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Nun aber ging es auf der linken Seite wieder mit verstärkter Vehemenz los. Petrus, ein Mann in den Sechzigern, mit grauem, spitzig zulaufendem Vollbart und resoluten Gesichtszügen, der, zur Linken von seinem Bruder Andreas plaziert, die ganze Zeit mit verdutztem Kopfe dortgesessen hatte, wurde plötzlich lebendig, hob den Kopf gegen das Publikum, zog ein mit Silberpapier überzogenes, sensenartiges Messer hervor und fuhr mit kopfabschneidenden, kräftigen Bewegungen hoch über seinem Haupte etwa fünf- bis sechsmal hin und her, wobei der dicht neben ihm (in der Richtung zu Christus) sitzende Judas Ischariot eine deutliche, ruckartige Bewegung machte und an seinen Hals langte, während im Publikum tiefe, Entsetzen verratende Atemzüge hörbar wurden, und ein Zuschauer zu meiner Linken seinen Rockkragen hinaufschlug. In der Tat, diese energische Handlung Petri machte den besten Eindruck; wie überhaupt auf dieser linken Seite (rechts vom »Herrn«), wo außer den schon genannten noch der agitatorisch angelegte Simon der Zelot saß (neben Judas), sich, wie man sofort erkannte, die älteren, reiferen und kritikbegabteren Elemente vereinigt hatten. Während auf der anderen Seite (links vom »Herrn«) man sich mit zweifelsüchtigen Mienen, Mundwinkelzucken und Augenzwinkern begnügte, aber keine großartig theatralische Bewegung, Messerführung oder resolutes Sich-in-den-Bart-Greifen das Vorhandensein eines tiefer angelegten Räderwerks in den betreffenden Geistesmaschinen verriet. Aber weder vermochte hier Ruhe und Gleichgültigkeit, noch dort Aufgeregtheit und Petrus mit seinem Blankziehen, das zu bewirken, was jetzt am allernötigsten gewesen wäre, um die Sache vorwärts zu bringen, nämlich Christus aus seiner Lethargie aufzumuntern oder ihn zu veranlassen, etwas darüber zu sagen, wer denn eigentlich der »Verräter« sei. – Christus hatte seine langen Hände auf dem Fisch, sein Gesicht war auf die Hände gerichtet, und über dem Gesicht hing die prachtvollblonde englische Perücke in unlösbarer Steifheit herunter über Gesicht, Fisch und Hände. – »Einer unter euch wird mich verraten!« – Diese Worte aus dem Munde des »Herrn« muß ich statt des Budenbesitzers hier noch einmal dem Leser ins Gedächtnis zurückrufen. Diese Phrase hatte all die Aufregung in dieser wächsernen Gesellschaft hervorgerufen; alles Messerziehen und Sich-an-den-Kopf-Langen bezog sich auf sie. Es würde keine Ruhe unter diesen ehrenwerten Männern eintreten, bis der Verräter bekannt ist. – Als demnach Christus jeder Versuchung von seiten der Apostel, sich näher zu äußern, trotzte, wandte man sich an Johannes, von dem bekannt war, daß er alle Gedanken des »Herrn« wußte. Alle Köpfe wandten sich also jetzt – erst am Tisch und dann im Zuschauerraum – dem rechts neben dem »Herrn« sitzenden jugendlichen Johannes zu, gleichsam mit der Frage, was er zu der schrecklichen Anklage meine. Dieser Johannes war ein blutjunger, liebenswürdiger, schöner Mensch mit vollen Mädchenwangen, blauen, unverdorbenen Augen und süßem, roten Mund; er trug ein rosafarbiges, bauschiges Kleid mit weiblichem Schnitt, das mit einem blendendweißen Kragen den jungfräulichen Hals abschloß. Eine blonde Lockenfülle, die bis auf den schneeweißen Kragen niederfloß, ergänzte dieses pausbäckige Gesicht zu einer so verführerischen Erscheinung, daß die jungen Mädchen, die sich zu zwei oder drei im Zuschauerraum befanden, flüsternd zusammenrückten und sich mit dem Ellbogen anstießen, auch von diesem Moment an keinen Blick mehr von dem prächtigen jungen Menschen abwandten. Seine geheime Konstruktion erlaubte ihm, die Arme flügelähnlich vom Körper auf und nieder zu heben, und als er dies zum Zeichen der Bejahung oder der Meinung, daß er an dem Wort des »Herrn« nichts zu ändern habe, etwa fünf- bis sechsmal hintereinander mit luftiger Geschwindigkeit tat, wurden plötzlich die Mienen aller Apostel bleich und käsig, bleicher fast als Wachs. Die zwei Hingelümmelten am äußersten Ende des Tisches, Bartholomäus und der jüngere Jakobus, zogen sich von der Tischplatte zurück, wie durch die Geste des jungen Johannes gleichsam vergewissert, daß also wirklich der »Verräter« da sei; der jüngere Jakobus ließ die hohle Hand vom rechten Ohr niedersinken, als habe er genug gehört; Thomas stellte sein ungläubiges Schütteln ein; Matthäus schlug sich nicht mehr mit der Hand vor die Stirn. Und auch drüben auf der linken Seite ließen alle die steifen, teils zur Abwehr, teils staunend und fragend erhobenen Arme fallen; eine allgemeine resignierte Abspannung gab sich durch die Reihen der schwergetroffenen Jünger kund.
Nun darf der Leser nicht vergessen, was es für eine Bewandtnis damit hat, daß diese elf Apostel, alles bejahrte, ergraute Männer mit ernsten Gesichtszügen, durch diese kleine, fast flatterhafte Meinungskundgebung des jungen Johannes so im Innersten getroffen wurden. Johannes war eben der erklärte Liebling Jesu, er »lag an der Brust des ›Herrn‹«, wie es im Evangelium von ihm heißt, und wußte dessen Gedanken; Christus muß dem jungen Johannes wiederholt Dinge mitgeteilt haben, von denen die anderen erst viel später Kenntnis erhielten; dies erklärt die apodiktische Sicherheit, mit der jedes Wort und jede Geste von ihm aufgenommen wurde; und dies erklärt auch den Umstand, daß der junge Fant den Ehrenplatz rechts neben Christus einnahm, und zwar auf einer Seite des Tisches, auf der die Charakterköpfe der ältesten und wichtigsten Apostel den größten Gegensatz zu einem Milchgesicht bilden mußten, dessen Gesichtszüge zwar Unschuld, aber auch vollständige Unerfahrenheit verrieten. Denn auf dieser Seite, ihm zunächst, folgten – um noch einmal die Reihe zu nennen – der entflammte Zelot Simon (der Kananiter), dann der verwegene und zielbewußte Judas Ischariot (der, wie das gebildete Publikum wohl größtenteils weiß, der »Verräter« ist); dann der gleich vom Leder ziehende, stets bewaffnete Petrus; dann dessen nicht minder entschlossener Bruder Andreas; und schließlich der mürrisch und finster dreinschauende, jedenfalls sorgengequälte ältere Jakobus in seinem schottischen Anzug. Der Kontrast kam noch in anderer Weise zum Ausdruck: während nämlich alle Apostel sich von dem gedeckten Tisch losgelöst hatten, als hätten sie kein Recht mehr, an dem heiligen Mahl teilzunehmen, und – durch geschickte Machination der unter dem Sitz befindlichen Hauptschraube jedes einzelnen – mit freiem Oberkörper dortsaßen, war Johannes neben Christus der einzige, der, wenn der Ausdruck verständlich ist, den Tisch belegt hatte. Aber wie belegt! Denn während Christus in seiner stereotypen Haltung, Hände und Gesicht in unerbittlicher Apathie über den Karpfen gebeugt, nach wie vor stumm verharrte, lag der junge Johannes mit beiden Armen über die ganze Tischplatte gelümmelt, das Kinn am Tischtuch und die apfelblütigen Wangen hinaus ins Publikum gerichtet, wo er mit seinen naiven Unschuldsaugen ein junges Mädchen anguckte, das zitternd und erregt neben ihrer Mutter stand. Diese war eine Postoffizialswitwe, wie ich zufällig wußte, da ich sie draußen zwischen den Buden schon einmal hatte anreden hören. Und sie schien nichts wider dieses gegenseitige Angucken der jungen Leute zu haben. – Nun will ich gern zugeben, daß der Künstler den jungen Johannes zu jugendlich, zu läppisch gebildet hatte, vielleicht um gerade dem Publikum die Stelle begreiflich zu machen, in der es von ihm heißt, daß »ihn der ›Herr‹ lieb hatte, und daß er an der Brust des ›Herrn‹ ruhte«. – Aber das alles hindert nicht, daß die alten Apostel von dem jungen Menschen in der unwürdigsten Weise abhingen, auf jedes seiner Worte lauschten, und daß dieses unnatürliche Verhältnis hier in der schroffsten Weise seinen Ausdruck fand.
Eine bleierner trübe Stimmung lag nun auf der ganzen Versammlung. Der Heiland unbeweglich in seiner früheren Haltung. Die Apostel tief in Gedanken versunken. Der junge Johannes mit seinem pausbäckigen Lächeln schien von der ganzen Sache gar nichts zu verstehen. Auch im Publikum war eine gewisse trostlose Gedrücktheit zu bemerken. Ein schallendes »Nja!« entfuhr noch einmal den Lippen des Heilandes – und zwar diesmal, ohne daß er aufsah – und schien zum Überfluß nochmals zu bekräftigen: »So ist's, wie ich gesagt habe. Und da wird nichts dran geändert!« – Für mich war damit, nebenbei bemerkt, entschieden, daß der »Nja«-Mechanismus mit der Bewegung des Kopfaufrichtens und des Fischsegnens nichts zu tun hatte. Nun aber änderte sich plötzlich die Szene: Judas, der während der letzten Minuten sich mit dem schottischgekleideten Jakobus – über den Tisch hinüber – leise unterhalten hatte und zweifellos des Englischen mächtig war, war plötzlich aufgesprungen. Und indem er mit dem goldgestickten, gefüllten Beutel, den er in der Hand hatte, ein paarmal tüchtig auf den Abendmahlstisch einhieb, schrie er: »What's the matter?« dreimal mit so schneidender, inquisitorischer Stimme, daß alle heftig erschraken und sogar Christus in leise zitternde Bewegung geriet. – »What's the matter? –What about ›wird mich verraten‹? What's the matter?«Der Verleger, welcher die obigen englischen Worte ursprünglich beanstandete, da er als Mitglied des Deutschen Sprachreinigungsvereins das Eindringen fremder Worte und Phrasen in die deutsche Sprache verabscheut, einigte sich mit dem Verfasser, der sich weigerte, durch Weglassung der Worte sich einer Geschichtsfälschung schuldig zu machen, dahin, durch Wiedergabe der kleinen englischen Phrase im Deutschen, jede Mißdeutung auszuschließen. Was Judas sagt, lautet ungefähr: »Was ist denn da los? – Was soll denn das mit dem ›wird mich verraten‹? – Was ist denn? – Was soll denn das alles?« Über die merkwürdige Tatsache, daß Judas hier Englisch spricht, wird der Leser später einiges Nähere finden. Dabei warf er den wunderschönen, von schwarzem, hohenpriesterähnlichem Vollbart umrahmten, funkelnden Kopf heftig nach links und rechts, im Vorübergleiten den Heiland fest ins Auge nehmend. Er war ein prächtiger Mann, mit rassigem, scharfgeschnittenem Gesicht; eine kühne Adlernase gab dem ganzen Kopf etwas Siegreiches, Ideales. Zweifellos war er der Bedeutendste der ganzen Gesellschaft, von imponierendem Äußern. Gewiß hatte er längst die jede echte Genialität erstickende Gefahr der sanften, unscheinbaren Heilandslehre erkannt, die alle Menschen gleichmachen wollte. Er verband mit der Schärfe des Denkens die Entschlossenheit des Handelns. Und nur das Herz fehlte ihm. Sein Plan, die neue Lehre unschädlich zu machen, war korrekt in Konzeption und Ausführung. Die paar Silberlinge waren gar kein Gegenstand. Nur vergaß er, daß der blonde Heiland auch zum Sterben bereit war. Ein süßer Herzenswahnsinn hatte in diesem längst Platz gegriffen, als er sich entschloß, nach Jerusalem zu reisen. Eine fatalistische Schwelgerei ließ ihn innerlich lächeln über die Spieße und Stangen der Pharisäer und die Mordtaktik des Judas. Aber dieser, wie gesagt, war ganz korrekt. Er war ein guter Schüler cäsarischer Berechnung und Rücksichtslosigkeit, welche er ja durch die römische Herrschaft täglich vor Augen hatte. Nur vergaß er, daß mit dem Tod Christi nicht alles vorbei sei. Diesen blutigen Schachzug hatte er aus dem so milden, guten, tränenreichen Antlitz des Heilandes nicht herausgelesen.
Das Publikum konnte nicht umhin, seiner Freude über die dramatische Kühnheit des Judas Ausdruck zu geben. Alle waren plötzlich fast auf seiner Seite. Ein angenehmes Grausen über die schroffe Manier des schönen »Verräters« überkam alle. Besonders die Weiber waren entzückt. Viele fanden den schwarzen Schnurrbart göttlich. Nur ein altes Weib neben mir, mit einer Zahnlücke auf der rechten Seite, pfiff und zischte aus dieser Lücke so kräftig heraus, daß man ihr die Entrüstung anmerkte, ohne hinzusehen. Sie war jedenfalls bibelfest. – Vielleicht Protestantin. – Judas trug prächtige Kleidung. Offenbar standen ihm bedeutende, hohepriesterliche Mittel zu Gebote. Die dreißig Silberlinge kamen nicht in Betracht, schon der scharlachrote Überwurf, der mit goldenen, sich ringelnden Schlänglein bestickt war, konnte um diese Summe nicht hergestellt werden. Der Kopf drehte sich vorzüglich. Er machte immer eine ganze halbe Wendung, vom Heiland hinüber zum Andreas, ohne das Publikum zu würdigen. – Die Direktion wußte, daß dieser Moment das Publikum aufs tiefste erregte, und ließ zugunsten des Bekleidungsfonds für die Apostel einen Teller herumgehen.
Während der Sachse mit dem Teller herumging, fiel zu meiner größten Überraschung der Vorhang plötzlich über der Abendmahlszene. Auf den Moment, wo Christus Judas den Bissen reicht, schien also der Verfertiger der Gruppe wohl wegen der großen mechanischen Schwierigkeiten Verzicht geleistet zu haben. »Sogleich beginnt der zweite Akt!« rief der Budenbesitzer mit lauter Stimme jenem Teil des Publikums zu, welches sich nach Fallen des Vorhangs etwas in den Hintergrund des Zuschauerraums zurückgezogen. Er war wohl besorgt, es möchten einige das Theater verlassen. Offenbar wurde noch einmal gesammelt. Ich suchte durch ein etwas größeres Geldstück die Aufmerksamkeit des Tellerträgers auf mich zu lenken, da ich verschiedene Fragen zu stellen hatte. Auf der Bühne verdunkelten sich jetzt die Lampen und aus dem Rumoren und Poltern merkte man, es werde eine neue Szene aufgeschlagen. – »Sie haben da vortreffliche Figuren!« sprach ich den Sachsen an, der im Zuschauerraum die Herrschaft führte. »Ja«, meinte er, »seit wir den neuen Christus haben, geht es besser.« – »Hatten Sie früher einen anderen Christus?« – »Ja, der war geschnitzt, aber ganz schlecht, und schon ganz schwarz; der nahm sich unter den schönen Wachsköpfen wie der Teufel aus. Wir haben ihn verkauft.« – »Allerdings, der neue Christus ist vortrefflich.« – »Oh, ich sag' Ihnen, der ist so schön, so sanft, wissen Sie, das blonde Haar, das blaue Auge, ich sag' Ihnen, die Leute haben oft geweint.« – »Spricht er denn nicht die Worte: Wahrlich, ich sage euch...?« – »Nein, der hat nie gesprochen, das käm' zu teuer. Das ›Ja!‹, welches er spricht, haben wir hier in Nürnberg erst machen lassen, das kostete uns allein über achtzig Gulden.« – »Dieses ›Nja!‹ scheint aber selbst wieder sehr kompliziert zu sein?« – »Ja, es hat zwei Pfeifen und ein Schnarr-Register.« – »Sagen Sie einmal: Warum spricht der Judas englisch?« – »Den haben wir von einer englischen Truppe gekauft.« – »Ja, aber gerade die inhaltsschweren Worte, die er zu reden hat, die versteht ja kein Mensch?« – »Oh, das macht nichts; im Gegenteil, es wirkt ungeheuer; die Leute sind ganz baff, diesen Judas geben wir für keinen anderen her, nicht einmal für einen hannoveran'schen, der ist unsere beste Figur!« – »Was ist das, ein ›hannoveranischer Judas‹?« – »Pst!« machte der Sachse und deutete auf den Vorhang, der sich soeben erhoben hatte.