Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Eine weite kahle Heide. Auf dem Boden hie und da etwas buschiges Gras, dessen breite, prachtvoll grüne Halme, wie mir schien, in Schweinfurtergrün getaucht und mit Silberpuder bestreut waren. Keine Seele auf der weiten Fläche. Ob dieses Feld in der Nähe von Jerusalem war, ob der Zug nach Golgatha hier vorüber mußte, ob voraussprengende römische Kriegsknechte jeden Moment zu erwarten waren, oder ob es das Stelldichein einer friedlichen Szene werden würde, ob die schöne Magdalene hier vor dem Publikum ihre blonden Flechten auseinanderwickeln werde, um sie mit ihren Tränen zu waschen, das alles wußte kein Mensch, da ja im Vorausgehenden die Direktion bewiesen hatte, daß sie sich unmöglich, weder in der Aufeinanderfolge der Szene, noch in den Einzelheiten des jeweilig Dargestellten, wortgetreu an den Text der synoptischen Evangelien halten könne. Aber Stimmung machte schon diese weite, grünumflossene Ebene, die von den acht Lampen hinter der Verschalung grell beleuchtet wurde. – Und plötzlich näherte sich aus der rechten Kulisse eine große Maschine, deren Schatten die Soffittenbeleuchtung zu früh auf der hinteren Szenenwand zu Gesicht brachte. Man wußte noch nicht, was es war. Es schien nur ein kolossales Ding. Jetzt kam es näher. Und plötzlich erschien ein Balken, der hinunterging; dann kam ein Balken, der hinausging; dann die Vereinigung der beiden Balken, und dann ein Kopf. Ein wachsbleicher Kopf mit wunderschönen blonden Haaren, die auf dem Scheitel geteilt waren. Es war wieder der weiße Lord. Es war Christus, der in ein großes, bauschiges, helles Gewand gehüllt, unter dem Kreuz zusammengeknickt, auf der Szene vorüberzog. Doch bewegte er die Füße nicht. Im Gegenteil, alles war starr und steif. Und dieses vermehrte noch das Eindrucksvolle. Offenbar wurde durch einen Bühneneinschnitt über die ganze Breite der Bühne hin die im Souterrain genügend befestigte Figur hindurchgezogen. Der Rücken war wohl gekrümmt, und überhaupt die ganze Gestalt so tragisch und gebrechlich wie möglich hingestellt; trotzdem war der Kopf in einer ganzen Vierteldrehung nach links zum Publikum hinausgedreht und außerdem noch so weit zur Schulter hinaufgehoben, daß die Augen fast waagerecht zu liegen kamen. Er schaute nun so mit gespenstig-bleichen, wie erstarrten, wie bei einer anderen milden Gelegenheit gefrorenen Gesichtszügen, aus denen jeder Schmerz und jede Anstrengung gewichen war, direkt aus der Bühne heraus: eine Kombination von Pose und Affekt, die in der Natur gar nicht möglich wäre, die aber hier die kolossalste Wirkung hervorbrachte. Es war nicht derselbe Christuskopf wie beim Abendmahl. Der dort war englischer, breitkiefrig, fleischig und die Perücke glatt gestriegelt. Der hier war idealer, deutscher, etwas hohlwangig, mit feinfühligem Kinn und wunderschönen blonden Locken, die auf die Schulter herniederflossen. Langsam, starr, lautlos und stet zog dies gepeinigte Christusbild wie eine Vision quer über die Bühne. Es war jetzt beiläufig in der Mitte. Der Sachse sprach kein Wort. Dies war auch gar nicht nötig. Jedermann, das kleinste Kind, wer nur aus dem Publikum jemals einen Schulkursus in deutschen Landen mitgemacht hatte, oder einmal ein Bild von einem Franziskanerpater geschenkt bekommen hatte, der wußte: das ist Christus unter dem Kreuz. Dieser stumme Religionsunterricht hatte die ungeheuerlichste Wirkung unter den Zuschauern und setzte sich in ihrer Phantasie wie eine gewaltige Macht fest. Und ich war froh, als der weiße Mann endlich zwei Drittel der Bühne zurückgelegt hatte. Auf Momente hatte ich die Empfindung, das vor Entrüstung fassungslose Publikum möchte hinausstürmen und irgendeinen zwischen den Buden ergreifen und als »Verräter« halb totgeschlagen hereinschleppen. Denn was das blonde bleiche Antlitz da droben nicht sprechen konnte, das sprach wie mit Stentorstimme im Gewissen des Publikums: »Wer hat das angerichtet? Wer ist schuld an dieser Marter? Wer ist der Teufel, der es zu verantworten hat, daß dieser wunderbare Mensch da droben so leidet?« – Wie es beim Vorüberführen von so festgegossenen Bildnissen geht: die Augen schauen, in welcher Stellung auch immer, stets den Beschauer an. Und als der Heiland sich der linken Soffitte näherte, schauten seine wasserhellen, blauen Augen mit einem schmerzlichen, vorwurfsvollen Ausdruck zurück ins Publikum, als sprächen sie: »Folge mir nach!«, so daß einzelne Mädchen entsetzt von der äußersten Rampe, bis zu welcher das Publikum vorgehen konnte, zurückwichen. Und in der Phantasie eines Menschen, der leichter entzündbar ist als andere, mochte jetzt der Gedanke entstehen, es könnte einer, von dem zurückschauenden Blick des Heilandes verwirrt und seiner Umgebung vergessend, mit einem einzigen Satz über Rampe und Lichter hinweg auf die Bühne springen, um zerknirscht dem bleichen, wächsernen Bild zu Füßen zu sinken. Aber Gott sei Dank, alles blieb still, wie durch ein Bleigewicht in der Brust hingefesselt, starr, fasziniert. – Jetzt war die lichtumflutete, gewaltige Erscheinung dicht bis an die linke Soffitte gekommen. Eine Verzögerung schien zu entstehen. Das Bild machte halt. Hinter ihm folgte, wie eine schwarze Schlange, der riesige Kreuzbalken. Aber vorn schienen die kleinen Balkenenden, die über die Schulter hereinhingen, nicht zur Soffitte hineinzukönnen. Das Bild schwankte jetzt hin und her. Der Sachse ging vor und schaute in die Soffitte. Nur jetzt keine Katastrophe, dachte ich mir, den Menschen, die diese weiße Gestalt bis in ihr spätestes Alter mit sich in der Phantasie herumschleppen werden, noch ein Ärgernis zu bereiten! – Doch jetzt ging's wieder vorwärts. Noch ein einziger, langer, blauer Blick über die ganze Versammlung, und das blonde Haupt verschwand hinter der Soffitte, und der Vorhang fiel. Ein einziger großer Atemzug im ganzen Publikum löste die Anwesenden wie von einem lange ertragenen Alp. »Zum Besten des Maschinisten!« sagte der Sachse und ließ einen Teller herumgehen.
Während noch alles still dastand, einige flüsterten, niemand aber die feierliche Stille zu unterbrechen wagte, hörte man plötzlich von hinter der Bühne her einen schallenden Klatsch und gleich darauf in norddeutschem Dialekt an jemanden zornig die Frage gerichtet: »Wie können Se man so dämlich sein und Christus an die Wandverkleidung anrennen lassen?« – Obwohl diese barbarische Unterbrechung, welche mit einem Schlag das ganze Komödiantenwesen aufdeckte, die feierliche Stimmung ins Gegenteil zu verkehren geeignet war, so zeigte sich doch im Publikum keine Neigung, auf die Komik des Vorgangs einzugehen. Die Macht der weißen Christuserscheinung, die mit ihren hellen, kolossalen Umrissen in der Phantasie nachzitterte, war doch stärker als diese Lappalie. Nur der Sachse lachte verstohlen in seinen Teller hinein. Er kannte offenbar den Schlingel, der die Christusfigur im letzten Moment ihres Verschwindens, als sie ins Wanken kam, schlecht dirigiert oder die Soffitte nicht richtig gestellt hatte. – »Sie scheinen stark auf die Nerven Ihres Publikums zu rechnen!« sagte ich zum Sachsen, als er zum Einsammeln zu mir kam, indem ich durch eine Silbermünze seine Aufmerksamkeit mir aufs neue zu sichern suchte. Bei dieser Gelegenheit bemerkte ich, daß seine Ernte an Geldstücken eine ganz überraschend reiche war. – »Wir müssen darauf halten«, antwortete er, »mit dem Entrée können wir knapp die Platzmiete bezahlen!« – »Sind während der letzten Nummer noch keine Unfälle vorgekommen?« fragte ich weiter. – »Manche bekommen ihre hinfallende Krankheit, – aber in England tut man ja noch viel mehr!« – »?« – »Die englischen Figuren sind viel derber und ungenierter; – sie hauen auf den Tisch und machen sich Fäuste, als wollten sie boxen; – einen englischen Christus habe ich gesehen, der Ihnen wunderschönes Blut schwitzte; – und die Truppe, von der wir den Jakobus in dem schottischen Kleid haben, brachte eine Nummer vor der Kreuzigung, in der sich Judas in einem Obstgarten an einem verdorrten Baum erhängt, – aber da, sage ich Ihnen, da fliegen die Sovereigns, und der Strick wird in zehn bis fünfzehn Teile geteilt! Für eine Christuslocke werden fünf Pfund geboten!« – »In Deutschland ist dies alles wohl verboten?« – »Ach, die Behörden haben ja gar kein Verständnis für diese Dinge; bei uns steckt noch alles in den Kinderschuhen! Nur unsere Köpfe sind besser.« – Diese Unterredung wurde halblaut zwischen uns geführt. Ich wollte mich nur noch betreffs des »hannoveranischen Judas« erkundigen, als hinter der Bühne ein Zeichen gegeben wurde, worauf sich der Sachse entfernte. Alsogleich ging der Vorhang auf.
Die Bühne füllte eine große Menge von Personen, von denen es zunächst auffiel, daß ein Teil lebte, die anderen aus Wachs waren. Links vorn auf einer Seitenestrade saß der kurzgeschorene Pilatus mit etwas mürrischem Gesicht und wusch seine Hände in einem zinnernen Becken. Korrespondierend rechts stand der Hohepriester Kaiphas, im reichen Ornat, den mit der Mitra geschmückten Kopf so den Bühnenvorgängen zugewendet, daß man vom Gesicht nur Nase und den glänzendschwarzen Vollbart sah. Er zuckte in rhythmischer Weise fortwährend mit der Achsel, wobei sein mit Steinen geziertes Priestergewand jedesmal in rasselnde Bewegung kam, als wollte er sagen: »Ja, ich kann nicht helfen, – wenn es das Volk so will!« – Beide Figuren, der Jude und der Römer, schienen selbsttätige Mechanismen zu sein, die zu ihrer Ingangsetzung keine weitere Bedienung nötig hatten. Die Waschbewegung war ganz vortrefflich in Idee wie Ausführung. Der fortwährend stumme Protest, wie: »Mich geht eure Sache nichts an!«, der in diesem allegorischen Händewaschen lag, war eine vorzügliche Charakteristik für den formellen römischen Beamten und bildete einen wirksamen Gegensatz zu der blutigen Handlung, die sich unter ihm abspielte. Mechanisch betrachtet war aber die kreisförmige, stets sich ineinander verwickelnde Bewegung der Wachshände eine Kunstleistung ersten Ranges; übrigens, wie ich später erfuhr, französische Arbeit. Weniger erträglich auf die Dauer war das Achselzucken des Kaiphas; aber was war zu wollen? Die Figur war aufgezogen; besser, sie zuckte, als daß sie gar nichts machte; so bekam man wenigstens eine Vorstellung von der Meinungsrichtung dieser einflußreichsten Persönlichkeit im »Hohen Rat«.
Im Hintergrunde der Bühne standen drei Kreuze; das mittlere leer; an den zwei äußeren die zwei Schächer. Diese beiden, alte, schlechte Holzfiguren, mit ein paar farbigen Fetzen ausgestattet, waren mit Absicht, wie mir schien, außerhalb der Beleuchtung gerückt, um das Publikum ihre Zerstörtheit nicht zu sehr merken zu lassen, und waren überhaupt sehr vernachlässigt. – Am mittleren Kreuz, welches bereits die Inschrift trug, wurde soeben Christus aufgezogen. Er hatte bereits die Dornenkrone auf und war nackt bis auf die Lendenbinde. Der Oberkörper war anatomisch so schön in Wachs modelliert, daß er jedem Museum zur Zierde gereicht hätte. Die Hauptschwierigkeit lag aber in der Behandlung des Kopfes; zwar bewegte er sich anstandslos auf und ab, nach rechts und links, konnte auch die Lider halb senken und das Auge nach oben schlagen, aber was nicht zu erreichen war: die beiden Hauptempfindungen, die des Schmerzes, zu Anfang der Kreuzigung, und die der seligen Ruhe bei eingetretenem Tod, welche sich, physiognomisch betrachtet, kontradiktorisch gegenüberstehen, konnten nicht auf ein und demselben festmodellierten Kopfe zur Darstellung gebracht werden. Und zwei Köpfe konnte man doch nicht verwenden. Übrigens kam dies jetzt, wo noch alles mit Aufmerksamkeit bei dem Akt des Aufzuges engagiert war, noch nicht so zum Ausdruck, wie später, nachdem einmal die Leiche hing. – Was nun dieses Aufziehen am Kreuz selbst anlangt, so war es klar, daß eine so komplizierte Arbeit nicht von Wachsfiguren, und wären es englische gewesen, verrichtet werden konnte. Man hatte deshalb als Kriegsknechte, welche dies zu besorgen hatten, zwei Statisten der Truppe verwendet. Leider war aber der eine ein lümmelhafter, himmellanger Mensch, der fast bis zum Querholz des Kreuzes reichte, mit einem häßlichen, schrecklich bärtigen Gesicht; der andere schielte, war kurz und breitschultrig und steckte immer den Kopf hinein, da er, wie ich zu sehen glaubte, noch immer eine verblaßte blaue Krawatte von seinem Werktaganzug anhatte. Schon dies mußte auf das Publikum revoltierend wirken. Die beiden Burschen standen hinter dem Kreuz und zogen an Stricken, die über das Querholz liefen, den Christuskörper, der noch eben vor dem Kreuz ausgestreckt am Boden gelegen hatte, in die Höhe. Vor dem Kreuz stand mit dem Rücken gegen das Publikum ein großer Mensch mit Samtmantel und turbanähnlicher Kopfbedeckung, der, wenn ich nicht irre, Nikodemus vorstellen sollte, und der den eben jetzt oben am Kreuzesstamm erscheinenden Christus an den Füßen hielt. Abgesehen nun davon, daß Nikodemus hier bei der Kreuzigung noch gar nichts zu tun hatte, kam es mir sonderbar vor, daß die beiden Kerls hinter dem Kreuz mit solch übertriebener Vorsicht und einstudierter Langsamkeit, ganz gegen ihr eigenes Naturell und den Charakter ihrer Rolle, den Aufzug bewerkstelligten. Ich habe Grund zu glauben, daß der Direktor, der für seine Wachsfigur fürchtete, dazu Auftrag gab, und daß eben den Nikodemus der Direktor machte, um diesen Aufzug besser überwachen zu können. Doch war das Publikum voll Teilnahme und Spannung und ganz auf der Höhe der tragischen Situation. Lautlos hing alles an der schwebenden Christusfigur. Links wusch fleißig Pilatus seine Hände; und rechts zuckte Kaiphas, dessen Blick jetzt gerade auf die Kreuzeshöhe gerichtet war, mit den Schultern, als sagte er: »Es war wirklich nicht zu ändern. Ich bin im Rat überstimmt worden.«