur sehr schwach bevölkert (etwa 610 000 Seelen), und zwar hauptsächlich von hellfarbigen Mulatten, während die Neger sich hier auf drei Zehntel der Gesamtzahl beschränken. In kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht steht der dominikanische Republikaner beträchtlich höher als der haïtanische, es gibt in Santo Domingo schon Eisenbahnen und Telegraphenlinien in ziemlicher Ausdehnung, und die weißen Ansiedler üben erheblichen Einfluß aus. Landessprache ist das Spanische, Staatsreligion katholisch.
»Immerhin leidet auch Santo Domingo viel unter dem politischen Hader der Parteien,« sagte Don Alberto, »wenngleich es dort freilich nicht so viele Revolutionen gibt, wie in der Affenrepublik Haïti. Ich selbst bin einmal auf sonderbare und eigentlich ziemlich lächerliche Weise in derartige Händel hineingeraten, ja ich bin sogar, wenn auch nur für sehr kurze Zeit, Präsident eines neugebildeten Staates gewesen, worauf ich mir füglich doch einiges einbilden darf.«
Wir baten den freundlichen Landsmann, uns diese Sache ausführlich zu erzählen. Er ließ sich auch nicht lange nötigen und gab in vorgerückter Stunde die folgende seltsame Geschichte zum besten.