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§ 103. Von dem, was in Kap. 4 über die Wortbedeutnng und ihre Wandelungen gesagt ist, lässt sich das Allgemeinste auch auf die Bedeutung der syntaktischen Verhältnisse anwenden. Auch bei diesen muss man unterscheiden zwischen usueller und okkasioneller Bedeutung; die usuelle Bedeutung kann eine mehrfache sein, ihre Wandelungen entspringen aus den Abweichungen der okkasionellen Bedeutung und sie bestehen entweder in Bereicherung oder in Verarmung des Inhalts mit entsprechender Verengung oder Ausdehnung des Umfangs. Eigentümliche Verhältnisse aber entstehen dadurch, dass wir es hier mit Beziehungen mehrerer Elemente auf einander zu tun haben (z. B. amo patrem, amor patris), und dass diese Beziehungen zu engeren und weiteren Gruppen zusammentreten (z. B. Verbum - Objektsakkusativ, Substantivum - Genitiv eines anderen Substantivums). Demzufolge müssen wir ausser dem Unterschiede zwischen usueller und okkasioneller Bedeutung noch eine andere gleichfalls sehr wichtige Unterscheidung machen, nämlich zwischen der Bedeutung einer allgemeinen Beziehung schlechthin und derjenigen der Beziehung zu einem bestimmten Worte. Von der allgemeinen Bedeutung, die der Akk. an sich in seiner Beziehung zu jedem beliebigen Worte hat, und auch von derjenigen, die er in seiner Beziehung zu jedem beliebigen transitiven Verbum hat, ist diejenige zu unterscheiden, die er in der Beziehung auf ein bestimmtes einzelnes Verbum hat. Die letztere kann spezieller sein und der allgemeinen Bedeutung gegenüber mehr oder weniger isoliert. Man hat in neuerer Zeit vielfach die Anschauung der älteren Grammatiker bekämpft, dass ein Kasus von einem Verbum oder einer Präposition, ein Modus von einer Konjunktion u. s. f. regiert werde, und statt dessen die Setzung des Kasus oder des Modus aus seiner allgemeinen Bedeutung herzuleiten gesucht. Es muss aber doch in gewissem Sinne und in gewisser Begrenzung an der alten Lehre fest- 152 gehalten werden. Diese allgemeinen Sätze sollen im folgenden durch Beispiele belegt werden.
§ 104. Für den Genitiv lässt sich keine einfache Bedeutung aufstellen, aus welcher sich die Funktionen, die derselbe bereits im Urindogermanischen hat, von selbst ergeben.Auf die Theorieen von der Entstehung der Kasus gehe ich hier nicht ein, da auf diesem Gebiete alles zu wenig sicher ist, als dass es für die Erkenntnis der allgemeinen Entwickelungsbedingungen verwertet werden könnte. Ungewiss bleibt es dabei z. B., wieweit die Grundbedeutung der indogermanischen Kasus durch die Bedeutung bedingt ist, welche die Kasussuffixe vor ihrer Verschmelzung mit dem Stamme als selbständige Wörter gehabt haben, und wieweit die Kasusbedeutung erst durch Anpassung in Folge der Verwendung im Satzgefüge entstanden ist. Dass das eine wie das andere für die Entstehung des indogermanischen Kasussystems in Betracht kommt, kann allerdings wohl kaum zweifelhaft sein. Dass die Anpassung eine Rolle gespielt hat, ergibt sich ja schon aus dem Mangel einer Unterscheidung zwischen Nom. und Akk. beim Neutrum, wobei teilweise gar kein Kasussuffix vorhanden ist. Wundt unterscheidet Kasus der inneren und Kasus der äusseren Determination. Zu den ersteren rechnet er Nom., Akk., Dat., Gen. Von ihnen nimmt er an, dass sie gewissermassen notwendige Kasus wären, die in keiner Sprache fehlten, auch wenn sie nicht durch Suffixe gekennzeichnet wären. Richtig ist an dieser Auffassung, dass die syntaktischen Beziehungen, die in den indogermanischen Sprachen durch diese Kasus ausgedrückt werden, schon vorher bestanden haben, ehe besondere Zeichen dafür vorhanden waren. Aber es muss einmal eine Periode gegeben haben, in der auch für die Beziehungen, die später durch die »Kasus der äusseren Determination« ausgedrückt werden konnten, die blosse Aneinanderreihung von Wörtern, die aller Deklinationsformen entbehrten, genügen musste. Wie wenig sich die Wundtsche Unterscheidung wirklich durchführen lässt, zeigt besonders der Gebrauch des Akk. zur Bezeichnung des Zieles einer Bewegung (Athenas proficisci), der doch dem Gebrauch des Lokativs und Ablativs parallel ist, die Wundt zu den Kasus der äusseren Determination rechnet. Man muss z. B. den von Verben und den von Substantiven abhängigen Gen. von Anfang an als gesonderte Kategorien ansehen. Betrachten wir die letztere, so können wir wohl für das Indogermanische behaupten, dass der Gen., wie es im allgemeinen noch im Altgriechischen der Fall ist, zum Ausdruck jeder beliebigen Beziehung zwischen zwei Substantiven verwendet werden konnte; wir können daher für diese Kategorie eine einfache Bedeutung von sehr armem Inhalt und sehr weitem Umfang aufstellen, die nur okkasionell spezialisiert wird. Im Nhd. dagegen ist die Funktion des Gen. neben Substantiven erheblich eingeschränkt. Manche Gebrauchsweisen, die noch im Mhd. möglich waren, z. B. goldes zein (Stab aus Gold), langes lebens wân (Hoffnung auf langes Leben) sind jetzt unmöglich geworden. Man muss jetzt nach spezielleren Bestimmungen suchen, wenn man die Gebrauchsweise des Genitivs angeben will, und dabei wird man genötigt mehrere Kategorieen zu scheiden, mehrere selbständige Bedeutungen neben einander zu stellen. Diese würden 153 wohl am einfachsten so angegeben werden: Gen. possessivus - Gen. partitivus - Gen., der anzeigt, dass das regierende Subst. das, was es ist, in Beziehung auf das abhängige ist (z. B. der Bruder des Mannes, der Gott des Weines, der Dichter des Werkes, die Tat des Helden); die letzte Kategorie kann sich neben nomina actionis in zwei Unterabteilungen scheiden, Gen. subjectivus und objectivus: die Regierung des Fürsten - des Landes. Die Aufstellung derartiger Kategorieen hat man neuerdings wohl als eine rein logische Sonderung betrachtet, die von der Grammatik fern zu halten sei. Das ist aber doch nicht ganz richtig, vorausgesetzt, dass die Aufstellung in der gehörigen Weise vorgenommen ist. Die betreffenden Kategorieen haben der ursprünglichen allgemeinen Bedeutung gegenüber Selbständigkeit gewonnen, und erst dadurch ist es möglich geworden, dass sie allein sich erhalten haben, während die andern Verwendungsweisen, die sich gleichfalls der ursprünglichen Bedeutung unterordnen würden, untergegangen sind.
§ 105. Analog dem Verhältnisse des Gen. zu dem regierenden Substantivum ist das des Akkusativs zu dem regierenden Verbum. Wollen wir eine allgemeine Bedeutung des Akk. aufstellen, unter welche sich alle einzelnen Verwendungsweisen desselben unterordnen lassen, so müssen wir sagen: er bezeichnet überhaupt jede Art von Beziehung eines Substantivums zu einem Verbum, die sich ausser der des Subjekts zu seinem Prädikate denken lässt. Dennoch aber können wir ihn nicht in jedem einzelnen Falle, in dem eine solche allgemeine Beziehung stattfindet, anwenden, und schon in der indogermanischen Grundsprache war das unstatthaft, wenn auch die Verwendung noch eine viel freiere und ausgedehntere war, wie sich z. B. am Griechischen erkennen lässt. Die Angabe einer einzigen, alles umfassenden Bedeutung genügt daher nicht; wir müssen verschiedene allmählich selbstständig gewordene Verwendungsweisen neben einander stellen. Hier kommt nun aber hinzu, dass auch in der Beziehung auf einzelne Verba ein fester Usus in Bezug auf Gebrauch oder Nichtgebrauch des Akk. und eine Spezialisierung der Bedeutung eingetreten ist. Wir müssen daher unterscheiden zwischen dem freien Akk., der von der Natur des Verbums, dem er beigegeben wird, unabhängig ist, und dem gebundenen, der nur zu einer beschränkten Anzahl von Verben und zu jedem einzelnen in beschränkter Bedeutung gesetzt wird.
Zu den von alters her üblichen freien Verwendungen des Akkusativs gehört die zur Bezeichnung der Erstreckung über Raum und Zeit (nicht bloss neben Verben gebraucht); ferner der Akk. des Inhalts von Substantiven, die mit dem Verbum etymologisch verwandt sind (einen schweren Kampf kämpfen); im Lat. der Akk. von Städtenamen auf die Frage wohin? Eine erst in neuerer Zeit ausgebildete Verwendung ist 154 die neben sonst intransitiven oder als Transitiva eine andere Art von Objekt regierenden Verben in Verbindung mit einem prädikativen Adjektivum, vgl. ein Glas voll giessen, die Augen rot weinen, das Bett nass schwitzen, die Füsse wund laufen; sich satt essen, voll saufen, krank arbeiten, heiser schreien etc. Hier hätten wir also eine Bedeutungserweiterung. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass zur Entstehung dieser Konstruktion noch besondere Faktoren mitgewirkt haben; einerseits wohl das noch nicht völlig erloschene Gefühl für die ganz allgemeine Bedeutung des Akkusativs, anderseits die Analogie von Fällen wie einen tot schiessen, los kaufen, krumm und lahm schlagen. Ähnlich verhält es sich mit Konstruktionen wie er schwatzt das Blaue vom Himmel herunter, er hat sich in mein Vertrauen gestohlen, denke dich in meine Lage hinein, sich einschmeicheln, sich herausreden, sich durchfressen u. dergl.
Eine gewisse Mittelstellung zwischen dem ganz freien und dem gebundenen nimmt der Akk. neben Kompositis ein, zu denen die Simplicia entweder intransitiv sind oder eine ganz andere Art von Akk. regieren; eine Mittelstellung insofern, als doch wenigstens eine grössere Anzahl solcher Verba sich zu einer Gruppe zusammenschliessen und sich in der Bildung und transitiven Verwendung derselben dem Usus gegenüber eine gewisse Freiheit der Bewegung geltend macht. Insbesondere haben die Komposita mit be- die ganz allgemeine Funktion ein intransitives Verbum transitiv zu machen oder ein transitives Verbum zu befähigen eine andere Art von Objekt zu sich zu nehmen, vgl. befallen, beschreiben, bestreiten; besetzen, bewerfen, bezahlen.
Der an ein bestimmtes einzelnes Verbum gebundene Akk. hat in der Regel nur eine, durch den Usus begrenzte Bedeutung. Doch ist auch Mehrfältigkeit der Bedeutung nicht ganz selten, und diese ist dann teils alt, vielleicht unmittelbar aus der ursprünglichen allgemeinen Bedeutung des Akkusativs abzuleiten, teils lässt sich zeigen, dass ursprünglich nur eine Bedeutung üblich gewesen ist, während die andere sich erst allmählich durch okkasionelle Überschreitung des Usus herausgebildet hat; vgl. Wunden schlagen - den Feind schl. - das Schwert schl., einen mit Steinen werfen - Steine auf einen w., einen mit dem Messer stechen - ihm das Messer durch das Herz st., ein Zimmer räumen - einen aus dem Wege r., Blumen zum Kranze winden - einen Kranz w., das Haar flechten - einen Zopf f., einen zum Narren machen - einen Narren aus jemand m., Worte sprechen - einen Menschen sprechen etc.; lat. defendere aliquem ab ardore solis - ardorem solis ab aliquo, prohibere calamitatem a provincia - provinciam a calamitate. Sicher jüngere Entwickelung, zum Teil nur okkasionelle 155 namentlich dichterische Freiheit liegt in folgenden Konstruktionen vor: ein Kind schenken (= säugen), Blumen giessen, Heu füttern, Wasser in einen Eimer füllen, lat. vina cadis onerare (Virg. statt cados vinis), liberare obsidionem (Liv. statt urbem obsidione), griech. dákrua térgein (»Tränen netzen« statt »mit Tränen benetzen« oder »Tränen fliessen lassen«, Pind.), haíma deúein (»Blut benetzen« statt »mit Blut b.«, Soph.). Weitere Beispiele bei Madvig, Kl. Schr. 371[1]. Weil die Beziehung, die der Akk. ausdrückt, an und für sich eine mehrfache sein kann, ist auch die Verbindung eines Verbums mit mehreren Akkusativen etwas, was sich ganz natürlich ergibt.
§ 106. Von den indogermanischen Präpositionen würde es nicht richtig sein, wenn man sagen wollte, dass sie den und den Kasus regiert hätten. Vielmehr war der betreffende Kasus direkt auf das Verbum zu beziehen, seine allgemeine Bedeutung wurde noch empfunden und erhielt durch die Präposition nur eine Spezialisierung, weshalb denn auch verschiedene Kasus neben der selben Präposition stehen konnten jeder in seiner eigentümlichen Bedeutung. Diesem ursprünglichen Zustande steht das Griechische noch einigermassen nahe. Mehr und mehr aber hat der Kasus seine Selbständigkeit gegenüber der Präposition eingebüsst, die Verbindung der Präposition mit dem Kasus ist gewohnheitsmässig geworden, wobei das Gefühl für die Bedeutung des letzteren verblasst. Bei unseren neuhochdeutschen Präpositionen, die nur einen Kasus regieren wie zu, um oder mehrere ohne Verschiedenheit des Sinnes wie trotz, kann von keiner Bedeutung des Kasus mehr die Rede sein; die Anwendung eines bestimmten Kasus ist nur noch eine traditionelle Gewohnheit, der kein wahrer Wert zukommt. Zwischen dieser Erstarrung und Gebundenheit und der ursprünglichen Lebendigkeit und Freiheit der Kasus mitten inne steht die Verbindung des Dat. und Akk. in verschiedenem Sinne nach in, auf, über, unter.
§ 107. Appositionelle Konstruktion tritt vielfach ein, wo bei genauerem Ausdruck ein Gen. part. anzuwenden wäre. Nicht bloss so, dass die Apposition aus mehreren Gliedern besteht, die zusammen dem Substantivum, wozu sie gesetzt sind, gleichkommen: sie gingen, der eine hierhin, der andere dorthin; lat. classes populi Romani; alteram naufragio alteram a Poenis depressam interire (Cic.), capti ab Jugurtha pars in crucem acti pars bestiis objecti sunt (Sall.). Sondern auch, wo die ganze Apposition nur einen Teil des zugehörigen Subst. repräsentiert: lat. Volsci maxima pars caesi (Liv.); cetera multitudo decimus quisque ad supplicium lecti (Liv.); nostri ceciderunt tres (Caes.); entsprechend da, wo das Subj. nur durch die Personalendung des Verb. ausgedrückt ist: plerique meminimus (die meisten von uns, Liv.); Simoni adesse me quis nuntiate (einer von euch, Plaut.). Mhd.: si weinten sumelîche (manche 156 von ihnen); jâ sint iu doch genuogen diu mære wol bekant (vielen von euch). Bei Stoffbezeichnungen, die normaler Weise durch den Gen. part. ausgedrückt werden, tritt daneben das ungenauere appositionelle Verhältnis ein. Vgl. lat.: aliquid id genus statt ejus generis (Cic.), coronamenta omne genus (Cato), arma magnus numerus (Liv.). Eine besondere Ausdehnung hat diese einfachere Konstruktionsweise im Nhd. gegenüber dem Mhd. gewonnen, vgl. ein Stück Brot (mhd. stücke brôtes), ein Pfund Mehl, ein Scheffel Weizen, ein Glas Wasser, eine Menge Obst, eine Art Tisch etc. Die kollektiven Stoffbezeichnungen sind in diesem Falle durchaus indeklinabel. Wir dürfen, wenn wir das Sprachgefühl richtig analysieren, hier keinen Nom. oder Akk. mehr anerkennen, sondern nur den Stamm schlechthin ohne Kasusbezeichnung. Die Sprache ist zu der primitiven Konstruktionsweise zurückgekehrt, wie sie vor der Entstehung der Kasus allein möglich war und wie sie uns in den alten Kompositis vorliegt.
§ 108. Wie das Objekt so kann sich sogar das Subjekt eines Verbums zur Bezeichnung einer von dem bisherigen Usus abweichenden Beziehung herausbilden. Vgl. neuhochdeutsche Wendungen wie die Bank sitzt voller Menschen, ihm hängt der Himmel voller Geigen, der Eimer läuft voll Wasser - läuft leer; viel freier ist die Anwendung solcher Verbindungen mit vol im Mhd., z. B. das hûs saz edeler vrouwen vol, ouch gienc der walt wildes vol, daz gevilde was vollez pavelûne geslagen (vgl. Haupt zum Erec 2038), noch bei Hans Sachs den (Wald) sach er springen vol der wilden tiere, all specerey voll würme loffen; ebenso im Dänischen. Vgl. ferner der Narren Herz ist wie ein Topf, der da rinnt (Lu., auch jetzt noch wird rinnen, laufen so gebraucht); dass unsere Augen mit Tränen rinnen, und unsere Augenlider mit Wasser fliessen (Lu.); das Gefäss fliesst über; sich vergôz dâ selten mit dem mete der zuber oder diu kanne (Wolfram); daz von sînen wunden der schilt mit bluote swebete (ders.); it. le vie correvano sangue (Malespini); span. corrieron sangre los rios (Calderon, vgl. Diez III, 114); lat. culter sanguine manat, membra sudore fluunt, quae multo pisce natentur aquae (Ovid); engl. the hall thick swarming now with complicated monsters (Milton); nhd. der Wald erklingt von Gesang; das Fenster schliesst schlecht, ebenso franz. la fenêtre ne clôt pas bien. Neben einander stehen die Blume riecht - ich rieche die Blume, der Wein schmeckt - ich schmecke den Wein; entsprechend mhd. stinken, lat. sapere, franz. sentir; ferner ich koche die Suppe - die Suppe kocht, ich leihe (borge) ihm ein Buch - ich leihe von ihm ein Buch, ich breche den Stab - der Stab bricht, ich reisse das Kleid entzwei - das Kleid reisst. Stellt man sich auf den Standpunkt, dass das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat ein für alle mal fixiert sein soll, so kommt man 157 dazu, für die angeführten Fälle eine doppelte Bedeutung des Verbums anzusetzen.
Die entsprechende Überschreitung des Usus findet bei der Zusammenfügung eines Substantivums mit einem adjektivischen Prädikate statt und in noch ausgedehnterem Masse bei attributiver Verbindung. Während das Adjektivum eigentlich nur für eine dem zugehörigen Substantivum inhärierende Eigenschaft gebraucht werden sollte, finden wir es auch angewendet, wo nur eine indirekte Beziehung stattfindet. Vgl. auf schuldigen Wegen (Schi.) = Wegen, auf denen man schuldig wird, einige gelassene Augenblicke (Goe.) = Augenblicke, in denen man gelassen ist; der hoffnungsvollen Gabe (Goe.); eine Eroberung; wenn sie nicht von selbst überdrüssig wird (Gemmingen); bei ihrem unbekannten Besuche (Le.) = wobei sie unbekannt bleibt; des Thrones, ungewiss, ob ihn mehr Vorsicht schützt, als Liebe stützt (Le.) = bei dem es ungewiss ist. Viele solche Freiheiten sind ganz usuell geworden. Wir sagen allgemein ein trauriges oder fröhliches Ereignis, eine freudige Überraschung, lustige oder vergnügte Stunden, in jungen Jahren, in gesunden Tagen, eine gelehrte Abhandlung, in trunkenem Zustande, törichter Weise u. dergl.; er macht einen kränklichen Eindruck, eine karge Gabe. Sicher geht einerseits auf eine Person, die nicht nötig hat, besorgt zu sein, anderseits auf eine Sache oder Person, um die man nicht nötig hat besorgt zu sein; ekel einerseits auf eine Person, die leicht Ekel empfindet, anderseits auf einen Gegenstand, vor dem man sich ekelt. Werden solche freieren Verknüpfungen nach Analogie des normalen Verhältnisses zwischen Subst. und kongruierendem Adj. aufgefasst, so gelangt man dazu einen Wandel der Wortbedeutung zu statuieren.
Besonders häufig gestattet man sich solche Freiheit bei Partizipien. Vgl. einer reuenden Träne (Le.), lächelnde Antwort (Goe.), in der schaudernden Stille der Nacht (Le.), zum schaudernden Konzert (Schi.), der König betrachtet ihn mit nachdenkender Stille (id.), in seiner windenden Todesnot (Goe.), nach dem kostenden Preise (Nicolai), das schuldende Kostgeld (G. Keller), bedürfenden Falls (Goe.). Allgemein üblich sind sitzende, liegende Stellung, fallende Sucht, schwindelnde Höhe, im wachenden Traume u. a., jetzt verpönt bei nachtschlafender Zeit. Sehr gewöhnlich sind im Engl. Verbindungen wie dying day Sterbetag, parting glass Scheidetrunk, writing materials, dining room, sleeping apartment, falling sickness; vgl. auch franz. thé dansant, café chantant. Tacitus gebraucht haec plebi volentia fuere statt volenti u. a. dergl. (Draeg. § 193, 3). Beispiele für das Part. Perf. sind ein längst entwohnter Schauer (Goe.), in diesen letzten zerstreuten Tagen (id.), der beschuldigten Heuchelung (Schi.) = deren ich beschuldigt werde; engl. the ravish'd hours (Parnell) 158 = die Stunden voller Entzücken. Allgemein üblich ein eingebildeter Mensch, ein Bedienter.Weitere Beispiele aus dem Deutschen bei Andr. Spr. S. 827 und in meiner Deutschen Grammatik IV, §§ 44, 319, 326.
Häufig werden Zustands- und Vorgangsbezeichnungen als Präd. oder Apposition zu Personenbezeichnungen gesetzt, vgl. das Kind ist seine ganze Freude, der Stolz, der Trost seines Alters. Es wäre jedenfalls nicht gerechtfertigt in einem solchen Falle eine Bedeutungsveränderung der betreffenden Wörter anzunehmen, etwa zu sagen, dass Trost hier Tröster bedeute. Indessen sieht man doch, wie von solcher Verwendung aus Übergang von nomen actionis zu nomen agentis möglich ist.
Auf gleiche Linie zu stellen ist wohl die freie Anknüpfung eines prädikativen Attributes, die zwar als Nachlässigkeit verpönt ist, aber doch ziemlich häufig vorkommt, in Fällen wie seltene Taten werden durch Jahrhunderte nachahmend zum Gesetze geheiligt (Goe.); lustig davonfahrend wurden die Eindrücke des Abends noch einmal ausgetauscht (Riehl); zurückgekehrt wurde des Ermordeten Kleidung untersucht (Brachvogel). Weitere Beispiele, meist aus Zeitungen bei Andr. Spr. 113. Hier fühlt man sich veranlasst zu dem prädikativen Attribut ein Subj. zu ergänzen; aber ebenso könnte man das oben angeführte Beispiel mit nachdenkender Stille ergänzen zu `mit Stille, während welcher er nachdenkt', ohne dass doch in dem Ausdruck etwas davon liegt.
§ 109. Bei Partizipialkonstruktionen ist nur das zeitliche Verhältnis ausgedrückt, in dem der Zustand oder das Geschehen, welches durch das Part. bezeichnet ist, zu dem Verb. fin. steht. Es können aber dabei noch mannigfache Beziehungen bestehen, so dass man bei Auflösung der Partizipialkonstruktion durch einen ganzen Satz, bald diese, bald jene Konjunktion anwenden muss. Man kann aber darum doch nicht sagen, dass die Partizipialkonstruktion an sich verschiedene Bedeutungen haben könne, bald die Ursache, bald die Bedingung, bald einen Gegensatz etc. bezeichne. Diese Verhältnisse bleiben immer nur okkasionell und accidentiell. Anders dagegen verhält es sich mit Nebensätzen, die durch eine temporale Konjunktion eingeleitet sind. Hier kann das accidentielle Verhältnis zum regierenden Satze sich an die Konjunktion anheften und zu einem Bestandteile von deren usueller Bedeutung werden. So muss z. B. die Verwendung von unserem während zur Bezeichnung eines Gegensatzes als eine besondere usuelle Funktion neben der Grundbedeutung anerkannt werden. Es ergibt sich das abgesehen von unserem Sprachgefühl daraus, dass diese Funktion 159 auch statt hat, wo gar keine Gleichzeitigkeit des Geschehens zwischen abhängigem und regierendem Satze besteht, vgl. z. B. du belügst mich, während ich dir immer die Wahrheit gesagt habe. Ebenso müssen wir dem mittelhochdeutschen sît neben seiner temporalen Bedeutung die unseres jetzigen kausalen da als etwas Selbständiges zuerkennen; denn es kann im Widerspruch mit der Grundbedeutung bei Gleichzeitigkeit zwischen abbängigem und regierendem Satze gebraucht werden, vgl. sît ich âne einen vrumen man mîn lant niht bevriden kan, sô gewinne ich gerne einen. Die Entwickelung kann dann noch weiter gehen, indem die ursprüngliche temporale Bedeutung ganz verloren geht wie bei nhd. weil. Auf ganz entsprechende Weise gehen Präpositionen von lokaler oder temporaler Bedeutung zu kausaler über.