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IV.
Die Liebeskrankheit

Solange die Besuche dauerten, wartete Fräulein von Pierrefeu mit wachsender Angst, daß ihre Cousine herunter kommen würde. Sie hätte ihre Gesellschaft gern hinaus geworfen: noch nie war diese ihr so leer und eitel erschienen. Sie interessierte sich nicht mehr für diese Sitten von Liliputanern, für den Streit dieser kleinlichen Interessen und dieser lächerlichen Eigenliebe. Als Ramman in ihr Leben trat, änderte sich ihr Urteil: die starken Erregungen, die sie empfunden, die bedeutenden Gespräche, die der junge Mann mit ihr führte, bewirkten plötzlich, daß sie die Leute verachtete, die sie bisher ohne Langeweile ertragen hatte.

Sobald sie der letzten Besucherin das Geleit gegeben, stieg sie in die zweite Etage hinauf. Ramman saß nicht an seinem Schreibtisch. Unruhig, öffnete sie sein Zimmer: wie ein Verwundeter lag er auf seinem Bette.

Unfähig, seinen Schmerz zu überwinden, streckte er der teuern Frau, die der Schrecken packte, klagende Arme entgegen, ergriff die vor Zärtlichkeit und Mitleid zitternden Hände, führte sie über seine brennenden Lippen, als ob sie ihn erfrischten, und stammelte:

– Sancta! Sancta! …

Sie wagte ihn nicht zu fragen: sie begriff nicht, wie Worte eines Menschen, der ihr gestern noch unbekannt war, dieselbe Wirkung haben können wie körperliche Wunden.

Sie setzte sich an sein Bett und betete, von heftigem Schmerz ergriffen. Kaum liebte ihr altes Herz, und schon mußte es bluten.

– Wollen Sie, daß ich mit ihr spreche?

Mit einer bestimmten Bewegung des Kopfes stieß er dieses Anerbieten zurück.

Er schloß die Augen: sein Schmerz war unsagbar.

Die schlimmsten Gedanken überfielen die teure Frau! Einen Augenblick glaubte sie, er habe sich vergiftet; entsetzt, fragte sie linkisch:

– Es ist nur seelisch, nicht wahr, Ramman? Sie haben der Verzweiflung nicht nachgegeben …

Er ahnte die Angst dieses ihm ganz ergebenen Herzens.

– Es ist nur seelisch … und es ist nur augenblicklich, eine Ueberraschung der Nerven … Ich bin nicht wahnsinnig … Wer Sie liebt, kann nicht an Selbstmord denken, Adelaïde, seien Sie ruhig.

Er sagte ihr freundliche Worte, während er Qualen litt, das köstliche Kind!

– Kann ich Sie einen Augenblick allein lassen? Ich werde bald wiederkommen.

– Ja, ja, ich bin nicht so feige, ich bin nur betäubt … von dem Schrecken. Gehen Sie, meine Fee.

Schnell stieg sie die Treppe hinab, nahm einen Mantel, setzte einen Hut auf und eilte zu Fräulein von Romanil.

Emezinde, noch unter dem Eindruck, den das tragische Wort ihrer Zofe auf sie übte, war bestürzt über das Gesicht ihrer Cousine: dieses Gesicht kannte sie nicht, da gab es Qual, Zorn, Schrecken.

– Was hast du ihm getan? fragte Adelaïde klar und bestimmt.

– Du glaubst vielleicht, ich habe ihn geschlagen? Ich habe ihn nur gebeten, nicht mehr um sieben Uhr in die Messe von St. Agricola zu gehen: er hat es versprochen. Ich habe ihn auch gebeten, Avignon zu verlassen.

Adelaïdes Augen verhärteten sich; ihr Gesicht wurde so seltsam, daß Emezinde zu ahnen begann, was für ein Gefühl ihre Cousine nährte.

– Er hat mir geantwortet, das sei unmöglich, er habe Pflichten gegen dich, du habest ihm ein Paradies geschaffen, er würde undankbar sein … Ich habe nicht mehr darauf bestanden … Was hat er gesagt?

– Nicht ein Wort.

– Und warum kommst du?

– Um zu erfahren, was du ihm getan hast.

– Du hast den Ausdruck einer Katastrophe … Du kommst nicht so schnell und so bestürzt, ohne einen Grund zu haben.

– Wenn du neugierig bist, geh mit mir, antwortete Adelaïde.

Fräulein von Romanil bäumte sich.

– Du spornst mich, einen ernsten Schritt zu tun. Wenn ich zu beeinflussen wäre? … Ich bin es nicht.

Adelaïde zuckte die Achseln.

– Er schickt dich! rief Emezinde.

– Ich schwöre, nein, sprach Adelaïde mit einem Ton, der jeden Zweifel niederschlug.

– Um mich mit der Frage: »Was hast du ihm getan?« zu überfallen, muß man …

– Adieu! schnitt Adelaïde ab.

Sie öffnete die Türen und schloß sie mit der Eile einer Flucht.

Emezinde blieb verwirrt zurück: ihre Cousine liebte Ramman. Dem jungen Mädchen kamen traurige Gedanken: sie hatte Adelaïde gern und wollte diese köstliche Neigung nicht verlieren.

Von ihrem Hute befreit, stieg Fräulein von Pierrefeu in die zweite Etage hinauf und trat ohne Geräusch ein, da die Tür nur angelehnt war.

Auf dem Tische zog ein Brief, der während ihrer kurzen Abwesenheit geschrieben wurde, ihre Augen an; in ihrer Angst las sie mit Schrecken diese Zeilen:

 

Mein verehrter Meister!

Ich bin in Gefahr: eine Jungfrau hat sich meines Geschicks bemächtigt, durch meine Schuld und gegen ihren Willen. Einundzwanzig Tage lang habe ich sie jeden Morgen in der Kirche gesehen; ihre Stimme habe ich nur gehört, als sie kam, um sich diese Verfolgung zu verbitten. Es ist eine Venus, die unter dem Einfluß der Sonne steht: Goldaugen, blondes Haar, glänzende Haut, stolze Seele, das reinste menschliche Blut, in jeder Beziehung unsagbar über mir und über allem, was ich mir vorstellte. Sie nicht mehr sehen, bedeutet für mich den Tod; die Kehle schnürt sich mir so zusammen, daß ich nicht essen kann; kaum gehe ich, ich arbeite nicht, ich lese nicht, ich denke nicht. Der ganze Tag ist eine einzige Klage! Ich fürchte nicht den Wahnsinn, aber die Auszehrung. Ich bitte Sie nicht um einen Liebestrank; es handelt sich nicht darum, geliebt zu werden, sondern nicht mehr zu lieben, besonders aber darum, den Verfall des Körpers und die Seelenqual aufzuhalten. Es handelt sich darum, zu leben.

Durch eine besondere Anlage habe ich den unbewußten Magnetismus dieser mehr himmlischen als menschlichen Jungfrau angezogen; und sobald ihr Wille sich ganz richtig gegen mich kehrte, hat das, was ich von ihrer Ausströmung eingesogen, ihr gehorcht und mich behext. Da sie unschuldig und rein ist, will ich ihr nichts Böses: aber ich muß genesen. Einwilligen in das, was ich erleide, wäre der Selbstmord: ich habe den Geschmack des Todes im Munde …

 

Diese Nacht phantasierte Ramman: ein inneres Fieber hatte ihn erfaßt. Adelaïde wachte bei ihm. Der Liebeskranke nannte die Namen von Adelaïde wie von Fräulein von Romanil. Erst gegen Morgen schlief er ein.

Als er aufwachte, schleppte er sich an den Tisch, versiegelte den unvollendeten Brief und schrieb die Adresse des Desiderius darauf; dann kehrte er auf sein Lager zurück und fiel ermattet nieder.

Adelaïde wußte nicht, welchen Heiligen sie anrufen sollte.

– Lassen Sie den Brief fortbringen, der auf dem Tische liegt, ich bitte Sie darum; dann werde ich Ihnen zu erklären versuchen …

– Mein armes Kind, ich bin betrübt und nicht neugierig. Was Sie mir sagen, wie soll es mich interessieren? Sie leiden: der Rest zählt nicht. Sie müssen essen …

– Das ist unmöglich, Fee.

– Sie wollen noch immer keinen Arzt?

– Der Arzt für die Krankheit der Seele, das sind Sie.

– Mein Gott, was kann ich tun?

– Sich nicht beunruhigen, Vertrauen in Ihre wohltuende Macht setzen, Geduld haben. Mir geht es besser als gestern. Gehen Sie an Ihre täglichen Arbeiten, ohne sich Sorge zu machen; um sie Ihnen zu nehmen, werde ich mich zum Schlaf zwingen. Heute Abend werde ich Ihre schönen Hände an meine demütigen Lippen führen.

Die fromme Dame gehorchte ihm, da sie selbst nicht wußte, was sie tun sollte.

Der Tag verging, ohne daß er etwas hatte essen wollen; und das betrübte die Dienerin fast ebenso wie die Herrin. Daß man nicht ißt, macht auf die Leute aus dem Volke mehr Eindruck als irgend ein Umstand. Ramman fühlte Symptome, die ihn bestürzt machten, außer jener Erstarrung, die ihn vernichtete und die er nur abschüttelte, um Adelaïde zu beruhigen. Kehle und Magen zogen sich zusammen, daß es schmerzte. Er hätte gern geächzt, sich beklagt. Seine Gewohnheit, die Seele zu studieren, hatte er aufgegeben; er war zu müde, um sich über seinen Zustand Rechenschaft abzulegen: sein Gehirn arbeitete schlecht.

Als er sich einen Augenblick allein glaubte, fiel sein Wille ganz zusammen: er gab seinem Gefühle nach und heulte wie ein Hund, der auf den Tod verwundet ist.

Im Studio mußte Adelaïde die furchtbare Klage anhören: das Gesicht in Tränen gebadet, stieg sie wieder die Treppe hinab. Was sagte sie zu der alten Virginia? Und diese, ging sie zu Felicitas, um sich mit ihr zu besprechen?

Am dritten Tage, zu früher Stunde, sah Ramman die Dienerin von Fräulein von Romanil eintreten. Er erkannte sie und erstaunte.

Die Provenzalin empfand sogleich Mitleid mit diesem Kranken, der in seiner Mönchskutte so bleich aussah. War das derselbe Mensch, der vor drei Tagen wie eine junge Katze der Orange nachsprang?

– Mein Herr, Virginia hat mich gebeten, ihr gute Früchte zu kaufen, weil Sie nichts essen, und ich bringe sie selbst.

– Danke, Felicitas. Sie wissen, warum ich die Orange aufhob.

Sie schüttelte den Kopf.

– Das ist zu seltsam, mein Herr.

– Hab Dank für die gute Absicht: aber es nützt nichts.

Und er drehte sich wieder gegen die Wand.

Die Post brachte ihm diese Antwort:

 

Mein liebes Kind!

Sie haben sich behext: das ist nicht selten, aber ein solches Problem lösen, wie schwierig! Die Fluiden zurück senden? Nein, da man sie nicht gesandt hat. Jetzt sind diese Fluiden verdorben, im höchsten Grade schädlich, und Sie wünschen der unfreiwilligen Zauberin nichts Böses. Es giebt eine sehr seltene Erscheinung von unbewußtem Magnetismus, die durch die Verbindung von Sonne und Venus entsteht und im Zustande der Jungfräulichkeit, besonders wenn die Person rotblondes Haar und Wildduft hat, auf einen von Venus abhängenden Saturn wie Sie verhängnisvoll wirkt. Sie zurückstoßend, hat sie einen Zauber geübt; sie würde ihn aufheben, wenn sie Sie liebte. Sie selbst würden ihn beschwören, falls Sie eine andere Frau liebten. Wenn ich auch die Liebe ohne Leidenschaft als eine Erniedrigung betrachte, wäre eine Neigung geeignet, den Strom zu brechen: nähern Sie sich der, welche Sie liebt, und suchen Sie zu lieben. Das Wissenschaftlichste wäre es, sich von Ihrer unschuldigen Zauberin lieben zu lassen: die Planeten sagen es, Sie würden Glück haben.

Sie wenden ernste Worte an, die vielleicht nicht mehr stimmen werden, wenn Sie meine Antwort erhalten. Sollten Sie trotzdem in zwei Tagen immer noch diesen Geschmack des Todes im Munde fühlen, so zögern Sie nicht, sondern verschaffen Sie sich alles, was Sie können, ohne jede Ausnahme, von ihr selbst oder von ihr durchfeuchtete Dinge. Wenn es ein Haar ist, mischen Sie es mit Ihren; wenn es ein Strumpf ist, ziehen Sie ihn an; wenn es ein Handschuh ist, tragen Sie ihn, besonders während des Schlafes. Entweder werden Sie so neues Fluidum anziehen, in reinem Zustande, oder Sie werden jener ihr Fluidum zurücksenden, in trübem Zustande. In beiden Fällen machen Sie den Bruch des Stromes, der Sie tötet, wieder gut. Dieses Fluidum, das Sie übermannt, muß verändert werden oder nach seinem Ausgangspunkt zurückkehren; der letzte Fall ist der schlimmste.

Mein Rat, den ich nicht begründen kann, wird Sie bestürzt machen: nehmen Sie diese Liebe an: Sie haben die besten Aussichten, geliebt zu werden.

Stellen Sie alle Funktionen wieder her, essen Sie, denken Sie. Schreiben Sie Briefe, die Sie nicht absenden; beichten Sie, schreien Sie, weinen Sie; schwitzen Sie Ihre Leidenschaft aus. Nicht bei einer fixen Idee verharren!

Wenn Sie sich schließlich Speisen verschaffen können, die jene zu essen angefangen hat, so ist das eine gute Arznei. Denken Sie an die Lanze des Achilleus: deren Eisen heilte die Wunden, die sie geschlagen. Begreifen Sie mich? Das Schweißblatt dieser Jungfrau hat den Wert eines speziellen Heilmittels, besonders wenn sie das seltsame Vorrecht des Heliotrops hat, den Duft der Sonne, der dem des Kupfers gleicht.

Ich habe Ihr Horoskop gestellt: ein gleichzeitiger Einfluß zweier Frauen beherrscht Ihr Leben. Unerklärlich, aber diese beiden Einflüsse bekämpfen einander nicht, sind beide liebevoll. Sie wissen, daß ich sehr vorsichtig den Zeitpunkten gegenüber bin. Ich habe ein Leben gefunden, das ganz und gar häuslich ist: wenig Reisen, keine Abenteuer. Aber indem Sie von Dünkirchen nach Avignon gingen, haben Sie Ihr Schicksal geändert, das mir glücklich und verborgen erschienen ist, trotzdem Sie nach Ruhm verlangen.

Ihr
Desiderius.

 

Ramman wollte genesen. Von der Wölfin sah er nur noch die Zähne; von der Pantherin fühlte er nur noch die Krallen. Die Ungerechtigkeit seiner zu starken Qual empörte ihn. Emezinde gegenüber hatte er den Kopf verloren: im Rausch eines Märtyrers und in einer Krisis von Demut hatte er sich den Schlägen dargeboten. Der Trieb der Selbsterhaltung flößte ihm den festen Willen ein, sich zu verteidigen; jetzt sollten ihn weder die engelhafte Haut, noch die ideale Gestalt, noch die katzenhaften Bewegungen bestürmen. Er dachte an sein Buch, an Adelaïde, an seine Mutter. Der Stolz erhob sich langsam wieder; und für Augenblicke wurde der Gedanke wieder klar. Er hing künftig vom Mitleid einer Kammerfrau ab: sein Schicksal würde Felicitas entscheiden, nicht Emezinde.

Er mußte die seltsame Verordnung des einzigen Arztes, den er kannte, genau befolgen. Für eine solche Aufgabe dachte er zuerst das Mitleid der Virginia anzuwenden, diese zu ihrer Freundin zu schicken. Als aber Felicitas ihren Besuch machte, überlegte er, ob diese nicht bestimmt wäre, ihn zu retten; das heißt, ihm diese seltsamen Heilmittel zu liefern, die Desiderius bezeichnete. Und seitdem richtete er, sobald er die Kräfte zusammennehmen konnte, seinen Gedanken nicht auf die fabelhafte wilde Jungfrau, die ihn auf dieses Schmerzenslager geworfen hatte, sondern auf deren Dienerin, von welcher er die Mittel für sein Heil erhalten würde.

*

Als Felicitas ihren Besuch bei dem Liebeskranken erzählt hatte, mit einer tragischen Interpunktion von »weh« und »ach«, erwartete sie naiv einen Befehl. Ihre Herrin schwieg. Diesen Fall sehr wohl begreifend, faßte sie ihn zusammen, indem sie wiederholte: »Sie wissen, Felicitas, warum ich die Orange aufhob.«

Das geringste Drängen reizte Fräulein von Romanil.

– Ihr Töchter der Provence habt Herz für jeden, der kommt; über den gebrochenen Fuß einer Spinne jammert ihr.

– Was mich bei dem armen Herrn rührt, ist, daß er durch Fräulein krank wurde.

Die treue Dienerin fand mit ihrem Gefühl jene glücklichen Ausdrücke, die durch ihre Klarheit die Spitzfindigkeit verlegen machten.

– Nach dir müßte ich mich wohl an sein Lager setzen?

Felicitas widersprach; es handelte sich nur darum, ihn zum essen zu bewegen.

– Du willst mir vielleicht einen Korb voll Früchte bringen, damit ich für diesen Narren in jede hineinbeiße? Du machst dir keine Sorge um meine Würde. Verstehst du denn nicht, du bist doch so klug: wenn ich mich durch deinen armen Herrn zum Mitleid rühren lasse, schlage ich einen verlorenen Weg ein. Er hat das Bedürfnis, daß ich beiße, was er ißt: schließlich wird ihm mein Mund selbst nötig sein. Du bist ganz närrisch geworden, nur um ihn zu besuchen.

Felicitas antwortete nicht und widmete sich ihrer Arbeit.

– Hast du meine Cousine gesehen?

– Jawohl! Die Arme hatte rote Augen, von Tränen: sie tat mir leid.

– Sie hat sich von diesem Burschen anziehen lassen, ich weiß nicht warum.

– Oh, er ist so anziehend, in seiner Mönchskutte, auf seinem Bett ausgestreckt, mit seinem milden Gesicht, dem Gesicht eines Heiligen, der sterben wird!

– Du erzürnst mich mit deinen Klageliedern.

Die Worte der Felicitas trafen so gut, daß ihre Herrin bei jedem innerlich zusammenfuhr.

– So wie ich dich kenne, wirst du nur noch ein Bild im Kopfe haben, diesen Mönch auf seinem Bett: damit wirst du unerträglich werden. Was hat Virginia sich dabei gedacht, als sie dich zu ihm hinaufsteigen ließ! Daß sie nicht Zeit hatte, die Früchte zu kaufen, begreife ich, aber meine Cousine selbst konnte sie ihm reichen.

– Ich habe selbst hinaufsteigen wollen, um zu sehen, ob es wahr sei … was Virginia sagte …

Endlich bot sich dem jungen Mädchen ein passendes Thema für ihre Nervenspannung.

– Schlechte, treulose Person, du weißt nicht: wenn du einem Fräulein dienst, so mußt du überlegen, aber darfst nicht deiner Neugier folgen. Mit welchem Recht stellst du mich bloß? Wenn du gehst, bin ich es nicht, die dich schickt? In welcher Eigenschaft besuchst du meinen Verfolger? Du wagst durch deine Laune meinen Ruf aufs Spiel zu setzen! Dieser Narr wird glauben, ich hätte dich gesandt: du bist eine Dirne und ich verabscheue dich …

Mehr war nicht nötig, um die empfindliche Felicitas zu erschüttern. Sie stürzte schluchzend aus dem Zimmer.

Fräulein von Romanil rief sie hart zurück.

– Ich will nicht, daß du heulend in die Küche läufst … Diese Dinge dürfen nicht bekannt werden, besonders meiner Mutter nicht; der würde Rosalie erzählen, daß du deine Zustände hast, wie sie sich ausdrückt. Wenn du weinen willst, so weine hier: ich will dich lieber ertragen, als das Haus verwirren. Meine Ehre steht auf dem Spiel, das mußt du begreifen, verrückte Dirne!

Felicitas lebte vom Lächeln ihrer Herrin, widmete ihr einen vertraulichen Kult, der oft indiskret war, aber dessen Wurzeln so tief drangen, daß sie sich über die Ergebenheit hinauserstreckten. Es war eine ruhige und lächelnde Leidenschaft, so lange sie ihren Lauf einhielt; aber aufgehalten, erhob sie sich plötzlich zu beunruhigender Heftigkeit. Sie erstickte bei der Anstrengung, ihre Tränen zu unterdrücken, und ihr Schluchzen klang durch das Zimmer.

– Ich hätte nie geglaubt … daß Fräulein so böse sein könnten … gegen die, welche Fräulein lieben … mehr als das Leben …, stammelte Felicitas, mit ihrer unerbittlichen Offenheit.

– Du wagst mich zu richten, du Quälgeist?

– Der liebe Gott richtet …

Jede Antwort wirkte auf das Herz des Fräulein von Romanil. Plötzlich besänftigte sich ihre Stimme.

– Bitte mich um Verzeihung, Felicitas!

Die Dienerin warf sich ihr zu Füßen und küßte ihr die Knie, den Morgenrock mit ihren Tränen befleckend.

Mit ihrer schönen Hand berührte die Herrin dieses verzerrte Gesicht.

– Du bedauerst jetzt …

– Fräulein geärgert zu haben, oh ja …

– Mich geärgert zu haben, und für diesen Herrn zu leiden!

Die Dienerin schwieg.

– Antworte, Felicitas. Dieser Narr ist schuld an deinem Vergehen, an deinem Kummer … Du hast kein Mitleid mehr für ihn, hoffe ich …

Eine Silbe, ein italienischer Rest in der Volkssprache der Provence, fiel wie ein Trotz:

– Si, murmelte die vernichtete Dienerin.

Dieser Eigensinn ließ einen Blitz in den Goldaugen aufflammen.

– Du mußt doch, armer Starrkopf, Vernunft annehmen und, was dich mehr rührt, mein Interesse wahren. Wenn du für diesen Burschen Partei nimmst, verrätst du mich, arbeitest gegen meine Würde und meine Ruhe. Du täuschest dich in deinem romantischen Mitleid: eine falsche Hoffnung heilt nicht, sie nährt das Übel. Dieser Herr ist niemand: kann Fräulein von Romanil Frau Ramman werden? Denkst du, deine Herrin wird eine Liebelei anfangen? Indem du deinen Eindruck meinem Urteil entgegen stellst, hast du mich tief beleidigt. Ich verzeihe dir, weil du mich liebst …

– Ich würde mein Leben für Fräulein geben.

– Gib mir nur den Frieden: sprich mir nicht mehr von diesem Menschen und höre selbst auf, an ihn zu denken.

– Ihn zu sehen, ist so betrübend gewesen: wenn er wie alle Andern wäre, würde ich nicht an ihn denken … Ich hatte eine Idee … wenn Fräulein mir im Voraus verzeiht …

– Sprich, sagte Emezinde neugierig.

– Selbst für Fräulein ist es peinlich, daß jemand ihretwegen dahinsiecht. Meine Idee wäre, den Teller von Fräulein zu nehmen mit dem, was übrig bleibt …

Ungeduldig rief das junge Mädchen:

– Mein Gott, wenn du in dem, was man verschmäht, die Nahrung eines Christen findest, so tue, was du magst: ich will es nicht wissen … noch weniger es billigen. Niemals wirst du mir wieder von ihm sprechen …

– Niemals, falls Fräulein nicht anfängt …

Das letzte Wort wog schwer für die, welche jeden Morgen in St. Agricola erwartete, den Verliebten wiederzusehen, trotz seinen Schwüren.

Fräulein von Romanil besaß keine größere Bildung als die Mädchen ihrer Art; sie hatte weniger Romane gelesen als die meisten, aber ihr Geist drang tiefer, sie durchschaute die Menschen; wenn sie überlegte, sah sie klar, selbst in sich.

Warum klang der Vers, den Brünnhilde zu ihrem Vater spricht, in ihrem Gedächtnis wieder?

Wer bin ich,
wär' ich dein Wille nicht?

Indem sie den Befehl Wotans, der Siegmund verdammt, überschreitet, gehorcht die Walküre dem wahren Willen Gottes, den Wotan ausdrücken würde, wenn er frei wäre.

In ihrem unsagbaren Mitleid folgte Felicitas dem geheimen Gedanken ihrer Herrin; nicht daß diese sich in eine Verliebte gewandelt hätte, aber es bedrückte sie, einen hübschen feinen interessanten Menschen vernichtet zu haben, dessen höheren Wert sie fühlte. Jemanden zur Verzweiflung bringen, gefällt einer reinen und stolzen Seele; ihn zu Boden werfen, körperlich vernichten, aus einem Verehrer einen Kranken machen, das hätte selbst Laura widerstrebt. Einen Verliebten zum stöhnenden Tiere erniedrigen, ist nicht rühmlich; statt auf seinem Lager zu röcheln, müßte er in der Einsamkeit umherirren, mit zögernden und langsamen Schritten, und seinem Schmerze Luft machen.

Der Zustand der Vernichtung, in dem sich der junge Mann befand, machte auf sie Eindruck. Selbst wenn sie in dieser Hinsicht unempfindlich blieb, fürchtete sie, die Zuneigung ihrer Cousine zu verlieren, eine unschätzbare Freundschaft, die taktvoll, tief, diskret war. Wer würde leichtsinnig auf einen Menschen verzichten, dem man sogar ein Verbrechen gestehen könnte?

In dem beschränkten Leben von Avignon hatte Fräulein von Romanil ihre Freundschaften aufgegeben, die eine nach der andern; das Haus Pierrefeu war der einzige Ort, wo es ihr gefiel: jetzt würde sie nicht mehr wagen, dort zu erscheinen. Da Adelaïde bald fünfzig zählte, würde sie keinen Geliebten von einundzwanzig nehmen; aber sie liebte keusch, heilig, mit der Kraft einer späten Leidenschaft. Das Absolute der letzten Liebe bei einem Wesen, das keine erste Liebe erlebt hat, überschreitet jedes Maß.

Als sie sich die Erlaubnis entreißen ließ, daß Felicitas die Reste ihrer Mahlzeit dem Liebeskranken bringen dürfe, wollte sie sich Adelaïde gegenüber rechtfertigen, während sie zugleich ihr Mitleid für diesen Narren zeigte.

Zuerst dachte sie nicht daran, wie seltsam diese Frage der Reste war. Sie hatte die Gewohnheit, ihr Brot mechanisch zu brechen und zu zerstückeln; die Bürste fegte beim Nachtisch diese Krümel weg. Aber Felicitas trug den Teller fort, bevor sie zu Ende gegessen hatte. Sie nahm davon nicht Notiz; doch beschäftigte es ihre Gedanken, daß sie sich bedienen müsse, sowohl für sie wie für ihn, zwei Male am Tage. Dieses Zugeständnis machte sie, gegen ihren Willen, sich schämend. Die Gräfin erstaunte, daß ihre Tochter in Früchte biß, um sie dann liegen zu lassen. Diese aß nicht mehr, ohne an die Portion des Andern zu denken: er war von ihr, sie von ihm besessen.

Sich nach dem Kranken zu erkundigen, wäre überflüssig gewesen. Wenn sie von der Messe zurückkehrte, konnte sie den Bericht vom offenen Gesicht der Dienerin wie geschrieben ablesen. Zum ersten Male hatte der Dulder gegessen, nämlich was die Dienerin ihm brachte. Er würde genesen, sie würde von diesem Alp befreit werden und sobald wie möglich ihren Frieden mit Adelaïde schließen.

Die Messe von sieben Uhr wurde eine Qual. Sie hätte einen Blitz geschleudert, wenn sie ihn hinter dem Pfeiler wiedergefunden; die Goldaugen hätten Pfeile geschossen, aber ihr Herz wäre getröstet gewesen. Jetzt fehlte ihr diese Betrachtung; diesen so ergebenen Blick, der sie kaum reizte, hätte sie gern noch gefühlt, und sie wurde betrübt. Welcher Mann würde sie so bewundern wie dieser junge Mensch? Er nährte sich von ihrer Schönheit, dieser Unkeusche. Künftig hatte diese Schönheit keinen Gottesdienst mehr; und was er so begierig einsog, wurde dem jungen Mädchen jetzt lästig. Wie von Milch geschwellte Brüste schmerzen, wenn sie zu voll sind, so entnervte sich ihr an diesen Blick gewohnter Körper durch sein eigenes Strahlen, das keinen Abfluß hatte.

Niemand hatte ihr jene tiefen Worte gesagt, die sich ins Gedächtnis eingraben, als dieser Tolle: »Psyche, warum die Lampe umstoßen?« – »Wenn Sie Nacht um mich, in mir machen …« Mehr als alles bedrückte sie eine Weissagung: »Ich glaube nicht, daß Sie mich leiden lassen können, ohne selbst zu leiden; wenn ich mich opfere, würde ich Ihnen nichts geben! …«

Nur für Augenblicke überwand sie diese furchtbare Behauptung: »Sie haben einen Magnetismus, wie der Skorpion ein Gift hat, und die Wunde ist tödlich.« Diese Worte, die sie für irre Reden gehalten hatte, bewahrheiteten sich von einem Augenblick zum andern. Weichten die Bauern nicht die Skorpione in Alkohol ein, als dem Mittel gegen den Stich? So war Ramman nur getröstet worden durch Speisen, die von ihr kamen, die sie wenigstens berührt hatte. Da sie ihn jammernd, flehend, entwaffnet, um Gnade schreiend gesehen hatte, schrieb sie ihm keine Macht eines Zauberers zu, aber er kannte die Zauberei; er kannte viel dunkle und verbotene Dinge, der Adoptierte von Adelaïde!

Indem sie Ramman durch dieses Wort bezeichnete, rührte sie an das Tragische des Abenteuers. Ihre Cousine war nicht die Frau, die sich zur Lügnerin machte; die Zärtlichkeit, die sie ihrem Gast gegeben, würde sie niemals zurückziehen; Fräulein von Romanil fand keinen Ausweg in dieser Lage.

Jener Narr hatte ihr das Herz ihrer Cousine genommen; er war in die Gedanken der Felicitas eingedrungen; er bedrängte ihre eigene Seele. Monate noch würde diese so peinliche Spannung dauern! Oh, damit er abreiste, hätte sie gegeben, was man hätte haben wollen. Von diesem famosen Magnetismus Gebrauch machend, hätte sie ihn gezwungen, Avignon zu verlassen. Vor ihr aufgerichtet, deckte Adelaïde mit ihrem jung gebliebenen und tapferen Herzen diesen Menschen, den sie ihr liebes Kind nannte. Emezinde dachte auf das Gut ihrer Familie zu reisen und dort im Schlosse längere Zeit zu wohnen, aber das ließ sich nicht machen, ohne ihre Mutter zu stören, die ihre Gewohnheit liebte und sich auf dem Lande langweilte.

*

Fräulein von Romanil konnte sich den Kranken nicht vorstellen, wie Felicitas ihn gesehen hatte, also auch nicht das unwiderstehliche Mitleid empfinden, das Ramman selbst ihr eingeflößt hätte. So bleich in dieser Mönchskutte, war er von einer rührenden Schönheit. Der Schmerz bei jungen Menschen hat etwas Ungerechtes: er geht der Zeit voraus und erscheint bösartig und unnatürlich.

Virginia erstaunte nicht, als Felicitas ihr eines Tages sagte, Herrn Ramman eine große Pappschachtel hinaufbringen zu wollen.

Da er müde war, beeilte er sich nicht ihr zu öffnen und dachte nur daran, wieder allein zu sein. Seltsame Sendung! In Seidenpapier Brotstücke, ein benagter Kotelettknochen, ein Teller mit der geronnenen Sauce und in einer kleinen Phiole ein halbes Glas Rotweinwasser. Er zweifelte nicht, daß diese Reste echt waren, und dachte nicht daran, daß die Menschen über ihn lachen würden. Er lebte für sich, sich gegenüber und erlaubte der Menschheit nicht, ihn zu verwirren in den törichten oder edlen Diensten, die er seiner Persönlichkeit widmete. Mit den Brotstücken kratzte er die Sauce ab, sog an dem Knochen und trank das Rotweinwasser. Der Wille zu genesen und nicht ein Geist der Liebe trieb ihn. Er verzieh der Wölfin nicht, daß Adelaïde litt. Diese Arznei verdankte er der Dienerin: er glaubte nicht, daß ihre Herrin sie ermächtigt habe.

Jeden Morgen empfing er seine seltsame Nahrung und aß nichts Anderes. Sie wurde schnell größer und wuchs schließlich zu einer wirklichen Portion, was ihn beunruhigte. Indessen, neben dem ganzen Hühnerflügel lag der Knochen, den Fräulein von Romanil benagt hatte; das reichlichere Brot zeigte sich auch in kleinen Stücken. Fügte Felicitas dem, was auf dem Teller ihrer Herrin blieb, ein Gericht hinzu? Der Gedanke kam ihm nicht, daß die »Wölfin« einwilligte, sich auch für ihn zu bedienen. Das wäre von solcher Bedeutung gewesen! Noch zu krank, um sich verliebt zu fühlen, verehrte er nur Adelaïde. Für sie kämpfte er; für sie wollte er wieder menschliche Gestalt annehmen und einen neuen Aufschwung versuchen.

Eines Morgens, als Felicitas eintrat, erhob er sich, nahm sie bei der Hand und sprach mit dem Reiz, den er aus seiner zärtlichen Natur schöpfte:

– Felicitas, ich erhebe mich, um Sie zu empfangen. Dies beweist Ihnen, daß Ihre Fürsorge hilft. Auch spreche ich Ihnen meine Dankbarkeit aus. Sagen Sie mir nichts: Sie werden verlegen, weil Sie jemandem verpflichtet sind, dem Ihre gute Handlung fremd bleiben muß. Setzen Sie sich und hören Sie mich an.

Sie blieb eigensinnig stehen.

– Sie sind auf dem Lande geboren; selbst wenn Sie es zu früh verlassen haben, wissen Sie, was es bedeutet, verzaubert zu sein. Gewöhnlich sind die Zauberer häßliche und boshafte Wesen, die nur das Böse tun. Nun giebt es Geschöpfe, sehr selten allerdings, die, schön und gut, es jemandem antun, ohne es zu wollen. Die Sonne ist schön und gut, aber sie brennt; das Wasser ist mild und nützlich, aber es läßt verfaulen, was es bedeckt; die Luft will nur unser Leben, kann aber Kranke töten; die Erde ernährt uns, aber sie birgt ein Tierchen, das den Starrkrampf giebt. Was die Materie betrifft, so wissen wir mehr davon als unsere Väter, und unsere Söhne werden mehr davon wissen als wir. Bei der Seele liegt die Sache anders! Der erste Mensch hat alles gekannt und der letzte wird nichts gelernt haben. Deshalb muß man für die Dinge der Seele die Einfachen befragen und den Traditionen folgen, die fern von den Städten durch die Hirten und die Heiden bewahrt werden. Diese Traditionen sagen: wenn man verzaubert ist, muß man sich die Kleider des Zauberers verschaffen, sein Taschentuch, alles, was von ihm gesättigt ist: ein anderes Heilmittel giebt es nicht. Wollen Sie mich heilen? Dann geben Sie mir die Haare, die im Kamm zurückgeblieben sind; die Nägel, die sie abschneidet; die Strümpfe, die sie wegwirft; die alten Handschuhe. Je mehr es gebraucht, getragen, abgenutzt, verblichen, das heißt gesättigt ist, desto mehr wird das Heilmittel wirken.

Felicitas war nicht so erstaunt, als er gefürchtet. Sie hatte begriffen, und zwar so gut, daß sie diese klare Einwendung machte:

– Wenn es aber gelingt, den Zauber zu heben, fällt er auf den Zauberer zurück.

Desiderius selbst hätte nicht besser antworten können.

Ramman zögerte nicht zu lügen:

– Das ist wahr, wenn der Zauberer den Zauber gewollt hat; aber hier hat er ihn nicht gewollt; ich habe mich selbst verzaubert.

Instinktiv logisch, erwiderte Felicitas:

– Ein Zauber stirbt nicht: er muß auf jemand zurückfallen.

– Es ist kein Zauber gewesen, Felicitas; meine Seele hat einen Sonnenstich bekommen, weil ich mich einem zu starken Strahlen ausgesetzt habe.

– Sie schwören mir, Herr Ramman …

Er unterbrach sie:

– Denken Sie an die Scene auf dem Piusplatze: ich folgte Ihrer Herrin gegen ihren Willen; die Orange, die sie wegwarf, war das Symbol ihrer Ächtung … Wenn ich von einem Zauber sprach, so wollte ich erklären, warum ich die seltsamen Dinge gebrauche. Dank Ihnen habe ich essen können, gehe und komme ich: ich bin wieder aufgestanden. Kann ein Übel für Ihre Herrin daraus hervorgehen? Sie wünscht nichts so sehr, als von mir vergessen zu werden, und beunruhigt sich nur um die Sorgen, die sich ihre Cousine macht. Es ist meine Pflicht, zu genesen, das ist das einzige Mittel, jeder den Frieden wiederzugeben, den ich gestört habe.

Felicitas verließ ihn überzeugt.

Am nächsten Morgen begann das Veneficium. Das Wörterbuch irrt: Veneficium kommt nicht von venenum, Gift, sondern von Venus! Das ist der geschlechtliche Zauber, der Liebesreiz, von dem sich die älteste Schilderung bei Theokrit findet. In diesem Falle war es ein Gegenmittel: Ramman dachte nicht daran, sich lieben zu lassen; er wollte leben, nicht mehr diesen Geschmack des Todes im Munde fühlen, diese unerträgliche Bitterkeit, die ihn vernichtete.

Seitdem er aufhörte sich Zwang anzulegen, zeigte sich in ihm eine Abnahme der Fähigkeiten. Sein Kopf verlor die Ideen, schien hohl zu sein, wie jene kleinen Kürbisse, die man dörrt, um Flaschen daraus zu machen. Eine Schlaffheit der Glieder machte die Bewegungen schwerfällig; wenn er saß, fiel er zusammen; selbst beim Schreiten im Studio packte ihn bald der Taumel. Lesen verlangte eine maßlose Spannung.

Für einen Schriftsteller wäre es interessant gewesen, die Phasen der fluidischen Vergiftung zu notieren. Über den Zauber und die Verhexung giebt es nicht die Zeugnisse, die ein Quincey für das Opium, ein Baudelaire für den Haschisch gab Baudelaire, Die künstlichen Paradiese (Ein Opium-Esser). Vgl. Poritzky, Dämonische Dichter, München 1921.. Vielleicht hätte er es Adelaïde diktiert: aber welche Qual für die liebe Patin; es selbst zu schreiben, war ihm unmöglich. Das Seltsamste vielleicht war seine augenblickliche Auffassung von Emezinde, die eines Hallucinierten würdig war. Die wilde Jungfrau besaß ihn, nicht mehr mit ihrem sinnlichen Bilde, sondern mit ihrem unerbittlichen Willen: eine feindliche Göttin, eine unsterbliche Rächerin; eine beleidigte unversöhnliche Diana, die ihn ungerecht bestraft hatte, durch diese Laune, die der Mensch so töricht dem Himmel zuschreibt. Gesetze verbinden den Sterblichen mit dem Unsterblichen, und die Kenntnis dieser Gesetze würde ihn zum Heil führen, dank der providentiellen Rolle, welche die Dienerin spielte.

Der Beobachter, der zwischen den Häusern Romanil und Pierrefeu hin und her gegangen wäre, hätte das überraschende Spiel der okkulten Kräfte studiert. Je mehr Ramman wieder auflebte, desto träumerischer und melancholischer wurde Fräulein von Romanil: das Übel ging von dem einen zum andern, mit verhängnisvollem Schritt. Felicitas hätte es gesehen, wenn ihre Herrin nicht aus Stolz den Zustand ihrer Seele verborgen und ihrer düstern Stimmung Schweigen geboten hätte. Welcher Zwang, eine Maske vor ihrer Zofe tragen zu müssen, besonders wenn die Vertrautheit so eingewurzelt ist!

Sobald ein unbefangenes Geschöpf eine Rolle übernimmt wie die von Felicitas, so führt es diese ohne Zögern, ohne Bedenken aus. Die Dienerin war eine ausgezeichnete Vermittlerin für diese Operation, die ohne magische Mittel vor sich ging, aber doch auf die schlimmste Zauberei hinauslief.

Unter seiner Balzackutte trug Ramman ein Hemd und Strümpfe, die Emezinde getragen hatte. Er benutzte alles, was eine Zofe aus dem Zimmer ihrer Herrin entfernen kann, und nicht einen Augenblick empfand er einen sinnlichen Eindruck. Aber von einem Tage zum andern lebte er wieder auf. Zuerst geschah es nur für Augenblicke, dann verlängerten sich diese Momente; das Fieber fiel, er fühlte nicht mehr diese Leere im Kopfe, über die er so bestürzt gewesen war. Er konnte einige Gegenstände in die Hand nehmen, besonders aber Adelaïde durch eine bessere Haltung beruhigen; die Taumel hörten fast auf. Desiderius war wirklich ein bedeutender Specialist.

Als er eines Morgens zu Felicitas sagte, er habe, um essen zu können, die Speisereste von Emezinde nicht mehr nötig, strahlte die Provenzalin vor Stolz. Sie, die arme Person, hatte den schönen jungen Mann gerettet!

– Wenn Sie mir alle Sachen von Fräulein zurückgeben werden, Herr Ramman, stifte ich den Grauen Büßermönchen eine Kerze.

– Meine liebe Felicitas, es hängt von Ihnen ab, meine Genesung zu beschleunigen. Je mehr Heilmittel Sie mir geben, in starker Dosis, desto mehr verkürzen Sie meine Krankheit. Sie wissen, was ich unter stark und unter Dosis verstehe: aber Sie haben mich gerettet und ich würde mir ein Gewissen daraus machen, mehr von Ihnen zu verlangen, als Sie mir geben.

Es war sicher nicht die Einbildungskraft, die bei Ramman wirkte; er vermied es, einen Gedanken zu fassen und zu verfolgen, der nicht seine Genesung zum Zweck hatte. Und mehr als ein Mal bedauerte er, nicht den Bericht seiner Heilung diktieren zu können: es war eine wirkliche, positive, graduelle, fast methodische Heilung.

Am dreiunddreißigsten Tage seiner Liebeskrankheit erschien Felicitas ohne ihr Paket und betrübten Gesichtes. Mit bestimmter Entschiedenheit sagte sie:

– Sie müssen mir alles zurückgeben und Sie werden nichts mehr erhalten … Sie mögen jetzt allein fertig werden … Ich habe mehr getan, als ich durfte.

Diese Worte waren von vollkommener Klarheit für den jungen Mann. Felicitas hatte bemerkt, daß ihre Herrin ein Symptom derselben Krankheit zeigte, daß also der Zauber, der nach ihrer Auffassung nicht starb, auf ihre Herrin zurückfiel.

Sich beherrschend, fügte er sich; eine Aufklärung fürchtend, die ihm nichts sagen, aber seine Haltung fälschen würde, packte er alles zusammen, bis auf die leeren Flaschen; und seltsam, er fühlte keinen Schauer, als er die Hülle zurückgab, die einige blonde Haare umschloß: er hatte sie so oft auf die Stirn gelegt, um das Gefühl der schrecklichen Leere zu beruhigen.

Aus der ablehnenden Haltung, die Felicitas seinen Ausdrücken der Dankbarkeit entgegen setzte, schloß er, daß die weiße Wölfin litt. Er empfand kein Mitleid. Sein Gefühl hatte der Schmerz erschöpft, sein Herz war zu müde, um zu schlagen, sein Geist zu matt, um zu fürchten. Die Gleichgiltigkeit, solchen Ängsten gegenüber, hatte ihn ganz in Besitz genommen. Wie jene Unglücklichen, die sogar unter der Kartätsche einschlafen, die Nerven durch die Nachtwachen und die maßlose Spannung erschöpft, erlag Ramman einer inneren Müdigkeit; seine Seele hatte nur noch ein unwiderstehliches Verlangen nach einem Nirvana.

Die unsägliche Milde der Adelaïde vollendete seine Genesung; der gute Wille dieser engelhaften Seele besänftigte die letzten Schauer der Zauberei. Er nannte sie nur noch »Sancta«, voll Bewunderung für ein Herz, das fähig war, die Liebe mit so viel Barmherzigkeit zu durchdringen.

Adelaïde empfand in diesen Tagen, den süßesten ihres Lebens, die unaussprechliche Freude, wie der verehrte Gast an ihrem Herzen hing, bei ihrem bloßen Anblick lächelte. Sie belebte ihn buchstäblich, sie gab ihm die Seele, wie Isis dem Pharao die Brust giebt, auf den Wänden von Theben. Mit welcher stolzen Zärtlichkeit betrachtete sie die junge Pflanze, wie sie sich wieder aufrichtete und wieder grünte: das war ihr Werk, für das sie ohne Zweifel geboren war.

Vielleicht die Zukunft ahnend, treu wenigstens ihrer grenzenlosen Zärtlichkeit, schrieb sie eines Abends diesen Brief:

 

Liebe Emezinde!

Wir lieben einander zu sehr, um nicht darunter zu leiden, daß wir uns nicht mehr sehen. Aber wie sollen wir uns treffen, da wir nur noch schweigen können oder aufhören müssen, offen zu sein?

Um unsere Entfremdung zu bannen, lade ich dich für Sonntag zu einem Priesteressen ein, das ich gebe, um einen lieben Kranken zu zerstreuen. Diese Herren werden nur von der Liebe der Kirche gegenüber sprechen. Das Essen wird gut sein; die Priester werden nachsichtig und interessant sein.

Komm! Ich küsse Dich.

Adelaïde


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